Der Marquis de Sade und seine Zeit  

From The Art and Popular Culture Encyclopedia

Revision as of 21:58, 24 February 2019; view current revision
←Older revision | Newer revision→
Jump to: navigation, search

"Neue Forschungen über den Marquis de Sade und seine Zeit (1904), which is a substantially revised version of his earlier study on Sade, entitled Der Marquis de Sade und seine Zeit" (1900)" --Modernism and Perversion (2011) by Anna Katharina Schaffner

Related e

Wikipedia
Wiktionary
Shop


Featured:

Der Marquis de Sade und seine Zeit : ein Beitrag zur Kultur- und Sittengeschichte des 18. Jahrhunderts : mit besonderer Beziehung auf die Lehre von der Psychopathia Sexualis (1900) is a work by Iwan Bloch written as Eugen Dühren.

As of February 2019, there were three versions of this text in Archive.org:


Contents

Full text (based on an unidentified OCR)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . Seite 1

Einleitung . . „ 1

Die Aufgaben einer Wissenschaft des menschlichen Geschlechtslebens.: 1. Die Liebe als physisches Problem.

S. 2. — Die Liebe als historisches Problem. S. 11. — Die Liebe als metaphysisches Problem S. 20. —

I. Das Zeitalter des Marquis de Sade Seite 27.

Allgemeiner Charakter des 18. Jahrhunderts in Frankreich S. 30. — Die französische Philosophie im 18. Jahrhundert S. 35. — Das französische Königtum im 18. Jahrhundert S. 40. — - Adel und Geistlichkeit S. 48. - — Die Pariser Polizeiberichte über die Unsittlichkeit der Geistlichen S. 52. — Die Jesuiten S. 63. — Die schwarze Messe S. <57. — Die Nonnenklöster S. 72. — Die Frau im 18 Jahrhundert S. 76. — Die Litteratur S. 88. — Die Kunst im 18. Jahrhundert S. 107. — Die Mode S. 119. - — Prostitution und Geschlechtsleben im 1 8. J a h r - hundert S. 124. — Bordelle, geheime pornologische Klubs und Prostituierte S. 1,25. — Das Freudenhaus der Madame Gourdan S. 127. — Justine Paris und das Hotel du Roule S. 132. — Das Bordell der Richard S. 138. — Ein Neger- bordell S. 138. — Die r petites maisons“ S. 139. — Die ge- heimen pornologischen Klubs S. 141. — Die Freudenmädchen S. 144. — Das Palais-Royal und andere öffentliche Dirnen- lokale S. 162. — Die Onanie im 18. Jahrhundert S. 176. — Die Tribadie im 18. Jahrhundert S. 178. — Die Paederastie 'S. 202. — Flage Ration und Aderlass S. 209. — Aphrodisiaca, Kosmetica, Abortiv- und Geheimmittel im 18. Jahrhundert S. 214., — ^Gastronomie . und* Alkoholismus im 18. Jahrhundert S. 234. — Diebstahl und Räuberwesen S. 238. — Der Giftmord S. 243. — Mord und Hinrichtungen S. 246. — Ethnologische und historische Vorbilder S. 267. — Italienische Zustände im 18. Jahrhundert S. 277. — Papst Pius VI. S. 286. — Die Königin Karoline von Neapel S. 288.

II. Das Leben des Marquis de Sade Seite 292.

Die Vorfahren S. 292. — Petrarca's Laura S. 292. — Die übrigen Vorfahren S. 294. — Die Kindheit des Marquis de Sade S. 298. — Die Jugendzeit S. 30J. — Das Gefängnisleben des Mannes S. 307. — Die Affäre Keller (3. April 1768) S. 308. — Der Skandal zu Marseille (Cantharidenbonbons- Orgie) S. 316. — Einkerkerung in Vincennes und in der Bastille S. 322. — Teilnahme an der Revolution und litte- rarische Thätigkeit S. 327. — Der Tod S. 344. —

III. Die Werke des Marquis de Sade Seite 34S.

„Justine“ und „Juliette“. Geschichte der Entstehung S. 348. — Die Vorrede S. 350. — Analyse . der „Justine“ S. 351. — Analyse der „Juliette“ S. 362. — Die „Philosophie dans le Boudoir“ S. 393. — Die übrigen Werke des Marquis de Sade S. 396. — Charakter der Werke des Marquis de Sade S. 400. — Die Philosophie des Marquis de Sade S. 403. —

IV. Theorie und Geschichte des Sadismus . . . Seite 431. Wollust und Grausamkeit S. 431. — Anthropophagie und Hypochorematophilie S. 432. — Weitere sexualpathologische Typen bei Sade S. 435. — Versuch einer Aufstellung von erotischen Individualitäten S. 440. — Sorgfalt im Arrange- ment obscöner Gruppen S. 441. — Das Mysterium des Lasters S. 442. — Die Lüge als Begleiterin sexueller Perversion S. 443. — Sade’s Ansicht über die Natur der sexuellen Entartung S. 444. — Unsere Definition des Sadismus 'S. 446. — Beurteilung des Menschen Sade nach seinem Leben und seinen Schriften S. 450. —

V. Geschichte des Sadismus im 18. und 19. Jahrhundert Seite 459. Verbreitung und Wirkung der Schriften des Marquis de Sade S. 459. — Retif de la Bretonne’s „Anti- Justine“ S. 464. — Charles de Villers S. 466. — Despaze S. 471. — Der Sadismus in der Litteratur S. 471.- — Einige sadistische Sittlichkeits- verbrechen S. 486. — Fall von Hypochorematophilie S. 48S. — Statuenschändung S. 488. — Körperliche Gebrechen als Beizmittel S. 488. — Sadistische Venaesectio. (Affäre T . . . .)


S. 489. — Affäre Michel Bloch S. 489. — Wort - Sadismus S. 491. — Nachahmung clcs Marseiller Skandals S. 492. — Schluss S. 493. —

VI. Bibliographie Seite 507.

Vorwort.

Während ich mit den Vorbereitungen für das vorliegende Werk beschäftigt war, erschien im März dieses Jahres der geistreiche Essay von A. Eulenburg („Der Marquis de Sade“ in: Die Zukunft 7. Jalirg. No. 26, vom 25. März 1899, S. 497 — 515), dem geschätzten Neurologen und hervorragenden medizinischen Publizisten. Dieser Artikel und ein von Eulenburg im Berliner Psycholog. Verein gehaltener Vortrag eröffnen die wissenschaftliche Sade-Forschung in Deutschland. Um dieselbe Zeit ist auch in Frankreich durch die Studie des Dr. Marciat über den Marquis de Sade (Lyon 1899) das Interesse an einer der merkwürdigsten Persönlichkeiten des 18. Jahrhunderts wieder neu belebt worden, nachdem G. Brunet’s wertvolle biographisch - literarische Beiträge (1881) wenig Beachtung gefunden hatten. Mit P. Ginisty’s dankenswerter Publikation unedierter Briefe der Marquise und des Marquis de Sade (in der „Grande Revue“ 1899 No. 1) ist hoffentlich der Anfang gemacht worden, den bisher so ängstlich gehüteten litterarischen Nachlass des Verfassers der „Justine“ der wissenschaftlichen Welt zu erschliessen.

Ich habe, bereits mit meinem Werke über den Marquis de Sade beschäftigt, alle diese Publikationen mit Freuden begrüsst als ein bezeichnendes Symptom


VIII

dass man in den gelehrten Kreisen das Bedürfnis empfindet, genauer über die rätselvolle Persönlichkeit des „joli Marquis“ unterrichtet zu sein als dies bisher der Fall war. Denn noch 1895 schrieb Eulenburg („Sexuale Neuropathie“. S. 120): „Nur zu oft habe ich die Beobachtung gemacht, dass man sich in der Litteratur dieses Gegenstandes fortwährend auf de Sade und seine Werke bezieht, ohne die allergeringste wirkliche Kenntnis davon zu verraten.“ Dies Dunkel zu lichten, war hohe Zeit.

Seit früher Jugend wuchs ich in der buntesten, farbenreichsten aller Welten auf, in der Welt der Bücher! Und es ging mir wie jedem Bibliophilen. Nicht blos das harmonisch Schöne, das Klassische im beglückenden Sinne des Wortes zog mich an, sondern auch jene, um mit Macaulay zu reden, „seltsamen Fragmente aus der literarischen Geschichte“, jene bizarren Pliaenomene menschlicher Einbildungskraft erregten früh mein Interesse. Der Bücherfreund weiss, dass es kein Produkt des menschlichen Geistes giebt, welches nicht von einigem Wert für die Erkenntnis wäre. Der Bücherfreund sucht in den Büchern mit liebevollem Herzen die Menschen. Nichts „Menschliches“ darf ihm fern bleiben, nicht nur um sein Wissen, seine Erkenntnis zu mehren, sondern auch, weil er ein Menschenfreund ist und sein will.

Daher ist dieses Buch nach Anlage, Ausführung und Inhalt das erste wissenschaftliche Original- Werk über den Marquis de Sade in einer lebenden europäischen Sprache, kein geistreiches Feuilleton, auch keine dürre Registrierarbeit, sondern der ernsthafte Versuch, ein wirklich brauchbares „document humain “ zu liefern, das dem Erforscher d er M enschennatur von einige m Nutzen sein k ö n n e. Es ist geschrieben für den Arzt —


IX


icli selbst bin ein solcher — für den Juristen, den Nationalökonomen, den Historiker, den Philosophen — für alle die, welche im sozialen Sinne thätig sind und das Wohl der menschlichen Gesellschaft fördern wollen. Es hat eine „moralische“ Tendenz. Denn ich glaube, dass es einstweilen noch moralisch ist, die Ehe als das Fundament der Gesellschaft zu preisen und in der physischen Liebe mit Plato und Hegel nur ein Ueber- gangsstadium zu einer höheren geistigen Bethätigung zu sehen. Ich habe in diesem Buche alles erreichbare Material über den Marquis de Sade zusammengetragen. Nichts dürfte fehlen. Aber ich habe im Sinne dieser „Studien“ sein Leben und seine Werke als Objekte der geschichtlichen Erfahrung aufgefasst und damit — wie ich glaube — einen neuen Weg zur Erkenntnis der sexualpathologischen Phaenomene betreten. Ob er gang- bar ist, das mögen die Leser und die Kritiker beurteilen.

Wenn der berühmte Nationalökonom W. Roscher dem Herausgeber des „Hermaphroditus“ von Antonius Panormita, dem gelehrten und ehrlichen F. C. Forberg eine „schimpfliche Sachkenntnis“ zum Vorwurf macht, wenn Parent-Duchatelet sein grosses Werk über die Prostitution in Paris mit einigen entschuldigenden Worten über die darin vorkommenden Obscönitäten einleitet, so finde ich Beides unaufrichtig und eines Forschers nicht würdig. Ich entschuldige mich nicht. Mögen die moralisch Entrüsteten kommen ! Ich tröste mich mit dem Worte eines von mir sonst nicht sehr Geliebten: „Niemand lügt so viel, als der Entrüstete“. (Fr. Nietzsche „Jenseits von Gut und Böse“ Aphorismus 26, 8. 48).

Das Übel ist in der Welt. Man muss es erforschen, aufdecken und die Mittel zu seiner Beseitigung zu finden


X


suchen. Dies habe ich gethan. Im übrigen muss der Mensch sein, wie die Geschichte. Denn diese ist nicht das Weltgericht, sie führt nicht hinab zu Minos und Rhadamanthys, sondern sie führt empor und deutet mit dem ernsten, grossen Auge, mit der ehernen, nie er- müdenden Hand auf olympische Höhen.

Berlin, den 15. Dezember 1899.


Der Verfasser.


Vorwort zur dritten Auflage.


Diese vorliegende dritte Auflage ist vom Autor voll- ständig durchgesehen, verbessert und bedeutend vermehrt worden.

Berlin, den 15. Januar 1901.


Der Verleger.

Einleitung.

Die Aufgaben einer Wissenschaft des menschlichen Geschlechtslebens.

(Phänomenologie der Liebe.)

Unter drei Gesichtspunkten ist eine wissenschaftliche Betrachtung des menschlichen Geschlechtslebens möglich. Zunächst tritt uns die Liebe als eine Naturerschein- ung entgegen, die als solche dem Gesetze der Causalität unterworfen ist. Dann aber ist sie, entzogen der bewusst- losen Notwendigkeit, ein Objekt der Geschichte, jenes Prozesses, der, um mit einem geistesgewaltigen Worte He ge Ls zu reden, den „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ darstellt. Das Ziel der Liebe aber ist, wie alles menschliche Geschehen, die Freiheit, welche mit dem absoluten Geist, der höchsten Erkenntnis, identisch ist.

So existieren nur drei Probleme der Liebe, nicht mehr: das physische, das historische und das metaphysische Problem.

Für uns, die wir durchweg der historisch-kritischen und dialektischen Methode Hegel’ s folgen, sind diese Probleme ebenso viele Stufen der Entwickelung,, deren genaue Erkenntnis zugleich das wahre Wesen der menschlichen Liebe erleuchten und enthüllen wird. Es- ist jener Weg von der sinnlichen (physischen) zur pla-

D Uhren, Studien I. Der Marquis de Sade. i


2


tonischen (metaphysischen) Liebe, den bereits Plato erkannt hat, dessen Hauptpunkte wir kurz andeuten wollen. Dabei ist zu bemerken, dass die Liebe als Er- scheinung der Natur und als Erscheinung des abso- luten Geistes, die Liebe im Reiche der Notwendigkeit und im Reiche der Freiheit bisher am meisten Gegen- stand einer wissenschaftlichen Forschung gewesen ist. Wir besitzen ausgezeichnete Werke über das menschliche Geschlechtsleben in naturwissenschaftlicher und metaphysischer Beziehung. Dagegen ist jenes grosse Gebiet fortwährender geistiger Befruchtung des n a t ft r- lichen Geschehens, welches sich in der Geschichte darstellt, über Gebühr vernachlässigt worden. Und doch ist dieses wichtige Zwischenglied, die geschichtliche Er- scheinung des Sexuallebens, ganz allein geeignet, uns über viele dunkle Punkte, die uns im Wesen und in der Entfaltung der Liebe begegnen, aufzuklären. Diese „Studien zur Geschichte des menschlichen Geschlechts- lebens“ behandeln durchgängig die Liebe als histo- risches Problem, aber nicht ohne Verknüpfung mit dem physischen und metaphysischen Probleme. Mehr als ein- mal hoffen wir den Beweis zu erbringen, dass diese ge- schichtlichen Betrachtungen manches Dunkel lichten, manches Rätsel des Eros lösen können.

Wir wollen in Kürze das System einer Wissenschaft des menschlichen Geschlechtslebens darstellen und be- trachten zunächst

1. Die Liebe als physisches (natürliches) Problem.

Die „Kosmogonie“, die Erschaffung der Welt selbst, des gestirnten Himmels und der seligen Götter wird in


3


den Mythen vieler Völker als ein Akt der geschlechtlichen Zeugung gedacht. So erhaben, so wunderbar und rätsel- voll erschien schon den ältesten Menschen in grauer Vorzeit der rein physische Vorgang der Paarung, Be- fruchtung und Geburt. Materie ist der „Mutter “-Stoff, das Weltganze, die „Natura“ ist das „Geborene“. Nach G. Herrn an 1 ) hat die neuere Schule der anthropologischen und mythologischen Forschung eine derartige Anthro- pomorphisierung der Weltentstehung als wahrscheinlichste Quelle aller Religionssysteme angenommen. Himmel und Erde sind dem Chinesen „Vater und Mutter aller Dinge.“ Auch das „Weltenei“ spielt in den Religionen und Mythen der verschiedensten Völker eine grosse Rolle.

Die ersten Geschöpfe aber, Götter sowohl wie Menschen, sind Zwitter 2 ). Wer kennt nicht die berühmte Erzählung des Aristoplianes im platonischen ,, Gastmahl“ (Kap. 14)? Einst sei die Natur des Menschen eine andere ge- wesen als jetzt. ,,Denn zuerst gab es drei Geschlechter von Menschen, nicht wie jetzt nur zwei, das männliche und das weibliche, sondern noch ein drittes dazu, welches das gemeinschaftliche war von diesen beiden; sein Name ist noch übrig, während es selbst verschwunden ist. Mannweib (dvdooyvvoS) nämlich war damals dieses eine.“ Auch aus dem anfangs zweigeschlechtlichen Adam der Bibel ging das erste Menschenpaar als Mann und Weib hervor.

Die Liebe als kosmogonisches Prinzip spielt bei Empedokles eine ganz besondere Rolle. Zwei Grund- kräfte sind es, durch welche nach diesem Philosophen

B „Genesis“. Das Gesetz der Zeugung Bd. HT. Leipzig 1899. S. 10.

2 ) G. Herrn an a. a. 0. S. 8.

1 *


4


alle Veränderung in der Mischung und Trennung der Stoffe hervorgebracht wird: Die Liebe und der Hass. In unermesslichen Perioden der Weltentwickelung über- wiegt bald die eine, bald die andere dieser beiden Grundkräfte als herrschende Macht. Ist die Liebe zur völligen Herrschaft gelangt, so ruhen alle Stoffe in seligem Frieden vereint in der Weltkugel als in Gott. Durch das Fortschreiten der Macht des Hasses, auf deren Höhepunkt alles zerstreut und zersprengt ist, oder umgekehrt, durch das Fortschreiten der Macht der Liebe werden verschiedene Uebergangszustände in der Welt- entwickelung hervorgebracht. Durch das wiederholte Spiel von Zeugung und Vernichtung blieben schliesslich allein die Erzeugnisse übrig, welche die Bürgschaft der Dauer und Lebensfähigkeit in sich trugen. — Wie die oben erwähnten kosmogonischen Theorien durchweg anthropomorphisierender Tendenz sind und auf Beobach- tungen in der organischen Natur beruhen, so ist die Idee des Empedokles eine grossartige Konzeption einer naturwissenschaftlichen Vorstellung, wie sie im modernen Darwinismus ausgebildet worden ist.

Die neuere Wissenschaft hat die naiven mytho- logischen und kosmogonischen Vorstellungen der Vorzeit bestätigt. Wir wissen auch, dass die physische Liebe des Menschen, also das Anfangsglied der Entwickelung selbst erst ein secundäres Erzeugnis, das Produkt einer Differenzierung ist, nur erklärbar durch die Entwickelung des organischen Lebens überhaupt. Die Zwitter- bildung, d. h. die Vereinigung der beiden Geschlechts- zellen in einem Individuum ist der älteste und ursprüng- lichste Zustand der geschlechtlichen Differenzierung. Erst später entstand die Geschlechtstren n u n g. Nach.


Haeckel 1 ) findet sich der Hermaphroditismus nicht nur hei niedersten Tieren, sondern auch alle älteren wirbel- losen Vorfahren des Menschen, von den Gastraeaden bis zu den Prochordoniern aufwärts, werden Zwitter ge- wesen sein. Wahrscheinlich waren sogar die ältesten Schädellosen noch Hermaphroditen. Ein wichtiges Zeugnis •dafür liefert der merkwürdige Umstand, dass mehrere Fisch-Gattungen noch heute Zwitter sind, und dass ge- legentlich als Atavismus auch bei höheren Vertebraten aller Klassen der Hermaphroditismus noch heute wieder- •erscheint.

Die Geschlechtstrennung, der Gonochorismus, wie Haeckel dies nennt, erscheint später als die Ver- teilung der beiderlei Geschlechtszellen auf verschiedene Personen. 2 ) Dann treten zu den primären Geschlechts- drüsen secundäre Hilfsorgane wie Ausführgänge u. s. w. hinzu, und zuletzt entwickeln sich durch geschlecht- liche Zuchtwahl, die Selectio sexualis, die sogenannten „secundären Sexual-Charaktere“ d. h. diejenigen Unter- schiede des männlichen und weiblichen Geschlechts, welche nicht die Geschlechtsorgane selbst, sondern an- dere Körperteile betreffen (z. B. der Bart des Mannes, die Brust des Weibes).

Hierbei unterliegt die morphologische Ausbildung der menschlichen Geschlechtsorgane dem berühmten, von Haeckel zuerst formulierten „biogenetischen Grund- gesetz“, dass die Ontogenie, die individuelle Entwickelung, einen abgekürzten, unvollständigen Abriss der Phylogenie,

M Ernst Haeckel „Anthropogenie“ Bd. II, Leipzig 1891. S. 793. ..

2 ) Über „Herinaphroditismns“ und „Gonochorismus“ handelt Haeckel ausführlich in seiner „Generellen Morphologie“ Leipzig 1866. Bd. II. S. 58-71.


6


der Stammesentwickelung darstellt. In den grossen Lehr- büchern der Entwickelungsgeschichte von Kölliker und Hertwig findet man die zuverlässigsten Darstellungen der Ontogenie der Sexualorgane.

In der Beschreibung der ausgebildeten männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane ist das klassische Werk von Kob eit 1 ) bisher noch nicht übertroffen worden, wenn auch die Beschreibung der Geschlechtsorgane in dem grossen „Handbuch der Anatomie des Menschen“ von K. von Bardeleben (Jena 1896 ff.) viele neue Aufschlüsse zu bringen verspricht. 2 )

Die Entstehung der secundären Geschlechts- charaktere ist Gegenstand der Darstellung in dem be- rühmten Buche von Charles Darwin. 3 )

Aus diesen anatomischen Substraten der mensch- lichen Liebe wird man die Physiologie derselben im weitesten Umfange ableiten müssen. Das Hauptwerk über den Vorgang der Zeugung im Gesamtgebiete des organischen Lebens und beim Menschen besitzen wir in dem Werke von Hensen. 4 )

Der Fundamentalvorgang aller Liebe bei Mensch, Tier und Pflanze, die älteste Quelle der Liebe ist die Wahlverwandtschaft zweier verschiedener erotischer Zellen: der männlichen Spermazelle und der weiblichen Eizelle, das, was Haeckel 5 ) den „erotischen Chemo-

l ) G. L. Kob eit „Die männlichen und weiblichen Wollust-

organe des Menschen und einiger Säugetiere“. Freiburg 1844.

3 ) Bisher erschienen Bd. VII Abt. 1 Teil 2: „Die weiblichen Geschlechtsorgane“ von Dr. W. Nagel.

3 ) „Die Abstammung des Menschen u. die geschlechtl. Zucht- wahl“ übersetzt von .T. V 7 . Carus. 5. Auflage. Stuttgart 1890.

4 ) Victor Hensen „Physiologie der Zeugung“ in II e r- mann’s „Handbuch der Physiologie.“ Bd. VI. Leipzig 1880.

5 ) „Anthropogenie“ Bd. II. S. 793.


i


tropismus“ genannt hat. Der Zweck und das Endziel der physischen Liebe ist die Verschmelzung oder Verwachsung dieser beiden erotischen Zellen. „Alle anderen Verhält- nisse und alle die übrigen, höchst zusammengesetzten Erscheinungen, welche bei den höheren Tieren den ge- schlechtlichen Zeugungsakt begleiten, sind von unter- geordneter und sekundärer Natur, sind erst nachträglich zu jenem einfachsten, primären Copulations- und Befruch- tungsprozess hinzugetreten.“ — „Überall ist die Verwachsung zweier Zellen das einzige, ursprünglich treibende Motiv,, überall übt dieser unscheinbare Vorgang den grössten Einfluss auf die Entwickelung der mannigfaltigsten Ver- hältnisse aus. Wir dürfen wohl behaupten , dass kein anderer organischer Prozess diesem an Umfang und In- tensität der differenzierenden Wirkung nur entfernt an die Seite zu stellen ist.“ (Haeckel).

Nachdem dieser fundamentale Vorgang der Zeugung festgestellt ist, gelangen wir zu einer Betrachtung jener physischen Liebesregungen beim Menschen, welche sich in Form des Geschlechtstriebes 1 ) äussern. Diesen dunkeln Begriff hat Moll in höchst geistvoller Weise aufgehellt. 2 ) Er zerlegt den Geschlechtstrieb beim er- wachsenen Menschen in zwei Komponenten, den Detumes- cenztrieb und den Kontrektationstrieb. Der Detumescenztrieb drängt zu einer örtlichen Funktion an den Genitalien, und zwar beim Manne zur Samen- entleerung. Er ist als ein peripherer organischer Drang

P Eine allgemeine, übersichtliche Darstellung des Ge- schlechtstriebes nach seiner physischen Erscheinungsweise giebt H. Rohleder in seinen „Vorlesungen über Sexualtrieb und Sexualleben des Menschen“. Berlin 1901.

") Albert VI o 1 1 „Untersuchungen über die Libido sexualis.“ Bd 1. Berlin 1897. S. 1 — 95.


8


zur Entleerung eines Sekretes aufzufassen. Der Kontrek- tationstrieb drängt den Mann zur körperlichen und geistigen Annäherung an das Weib, das letztere ebenso zur Annäherung an den Mann. Phylogenetisch ist die Detumescenz als Mittel zur Fortpflanzung das Pri- märe, weil sie bei niederen und höheren Tieren statt- findet. Erst secundär kam die Kontrektation hinzu, indem sich zwei Individuen zur Fortpflanzung verbanden. In der individuellen Entwickelung des Menschen ist die Anwesenheit der Keimdrüsen, der Erreger des Detumes- cenztriebes, das Primäre. Der Kontrektation st rieb ist ein secundärer Geschlechtscharakter. Der Detumescenztrieb des Mannes ist die unmittelbare Folge der Funktion der Hoden. Beim Weibe hängt zwar die Ausscheidung der Eizelle aus dem Ovarium mit dem Detumescenztrieb nicht unmittelbar zusammen, ursprüng- lich fielen sie aber zusammen, wie man noch bei den Fischen sieht.

Nunmehr geht Moll 1 ) zur Erörterung einer höchst wichtigen Frage über, welche für die Beurteilung vieler Erscheinungen von der grössten Bedeutung ist, nämlich zu dem V erhältnis zwischen Ererbtem und E r w o r b e n e m in der Geschlechtsliebe. Dies ist der Punkt, in welchem wir ganz und gar von Moll ab weichen, weil wir durch die geschichtliche Betrachtung zu ganz an- derer Auffassung geführt werden als M oll, welcher durch seine allerdings ingeniöse naturwissenschaftliche Argumentation zu beweisen sucht, dass neben dem De- tumescenztriebe — woran wir nicht zweifeln — auch die mannigfaltigsten Erscheinungen des Kontrektations- triebes ererbt sind. Kurz, Moll ist geneigt, sowohl

!) M. a. a. 0. S. 9G— 310.


9


die physiologischen als auch die pathologischen Er- scheinungen des Geschlechtstriebes zum grössten Teile auf V ererb u n g zurückzuführen, während nach seiner Ansicht die e r w orbenen Faktoren nur eine sehr ge- ringe Rolle spielen. Normaler und abnormer Ge- schlechtstrieb („conträre Sexualempfindung“, Homosexua- lität) erklären sich nach Moll eher aus der Vererbung als aus der durch die Umstände geschaffenen Gewohn- heit. Wir wollen nicht leugnen, dass gewisse körper- liche und geistige Dispositionen vererbt werden. Wir werden aber durch unsere Studien zu dem Bekenntnis gezwungen, dass die Vererbung in der Liebe eine viel geringere Rolle spielt, als die Erwerbung bestimmter Eigenschaften und die stete Wirkung äusserer Einflüsse. Dies auf ge schic htlic hem Wege zu erweisen, ist unsere Aufgabe und wird schon im vorliegenden Bande mehr als einmal zu Tage treten. Aber auch das rein naturwissenschaftliche Räsonnement vermag diesen Standpunkt zu rechtfertigen und zu befestigen, wie die ganz vortreffliche kleine Schrift von K. N e i s s e r aufs evidenteste darthut. 1 )

Den gleichen Standpunkt der congenitalen Natur zahlreicher geschlechtlicher Perversionen vertritt R. v. Krafft-Ebing in seinem ausserordentlich verbreiteten Werke über die „Psychopathia sexualis“, während hin- wiederum von Schrenk-Not zing, sich mehr unserem Standpunkt nähernd, die Suggestion als Ursache mancher sexuellen Abnormitäten betrachtet. 2 )

Krafft-Ebing hat aber das unbestreitbare Ver-

9 Karl N ei s ser „Die Entstehung der Liebe“. Wien 1897.

2 ) „Die Suggestions - Therapie bei krankhaften Erschein- ungen des Geschlechtssinnes“. Stuttgart 1892.


dienst das gesamte menschliche Geschlechtsleben vom Stan dpnnkt des Irrenarztes einer eingehenden Wür- digung unterzogen zu haben.

Als Vorläuferin sexueller Ausschweifungen spielt ferner „zweifelsohne die Onanie eine grosse Rolle, welche ganz kürzlich in dem Buche von Rohleder 1 ) die erste kritische und als solche mustergiltige Bearbeitung gefun- den hat.

Wichtige Aufklärungen über die Natur der ge- schlechtlichen Beziehungen des Menschen werden auch durch das Studium jener körperlichen Vorgänge darge- boten, welche nur mittelbare Einflüsse auf die sexuellen Akte ausüben. Vor allem gehören hierher die Sinne, der Stoffwechsel und die psychischen Vorgänge. 2 ) Gerade aus der Untersuchung der Beziehung der Sinne zum Geschlechtsleben, vor allem des Geruchs und Ge- sichts, wird sich das häufige Erworbensein abnormer Zu- stände ergeben. Eine experimentale Psychologie der Liebe existiert nicht. 3 ) Was bisher unter dem Namen einer „Psychologie der Liebe“ geboten wurde, ist in naturwissenschaftlicher Hinsicht kaum beachtenswert wie z. B. die nach anderer Richtung hin vortreffliche „Psychologie der Liebe“ von Julius Duboc. „Einige wenige sorgfältige Untersuchungen, die aber noch der Bestätigung und weiterer Ausdehnung bedürfen, einige Beobachtungen über formlose Thatsachenmassen, die in praktischer Lebenserfahrung aufgehäuft sind und die

J ) H. Rohleder „Die Masturbation.“ Berlin 1899 .

2 ) Eine zusammenfassende Behandlung dieser drei Fak- toren giebt Havelock Ejlis „Mann u. Weib.“ Leipzig 1894 .

3 ) Sappho hat in einer ihrer berühmten Oden eine Psy- chopbysik der Liebe gegeben. Vergl. F. G. Lipps „Grundriss der Psychophysik.“ Leipzig 1899 . S. 143 .


ihren Wert haben, wenn sie auch in mannigfacher Weise missverstanden und falsch ausgelegt werden können — das ist alles, was die empirische Psychologie bisher über die intellektuellen Unterschiede der Geschlechter zu bieten hat.“ (Havelock Ellis.)

Die breiteste Grundlage für eine naturwissenschaft- liche Erforschung der psychischen Erscheinungen des menschlichen Geschlechtslebens bildet unzweifelhaft das von der Anthropologie und Ethnologie gesammelte Material, wie es in dem klassischen Werke von Floss und Bartels 1 ) vorliegt. Hier beginnen schon vielfach die Berührungen mit den soziologisch-historischen Pro- blemen des Sexuallebens.

Die Liebe als physisches Problem betrachtet, um- fasst auch, was wir zum Schluss nur noch kurz erwähnen wollen, die organischen Geschlechtskrankheiten des Menschen.

2. Die Liebe als historisches Problem.

Die Liebe als geschichtliche Erscheinung ist nichts an und für sich. Sie ist, ganz evolutionistisch gefasst, das zu immer grösserer Freiheit fortschreitende Ver- hältnis zwischen der physischen Liebe und den aus der Selbstentfaltung des Geistes hervorgegangenen Formen der Gesellschaft, des Rechtes und der Moral, der Religion, der S p r a c h e und Dichtung. Es ist wichtig zu betonen, dass es auf diesem Gebiete keine Causalität, keine Gesetze in naturwissenschaftlichem Sinne geben

r ) „Das Weib in der Natur- und Völkerkunde.“ (]. Auf- lage, Leipzig 1899.

2) Vergl. hierüber: L. Stein „Wesen und Aufgabe der Soziologie“ 1898. — Th. Achelis „Soziologie“ Leipzig 1899.


12


kann, dass die von Herbert Spencer inaugurierte „organische Methode“ der Soziologie den geschichtlichen Erscheinungen nicht gerecht zu werden vermag. Es giebt bei der Betrachtung sozialer Phaenomene keine Gesetze sondern nur Rhythmen 2 ). „Den Schritt vom Rhythmus zum Gesetz können wir heute noch nicht wagen, wenn wir gleich der Ueberzeugung sind, dass Rhythmen letzten Endes auf (uns noch verborgene) soziale Gesetze zurück- deuten.“ (Stein.) Trotzdem ist hierbei blinder Zufall ausgeschlossen. Denn dieser soziale Rhythmus stellt sich bei bestimmten Bedingungen und Voraussetzungen regel- mässig wieder ein und nimmt damit für uns das Gepräge bestimmter Gesetzlichkeit an. Achelis (a. a. 0. S. 68) macht in dieser Beziehung auf die bekannten statistischen Erhebungen über Wiederkehr derselben Vergehen, über den wahren Zusammenhang von Moral und wirtschaft- lichen Verhältnissen aufmerksam. Es handelt sich also auch, insofern die Liebe als geschichtliche und sozio- logische Erscheinung in Betracht kommt, nur um Auf- findung jener Rhythmen, jener regelmässig wiederkehrenden Formen und Typen des Geschehens.

Die Liebe als eine sozi ale Erscheinung, als Produkt der Gesellschaft, erscheint wesentlich in den beiden Formen der Ehe und der Prostitution.

Eduard Weste rmarck, Professor an der Univer- sität in Helsingfors, hat das für alle Zeiten grundlegende Werk über die Geschichte der menschlichen Ehe ge- schrieben, welches wir nicht anstehen, den besten kultur- historischen und soziologischen Werken eines Buckle, T y 1 o r , F. A. L ange u. a, ebenbürtig an die Seite

M^E. Western) arck „Geschichte der menschlichen Ehe“. A. d. Engl, von L. Kätscher und R. Grazer. Jena 1893.


13


zu stellen. 1 ) Dies Buch weist in der unwiderlegbarsten Weise mit der gediegensten wissenschaftlichen Argumen- tation die Ehe als die überall wiederkehrende primi- tive soziologische Form und das soziologische Endziel der Liebe nach und macht der noch bis in die neueste Zeit von Bachofen, Mc.-Lennan, Morgan, L u b b o c k , Bastian, L i p p e r t , Köhler, Post ver- tretenen Lehre von der ursprünglichen geschlechtlichen Ungebundenheit, der sogenannten Promiscuität für immer ein Ende. Die „Kritik der Promiscuitätslehre“ (a. a. 0. S. 46 — 130) gehört zu den glänzendsten Leistungen der modernen Soziologie. Ihr Ergebnis muss auf die Anschauungen über das menschliche Geschlechtsleben nicht blos in soziologischer, sondern auch in philosophischer Hinsicht den grössten Einfluss ausüben.

Nach Wester marck kommt die Ehe schon bei vielen niedrigen Tiergattungen vor, bildet bei den menschenähnlichen Affen die Regel und ist bei den Menschen allgemein. Ihr Ursprung muss offenbar einem durch den mächtigen Einfluss der natürlichen Zuchtwahl zur Entwickelung gebrachten Instinkt zugeschrieben werden. Dass der Urmensch die Ehe kannte, darf man mit grösster Zuversicht mutmassen. Denn die Ehe der Primaten (Menschen und Affen) scheint aus der kleinen Anzahl der Jungen und aus der Länge des Kindesalters hervorgegangen zu sein. Mit aller Wahrscheinlichkeit bezeichnet Wester marck die menschliche Ehe als ein von den affenähnlichen Ur- menschen überkommenesErbe. Ferner weist er nach, dass gerade bei den am niedrigsten stehenden Völkerschaften die geschlechtlichen Beziehungen sich am wenigsten der Promiscuität nähern. Wir haben sogar Grund zu dem Glauben, dassmitdemFortschreitenderKulturdie


ausser eheliche nBeziehungenderGeschlechter zugenommen haben. Demgemäss hat in Europa die Zahl der Ehelosen eine Zunahme, das Durchschnittsalter der Eheschliessung eine Hinaufschraubung erfahren.

Allerdings ist die Lebenslänglichkeit der Ehe durchaus nicht ganz allgemein. Bei den meisten uncivili- sirten und vielen vorgeschrittenen Völkern darf der Mann der Gattin jederzeit nach Belieben den Abschied geben. Bei sehr vielen anderen jedoch — auch solchen auf niedrigster Stufe — bildet die Scheidung den Ausnahmefall. Es kommt auch vor, dass dem Weibe gestattet ist, dem Gatten den Laufpass zu geben. Im allgemeinen nimmt die Dauer der Ehe mit der Vervollkommnung des Menschen- geschlechts stetig zu.

Während die Ehe als die eminent soziale Form der Liebe zu betrachten ist, in welche sich seit jeher das menschliche Geschlechtsleben gekleidet hat, muss als ihr Gegenpol, als absolut antisoziale Erscheinung die Prostitution bezeichnet werden. Man nennt sie, wie bekannt, ein „notwendiges Übel“. Eine wissenschaftliche, dem Stande der modernen Forschung entsprechende Ge- schichte der Prostitution existiert noch nicht. Das grosse, achtbändige Werk von Dufour 1 ) enthält zwar eine grosse Menge Material, dasselbe ist aber gänzlich unübersichtlich zusammengestellt. Zudem verliert auch diese Zusammen- stellung jeden Wert durch den gänzlichen Mangel der


! ) P. D u f o u r „llistoire de la Prostitution“ 8 Bde. Brüssel. 1851—54. — Eine recht gute Arbeit über die Prostitution im 19. Jahrhundert ist das Werk von Dr. Jul. Kühn „Die Prostitution im 19. Jahrhundert“. 4. Aufl. Leipzig 1897. — R a b irt a u x ’ besonders durch eine vorzügliche Bibliographie (von Paul Laer o ix) sich auszeichnende „Prostitution en Europe“ Paris 1851 reicht nur bis zum 16. Jahrhundert.


15


genauen Quellennachweise. Nur aus einer gleichmässig die Ergebnisse der Soziologie, Hygiene und Nationalökonomie verwertenden geschichtlichen Darstellung der Prostitution würde sich ein sicheres Urteil über die Ursache und die Abhilfe dieses sozialen Übels gewinnen lassen. Besonders Bebel’s Werk „Die Frau und der Sozialismus“ hat manche unrichtigen Anschauungen über die Ursachen der Prostitution verbreitet, indem dieser Autor dieselben auf die wirtschaftliche Ausbeutung und die Hungerlöhne zurückführt. Demgegenüber sei nur auf die gediegene, aus langjähriger Erfahrung hervorgegangene Arbeit über Prostitution von G. B ehrend 1 ) hingewiesen, der ganz andere Ursachen derselben aufdeckt, dieselben vor allem in einer fast stets erworbenen Lasterhaftigkeit sieht und ganz richtig bemerkt, dass man meist die veranlassenden äusseren Momente für die eigentlichen Ursachen ansieht. Der bedeutendste Forscher über Prostitution neben Behren d ist B. Tarnowsky 2 ), der bemerkenswerter Weise zu den gleichen Ergebnissen wie jener gelangt ist und als eine Fabel nach weist, dass die Armut die nie versiegende Quelle der Prostitution sei. Auch A. He gar hat den Versuch gemacht, BebeUs Behauptungen zu widerlegen, und zugleich in seiner sozial hygienischen Studie Vorschläge zu einer Beseitigung des „geschlechtlichen Elends“ gemacht. 3 )

Den kühnsten Vorstoss in der Erklärung der Prostitution hat aber wohl Lombroso unternommen. Er geht von dem unzweifelhaften Zusammenhänge zwischen Prostitution und Verbrechen aus und statuirt, dass die „Donna delin-

M In »Eulenbur g’ s Real-Encyclopaedie der gesamten Heilkunde“ 3. Auflage. Berlin u. Wien i 898 Bd. 19.. S. 436—450.

2 ) Tarnows k y „Prostitution u. Abolitionismus“ Hamburg

1890.

3 ) A. He gar „Der Geschlechtstrieb“ Stuttgart 1894 .


16


quente e prostituta“ nur eine besondere Abart des „reo nato“, des „geborenen Verbrechers“ sei 1 ). Ganz richtig bemerkt er, dass daher die Dirnennatur nicht nur in den unteren Klassen vorkomme, sondern ihr Äquivalent auch in den höheren Gesellschaftsschichten habe, was wiederum ein Beleg dafür ist, dass man nicht die Armut als Ursache der Prostitution anschuldigen kann. Trotzdem halten wir die Theorie der „geborenen Prostituirten“ für verfehlt und müssen auch wiederum den äusseren Einflüssen wie falscher Erziehung, Umgebung u. s. w. mehr Bedeutung zuerkennen. Jedenfalls bringt das Buch Lombroso’s wertvolle Aufschlüsse über den niemals bestrittenen innigen Zusammenhang von Prostitution und Verbrechen.

Das Verhältnis der Liebe zum öffentlichen Recht spiegelt sich vor allem in der sogenannten Frauen frage wieder. Nimmt man, wie wir gesehen haben, die Ehe als Grundlage der Gesellschaft und als das soziologische Endziel der Liebe, so ist eine allgemeine ,Frauenemancipation‘ d. h. die völlige Aufhebung aller gesellschaftlichen, staatlichen und wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Mann und Frau ein Widerspruch in sich selbst. Denn die Ehe bedingt allein schon durch die Geburt der Kinder, die Sorge für diese und die wirtschaftlichen Angelegenheiten der Familie eine Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau. Auch lassen sich trotz glänzender Ausnahmen die grossen körperlichen und geistigen Verschiedenheiten von Mann und Weib nicht verleugnen. Hiermit ist das Zugeständnis grösserer Rechte und zahlreicherer Bildungsgelegenheiten an die Frauen wohl vereinbar, besonders angesichts des grossen Überschusses der Zahl derselben über diejenige

D C. Lombroso „Das Weib als Verbrecherin und Prostituirte“ Hamburg 1891.


17


der Männer, sowie der späten Heiraten der letzteren. Anfang und Ende der „Frauenfrage“ ist für uns in dem einen Satze beschlossen: Die Frau ist die gleichberechtigte aber nicht gleichmächtige Gefährtin des Mannes.

Die rechtliche Beurteilung des Verhältnisses zwischen Mann und Weib hängt aufs innigste zusammen mit der ethischen Seite. Eine wichtige Aufgabe einer Wissen- schaft des Geschlechtslebens wird darin bestehen, den Einfluss der jeweiligen Lehren der Moral auf die mensch- liche Liebe und ihre Aeusserungen zu studieren und im Zusammenhänge darzulegen. Für Deutschland ist in neuester Zeit ein derartiger, freilich noch unvollkommener Versuch unternommen worden. 1 ) In der Tliat bildet die Regelung des sexualen Lebens „innerhalb der Oeffentlich- keit“ einen integrierenden Teil der Moralgeschichte über- haupt, und Ru deck hat Recht, wenn er diese zugleich als eine „Kritik der gesamten Kultur“ bezeichnet, deren Art und Bedeutung sich nirgends so treu wieder- spiegelt wie auf geschlechtlichem Gebiete. Dass die moralische Beurteilung geschlechtlicher Verhältnisse zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern eine ganz verschiedene gewesen ist, ist eine längst bekannte Tkatsache. Und doch wird auch hier eine kritische Unter- suchung gewisse Normen feststellen können, die Allgemein- gültigkeit beanspruchen. Mit der Vervollkommnung des Menschengeschlechts entwickelt sich auch eine Ethik des Sexuallebens. So führt W e s te r m a r c k in seiner „Geschichte der menschlichen Ehe“ den stringenten Nachweis, dass das Schamgefühl etwas secundäres und zwar die Folge, nicht die Ursache der Bekleidung ist.

x ) W. Ru deck „Geschichte der öffentlichen Sittlichkeit in Deutschland“ Jena 1897.


D Uhren, Studien I. Der Marquis de Sade.


2


18 —


Ein sehr grosses Forschungsgebiet ergiebt sich aus den Beziehungen zwischen Liebe und Religion. G. Her- man, dessen Buch wir oben erwähnten, hat im Detail geschildert, wie alle Mythologie und Religion auf sexueller Grundlage erwachsen ist, und deduziert mittelst einer höchst interessanten Beweisführung, dass aus den ge- schlechtlichen Feiern und Mysterien der Urvölker die Riten der heutigen Konfessionen geworden sind. Man darf behaupten, dass die Religion oder besser der Ivon- fessionalismus das menschliche Geschlechtsleben im ganzen höchst ungünstig beeinflusst hat. Man denke nur an die religiöse Mystik mit ihren sexuellen Ekstasen und Ausschweifungen, an den Kult der „Satanskirche“, die „schwarze Messe“ u. dgl. mehr. Die monotheistischen Religionen, sobald sie zum Konfessionalismus entarten, sind hierin um nichts besser als die heidnischen Religionen, ja vielleicht noch schlimmer, und es liegt etwas Wahres in Niet zs che’ s Ausspruch: 1 ) „Das Christentum gab dem Eros Gift zu trinken: — er starb zwar nicht daran, aber entartete, zum Laster“. Die meisten erotischen E p i d e m i e n sind religiösen Ursprungs.

Dass die Erscheinungen der Liebe bei verschiedenen Völkern gewissermassen nationale Formen annehmen, lehrt die Ethnologie. Die Liebe des Russen ist eine andere als die Liebe des Franzosen, die Liebe des Griechen eine andere als die des Böhmen. Einen wahr- haft objectiven Ausdruck findet diese ethnologische Verschiedenheit in der Sprache. In ihr werden die

  • ) Fr. Nietzsche „Jenseits von Gut und Böse.“ 4. Auflage.

Leipzig 1895 S. 111. — L. Feuerbach hat in seinem Aufsatze „Ueber die Glorie der heiligen Jungfrau Maria“ (Werke Bd. I Leipzig 1845) das Verhältnis zwischen Religion und Liebe sehr deutlich gemacht.


19


feinsten Nüancen sexueller Gefühle durch die betreffenden Worte sichtbar. Abel hat in einer höchst schätzbaren Abhandlung den ersten Versuch einer derartigen linguist- ischen Erforschung der Liebe gemacht. 1 ) Er untersucht so die Worte für Liebe in der lateinischen, englischen, hebräischen und russischen Sprache.

Die Sprache führt uns zur Dichtung. Die Werke der Litteratur bieten uns ein dankbares Feld für ver- gleichend-geschichtliche Untersuchungen über die mensch- liche Liebe. Die Weltliteratur liefert das Baumaterial für eine historische Psychologie der Liebe. Sie bietet, wie Stein (a. a. 0. S. 33) sagt, „den dankbarsten vergleichenden Stoff, der seiner sozialgeschichtlichen Bezwinger harrt“. Hier sind noch wahre wissenschaft- liche Schätze zu heben. Homer und die Bibel, die Veden und Upanishaden, die gesamte Weltliteratur in allen ihren Auszweigungen enthalten die getreuen Abbilder dessen, was die Liebe bei jedem Volke und zu jeder Zeit gewesen ist.

Endlich wird das menschliche Geschlechtsleben be- einflusst durch die materielle K u 1 1 u r einer bestimmten Epoche. Krieg und Frieden, städtisches Leben und

ländliche Idylle, Kleidung und Nahrung u. v. m., ver- schieden nach Zeit und Ort, üben auch auf die menschliche Liebe die grössten Wirkungen aus.

So ist die Liebe als geschichtliche Erscheinung unendlich reich an Beziehungen jeder Art, welche eine höhere Bedeutung des Eros ahnen lassen als sie die rein physische Liebe erkennen lässt. Untersuchen wir daher

1 ) C. Abel „Ueber den Begriff der Liebe in einigen alten und neuen Sprachen“ Berlin 1872. Samnfl. gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge von Virchow u. Iloltzendorf No. 158/159.


9 *


3. Die Liebe als metaphysisches Problem.

Dass der menschlichen Liebe eine höhere Bedeut- ung innewohnt, leuchtet schon daraus hervor, dass sie allein die Ursache der höchsten dichterischen Verzückung bei allen Völkern gewesen ist und noch ist. Und zwar ist es nicht die äussere Erscheinung, sondern das ge- waltige innere Wesen der Liebe, was den Menschen unwiderstehlich bezwingt. Wie Don Cesar in der „Braut von Messina“ sagt:

Nicht ihres Lächelns holder Zauber war’s,

Die Reize nicht, die auf der Wange schweben,

Selbst nicht der Glanz der göttlichen Gestalt —

Es war ihr tiefstes, ihr geheimstes Leben,

Was mich ergriff mit heiliger Gewalt.

Was ist nun dieses „tiefste und geheimste“ Leben? Was ist der wahre Zweck, das wirkliche Endziel der Liebe ?

Zwei berühmte Philosophen der Neuzeit, Arthur Schopenhauer und Eduard von Hartmann haben die gleiche metaphysische Betrachtung über die Liebe angestellt, die das grösste Aufsehen erregte und viele Nachbeter fand. A. Schopenhauer 1 ) erblickt die Be- deutung der Liebe in der Erfüllung der Zwecke der Gattung, welche in der Reihenfolge und dem endlosen Flusse der Generationen ihr Leben führt. „Die sämtlichen L i e b e s h ä n d e 1 der gegenwärtigen Generation zusammen- genommen sind demnach des ganzen Menschengeschlechts ernstliche meditatio compositionis generationis futurae, e qua iterum pendent innumerae generationes“. Dabei

  • ) »Die Welt als Wille u. Vorstellung“ ed. E. Griseback

Bd. 2. Leipzig 1891. „Metaphysik der Geschlechtsliebe" S. 623—668.


— 21 —

verlarvt sich aber der Gattungszweck, indem er in der Gestalt der Geschlechtsliebe eingeht in den persönlichen Zweck der Individuen und erscheint als deren höchstes Glück, als der Gipfel aller ihrer Wünsche, daher in der erhabensten Form, in den überschwenglichsten Gefühlen und Entzückungen, als das unerschöpfliche Thema aller Poesie, der lyrischen, epischen und dramatischen, als der Gegenstand des Lustspiels und des Trauerspiels. Eros spielt seine Rolle auf dem Sokkus und auf dem Kothurn. Dass die Liebenden die Erfüllung des Gattungs- zweckes für den Gipfel ihres persönlichen Glückes halten, darin besteht die tragische Illusion, der Wahn. Es ist ein schrecklicher Wahn. Denn im Genuss der Wollust kontrahiert der Mensch eine schwere Schuld, welche das erzeugte Individuum zu büssen und durch Leiden und Tod bezahlen muss. „Das Leben eines Menschen, mit seiner endlosen Mühe, Not und Leiden, ist anzusehen als die Erklärung und Paraphrase des Zeugungsaktes“. Der Eros als Ausdruck des Willens zum Leben, „wie ist er so sanft und zärtlich! Wohlsein will er, und ruhigen Ge- nuss und sanfte Freude, für sich, für Andere, für Alle. Es ist das Thema des Anakreon. So lockt und schmeichelt er sich selbst ins Leben hinein. Ist er aber darin, dann zieht die Qual das Verbrechen, und das Verbrechen die Qual herbei. Greuel und Verwüstung füllen den Schauplatz. Es ist das Thema des Aeschylos“. (a. a. 0. •S. 670.)

Die Illusion, die Täuschung und die Verzweiflung der Liebe schildert prachtvoll E. v. Hartmann 1 ). Sein Schluss ist dieser: „Wer einmal das Illusorische des

0 E. v. Hartmann „Philosophie des Unbewussten.“ 6. Auflage. Berlin 1874. S. 671—681.


22


Liebesglückes nach der Vereinigung und damit auch des- jenigen vor der Vereinigung, wer den in aller Liebe die Lust überwiegenden Schmerz verstanden hat, für den und in dem hat die Erscheinung der Liebe nichts Ge- sundes mehr, weil sich sein Bewusstsein gegen die Oktroyirung von Mitteln zu Zwecken wehrt, die nicht seine Zwecke sind; die Lust der Liebe ist ihm unter- graben und zerfressen, nur ihr Schmerz bleibt ihm un- verkürzt bestehen.“

Wer, wie wir, den Begriff der Liebe evolutionis- tiscli fasst, kann eine solche Metaphysik der Geschlechts- liebe nicht anerkennen. Es ist richtig, dass das rein Physische der Liebe mehr Unlust als Lust mit sich bringt durch Vorspiegelung seliger Freuden, die nachher zerrinnen wie Schaum. Aber die physische Liebe ist nur der Anfang einer Entwickelung, deren Ende gerade dem Individuum die grösste Seligkeit verheisst. Die physische Liebe ist nur der als solcher notwendige Durchgangspunkt zu dem wirklichen End- ziele, der platonischen Liebe. Das metaphysische Endziel der Liebe ist die Erkenntnis, die vollendete Freiheit. „Und Adam erkannte Eva“ heisst es tief- sinnig in der Bibel !

P 1 a t o , s und H e g e Ts Dialektik haben aufs treffendste- diese Wahrheit erleuchtet. Ganz richtig bemerkt Wi g a n d *) , dass die platonische Liebe der natürlichen oder phy- sischen Liebe gar nicht entgegengesetzt ist, sondern die Liebe zum sinnlichen und körperlichen Schönen ist die Leiter und die Leiterin zur Liebe und Er- kenntnis alles unsichtbaren Schönen und Guten in

’) W. Wigand „Die wahre Bedeutung der platonischen Liebe.“ Berlin 1877. S. 27.


— 23 —

Natur- und Mensclien weit, in Kunst und Wissenschaft von Stufe zu Stufe bis zur letzten Sprosse dieser Leiter, zur Anschauung der Allgesetzlichkeit, des Absoluten.

Noch deutlicher wird dies, wenn wir in den Sinn der Worte eindringen, welche die göttliche Diotima im „Gastmahl“ des Plato spricht, Worte, die ewig und un- vergänglich sind.

„Denn dies ist die rechte Art, sich auf die Liebe zu legen oder von einem anderen dazu angeführt zu werden, dass man von diesem einzelnen Schönen be- ginnend, jenes einen Schönen wegen immer höher hinauf- steige, gleichsam stufenweise von Einem zu Zweien und von Zweien zu allen schönen Gestalten und von den schönen Gestalten zu den schönen Sitten und Hand- lungsweisen, und von den schönen Sitten zu den schönen Kenntnissen, bis man von den Kenntnissen endlich zu jener Kenntnis gelangt, welche von nichts anderem als eben von jenem Schönen selbst die Kenntnis ist, und man also zuletzt jenes selbst, was schön ist, erkenne. Und an dieser Stelle des Lebens, lieber Sokrates, wenn irgendwo, ist es dem Menschen erst lebenswert, wenn er das Schöne selbst schaut.“ (Platonis Symposion 210,11.)

Das ist der wahre Sinn der platonischen Liebe. Sie ist der sinnlichen Liebe nicht entgegengesetzt, sondern geht von ihr aus und erhebt sich zu höheren Formen, indem sie den innigen Zusammenhang zwischen phy- sischer und geistiger Zeugung ausdrückt, worin das Wesen jeder wahren und echten Liebe wurzelt. 1 )

M „Neben der physischen Zeugung wandelt die geistige in der Welt“, sagt Ph. Mainländer. („Die Philosophie der Erlösung“ Leipzig 1894 Bd. II S. 489.)


24


Das Endziel der Liebe ist die Erkenntnis. Mit einer Ahnung dieses Sachverhaltes sagt Schopenhauer in den „Paränesen und Maximen“: „Zumal wird uns oft da, wo wir Genuss, Glück, Freude suchten, statt ihrer Be- lehrung, Einsicht, Erkenntnis, ein bleibendes, wahrhaftes Gut, statt eines vergänglichen und scheinbaren.“

Die platonische Liebe, so rätselhaft wie sie auf den ersten Blick erscheint, empfängt ihre hellste Beleuchtung durch die dialektische Methode Hegel’s, des ,, Welt- philosophen“, wie ihn C. L. Michele t nennt, des Darwin der geistigen Welt, wie wir ihn nennen möchten.

Für Hegel ist auch der Begriff der Gattung evo- lutionis tisch. 1 ) Das Leben enthält ein Problem in sich, welches durch die blossen Lebensfunktionen nicht aufgelöst wird. Die Aufgabe oder der Lebenszweck fordert die Erzeugung der Gattung. Die Lösung der Aufgabe bietet die Erzeugung immer neuer Individuen, welche selbst wieder Individuen ihrer Art hervorbringen. Das ist der Fluss der Generationen, die endlose Reihe der Geschlechter, welche entstehen und vergehen. Es ist dieGattung in derFonn des endlosenProzesses. Nur in der zeugenden Generation lebt die Gattung wirklich.

In demselben Masse, als eine Generation den Gattungs- zweck erfüllt hat, in demselben Masse hat sie ihren Lebenszweck erfüllt. Sie stirbt daher ab wie ein ver-


L Hegel’s Ideen hat am klarsten und überzeugendsten entwickelt Kuno FischerSystem der Logik und Metaphysik oder Wissenschaftslehre.“ 2. Auflage. Heidelberg 18R5. S. 527 — 530. Vgl. jetzt auch K. Fischer „Geschichte der neuern Philosophie“, Jubiläumsausgabe, Heidelberg 1899. Bd. VIII (Hegel) S. 556-561.


brauchtes Mittel der Gattung, sie vergeht und mit ihr die Individuen dieser Generation.

Es leuchtet demnach ein, dass in dem Zeugungs- prozess die Aufgabe weder der Gattung noch des In- dividuums wirklich gelöst wird. Das Individuum bringt es nur bis zur Generation, die Gattung bringt es auch nicht weiter. In dem beständigen Flusse der Generationen, in dem unaufhörlichen Wechsel der Geschlechter wird die Gattung nicht wahrhaft objektiv und daslndividuum nicht wirklich all- gemein. Das einzelne Individuum vergeht wirklich, und die Gattung, da sie nur in dem Wechsel der Ge- schlechter, in dem Entstehen und Vergehen der Indivi- duen erscheint, h ö r t nicht auf zu vergehen. So wird vermöge des blossen Lebens der Selbstzweck des Allgemeinen in der That nicht erfüllt und verwirklicht.

Wenn man will, so kann man dies die Tragödie der physischen Welt nennen.

Was aber in der physischen Welt unmöglich ist, ist in der geistigen Welt Regel und Selbstzweck.

Das Individuum soll die Gattung erzeugen, die es im Zeugungsprozess nicht erreichen und objektiv machen kann. So fordert es der Selbstzweck der Gattung wie der des Individuums.

Die Gattung will als solche erzeugt sein, als die orzeugende Macht der Individuen, als das wahrhaft All- gemeine. Es giebt nur eine Form, die das Allgemeine in diesem Sinne vollkommen ausdrückt: der Begriff. Es giebt nur eine hervorbringende Thätigkeit, die im- stande ist, den Begriff zu erzeugen: das Denken. In dem begreifenden Denken allein wird das Allgemeine wahrhaft objektiv und das Individuum wahrhaft allgemein.


— 26 —

Hier löst sich die Aufgabe, die der Begriff des Lebens fordert, aber selbst nicht löst. Sie löst sich im Denken, welches die wahren Begriffe erzeugt und dadurch die Objekte erkennt, welche die Begriffe bilden.

Hier also erscheinen die Begriffe Erzeugen und Erkennen in einem Zusammenhänge und in einer Ver- wandtschaft, wie sie bereits Plato erkannt hat, wenn er Sokrates das Erkennen ein Erzeugen nennen lässt. Der philosophische Eros ist das Ziel des physischen. Das erzeugende Denken ist unsere wahrhaft allgemeine Thätigkeit, unsere wirkliche Gattung, die in uns entbunden und frei wird in demselben Masse, als wir selbst frei werden von den individuellen und sinnlichen Lebenszwecken.

So erscheint die sinnliche, physische Liebe als das notwendige, mit Bewusstsein zu ergreifende Anfangsglied einer Entwickelung, die zur Erkenntnis, zur Freiheit, zum Absoluten führt. Hier offenbart sich, dass dem reinen Wissen, der höchsten und wahrhaftigsten Erkenntnis niemals die Wärme des Gefühls fehlen kann. Und die Liebe selbst, sie ist nichts Dunkles mehr, keine Illusion und kein täuschender Nebel, sondern ihr Anfang und Ende ist die Erkenntnis. ! )


!) Diese Einleitung enthält die Grandzüge einer „Philo- sophie der Liebe nach dialektischer Methode“, die wir später in weiterer Ausführung darzustellen die Absicht haben.

Das Zeitalter des Marquis de Sade.

Der Marquis de Sade, dessen Leben, Werke vmd Persönlichkeit wir in diesem Bande behandeln, ist durchweg ein Mensch des 18. Jahrhunderts. Zugleich ist er ein Franzose. Wir glauben aber, indem wir uns anschicken, das erste wissenschaftliche Werk in deut­scher Sprache über diesen seltsamen, dem Namen nach aller Welt bekannten Mann sra schreiben, wahres Licht über ihn nur dadurch verbreiten zu können, dass wir ihn zunächst aus seiner Zeit, aus dem Frankreich des 18. Jahrhunderts erklären. Die Medizin hat schein­bar ihre Meinung über den Marquis de Sade schon ausgesprochen. Aber dieses Urteil, selbst aus dem Munde der bedeutendsten ITerven- und Irrenärzte, muss ein einseitiges bleiben, so lange man nicht das tut, was bisher unterblieben ist, so lange nicht die äusseren Bedingungen, das Milieu erforscht werden, unter denen dieses merkwürdige Leben heranwuchs, sich bildete, seine Taten vollbrachte und seine Wirk­ungen ausübte. Denn es ist „jedesmal von ent­scheidender Bedeutung, aus welchem Jahr­zehnt und Jahrhundert, von welchem Volk und Land die behandelten Tatsachen entlehnt sind." ) Mit einem Worte: nicht die idividual-psychologische, sondern nur die sozial-psychologische Auffassung kann zu einer wahren Erkenntnis der Persönlichkeit S a d e s führen. Eine wahrhaft wissenschaftliche Beurteilung gewisser typischer Persönlichkeiten ist nur auf diesem Wege möglich, wenn auch keineswegs die Bedeutung der einzelnen Individualität als solcher verkannt werden soll. Wir müssen uns auf Grund unserer Studien über den Marquis de S ade durchaus den Ansichten eines bedeutenden Soziologen der Gegenwart anschliessen ), dass „das persönliche Ich nur den Gipfel und Schluss­punkt psychischer Faktoren überhaupt bildet. Schon psychiatrische Untersuchungen über die Zersetzung und Entartung unseres Ich haben diesen Gedanken nahe ge­legt, dass unsere Persönlichkeit nicht den Anfang, sondern eher das Ende einer unendlich langen, in die Nacht des Unbewussten hinabreichenden psychischen Tätigkeit darstellt, die wir freilich nicht überall bis auf den letzten Ursprung hin erfassen können. Durch die Beobachtung des gesellschaftlichen Lebens und insbesondere der stetigen Wechselwirk-ungdesEinzelnenmitder ihn umgeben­den Gemeinschaft ist diese Hpyothese zum Range einer wissenschaftlich beglaubigten Tatsache erhoben. Hier ist in den allermeisten Fällen nicht vor­bedachte Ueberlegung und völlig freie Selbstbestimmung entscheidend, sondern gewohheitsgemässe An­passung, das Wirken dunkler, unbe-wusster Triebe und Regungen, ohne dass der Einzelne sich jederzeit der treibenden Gründe klar bewusst wird." Sitten und Bräuche, rechtliche, ästhe­tische und religiöse Gebilde sind grösstenteils o r g anischeEnt Wickelungen ohne bestmimtes, zweckbewusstes Eingreifen seitens des Lidividumns. Unsere Gefühle und Empfindungen entspringen trotz ihres eigenartigen individuellen Charakters „aus jenen Tiefen des TJnbewussten, welche der endgültigen Fixierung des Ichs vorausgehen." Das sind aber Ge­danken Hegels, das ist Hegels Lehre vom ob­jektiven Geist, aus dem der subjektive immer­während schöpft, und der seine eigene Entwickelung hat. Das ist in "Wahrheit die berühmte und viel ver­schrieene „Selbstbewegung des Begriffs". Hegel, dieser grösste Denker des neunzehnten Jahrhunderts, wird endlich zu Ehren kommen, und es ist kein Zweifel, dass seine Lehre im 20. Jahrhundert die grössten Triumphe feiern wird. Nach den Stürmen der Schopenhauer-Hartmann 'sehen und Nietzsche'sehen Philosophie wird die Sonne He gel'sehen Geistes über der Erde leuchten. Die dialektische Methode hat die neuere Geschichtswissen­schaft mit den wertvollsten Ideen befruchtet Und zur Höhe ihrer gegenwärtigen Entwickelung geführt, sie wird auch der Naturwissenschaft neue Impulse geben, da sie, wie sich immer mehr herausstellen wird, nirgends der Erfahrxmg und den Gesetzen der Natur wider­streitet. Hegel, nicht Schopenhauer, ist der „wahre und echte Thronerbe Kants".

So wollen wir, in einer kurzen Formel ausge­sprochen, in diesem Abschnitt die Fäden aufsuchen, welche den subjektiven Geist des Marquis de S a de mit dem objektiven Geist seines Zeitalters verknüpfen. Er ist zugleich ein Yertreter des „ancien regime" und der Eevolution. Seine beiden berüchtigten Haupt­werke sind unverkennbare Erzeugnisse der grossen französischen Eevolution. Also haben wir zu unterscheiden, was S a d e von seiner Zeit empfangen hat, um zu erfahren, was er ihr gegeben hat. Wir wiederholen nicht bekannte Tatsachen der französischen Kulturge­schichte des 18. Jahrhunderts, sondern wir er­klären die Werke des Marquis de Sade aus jener Zeit, aus allen innerlichen und äusserlichen Verhältnissen des sozialen Lebens im 18. Jahr­hundert.

1. Allgemeiner Charakter des 18. Jahrhunderts in Frankreich

Sa d e nennt (Justine I, S. 2) das 18. Jahrhundert „le siecle absolument corrompu" und lässt an einer anderen Stelle (Juliette I, 26 den Noirceuil sagen, dass es gefährlich sei „in einem verderbten Jahrhundert tugendhaft sein zu wollen". Ihm wie anderen drängte sich also das Bewusstsein der all­gemeinen Schlechtigkeit in jener Zeit zur Genüge auf. Den treffendsten Ausdruck für alle Verhältnisse dieser Epoche hat Hegel gefunden. Er sagt in seiner „Philosophie der Geschichte"): „Der ganze Zustand Frankreichs in der damaligen Zeit ist ein wüstes Aggre­gat von Privilegien gegen alle Gedanken und Vernunft überhaupt, ein unsinniger Zustand, womit zugleich die höchste Verdorbenheit der Sitten, des Geistes verbunden ist, — einKeichdesUnrechts, welches mit dem beginnenden Bewusstsein desselben schamloses Unrecht wird". Sind nicht S a d e s Werke ein getreuer Spiegel dieser Zeit des Unrechts? Auch sie predigen das Un­recht und verraten doch überall Spuren des Bewusstseins dieses XTnreehts. Ist das „Glück des Lasters", sind die „Verbrechen der Liebe" nicht schamloses Unrecht?

Das 18. Jahrhundert gehört zu jenen frivolen Zeitaltern, deren Wesen ein bedeutender Schüler Hegels, Kuno Fischer, in vollendeter Weise geschildert hat. Frivole Zeiten sind jene, die immer ein ablaufendes Weltalter beschliessen und das Leben der Menschheit völlig zersetzen, damit es ganz von neuem wieder anfangen könne. Fichte nannte es einst die vollendete Sündhaftigkeit. „In allen grossen Wendepunkten der Geschichte gleichen sich die Züge der verschiedenen Zeiten; sie sind abge­spannt von dem alten Tagewerke und sehen so welk und ohnmächtig aus, dass man an einem neuen verzweifeln möchte. Und in der Tat, wenn sich ein Weltalter völlig abgelebt hat, so bleibt von seinem sittlichen Leben nur noch das körperliche übrig, und dieses bedarf künstlicher Reize von aussen, um erregt zu werden, da ihm die innere Kraft fehlt, die es in jugendlicher Frische hervorbringt. Es ist ein ungebundenes und doch mattes Leben, es sind fessellose und doch abgestumpfte Kräfte, die das Drama des Lebens vollbringen, ohne irgend einen sittlichen Verstand in ihm darzustellen. Es gibt keine Natur, es gibt keine Bildung in diesen Zeiten, überall nur die Prosa der Selbstsucht ohne ihre Kraft, die Ohnmacht des Genusses ohne seine Poesie". Die Welt der Cäsaren, die Zeit des ausgelebten Papsttums, das französische Königtum vor der Revolution sind solche Perioden, Jene zweite war die vollendete Sündhaftigkeit des Katholizismus, diese letzte ist die rollendete Sündhaftigkeit des Eönigtums.

Der Genuas ä tout prix ist die Parole im 18. Jahrhundert, Der Mensch aber, der um jeden Preis gemessen will, ist der Egoist. Niemals war in Frank­reich der Egoismus so gross wie unter dem ancien regime imd während der Revolution. Der MTnister Saint-Fond, eine getreue Kopie eines Ministers unter Ludwig XV. sagt (Juliette IE, 37): „Der Staatsmann würde ein Narr sein, der nicht das Land für seine Vergnügungen bezahlen liesse. Was geht uns das Elend der Völker an, wenn nur unsere Leiden­schaften befriedigt werden? Wenn ich glaubte, dass Gold aus den Adern der Menschen fliessen würde, dann würde ich einen nach dem anderen zur Ader lassen, um mich mit diesem Blut zu füttern". Diese Aeusserung findet S a d e charakteristisch für das ancien regime. Vor der Revolution war dieser Egoismus nur bei den herrschenden Ständen, bei Königtum, Adel und Geist­lichkeit zu Tage getreten. In der Revolution ergriff er alle Schichten der Bevölkerung. Adolf Schmidt, der seine Schilderung der Revolutionszeit aus authen­tischen, zeitgenössischen Dokumenten schöpft, sagt darüber ": Das war der scharf ausgeprägte Egoismus, die Selbstsucht und Habgier, die nicht nur die höheren Schichten der Gesellschaft, sondern alle Klassen des Volks und vornehmlich den an Zahl weit überwiegenden Bauernstand durchdrang, ja dermassen beherrschte, dass darüber alle anderen Empfindungen, auch der Vaterlandsliebe und der Menschlichkeit weit zurücktraten. Es gereicht zum Erstaunen und zum Entsetzen, wenn man wahrnimmt, wie wahrend der ganzen Revolutionszeit, und mitten unter den glän­zendsten Deklamationen über Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, über Menschenrechte und Menschen­liebe, über Aufopferung für Wohl, Grösse und Kuhm des Vaterlandes, in fast allen Schichten ein Wett­rennen um Hab' und Gut, eine kalte Berechnung ziic Ausnutzung der Umstände, ein gieriges Spekulieren auf das Unglück des Staats und auf das Elend der Mit­menschen massgebend war und blieb. Jeder wollte den anderen übervorteilen und überlisten; jeder wollte im Trüben fischen, wollte persönlich sein Glück macheu, sich bereichem und emporkommen". Ebenso spricht der berühmte Mercier, der Cicerone Schopen­hauer s bei dessen Aufenthalt in Paris, von diesem „siecle d'egoisme renforce" . Wir werden diesen Egoismus, diesen Hauptcharakterzug des 18. Jahr-h:tmderts in seinen verschiedenen Formen zu studieren haben.

Der Egoismus zeitigt die Genusssucht, die Genuss­sucht gipfelt aber in der geschlechtlichen Lust. Das achtzehnte Jahrhundert ist das Jahr­hundert der zum System erhobenen ge­schlechtlichen Lust. Moreau unter­scheidet drei Epochen in der Geschichte der geschlecht­lichen Ausschweifungen und Verirrungen. Die erste ist die Epoche der römischen Kaiserzeit, die zweite um-fasst jene grossen Epidemien „de nevropathie de toutes sortes" [Des aberrations du sens génésique] im Mittelalter, besonders den Glauben an die Existenz des Incubus und Succubus, den Kult der so­genannten „Satanskirche" mit seinen ungeheuerlichen geschlechtlichen Monstrositäten. Die dritte Periode fällt in das 18. Jahrhundert, hell erleuchtet in ihrer ganzen spezifisch französischen Eigenart durch die Saturnalien der Regentschaft und des fünfzehnten Ludwig.

„ W 011 u s t! das ist das Wort des achtzehntMi Jahrhunderts, schreiben die besten Kenner dieser Zeit, E d m o n d und Jules de Goncourt.' Das ist sein Oeheimnis, sein Reiz, seine Seele. Es atmet Wollust und macht sie frei. Die Wollust ist die Luft, von der es sich nährt und welche es belebt. Sie ist seine Atmos­phäre und sein Atem, sein Element, seine Inspiration, sein Leben und sein Genie. Sie zirkuliert in seinem Herzen, seinen Adern und seinem Kopfe. Sie gibt seinem Geschmack, seinen Gewohnheiten, seinen Sitten und seinen Werken einen eigenen Reiz. Die Wollust geht aus dem innersten Wesen dieser Zeit hervor, sie redet aus ihrem Munde. Sie fliegt über diese Welt dahin, nimmt sie in Besitz, ist ihre Fee, ihre Muse, das Bestimmende ihrer Moden, der Stil ihrer Kunst. Und nichts ist von dieser Zeit übrig geblieben, nichts hat dies Jahrhundert der Frau überlebt, was nicht von der Wollust geschaffen, berührt und bewahrt wurde, wie eine Reliquie der göttlichen Gnade in dem Dufte des Genusses."

Was das französische achtzehnte Jahrhundert vor allen übrigen auszeichnet und in dieser Art weder vor­her noch nachher da war, das ist die Systemati­sie r u n g der geschlechtlichen Liebe. Diesem Jahr­hundert blieb es vorbehalten, einen Codex der Immo' ralität aufzustellen. Das ganze Leben zielt auf den Geschlechtsakt ab, Wissenschaft, Kunst, die Konver­sation, die Gastronomie. Alles durchdringt der er­schlaffende Hauch der rein physischen liebe und hinter-lässt jenen schweren Duft, welcher alle geistige Energie lähmt. Und als diese sich erhob in der grossen glor­reichen und unvergesslichen Revolution, welche die neue Zeit geboren hat, da hing ihr jener schwere Duft noch an, zog sie wieder herab und knechtete sie und verkehrte die heftig angespannte in wilde Grausamkeit und erbarmungslosen Blutdurst.

Haben wir also als die Hauptcharaktere dieses Jahrhunderts des Unrechts den Egoismus und die ge­schlechtliche Unsittlicbkeit nachgewiesen, welche allge­meinen Züge in dem Leben und den Werken des Marquis de Sa de aufs höchste gesteigert, uns eben­falls entgegentreten, so liegt uns nunmehr ob, immer in Beziehung auf die Persönlichkeit Sades die Ur­sachen jener Frivolität näher zu ergründen, zu er­forschen, aus welchen Faktoren jene allgemeinen Charaktere des Jahrhunderts sich zusammensetzen.

2. Die französische Philosophie im 18. Jahrhundert.

18th century French philosophy, Sade's philosophy

In der Philosophie stellt sich der Geist eines Zeit­alters am reinsten und bestimmtesten dar. So war auch die französische Philosophie gleichsam der wissenschaft­liche Ausdruck für den Egoismus, die Genusssucht und die Gechlechtslust jener Zeit. Sie war durchweg sensualistisch und materialistisch gerichtet. Sehr drastisch lässt S a d e die Diibois sagen (Justine I, 122): „Das Element der Philosophie ist der Ge- Bchlechtsgenussl Die Philosophie spielt iu den "Werken S a d e s eine grosse EoUe. Sehr häa% kehrt der Ausspruch wieder: Das Feuer der Leiden­schaft wird stets an der Fackel der Philosophie ent­zündet" (z. B. Juliette I, 92, 158, 319 u. s. w.). Einen sehr grossen Teil der Bücher S a d e s nehmen lang­atmige philosophische Exkurse ein, die wir in einem späteren Abschnitt zu würdigen haben. Dabei verfahrt S R d e sehr eklektisch und unkritisch. Er nennt z. B. in einem Atem Spinoza, Vanini und Holbach, den Verfasser des „Systeme de la Nature" (Juliette I, 3. Dann Buffon (Philosophie dans le Boudoir I, 77), welcher doch den Versuch einer Milderung des starren Materialismus macht. Die Namen von V o 1 -sie sich daraus entfernen, erniedrigen sie sich" (Juliette IV, 8; V, 252 u. ö.) dürfen natürlich auch nicht fehlen. Montesquieu ist aber nur ein „demi-philosophe." An Rousseaus Ideen klingt der Ausdruck an: „Die Menschen sind nur rein im natürlichen Zustande, sobald sie sich daraus entfernen, erniedrigen sie sich" (Juliette IV, 242). Den grössten Einfluss scheint LaMettrie -auf S a d e ausgeübt zu haben. Wenigstens erscheint uns das philosophische System des Marquis de Sade, wenn man den eklektischen Mischmasch als solchen be­zeichnen darf, mit Vorliebe Gedanken LaMettrie.s zum Ausdruck zu bringen. Beide suchen die Legiti­mation und Erhöhung des Geschlechtsgenusses in der philosophischen Analyse, Hierbei wird La M e 11 r i e ausdrücklich erwähnt (Juliette Iu, 21. Als Philosoph ist entschieden LaMettrie den Ideen S a d e s am nächsten gekommen.

Montesquieu und Voltaire hatten die sensualistische Philosophie Lockes in Frankreich be­kannt gemacht, wo schon der Skeptizismus Pierre Bayle 8 die Philosophie dem christlichen Glauben ab das Höhere und Wahrere entgegengestellt hatte, Wälirend bei den englischen Philosophen, sowie bei Voltaire und Montesquieu die sensualistischen Anschauungen nur theoretisch entwickelt wurden, der Sensualismus wesentlich Erkenntnislehre blieb, machten sich bald Bestrebungen geltend, den Sensualis­mus und seine natürliche Konsequenz, den Materialis­mus, auf das praktische Gebiet zu übertragen. Die Er­kenntnis ist eine Funktion der Sinne. Die Grundlage der Moral ist das eigne Wohl, der Egoismus. Ewig ist nur die Bewegung, die aus sich selbst alle Dinge hervor­bringt und keines Schöpfers bedarf. Freier Wille und Unsterblichkeit der Seele, sowie der Gottesbegriff sind daher Utopien. Die Materie ist das einzig Sichere. Eine Seele gibt es nicht. Der Atheismus ist die einzige Religion, die in der Anbetung der Natur, im glücklichen Leben und physischen Genuss ihre Befriedigung findet. Aus diesen vorzüglich von La Mettrie und Hol­bach formulierten Sätzen ergab sich das, was die fran­zösische Philosophie des 18. Jahrhunderts besonders charakterisiert, ihre Opposition gegen Kirche und Religion, ihr Eintreten für die Freiheit des ein-zelnen Individuums. Niemals ist die Philosophie mit solcher Energie auf alle Lebensverhältnisse angewendet worden, mit bewusster Tendenz, diese umzugestalten, wie im 18. Jahrhundert. Die französische Revolution war vor allem ein Werk der Philosophen; und das hat man schon frühzeitig erkannt. So sagt Barruel, ein fanatischer Verteidiger des ancien regime: „Diese Revolution wurde seit langer Zeit von Menschen ge­plant, welche unter dem Namen von Philosophen sich in die KoUe geteilt hatten, Thron und Altar zu stürzen." Es gab dahei politische und religiöse Philo­sophen. Der Hauptrepräsentant der politischen Philo­sophie ist Mirabeau«, der leidenschaftliche Anwalt des dritten Standes. Er tat aber auch den berühmten Ausspruch: „Wenn Ihr eine Revolution wollt, so müsst ihr zuerst Frankreich entkathoUsieren." (Si vous voulez une revolution, il faut commencer par decatholiciser la France). Wie sehr der Atheismus eines LaMettrie und Holbach ins Volk gedrungen war, beweist folgender von Dutard erzählte wirkliche Vorfall: Drei Priester kehrten von einer traurigen Amtsver­richtung zurück. Der Vordere stiess mit dem silbernen Kreuz an einem beladenen Lastträger, der mit einem unbeladenen Kameraden daherschritt. „Nanu!" rief der Gestossene, „du da, pack dich mit deinem Kreuz." —- „St!" sprach sein Kamerad, „es ist ja der gute Gott!" — „Ach was, der gute Gott!" versetzte jener, „es gibt keinen guten Gott mehr!" — Man schritt daher konsequenterweise zu praktischer Ausführung dessen, was der Marquis de Sa de als Einer von Vielen in seinen Werken immer und immer wieder predigt, zur Abschaffung der verhassten Religion. In der Sitzung des Konvents vom 17. November 1793 sagt Cloots, dass die Religion das grösste Hindernis der Glückselig­keit sei. Es gäbe keinen anderen Gott als die Natur, keinen anderen Herrn als das Menschengeschlecht, der Gott des Volkes, die Vernunft müsse alle Menschen vereinigen. — Feierlich schwor am 7. November 1793 im Schosse des Konventes der Bischof Gobel mit einem Häivflein seiner Geistlichkeit den katholischen Kultus und das Ohristentum ab. Die priesterlichen Mit­glieder des Komentes folgten sofort seinem Beispiel. Am 10. November wurde dann in der Kirche Notre-Dame der seltsame Kultus der Vernunft eingeweiht. Die Vernunft wurde Fleisch in Gestalt einer schönen jungen Frau, die der Präsident des Konventes mit dem Bruderkusse umarmte. „So wurde die abstrakte Ver­nunft zur sinnlichen Göttin gestempelt, die Göttin zum Menschenweibe degradiert und die Gottheit zu einer Vielheit von menschlichen Göttinnen oder Gott­weibern gestaltet.'" Man sieht also, dass der Atheis­mus, der bei S a d e oft abschreckende Formen an­nimmt, nichts ihm Eigentümliches ist, sondern jener Zeit gemäss war. Man sieht ferner, wie schliesslich dieses ganze atheistische Gebahren auf den geschlecht­lichen Genuss hinausläuft, der in der Revolutionszeit wahrhaft ungeheuerliche Dimensionen annahm. Die „Vernunft", deren Kultus aufgerichtet wurde, d. h. die Philosophie, hatte ihn längst verherrlicht. So erwähnt S a d e (Juliette IV, 198) LaMettries Schrift „Sur la volupte", womit wahrscheinlich die „L'art de jouir" (1T5 gemeint ist. Hier entwickelt La Mettrie die Regeln für den Genuss der physischen Liebe, die er als das Schönste und Begehrenswerteste auf der Welt preist, wobei er die Befriedigung aller „caprices de l'imagination" für geheiligt erklärt.

Die Philosophie, in welcher dies geistige Bewegung jener Zeit ihren allgemeinsten und intensivsten Aus­druck fand, kämpfte für politische, religiöse und moralische Freiheit. Sie richtete sich gegen Staat, Kirche und konventionelles Herkommen. Alle diese Faktoren macht aixcli der Marquis de Sa de zum Gegenstande seiner heftigsten Angriffe. Wir gehen daher über zur Untersuchung der einzelnen konkreten Verhältnisse in Staat, Kirche, Literatur und öffent­lichem Leben, insofern dieselben zur Erklärung der Persönlichkeit und der Werke des Marquis de Sa de beizutragen vermögen.

3. Das französische Königtum im 18. Jahrhundert.

Die Jugend des Marquis de S ade gehört der Ee-gierungszeit Ludwigs XV. an, sein Mannesalter der Zeit Ludwigs XVI. Er war 34: Jahre alt, als der verderbteste König, der Erankreich je regiert hat, Ludwig XV., starb (1774). Die politische Misswirt­schaft der französischen Herrscher des 18. Jahrhunderts, welche mit dem grossen Staatskrache L a w s unter dem Regenten ihren Anfang nahm, unter Ludwig XV. zu dem Verluste der wichtigsten Kolonien und unter Ludwig XVL zur Revolution führte, die einseitige Begünstigung des Adels und des Klerus, übergehen wir als zu bekannte Tatsachen, welche unser Thema nicht näher berühren. Die Ge n u s ss ucht und die ge­schlechtlichen Ausschweifungen des Königtums werden besonders von S a d e gebrandmarkt. Auch hier hatte er die Vorbilder in der Wirklichkeit. „Wenn ein Prinz von Geblüt den Weg der Wollust be­tritt, betritt ihn die ganze Umgebung und Gesellschaft" sagt M 0 r e a u mit Recht . Das von den französischen Herrschern des 18. Jahrhunderts gegebene Beispiel musste die verderblichste Wirkung auf die ohnehin durch und durch materialistisch gesinnte Gesellschaft

des ancien regime ausüben. Die Zeit der Kegentschaft schuf Namen und Typus des „Koue", der eine für das ganze Jahrhundert charakteristische Erscheinung wurde. Der Koue par excellence war König Ludwig XV., be­rühmt durch die Zahl seiner IVLaitresaen und durch seinen Hirschpark. Die Maitressenwirtschait Lud­wigs XV. hat unübertroffene Schilderer gefunden in den beiden Goncourts, auf deren Werke wir ver­weisen . Sein Leben war, wie M o r e a u sagt, eine „beständige Unzucht." So konnten ihm bald seine Ge­liebten trotz ihrer grossen Zahl und des häufigen Wechsels nicht mehr genügen. Er schuf sich in seinem berühmten Hirschpark das Vorbild aller ge­heimen Bordelle, die auch in den Werken des Marquis de S a d e eine grosse KoUe spielen. Man denke sich: ein König unterhält ein eigenes Bordell für seinen Privatgobrauch! Erscheint dann nicht alles, was S a d e in seineu Werken gegen das Königtum sagt, in einem ganz anderen, milderen Lichte? — Ueber den Hirschpark existiert ein Werk, welches uns leider nicht zugänglich war. Der Hirschpark wurde um 1750 in der Eremitage zu Versailles in dem Parc-aux-Oerfs ge­nannten Stadtviertel von der Marquise de Pompa­dour für den König eingerichtet, dem sie, um sich am Kuder zu erhalten, diese neue Art von Vergnügungen verschaffte. Die Vorsteherin des Bordells war eine ge­wisse Bertrand, der Lieferant von jungen Mädchen habe. „Wenn nun nur wöchentlich zwei an die Keihe gekommen sind, so beträgt dies in 10 Jahren tausend, und ist die Ausgabe also 1000 Millionen," Dabei sind noch nicht einmal die zahlreichen im Hirschpark ge­borenen Kinder mitgerechnet, die freilich wohl weniger Kosten verursacht haben mögen. Es ist also einiger-massen berechtigt, dass der Verfasser der letztgenannten Schrift den Hirschpark als die Hauptursache der finan­ziellen Zerrüttung unter Ludwig XV. angibt. Ueber die im Hirschpark veranstalteten Orgien schwirrten zahl­reiche Gerüchte umher, die jedenfalls nichts übertrieben haben. Nach einem deutschen, allerdings weniger glaubwürdigen Autor" waren „selbst die Saturnalien der Römer zur Zeit der Cäsarenherrschaft, die schauder­haften Luperealien eines Tiberius, Caligula, Nero, einer Agrippina, Messalina, Locusta und anderer menschlichen Ungeheuer nur blosse Vorbilder solcher Auftritte, die im Hirschpark ausgeführt wurden". „Der Eausch war hier ein vielfältiger, durch Spiel, durch Gewürze, Wein oder andere Getränke, durch Wohlgerüche, durch Visionen aus Zauberlaternen, durch Musik und jede Gattung tierischer Genüsse hervorgebracht." Der Ver­fasser lässt sogar den Marquis d e S a d e an diesen Aus­schweifungen teilnehmen!') Authentisch ist, was M o r e a 11 nach dem „Journal de B a r b i e r", nac Sismondiu. a. über jene eigentümliche Verknüpfung von Eeligion und "Wollust berichtet, welche Ludwig XV. selbst im Hirschpark vornahm.) „Jedes­mal, wenn Ludwig XV. eine Nacht im Hirschpark zu­bringen wollte, erfüllte er nicht nur mit Eifer seine religiösen Pflichten, sondern litt auch nicht, dass die-jungen Priesterinnen eines anderen Kultus es an den Betätigungen ihres christlichen Glaubens fehlen Hessen. Sobald er sich mit einer seiner Odalisken eingeschlossen hatte, befahl er ihr, sich hinter einem Vorhang zu ent­kleiden, w«ihrend er selbst das gleiche tat. Sodann knieten beide in Adams Kostüm auf dem Teppich und verrichteten die Tagesgebete, indem sie sich die Stirn mit Weihwasser benetzten, welches sich in einem Krystallgefässe am Kopfende des Bettes befand. Nach beendetem Gebet und nach geschehener Bekreuzigung, streichelte der König den nackten Busen der Kleinen mit seinem frommen Finger. Man erhob sich, stieg ins Bett, zog die Vorhänge zu und die Namen des Herrn, der Jungfrau Maria und der Heiligen wurden solange geflüstert, bis der Ritus der Liebe ein anderes Vokabular zum Ausdruck brachte". Ludwig XV. besass auch, was ebenfalls wohl einzig in seiner Art dasteht, einen eigenen Beamten für das Arrangement seiner Orgien in der Person des „Intendant des Menus-Plalsirs", La F e r t e. Dieses ungeheuerliche Institut wurde dann auch sofort unter Ludwig XVI. abgeschafft. Am Donnerstag, 19. Mai 1774, als L u d w i g XVI., 9 Tage nach dem Tode seines Vorgängers, mit der Königin und nait den Prinzen im Bois de la Boulogne lustwandelte, stellte sich Herr La Forte vor. Der König be­trachtete ihn blinzelnd von oben bis unten und fragte dann: „Wer sind Sie?" — „Sire, ich heisse L a P e r t e. — „Was wollen Sie von mir?" — ,jSire, ich komme, die Befehle Eurer Majestät entgegenzunehmen." — „Wes­halb?" — „Weil — weil ich der Intendant — der Menüs —" „Was heisst Menüs?" — „Sire, es sind die Menus-Plaisirs Eurer Majestät". — Meine Menus-Plaisirs bestehen darin, zu Fusse im Parke zu promenieren. Ich brauche Sie nicht." Darauf drehte ihm der König den Rücken zu und ging.') Ludwig XV. hatte aber an seinen eigenen AusBchweifungen noch nicht genxig, er musste auch die seiner Untertanen kennen lernen. So llesa er sich von der Pariser Polizei regelmässig alle obscönen Vorkommnisse, alle pikanten Einzelheiten über die Skandalaffären der Hauptstadt berichten.')

Ludwig XVI. und seine Gemahlin Marie Antoinette sind persönlich von dem Vorwurfe der Sittenlosigkeit freizusprechen. Doch, da unter ihrtr Re­gierung das Genussleben am Hofe fortdauerte und der Bruder des Königs, der Graf von A r t o i s in der Tat ein berüchtigter Wüstling war, so konnte es nicht aus­bleiben, dass auch das Privatleben des Königs und be­sonders der Königin, welche sich als österreichische Prinzessin geringer Sympathien erfreute, verdächtigt wurde. Die bekannte Halsbandgeschichte wurde weid­lich zur Verleumdung der Königin ausgebeutet. „Gre-heime und unversöhnliche Feinde machten aus einigen Leichtfertigkeiten und Unklugheiten MarieAntoi-nettes verdächtige und verabscheuenswerte Hand­lungen." Schon 5 Jahre nach dem Kegierungsantritt Ludwigs XVL erschien ein obscönes Gedicht, welches später in zahlreichen Nachdrucken verbreitet wurde, dessen erste Ausgabe zu einer Rarität geworden ist.) Das Gedicht behandelt die angebliche Liebschaft zwischen Marie Antoinette und ihrem Schwager d'A r t o i s (späteren König Karl X.). Die Königin wird hier in den obscönsten Versen als eine wahre Messalina geschildert, welche der impotente König nicht befriedigen kann.

„Charlot", der Graf d'A r t o i s war allerdings ein Hauptteilnehmer an den von dem höfischen Adel in der Residenz veranstalteten Orgien, ebenso wie der Herzog von O r 1 e a n s, PhilippeEgalit. Auf den be­rüchtigten nächtlichen Promenaden im Palais Royal war der Graf von Artois eine gewöhnliche Er­scheinung. „Der Herr Graf von Artois, der an diesen modernen Satumalien Vergnügen findet, trägt viel zur Vermehrung des Vergnügens und des Zulaufes bei. Er begibt sich fast jeden Abend dorthin.") In den „ISTuits de Paris" (Band XVI, S, 529) erzählt K6tif de la Bretonne, dass im Faubourg Saiut-Antoine ein Bordell existierte, welches der Herzog von O r 11 a n-S, der Graf von A r t o i s und andere häufig besuchten. „Dort gab man sich allen Infamien hin, welche nachher von de Sade in seinem schrecklichen Roman „Justine ou les Malheurs de la vertu" beschrieben wurde n." Dort wurden jene Bestialitäten begangen, welche Sade schildert.) Als die Gemahlin des Grafen d'A r t o i s 1775 in Paris einzog, wurde sie von den Fischweibern (poissardes) auf offener Strasse mit folgen­dem durchsichtigen Liedc begrüsst, das ebenfalls ein charakteristischer Beweis dafür ist, wie sehr die Un­zucht bereits eine öffentliche geworden war:

Cässbrona tous ä Paris

Vn vaillant enfant de France;

Au moment qu'il entre en dansc —,

Zeste, il vous a fait un fila!

Cest un vi c'est un vi

C'est un vigoureux mari!

La moitiS que nous voyons,

On dirait qu'elle n'y touche,

Hais en nuptiale couche

A des talents non moins bons.

Le beau con , . . . le beau con . . .

Ah! le beau eoncert, dit-on.

Pour chauter les deux €poux En riant Bacchus s'avance; D€jä dans la cuve immense, S'entassent ses raisins douz.

Allons fou .... allons fou

AHons, allona fouler tous.)

Sade nennt (Juliette IV, 16) Marie Antoi-nette „la premiere putain de France", er lässt keine Gelegenheit vorübergehen, ohne sie zu beschimpfön (Juüette V, 252, 235 u. s, w., Phil, dans le Boud. I, 82), wie er überhaupt gegen die ganze „morgue alle-mande" einen wütenden Hass hegt (Jul. IV, 16), ins­besondere gegen das Haus, Oesterreich (Juliette V, 340). Darüber hinaus aber möchte er überhaupt alle Könige auf der Erde vertilgen, welche die Völker berauben, und möchte eine „ripublique universelle" begründen. (Jul. V, 119).

4. Adel und Geistlichkeit.

Adel und Geistlichkeit spielen in den Romanen des Marquis de S a de die Hauptrolle. Prinzen, Herzöge, Grafen, Marquis, Chevaliers treten neben dem Papste, Kardinälen, Erzbischöfen, Bischöfen, Mönchen aller Orden, Geistlichen, Abbes, Aebtissianen und Nonnen als erotische und atheistische Scheusale auf. Die ganze Korruption des ancien regime zieht vor unserem Auge vorüber. Adel und Klerus bildeten in Frankreich eigentlich nur einen einzigen Stand, da die Geistlich­keit grösstenteils aus dem Adel sich rekrutierte. Der älteste Sohn eines Edelmannes wurde Offizier, der zweite Sohn Priester oder Mönch, die Töchter, die sich aus Mangel an Mitgift nicht verheiraten konnten, wurden lTonnen.) Die Begünstigung des Adels von Seiten des Staates hatte im 18. Jahrhundert unerhörte Dimen­sionen angenommen. Alle Staatsämter, Pfründe, Eichter- und militärischen Stellen wurden zum grössten Teile an Adlige vergeben. Mit 18 bis 20 Jahren er­langten die jungen Edelleute ein Regiment, ohne von der militärischen Praxis eine Ahnung zu haben. Sie verbringen ihre Jugend in Luxus und Sinnengenuss mit Weibern.'")

Eine merkwürdige Mittelstellung zwischen Klerus und Adel nahm das Institut der Abbes ein, „jener entarteten Kasse und Amphibienart, die man überall fand und die nichts war/") Mercier') erzählt, dass Paris voll von Abb& sei, Geistlichen mit Tonsur, die aber weder der Kirche dienten noch dem Staat, die im ödesten Müssiggange dahinlebten, und nur unnütze Dinge und Albernbeiten trieben, nebenbei aber keine unwichtige Bolle als „Hausfreunde", Erzieher, Schrift­steller u. 3. w. spielten. Auch waren sie in allen Bordellen zu Hause, obgleich früher jede Kourtisane, die den Besuch eines Abbe anzeigte, 50 Francs bekam. Das hatte aber unter Ludwig XVL aufgehört. Eine köstliche Schilderung eines Abbe des 18. Jahrhunderts I entwirft der berühnate Gastronom Brillat-Sava-rin: „Wenn eine adlige Familie viele Söhne hatte, ! m bestimmte man einen der Kirche. Er bekam an-i fänglich einfache Präbenden, welche zu den Kosten ' seiner Erziehung hinreichten, später wurde er Domherr, Abt oder Bischof, je nachdem er mehr Fähigkeit zmn geistigen Berufe zeigte. Das war der legitime Typus der Abbes. Aber es gab auch viele falsche, und viele wohlhabende junge Leute traten in Paris als Abbes auf. Nichts war bequemer — durch eine leichte Verände­rung der Kleidung gab man sich das Aussehen eines Benefiziaten und stellte sich jedermann gleich, man hatte Freunde, Geliebten und Gastgeber, denn jedes Haus hatte seinen Abbe! — Die Abbes waren klein, dick, rund, wohlgekleidet, sanft, gefällig, neugierig, Feinschmecker, lebhaft und einschmeichelnd. Die, welche noch leben, sind fette Betbrüder geworden." S a d e hat dies«! Typus im Abbe Chabert (Juliette III, 280 ff.), dem Freunde Juliettes und Erzieher ihrer Tochter gezeichnet. Die Abbes figurieren auch in den Polizeiberichten M a n u e 1 s über die Unzucht der Geist­lichkeit in Paris, wie wir später sehen werden.

Eine zweite für das 18. Jahrhundei't spezifische Erscheinung war der „Eitter", der Chevalier. Auch er hat in Brillat-Savarin einen liebevollen Schilderer gefunden: „Viele Eitter hatten es vorteilhaft gefunden, sich selbst den Bruderkuss zu geben, Sie waren meist hübsche Männer. Sie trugen den Degen senkrecht, den Kopf hoch, die Nase im Winde, das Bein steif; sie wai'en Spieler, Verführer, Zänker und ge­hörten wesentlich zum Gefolge einer Modedame, Zu Anfang der Eevolütionskriege gingen die meisten Eitter zur Armee, andere wanderten aus, die übrigen verloren sich unter der Menge. Die wenigen Ueberlebenden lassen sich noch am Gesichtsausdruck erkennen. Aber sie sind mager und können nur mühsam gehen, Sie haben die Gicht.'")

Die Vertreter des Klerus sind in S a d e s Eomanen die Verüber der allerärgsten Greuel, Mit besonderer Vorliebe setzt S a d e die Schandtaten, die Heuchelei und die Gottlosigkeit der Geistlichen jeden Eanges ins rechte Licht, er überhäuft den Klerus mit den ge­meinsten Schimpf Worten. TJnder hat Grund dazu. Gerade bei der Erörterung der Lasterhaftigkeit des französischen Klerus im 18. Jahrhundert werden wir uns stets auf authentische historische Dokumente stützen. Nicht wir reden, sondern der Bericht der Augenzeugen, die Entdeckungen der Polizei reden und geben S a d e Recht, dessen Werke bekanntlich auf den Index gesetzt wurden, wohl weniger wegen ihrer Obscönität als wegen ihres antiklerikalen Inhaltes.

So redet Juliette den Papst als „alter Affe" an (Juliette IV, 286), und die übrigen Prälaten, Mönche u. s. w. werden nicht besser behandelt. Die Tribade Clairwil hält (Juliette II, 336) folgende Eede: „Welches sind die einzigen und wahren Zerstörer der Gesellschaft? Die Priester! Wer verführt und notzüchtigt täglich unsere Frauen und Kinder? Die Priester! Wer ist der grösste Feind jeder Eegierung? Die Priester! Ur­heber der Bürgerkriege? Die Priester! Wer vergiftet uns beständig mit Lügen und Betrug? Eestiehlt uns bis aufs Letzte? Arbeitet am meisten an der Ver­nichtung des Menschengeschlechts? Beschmutzt sich am meisten mit Verbrechen und Infamien? Welche sind die gefährlichsten und grausamsten Menschen? Und wir zogern noch, dieses Pestgewürm auf der Erde zu beseitigen? Wir verdienten dann wirklich alle Uebel." Alle Schmerzen Frankreichs sind das Werk der Jesuiten (Juliette LEI, 169). Zahllos sind die Orgien und Ausschweifungen, welche von Geist­lichen in den Romanen S a d e s veranstaltet werden. A-lle sexualpathologischen Typen sind vertreten. Der Päderast, der Pathicus, der „lecheur", der „sanguinaire" u. s.' w. Wir erwähnen nur die schauerlichen Orgien im Karmeliterkloster (Jul. III, 143), beim Erzbischof von Lyon (Jul. I, 234), in der Abtei von Saint Victor (Jul. I, 238), in den Katakomben des Klosters Panthemont zwischen Mönchen und Nonnen (Jul. I, 96), beim Papst Pius V. und den Kardinälen A1 b a n i und B e r n i s

in Eom (Jul. IV, 100 ff.). Diese Geistlichen sind alle Atheisten und Grotteslästerer, S a d e lässt sogar — ein Unikum in seinen Werken — im. vierten Bande der „Juliette" zwei obscöne, gotteslästerliche Gedichte des Kardinals B e r a i s vorlesen (S. 162—169). Wir gehen dazu über, aus den Zeitberichten die Beweise zu liefern, dass der Marquis de Sa de nicht Unrecht hatte, wenn er gerade die Geistlichkeit in seinen Werken in- so schimpflicher Weise blosstellt.

5. Die Pariser Polizeiberichte über die Unsittlichkeit der Geistlichen

Pierre Manuel hat uns in seinem berühmten Werke „La Police de Paris devoilee (Paris 1T94:) ein Werk hinterlassen, welches ein photographisch getreues Bild der sittlichen Zustände in der Stadt Paris vor dem Ausbruche der grossen Revolution genannt werden darf. AdolfSchmidt, einer der besten Kenner der f ran-•zösischen Geschichte im 18. Jahrhundert, welcher selbst in seinen „Tableaux de la Revolution Frangaise" ähn­liche Berichte wie Manuel zusammengestellt hat, be­zeichnet das Buch von Manuel als eine der zuver­lässigsten Quellenschriften des 18. Jahrhunderts.

Manuel hat in seinem berühmten Werke ein eignes Kapitel „De la police sur les pretes." Er er­geht sich zunächst in bitteren satirischen Worten über die Keuschheitsgelübde der Priester und sagt:


„Ich will die wollüstigen Handlungen dieser Himiaelg-missionare enthüllen, welche selbst die Leidenschaften der edlen und zartfiihlenden Menschen in die Hölle ver­weisen. Diese Schuldipjen zu nennen, heisst n i c h t sie entehren. Denn der keusche Mensch ist derjenige, welcher hei seiner Frau schlaf t." Kann die Unsittlichkeit des Zölibats besser und würdiger charakterisiert werden, als Manuel es mit diesen Worten getan hat?

Die nun folgenden Berichte beruhen auf den Pro­tokollen des Polizeünspektors, auf den Berichten der Kommissare, auf den Geständnissen der Schuldigen und auf den Mitteilungen ihrer "Vorgesetzten. Wir geben die hervorstechendsten Berichte wörtlich wieder.

Franziskaner (S. 295—297): 12. Februar 1760. Der Bruder Fran

2. Juli 1766. Oeorge le Payen, Pfarrverweser in Oemy, bei der Flora, sponsus super sponsam. Kom­missar Grimperil, Inspektor Marais.

Bernhardiner (S. 297): 30. März 1764. ,T. Tgnace-Xavier Dreux, Lizentiat, Professor der Theologie, bei der Agathe, oculoque manuque. Kommissar Mutel u. s. w.

Ka rm e 1 it e r (S. 298): 8. Februar 1763. Jacques Brebi, vom Maubert-Platze. Er war unter dem Namen Jacques Mazure bei der Garde „qu'il prenait pour un autel ä la romaine." Bericht des Priors Amable Martin, Kommissar Duruiman u. s. w.

Dominikaner (S. 299): 4. November 1763. Pierre Simon, 46 Jahre im Beruf. Er hat mit zittern-

der Kand sein Vergniigen beschrieben. KommissaT Mutel u. 8. w.

Kapuziner (S, 800): 14. Dezember 1762. Laurent Dilly, Bettelmonch aus der Rue St. Honore, bei der Boyerie, wo 6r sang: tirez-moi par mon cordon! Beriebt des Gardians, Pater Gregoire, Kommissar Sire-baud.

9. November 1765. J. Joseph Biache, genannt Bruder Constant, und Joseph Etienne, genannt Bruder Constantini, aus dem Kloster Cr6py, alle beide im Gast­hause „Cerf montant", wo sie ein Bett zu Dreien ver­langten, da sie nur die Marin bei sieh hatten. Kom­missar Mutel u. 8. w.

Bekollekten (Franziskaner strengster Obser­vanz) S. 301: 30. Jimi 1763. Noel-CMment Berthe, genannt Bruder Paul, bei der Leblanc, welche ihn geisselte. Kommissar Mutel u. s. w.

1. März 1765 Gabriel Anheiser, genannt Pater Gabriel, im Hemde unter dem Bette der Agnes Viard. Er lebte mit dieser früheren Marketenderin seit 7 oder 8 Jahren zusammen. Kommissar Fontaine u. s. w.

19. Februar 1767. Der Pater Oonstance zwischen Victoire und Emilie, sich selbst dem Esel Buridans ver­gleichend. Kommissar de Ruisseau u. s. w.

Minimen (Pauliner) S. 302: 17. Januar 1760. Andre Carron, indem er auf die Wand im Zimmer der Zaire schrieb: ego ad flagella paratus sum. Kommissar Sirebeau u. s. w.

Feuillantiner: 30. Dezember 1762. Dom Claude Jousse, 63 Jahre alt, bei Marie la Neuve, ubi non horruit virginis uterum. Bericht des Siibpriors Jean Baptiste de St. Marie-Maddelaine. Kommisar de Ruisseau.

Augustiner (S. 303): 5, November 1768. Bemard-Nicolas, vom Hause Palais-Eoyal, in der Avenue von Vincennes mit drei Franziskanern und der Eosalie, qui leur faisait la chouette. Kommissar Mutel u. s. w.

26. Oktober 1765. „Ich, der Unterzeichnete Honore Regnard, 53 Jahre alt, Kanonikus des heiligen Augustinerordens, Prokurator des Hauses St.-Catherine, bestätige, dass der Inspektor Marals mich bei der St.-Louis, nie du Figuier, gefunden hat, zu welcher ich gestern aus eigenem Antriebe gegangen bin, um mich mit der Felix zu vergnügen. Ich liess diese sich aus­ziehen und berührte sie mit der unter dem Mantel ver­borgenen Hand. Und heute spielte ich mit der Felix und ihrer Freundin Julie, die mir nxeine geistlichen Ge­wänder auszogen und mich als Frau kleideten und schminkten. Der Inspektor hat mich in diesem Zu­stande überrascht. Ich erkläre, dass ich seit mehreren Jahren diese Phantasie habe, welche ich aber bis heute nicht befriedigen konnte. Als Beweis der Glaubwürdig­keit unterzeichne ich die vorliegende Erklärung, welche die genaue "Wahrheit enthält, mit meinem Namen Honore Regnard." Kommissar Mutel, Inspektor Marais.

18. Juli 1768 Simon Boucel, bei den Previlles, Louise und Sophie.

Praemonstratenser (S. 306): 17. März 1760. Frangoisde Maugre, von der nie Haute-Feuille, zwischen Desiree und Zaire, alle drei glücklich. Kom­missar Sirebeau u. s. w.

BüsservonNazarethCS. 307): 2. Mai 1766. Bruder Nicephorus, bei der Laville, welche ihm zeigt albentes coxas, inguina, crura, nates. Kommissar Mutel u. 8. w,

T h e a t i n e r (S. 307): 28. Februar 1765. Laurent Durand, bei der Dumoulin, nach der Vorschrift

handelnd:

Entre la chair et la chemise n faut cacher le bien qu'on fait,

Kommissar Sirebeau u. s. w.

C o e 1 e 81 i n e r (S. 308): 3. Dezember 1760. J. D. Tordoir, Subprior von Nantes, bei der Mausy, in der Haltung des Propheten, welcher den Sohn der Suna-mitin auferweckt.

BarmherzigeBrüder(S. 308): 19. Oktober 1762. Jacques Franois Boulard, ehemaliger Aufseher der Novizen und Prior, bei der Lagarde, vor Victoire und Julie, quaerens quam devoret. Kommissar de Ruisseau u. s. w.

Oratorianer (S. 309): 14. November 1761. Etienne Leroi mit der Chantrelle, welche . . . Die Grazien hatten dem Amor die Flügel abgeschnitten. Venus nimmt ihn an ihren Busen, und sie wachsen wieder. Kommissar Mutel u. s. w.

Stiftsherren von St. -Genevieve (S. 31: 9. Mai 1761. Jean Pierre Bedosse bei der Zephire, per ipsam, cum ipsa et in ipea. Kommissar Sirebeau u. s. w.

2. August 1762. Der Pater Bernard, berühmter Prediger. Er nahm sich zwei oder drei Dirnen bei der Lasolle. Das kostete ihn das Vermögen einer Herzogin. Er gab 6V2 Louisdors. Und der Chirurg Pouce verlangt von ihm in der Folge 40 Taler, und drei Livres für den Besuch.)

Eremiten (S. 31: 6. August 1773. Bruder Camille, aus dem Kloster Hayet, bei Therese, wo er sich als „Portier des Ohartreux" bezeichnet. Kommissar Mutel u. s. w.)

Christliche Schulen (Ecoles Chretiennes)r 14. September 1763. Bruder Firmin bei der Eoyer, die ihn mit jenen schlechten Lesern verglich, welche ein Buch zu lesen anfangen, ohne die Lektüre zu vollenden, Kommissar Mutel u. s. w.

Stiftsherren von St. -Antoine (S. 312): 27. September 1765. Trangois Canova, bei der Lamou-rette Kommissar Mutel, Inspector Marais, welche ein­traten cum pariter victi, f emina virque jacent.

Jesuiten (S. 313): S. November 1764. Fran§ois Terrasse-Desbillon, 52 Jahre alt, bei der Mouton, wo er sich wie ein anderer vergnügte. Kommissar Mutel u. s. w.)

Dekane, Würdenträger und Dom­her r e n (S. 313—315): 3. April 1764. Blaise Messier, Domherr von Beauvais, bei der Blampie, Er schien gleicher Ansicht mit Rubens zu sein, welcher nur Schönheiten von 200 Pfund Gewicht liebte. Kommissar Rochebrune u. s. w.

14. August 1761. Marx-Antoine Montal, von der heiligen Kapeile, bei der Provengale, anhelantem alte stratis in lectis. Kommissar de Huisseau u. s. w.

8. Juli 1760. Marie Mocet, Erzpriester von Tours, 60 Jahre alt. ludus ima manu ad mammam, altera pudendis adhibita, inguniculabat.

3. August 1760. Jean B. Thevenet, Domherr von Poitiers, bei der Adelaide, welche, wenn sie es gekonnt hätte, gern ihre Aktäons, den Kommissar Sirebeau und den Inspektor Marais, in Hunde verwandelt hätte.

Pfarrer (Cures) S. 316: 20. Juni 1765. Jean Pierre Pelletier bei der Lambert, per ouncta cava oorpoiis libidinem recipientem. Kommissar Mutel u. s. w.

22. August 1760. Pierre Louis Thorin. Zaire in dextrum semisupina latus. Kommissar Sirebeau u. s. w.

Abbes (01ercstonsur&) S. 317: 27. Oktober 1763. Charles Marie Thibault de Monsauche wird nach Saint-Lazare geführt, weil er zum dritten Male bei der Aurora gefunden wurde. Man fa6d bei ihnen einen Brief in Versen, in denen der Abbe Tethon das besang, was Hebe den Göttern zeigte, und was die Könige sehen wollen, wenn sie, um Vergnügen zu haben, bis in den fünften Stock steigen, was endlich, nach ihm, einen Schemel bei Hofe haben sollte.

Doktoren der Sorbonne (S. 318): 8. Mai

1766. J. Baptiste R qui truncus iners jacuerat

et inutile lignum bei der Guerin.

23. Mai 1763. Fei. Auguste Tomolle quidquid liberet proHcito indicans bei der Desnoyers. Das war seine dritte These.

E r z i e h e r (S. 319): 24. Februar 1761. P ;

Hauslehrer der Kinder des Marquis de P. bei der Perle, nie vero statim solvit zonam et leges inierunt benevolae Veneris. Kommissar Sirebeau u. s. w.

2. August 1762. Der Pater Bernard, berühmter Prediger. Er nahm sich zwei oder drei Dirnen bei der Lasolle. Das kostete ihn das Vermögen einer Herzogin. Er gab 6V2 Louisdors. Und der Chirurg Pouce verlangt von ihm in der Folge 40 Taler, und drei Livres für den Besuch.

Auswärtige Priester (S. 319—320): 28. Oktober 1V62. Frangois Detraussin de Jausse, aus Florenz, Professor der Beredtsamkeit. Sophie kämpfte nicht panz nach der Weise der Parther, indem sie be­ständig den Eüeken wandte. Kommissar Fontaine u. 8. w. —14. August 1761. Marx-Antoine Montal, von der heiligen Kapeile, bei der Provengale, anhelantem alte stratis in lectis. Kommissar de Huisseau u. s. w.

8. Juli 1760. Marie Mocet, Erzpriester von Tours, 60 Jahre alt. ludus ima manu ad mammam, altera pudendis adhibita, inguniculabat.

3. August 1760. Jean B. Thevenet, Domherr von Poitiers, bei der Adelaide, welche, wenn sie es gekonnt hätte, gern ihre Aktäons, den Kommissar Sirebeau und den Inspektor Marais, in Hunde verwandelt hätte.

Pfarrer (Cures) S. 316: 20. Juni 1765. Jean Pierre Pelletier bei der Lambert, per ouncta cava oorpoiis libidinem recipientem. Kommissar Mutel u. s. w.

22. August 1760. Pierre Louis Thorin. Zaire in dextrum semisupina latus. Kommissar Sirebeau u. s. w.

Abbes (01ercstonsur&) S. 317: 27. Oktober 1763. Charles Marie Thibault de Monsauche wird nach Saint-Lazare geführt, weil er zum dritten Male bei der Aurora gefunden wurde. Man fa6d bei ihnen einen Brief in Versen, in denen der Abbe Tethon das besang, was Hebe den Göttern zeigte, und was die Könige sehen wollen, wenn sie, um Vergnügen zu haben, bis in den fünften Stock steigen, was endlich, nach ihm, einen Schemel bei Hofe haben sollte.

Doktoren der Sorbonne (S. 318): 8. Mai

1766. J. Baptiste R qui truncus iners jacuerat

et inutile lignum bei der Guerin.

23. Mai 1763. Fei. Auguste Tomolle quidquid liberet proHcito indicans bei der Desnoyers. Das war seine dritte These.

E r z i e h e r (S. 319): 24. Februar 1761. P;

Hauslehrer der Kinder des Marquis de P. bei der Perle, nie vero statim solvit zonam et leges inierunt benevolae Veneris. Kommissar Sirebeau u. s. w.

Auswärtige Priester (S. 319—320): 28. Oktober 1V62. Frangois Detraussin de Jausse, aus Florenz, Professor der Beredtsamkeit. Sophie kämpfte nicht panz nach der Weise der Parther, indem sie be­ständig den Eüeken wandte. Kommissar Fontaine u.s.w.

Das wäre einiges aus der langen Liste. Ein Kom­mentar ist überflüssig. Facta loquuntur. Schon diese Tatsachen, diese authentischen Dokumente geben eine genügende Erklärung und — Rechtfertigung für den Löwenanteil, der dem Klerus an dein Orgien in S a d e s Romanen zukommt, und für den Hass, mit dem die Geistlichkeit nicht blos von S a d e bedacht wird. Denn TJnsittlichkeit an sioh ist schlimm, Unsittlichkeit aber, begangen von Predigern der Sittlichkeit, ist das Verabscheuungwürdigste in dieser frommen Welt, welcher mehr Intelligenz gut täte als Frömmigkeit.

Manuel bemerkt am Schlüsse dieser Aufzählung, dass kein Bischof in derselben genannt sei. Das erklärt er daraus, dass man nicht einmal von einer Krankheit des Bischofs reden dürfe, um wie viel weniger von seinen geschlechtlichen Ausschweifungen. Er deutet aber doch diejenigen des Erzbischofs von Cambrai an, in dem wir vielleicht ein Vorbild für den Erzbischof von Lyon bei S a d e zu suchen haben.

Ausser diesen Berichten Manuels existiert noch ein sehr grosses Werk über die Unsittlichkeit des fran­zösischen Klerus im 18. Jahrhundert. Nach der Er- stürmtui der BastiUe im Jahre 1789 erschienen die in der Bastille gafimdenen Prozessakten über die Sittlich­keitsvergehen der Geistlichkeit in zwei Bänden.) Lud­wig XV. liess sieh jeden Morgen über die Auffindung von Gastlichen in Bordellen berichten. Ebenso der Erzbischof von Paris. Diese Bulletins nannte man die „Nuits de Paris". Die beiden Bände umfassen 189 Be­richte vom 10. April 1765 bis zum 7. Juni 1766, sie sollten wahrscheinlich eher „raviver la lubricite caduque du monarqae" als den Interessen der Moral tmd der Würde des Königs dienen.

In dieselbe Kategorie gehört die Affäre des Pfarrers von Bagnolet und der Mademoi-selle Mimie. In der Autographensammlung von Lucas-Montigny befindet sich der folgende Brief des Erzbischofs von Paris, M. de Inigue an den Polizeiintendanten L e N o i r :

Le clerc de Inigue. Conflans, den 30. Juli 1786. Mein Herr!

Man hat mir mitgeteilt, dass der Herr Pfarrer von Bagnolet bei Paris oft eine Dirne Mimie besucht, welche in der rue Pierre-Poissons wohnt. Wenn es Ihnen mög­lich wäre, diese Tatsache zu verifiziercD, die zu erfahren ich sehr begierig bin, so würden Sie mich zu grösstem Danke verpflichten.

Ich verbleibe mit respektvoller Anhänglichkeit Ihr gehorsamer und ergebener Diener.

Antoine E. L., Erzbischof von Paris.

Der sehr bezeichnende Brief enthält folgende Rand­bemerkung des Empfängers: „An den Herrn Qtiidor, um sofort und im Q-eheimen die Tatsache zu verifizieren und mir Material zu einer Antwort zu liefern."

Weitere interessante Einzelheiten über das Treiben er Pariser Geistlichkeit finden sich in den „Conf essions d'une jeune fiUe.") Wir werden in das Bordell der Madame E i c h a r d geführt. Sapho (so heisst das junge Mädchen) beobachtet durch eia Guckloch das Tete-ä-Tete der Richard mit einem Geistlichen. Diese nimmt aus eiaer Schublade einen doppelten Rosshaarpanzer (double cuirasse de crins), der innen mit einer un­zähligen Menge von oben abgerundeten Eisenspitzen be­setzt ist, legt ihn um Brust und Rücken des Geistlichen, bindet ihn an beiden Seiten mit Stricken fest und be­festigt dann um den TTnterleib eine Eisenkette, welche sie unter den Testikeln hiadurchführt, so dass diese durch eine Art von Suspensorium unterstützt werden, das sich in der Mitte dieser Kette befindet. Auch dieses Suspensorium ist noit Haaren besetzt, aber weit ge­flochten, de maniere ä ne point empecher les attouche-ments de la main sur ces sources de plaisir. TJm die Handgelenke wurden ähnliche „Armbänder" gelegt. Hierauf erfolgt Erektion. Nunmehr schreitet die Richard zur Flagellation aliaque incitamenta amoris.

"Weiter erzählt Sapho, wie sie die Geliebte eines Bischofs wird, dessen Vikare ihm in der Lebensweise sekundierten, und entwirft eine lebhafte SchUdertmg des unsittlichen Treibens der Geistlichkeit in dieser Diözese. Sie erlebt ein Abenteuer mit vier Pfarrern (S. 318 ff.) Einer von ihnen ist ein Paederast, dessen Devise ist tout est c . . dans une femme/)

Auch durch Gedichte und Bilder wurde die sexuelle Liederlichkeit des Klerus gegeisselt. Das kräf­tigste ia dieser Beziehung hat wohl der Exjesuit C e r u 11 i geleistet, wenn er sagt :

Des mensonges sacrSs le commeTee sordide Partout du sacerdoce a grossi le trgsor. Partout le sacerdoee a bu le sang et l'or. Souvenez-vous des Juifs que massacra MoJse; Contemplez les büchers que Konie canonise; Tout prdtre est un bourreau, patent£ par Ia foi.

Die folgenden Verse führen ebenfalls eine nur zu deutliche Sprache'):

On a choisi cinq Evgques paiUards, Tous cinq rongs de veröle et de chancrc, Pour rgformer des Meines trop gaillards. Peut-on blanchir l'ebSne avec de l'encre?

Dies Gedicht bezieht sich auf eine Sittlichkeits-Enquete, mit welcher man die Erzbischöfe von Eheims, Arles, Narbonue, Bourges und Toulouse betraut hatte. Diese Enquete ist gewiss auch ein Zeichen der Zeit! Wie sie aber von der Volksmeinung beurteilt wurde, zeigen jene Verse und das zeigte noch deutlicher eine allegorische, nur in wenigen Exemplaren hergestelltp Zeichnung, die der Verfasser des ,,Espion anglais" sah. Auf derselben sind die fünf Erzbischöfe abgebildet. Der Erzbischof von Eheims (D e 1 a E o c h e-A y m o n) befindet sich vor einer katholischen Kirche neben einer Frau, welche ihm Gesichter schneidet und einen Hut anter ihrem Kleide verbirgt. Ifit der anderen Hand überreicht sie dem Erzbischof von Arles (de Jumil-d a c) den Orden vom heiligen Geiste, zieht ihn (den Erz-aischof) an sich, streichelt ihn und spielt mit ihm. Ein Fagdwagen zieht die grösste Aufmerksamkeit des Erz-Mschof s von Narbonne (D i 11 o n) auf sich. Der Erz-Mschof von Toulouse (de B ri enne) ist in seinem Ä,mtszimmer und hat zwei Bände der „Encyclopedie" TOT sich aufgeschlagen, den einen mit dem Artikel ,Zölibat", den andern mit dem Artikel ,,Mönche". Endlich überreicht der Erzbischof von Bourges Thelyppeaux) einer jungen Dame einen Blumen-itrauss, die ihn liebkost und deutlich alle Kennzeichen änes Freudwimädchens trägt.

6. Die Jesuiten.

In seinen „persischen Briefen" lässt !Montes-[ u i e u den Rica auch eine Klosterbibliothek besuchen, vo ein Mönch den Inhalt der Bücher erklärt. Unter len Theologen sind besonders die „Kasuisten" zu lennen, welche „die Geheimnie der Nacht ans Tages­icht ziehen; welche in ihrer Phantasie alle Jngetüme erschaffen, die der Dämon 1er Liebe hervorbringen kann, sie neben-inander stellen, mit einander vergleichen und sie zum legenstand ihrer Gedanken machen. Glücklich noch, renn sich das Herz nicht darin einmischt und nicht selbst der Splessgesell so vieler Verirrunyen wird, die so naiv geschildert und so nackt hihgemalt werden!")

Auf diesem Gebiete der „sexuellen Kasuistik" finden wir nun im 18. Jahrhundert die Jesuiten als Meister. Kein Orden hat es so verstanden, die Wollust durch die Religion zu legitimieren, und die eigenen unsitt­lichen Handlungen in ein mystisch-pietistisches Gewand zu kleiden. Der Jesuit hatte es nicht nötig, die Wollust in den Bordellen aufzusuchen. In seiner Eigenschaft als Beichtvater und Erzieher wurde es ihm leicht ge­macht, seine niemals geringen sexuellen Gelüste zu be­friedigen, die als „göttliche Eingebungen" gegen polizei­liche Recherchen zur Genüge geschützt waren.

Schon im 17. Jahrhundert musste Cornelius Jansen gegen die jesuitischen Beichtväter auftreten, „welche an Höfen Galanteriesünden schonten und den Nonnen erlaubten, sich von ihren geistlichen Tröstern Brüste und Schenkel wollüstig betasten zu lassen" . Denn der Jesuit Benzi lehrt ausdrücklich: VelHcare genas, et mammillas monialium tangere, esse tactus subimpudicos atque de se veniales . In Konsequenz dieser Vorschriften schändete de la Chaise, der Beichvater Ludwigs XIV. die Hofdamen und führte dem Könige von England Maitressen zu. Junge Damen in Holland Hessen sich von Jesuiten aus Wollust geissein. Ebenso die Hofdamen zu Lissabon unter Nunez) Der Jesuit Herreaii lehrte 1642, das“ es erlaubt sei, sich die Jrucht abtreihen zu lassen, und diktierte dies seinen Schülern und Schülerinnen.) Jesuiten verleiteten im 16. Jahrhundert die Damen in Lyon dazu, geschlitzte Hemden zu tragen, was im Jahre 1789 wieder nachgeahmt wurde.')

Bezüglich der berüchtigten „Mordtheologie" der Jesuiten, welche der Apologie des Mordes durch S a d e in nichts nachgibt, sei auf die Abhandlung ihres Ur­hebers J. d e M a r i a n a , sowie auf die berühmten, die ganze Immoralität der Jesuiten in helles Licht setzen-den „Lettres provineiales" von Blaise Pascal ver-viesen (Cologne 1657). Auch im 18. Jahrhundert er­laubten selbst die Ordensgenerale

Weltberühmt wurde die SkandalafiFäre zwischen dem Jesuiten Jean Baptiste Girard und seinem Beichtkind Catherine Oadiere zu Toulon, die im Mai 1728 ihren. Anfang nahm. Dieselbe hat eine ungeheure Literatur gezeitigt") und vielen porno­graphischen Eomanen zum Vorbild gedient.') Die Prozessakten sind in dem „Eceuil general des Pieces concernant le Proces entre la Demoiselle Cadiere et le Pere Girard" (173 niedergelegt. Ein Folioband voll Kupfern soll die pikanten Situationen verbildlicht haben; seine Zusammenstellung wird dem Marquis d 'A r g e n s, dem Grafen C a y 1 u s, sowie Mirabeau zuge­schrieben. Auch hat man behauptet, d a s s der Marquis de Sade zu seiner „Justine" durch obiges Werk angeregt worden sei.

Der Jesuit Girard hatte als Eektor des Seminars und Schiffsprediger in Toulon auch eine heimliche Buss­anstalt für Frauen eingerichtet, in welche die schöne und fromme E a t h. a r i n a C a d i e r e, Tochter eines reichen Kaufmanns, eintrat. Es gelang Q i r a r d, durch die Anwendung der raffiniertesten sexuellen Mystik das unschuldige Mädchen zu verführen tmd dessen Träume und Visionen für seine lüsternen Zwecke auszimutzen. Wollüstige Kutenschläge, oscnla ad nates und die fürchterlichste geistige Unzucht führten bald zu schwerer Hysterie des armen Mädchens, in deren Ver­laufe G i r a r d dasselbe schwängerte, aber sofort nach jesuitischer Moral durch ein wirksames Abtreibungs­mittel die Tolgen zu verhindern wusste. Endlich wurde gegen ihn der Prozess eröffnet, in dem er aber zur all­gemeinen Entrüstung freigesprochen wurde.

Dies Urteil veranlasste Voltaire zu dem sarkas­tischen Ausspruche:

Le P. Girard, rempli de flamme, D'une fiUe a fait une femme; Mais le parlement, plus babile, D'une femzae a fait une fiUe.

Derselbe Dichter schrieb unter ein Bild, das Girard

und die Cadiöre daratellte, die Verse:

Cette belle voit Dieu, Girard voit cette belle: Ah, Girard est plus heureux qu'elle.

7. Die schwarze Messe.

Den Gipfel erreicht die religiöse Sexualmystik in iem Kult der sogenannten Satanskirche. „Satan" wird liier zu einer „Personifikation des physischen Bestattungs-Mysteriums" als Protest gegen die ausschliess­liche Herrschaft der ,,metaphysischen Vergottungs-Mystik." ) Die Geschichte dieser merkwürdigen Sekte, iie sogar in dem kürzlich dahingeschiedenen F e 1 i c i e n R o p s einen ihre entsetzlichen Phantasiegebilde bildne­risch festhaltenden Künstler besessen hat, ist von G, L e g u e ) und vor alleni von Stanislaus Przy-byszevsrski geschrieben worden. Satan - Satyr, Satan-Pan und Satan-Phallus war der antike „Gott der Instinkte und der fleischlichen Lust, im selben Masse verehrt von dem Höchsten im Geiste wie vom Nied­rigsten, er war der unerschöpfliche Quell der Lebens­freude, der Begeisterung und des Kausches.

Er hat das Weib die Verführungskünste gelehrt, die Menschen in doppelt geschlechtlichen Trieben ihre Lust befriedigen lassen, in Farben hat er geschwelgt, die Flöte erfunden und die Muskeln in rhythmische Be­wegung gesetzt, bis die heilige Mania die Herzen um­fing und der heilige Phallus mit seinem Ueberfluss den fruchtbaren Schoss besamte." Das war die Zeit der naturfrohen Mutterschafts-Mysterien. Dann kam das juden-grIechische Christentum und predigte die über­natürliche, asketische "Vaterschafts-Mystik. Die Kirche riss den Menschen gewaltsam von der JN'atur los. „Sie zerstört die unbewusste Zuchtwahl der Natur, die sich nach aussen in Schönheit, Kraft und Herrlichkeit äussert, sie beschützt all' das, was die ISTatur ausstossen will, den Schmutz, die Hässlichkeit, die Krankheit, den Krüppel imd den Kastrierten". Aber die Natur lässt sich nicht austreiben. Und so musste auch die Kirche nachgeben und schliesslich den heidnischen Kultus mit dem ihrigen verquicken. „Die Bacchanalien bei den Festen der Ceres Libera wurden bei den Prozessionen in den Mariafeste ti mit grösserer Ausgelassenheit ge­leiert als je zuvor, und bis in das 13. Jahrhundert 'eierte das "Volk zusammen mit dem Priester laszive und orgiastische Feste, das Fest des Esels,') das Fest der [dioten (fatuorum) — Beste des Phalluskultus ver­brochen sich in die Kirche, die Säulen-Kapitale strotzten ron obscönen Figuren, und ein beliebter Vorwurf für iie Kelief s an den Kirchen war Noah, wie er den Bei­schlaf mit seinen Töchtern ausübt." Der eigentliche Kult der Satanskirche wurde aber von dem Manichäis-mus im südlichen Frankreich geschaffen. „Von hier aus beginnt Satan den ungeheuren Triumphzug über ganz Europa." Die Geheimbünde der ,,Vollendeten", der „Perfekti" bilden sich überall, ausschliesslich der schönsten Geschlechtslust frönend, mit einem glühen­den Hasse gegen die christliche Lehre. „Sie be­schimpften und töteten die Priester, wo sie sie nur auf­fangen konnten, benutzten die heiligen Geräte zu obzönsten Zwecken, und ein grosser Teil ihres Kitus ist nur die Parodie des katholischen Kultus. In ihren Zu­sammenkünften, ihren parodistischen Messen ist bereits der satanistische Sabbat völlig, sogar in Einzelheiten vorgeformt. Jeder Novize musste bei der Aufnahme allen katholischen Glauben abschwören, das Kreuz be­speien, der Taufe und der Oelung entsagen". Trotz der Verfolgungen der Kirche erhielt sich die Sekte und ihr Wahlspruch: „Nemo potest peccare ab umbilico et in-ferius" fand besonders unter „unbefriedigten" Priestern Anhänger. Die Sünde durch die Sünde töten! Das war ihr grosses Prinzip der geschlechtlichen Orgien. Der Priester heiligt alle "Weiber, die mit ihm sündigen. Die Nonnen sind die „Oonsakrierten", d. h. Maitressen der Priester. Der schwarze Tod im 14. Jahrhundert, der Flagellantismtis, die Tanzwut, die Hungersnot steigerten die geschlechtliche Hysterie bis aufs Höchste. Jetzt feierte die Sekte der Satansanbeter ihre Triumphe. Seitdem ist sie trotz grausamster Verfolgungen bestehen geblieben und hat ihre imheimliehen Messen weiter ge­feiert. Noch in der Neuzeit ist sie in einzelnen Ver­zweigungen wieder hervorgetreten. Die „Adamiten' oder „Nikolaiten", „Picarden" in Böhmen, die sich nackt versammeln, das Christentum verwerfen und Weibergemeinschaft haben, die schon 1421 auf einer Insel im Flusse Luschwitz von Johannes Ziska ausgerottet wurden, traten noch im Jahre 1848 in fünf Dörfern des ChTudimer Kreises als „Marokkaner" wieder hervor. Dieser Namie wurde deshalb gewählt, weil sie die Ausrottung aller Katholiken durch einen aus Marokko kommenden Feind erwarteten. Aehnlich ist die „Oneidagemeinde" oder die den alten Namen der „Perfekt!" wieder erneuernden „Perfektionisten" im Staate New-Tork (seit 183. IsToch heute wird der Satans-Kult in Paris gefeiert, wie dies die Werke von Huysmans u. a. schildern. Berühmt wurde der Prozess der Magdalaine B a V e n t im 17, Jahrhundert, der vieles über die schwarze oder Satans-Messe an die Oeffentlichkeit brachte"). Ferner derjenige des Abbe Guibourg, bei dem E a c i n e, Lord Buckingham und die Marquise de Montespan die schwarze Messe hörten ).

Der Marquis de S a d e bekundet sich in seiaen Romanen als einen fanatischen Anhänger des Satans­kultus. Mehrere sch-warze Messen kommen in „Justine" und „Juliette" vor. In „Justine" (Bd. 11, S. 339 ff.) wird eine solche Messe in einem Kloster ausführlich ge­schildert. Ein Mädchen wird als heilige Jungfrau in der Kirche in einer Nische festgebunden, mit zum Himmel erhobenen Armen. Später -wird sie nackt auf einen grossen Tisch gelegt, Kerzen werden angezündet, ihr Gresäss wird mit einem Kruzifix geschmückt und „sie feierten auf ihrem Gresäss die absurdesten Mysterien des Christentums". Dann wird auf den Nates der Justine eine Messe gelesen. „Sobald die Hostie Gott geworden ist, ergreift sie der Mönch Ambroise et in anum filiae immittit", wobei der Hostienaberglauben mit den wütendsten Ausdrücken verhöhnt wird.

Ein ander Mal erfolgt (Juliette III, 35) der Ein­tritt in den Saal der „Societe des amis du crime" nackt auf einem grossen Kruzifix, das mit Hostien bedeckt ist und an dessen Ende die Bibel liegt.

Zwei Satansmessen werden (Juliette III, 147) in cnnnis duarum tribadum gelesen, darauf die Hostie in faece posita ano inseritur, worauf der Hauptaltar zur Stätte der wildesten Orgien gewählt wird.

Endlich liest Papst Pius VI. selbst (Juliette V, in der Peterskirche eine schwarze Messe, wobei die Hostia in pene papae posita postea ano filiae inseritur.

8. Die Nonnenklöster.

Im Vorhergehenden sind auf das Leben der Nonnen im 18. Jahrundert schon so viele Streiflichter gefallen, dass wir uns kürzer fassen können. Das bei S a d e (Juliette I, 1 ff.) geschilderte Nonnenkloster Panthemont in Paris existierte wirklich 1 „Das grosse Kloster des 18. Jahrhunderts nach dem Kloster von Tontevrault, das gewöhnliche Erziehungshaus der „Filles de France'"', ist das Kloster Panthemont, das Fürstenkloster der nie de Grenelle, wo die Prinzessinnen erzogen wurden, wo­ hin der höchste Adel seine Töchter schickt.'") Panthe­ mont war das teuerste aller Klöster. Die gewöhnliche Pension für junge Mädchen betrug 600 Livres, die aussergewöhnliche 800 Livres. Gegen Ende des Jahr­ hunderts stieg sie auf 800 bezw. 1000 Livres, welche letztere Summe die mit der Aebtissin speisenden Pensionärinnen zahlen mussten.

Im 18. Jahrhundert waren die Klöster immer mehr j verweltlicht. ,,Das über dem Giebel des Klosters der „Nouvelles Catholiques" stehende Wort: Vincit mundum fides nostra, war längst nur noch ein toter Buchstabe. Die Welt hatte im Kloster Fuss gefasst.'") Zwar wohnten die weltlichen Pensionärinnen getrennt von den eigentlichen Nonnen. Aber es fand trotzdem ein Ver­kehr zwischen ihnen statt, und durch die Laien­schwestern witrden auch die Nonnen über die Ereignisse ausserhalb des Klosters unterrichtet. Der Klatsch und Skandal blieben dem Kloster nicht fern, wie auch der Verkehr mit deu jesuitischen Beichtvätern und das intime Zusammensein so vieler junger und alter Trauen gewiss die aus früheren Jahrhunderten bekannten sexu­ellen Verirrungen ia Nonnenklöstern nicht haben auf­hören lassen. Wenn die Gebrüder G-oneourt sich darüber wundern, dass im Kloster Panthemont ein Buch wie die „Confidences d'une jolie femme" der Made-moiselle d' A1 b e r t geschrieben werden konntet mit seinen wenig moralischen Enthüllungen, so wundert uns noch mehr, dass die G o n c o u r t s in ihrer bekannten Vorliebe für das 18. Jahrhundert, für die „gute, alte Zeit" eine TJnsittlichlceit in den geistigen Klöstern nicht anerkennen. Freilich haben wir gerade über die fran­zösischen Nonnenklöster wenig zuverlässige Berichte. Wir haben z. B. über das Kloster Panthemont nur eine einzige Skandalgesehichte auffinden können. Aber was beweist das? Die gesamte geistliche Korruption lag offen zu Tage. Sie war es, gegen die sich von Anfang des Jahrhunderts bis zur französischen Eevolution die heftigsten -Angriffe Ton Seiten der klar blickenden Geister richteten. Man lese z. B. die auf zuverlässige Berichte gestützte Darstellung dieser Verhältnisse bei dem freilich weniger für das aneien regime begeisterten B u c k 1 e. Man denke an das früher Mitgeteilte, an die Aufhebung des Jesuitenordens, an den historisch be­glaubigten Verkehr der „Confesseurs" mit den, Nonnen. Selbst Tocquevil le, ein erklärter Gegner der frei­heitlichen Bestrebungen des 18. Jahrhunderts, sagt: „Le clerge prechait une morale, qu'il compromettait par sa conduite", "was Buckle als besonders bemerkens­wert hervorhebt.) Was ferner die Goncourts ganz übersehen haben, ist der entscheidende Umstand, dass das Treiben in den Nonnenklöstern sogar Gegenstand der Verspottung in Theaterstücken wurde, wie Lanjona „Kloster", „Päpstin Johanna"; „Der Dragoner und die Benediktinerinnen" dartun. Das be­weist ferner die ungeheure Verbreitung der Tribadie in Frankreich im 18. Jahrhundert, die wir später unter-suelien, und die doch in den Nonnenklöstern den ge­eignetsten Schauplatz ihrer Taten, fand. Das beweist schliesslich der berühmte Roman Diderots „Die Nonne", imd die vielen Darstellungen der Korruption in den Nonnenklöstern bei den übrigen erotischen Schriftstellern des 18. Jahrhunderts.

So dürfen wir S a d e schon glauben, wenn er (Juliette I, sagt, dass aus dem Kloster Panthemont seit vielen Jahren die „hübschesten und unzüchtigsten Frauen von Paris hervorgegangen sind", wenn er die Tribade Zanetti (Juliette VI, 156) sagen lässt: Les eglises nous servent de bordeis, und wenn er ein von Frauen vielgebrauchtes Instrument der Wollust als ,,bi]ou de religieuse" bezeichnet (Juliette m, 56). Im benachbarten Italien war jedenfalls im 18. Jahrhundert die Unsittlichkeit in den Nonnenldöstem bis zu einem hohen Grade gestiegen. G o r a n i, dessen Zuverlässigkeit sich immer mehr herausstellt, berichtet von wüsten Orgien in den neapolitanischen Nonnen­klöstern. Die Entdeckung der geschlechtlichen Aus­schweifungen der NonnenvonPrato (bei Florenz) hat einen der berüchtigsten geistlichen Skandale des 18. Jahrhunderts ans Licht gezogen, v. Reumont gibt darüber folgende Naehricht): „Sowohl in Pistoja wie in Prato hatten seit Jahren in Dominikanerinnen-Klöstern Unordnungen schlimmster Art sich gewisser-massen eingenistet, ein Gemisch von Pietismus und von fleischlichen Verirrungen, das an eine Art Wahnsinn grenzte und längst für die geistlichen Obern kein Ge­heimnis war. In Pistoja wurde einigermassen Ordnung geschaffen, in Prato aber, wohin die am meisten kompro­mittierten Nonnen hatten übersiedeln müssen, kam es zu Ostern 1781 zum Ausbruch. Auf des Bischofs An­zeige schritt der Grossherzog ein, liess durch einen Kanzler des Kriminalgerichts eine Untersuchung ein­leiten, zwei der vornehmsten Schuldigen erst in Prato sinsperren, dann nach Florenz in das Spital von Bonifazio bringen und einem regelmässigen Prozess unterwerfen. Zugleich liese er allen Dominikanern die Verbindung mit den Frauenklöstern ihres Ordens uiitersagen und im Falle von (Tngehorsam den Provinzial mit allgemeiner Ausweisung bedrohen. Die Sache machte um so grösseres Aufsehen, da die inkriminierten Nonnen angesehenen Familien angehörten, und der Skandal in der Tat entsetzlich war." Eine ausführliche Schilderung aller Arten der scheuss-lichsten Unzucht zwischen den Dominikanerinnen von Prato und den Mönchen desselben Ordens, wobei auch das „Herz Jesu" eine KoUe spielt, findet man in der Biographie des edlen, antipäpstlich gesinnten Bischofs von Prato, Scipione de' Ricci (nicht zu ver­wechseln mit dem Jesuitengeneral Lorenzo Eicci) von Potte r.

9. Die Frau im 18. Jahrhundert.

Das 18. Jahrhundert ist wenigstens in Frankreich das Jahrhundert der Frau. Mit Recht meint Georg Brandes), dass die G o n c o u r t s, diese so fein em­pfindenden Verehrer weiblichen Wesens sich deshalb ge­rade von der Geschichte des 18. Jahrhunderts angezogen gefühlt hätten, weil der „Einfluss der Frauen damals am grössten war." Das Buch der Goncourts über die ,,Frau im 18. Jahrhundert" gehört zu den anziehendsten kulturhistorischen Werken, wenn es auch als ein Werk der Galanterie mehr die Licht- als die Schattenseiten seines Gegenstandes hervorhebt. Der allmächtige Einfliiss der Frau hat in dem Kapitel „Die Herrschaft und Intelligenz der Frau" dieses Buches eine bisher unübertroffene Schilderung ge­funden. „Die Seele dieser Zeit, das Zentrum dieser Welt, der Punkt, von dem alles ausstrahlt, der Gipfel, von dem alles herabsteigt, das Bild, nach dem alles sich gestaltet, ist die Frau." Vom Anfang bis zum Ende des Jahrhunderts war die Regierung der Frau die allein sichtbare, die Regierung der Mesdames de Prie, de Mailly, de Chäteauroux, de Pompadour, d u B a rry, dePolignac. Im Staat, in der Politik, in der Gesellschaft herrschte die Frau, ihr Einfluss machte sich auf allen Gebieten des Lebens geltend, üeber Krieg und Frieden wurde nach dem Willen einer Frau entschieden, nicht zum Heile Frankreichs. Und in den berühmten „Salons" des 18. Jahrhunderts, einer Du Deffand, ITecker, Lespinasse, Ge-3 f f r i n, im Salon des Grandval, gaben Frauen als lie Schöpferinnen dieser Einrichtungen den Ton an bei ler Erörterung der Tagesfragen und der wissenschaft­lichen Probleme. Hier wurde die moderne „gebildete Gesellschaft" geschaffen.)

Das Frankreich des 18. Jahrhunderts liefert aber luch den Beweis dafür, dass dort, wo der Einfluss der Frauen zu gross wird, die Bande der Familie dieses Fundamentes Jeder Gesellschaft, sich lockern, dass die Liebe unsittliche rormen annimmt, imd dass neben diesem allmächtigen Einflüsse der Frauen ganz gut eine Verachtung des weiblichen Geschlechts bestehen kann, wie dies im 18. Jahrhundert der Fall ist.

Die Liebe des 18. Jahrhunderts war durchweg sinn­lich. Sie war Wollust geworden. Die Leidenschaft wurde durch die Begierde ersetzt und der Ehemann brachte seiner Gattin alle Liebeskünste einer Maitresse bei. (G o n c o u r t s a, a. O. S. 168.) Die Philosophie diente dazu, die Wollust zu rechtfertigen, sie war eine Apologie der Schande. „Bei einem Souper im Hause einer berühmten Schauspielerin, an der Tafel einer Q u i n a u l.t, unter den unzüchtigen Reden eines D u c 10 s und Saint-Lambert, berauscht von den Paradoxen des Champagners, hörte die Frau in süsser Geistestrunkenheit von der Scham sagen: Schöne Tugend! die man mit Nadeln an sich befestigen muss.'") Bequeme Sophismen verwirrten alle sittlichen Begriffe der Frau. Die rein physische Liebe, welche von dem Naturalismus und Materialismus als das Ideal verkündet worden war, welche von Helvsstius u. a. vor ihrer Heirat praktisch ausgeübt und von B u f f o n in der be­rühmten Phrase: Nur das Sinnliche ist gut in der Liebe, verherrlicht wurde, erschien endlieh bei der Frau „in all ihrer Brutalität".

Die Geschlechtsverbindungen erhielten ganz sinn­liche Zwecke, und diejenigen, welche die Liebe zu ver­schönern suchten, beschränkten sich darauf, die gröbsten Begierden durch kurze Hindernisse und Beimischung

solcher Verzierungea, woran der Verstand mehr Anteil hatte als das Herz, schmackhafter und dauernder zu machen. Das Wort „Galanterie" erhielt eine ganz neue Bedeutung. Es bezeichnete sittenlose Aufführung, die sich nur von der Ausgelassenheit gemeiner Dirnen durch Beobachtung solcher Formen imterschied, welche zur Erhöhung des Vergnügens und zur Bewahrung des Scheins der Achtung vor dem Publikum dienten. Bernards berühmte Nachäffung des 0vid, die „l'art d'aimer" predigte conventionelles Benehmen in der grössten Unzucht. Nicht viel besser waren die „amours platoniques", die „Interets oder Liaisons de Societe", die „Commerces d'habitude" jener Zeit. Der Ab b e G a 1 i a ni sagt: „Die Frauen dieser Zeit lieben nicht mit dem Herzen, sie lieben mit dem Kopfe".) Die Liebe ist eine „lilertinage de la pensee." Man ver­wirklichte in ihr die schmutzigen Träume einer künst­lich erregten Einbildungskraft, die Versuchungen der geistigen Korruption, die sonderbarsten Einfälle einer unersättlichen Wollust. Die Liebe wurde zu einem auf­regenden Spiel, bei dem alles Raffinement der geistigen Unzucht aufgeboten wurde, um den'Genuss zu erhöhen.) Man bereitete sich durch die obscönste Unter­haltung auf die Genüsse vor. Immer wieder wird von Sa de in seinen Ronaanen betont, wie sehr durch die wollüstige Unterhaltung, durch das Aussprechen dras­tischer und gemeiner "Worte der Liebesgenuss gesteigert werde. Er hatte diese Erfahrung aus der Wirklichkeit entnommen. M e r c i e r erzählt ), dass die grosse Zahl der öffentlichen Dirnen den jungen Männern einen sehr freien Ton gegehen hihe, dessen sie sich auch gegenüber den ehrbarsten Frauen l)edienen, so dass man in diesem so höflichen Jahrhundert „grob in der Liebe sei". Die Konversation mit den am meisten geachteten Frauen sei selten zartfühlend, sondern überreich an schlechten Scherzen, Zweideutigkeiten und Skandal-Geschichten. ,,Schmutzige, ungezogene Scherze, die sogar die Würze der Zweideutigkeit verschmähten: Stellungen und Ge­berden, welche die ekelhaftesten Ideen erweckten und überhaupt ein Ton von offenbarer Vertraulichkeit, der die geheimere ahnen Hess, die kurz vorher eingetreten war, oder gleich darauf eintreten sollte", das waren ge­wöhnliche Reizmittel der Liebe in jener Zeit.

Daraus resultierte eine unerhörte Schamlosig­keit des Weibes. Mit 30 Jahren hatte die Frau den letzten Rest von Schamgefühl verloren. Es blieb nur noch die „Eleganz in der Unzucht" übrig, die Grazie in der Wollust. Die Fra! nahm alle Gewohnheiten des männlichen Wüstlings an; ihr grösstes Vergnügen war, ; „den Verlust ihres guten Rufes zu geniessen." So j jauchzen und freuen sich auch die Frauen in S a d e s , Romanen, dass sie Dirnen sind, dass sie aller Welt an-' gehören und den Ehrennamen der „putain" tragen' dürfen! Selbst ein so frommes Gemüt, eine so zart; empfindende Seele wie Madame Roland kennt kein, Gefühl der Zurückhaltung. Sie beschreibt in ihren Denkwürdigkeiten eich selbst und ihre Körperbildung aufs Genaueste; sie berichtet von ihrer Brust, ihren Hüften, ihren Beinea so kaltblütig, als gelte ihre Kritik einer Marmorbildsäule. Dürfen wir uns dann wundem, wenn z. B. bei Sade (Juliette IV, 103) Juliette mit grenzenlosem Cynismus ihre eigenen Eeize beschreibt? Vornehme Frauen trieben die Schamlosigkeit so weit, dass sie gleich männlichen Wüstlingen sogenannte „petites maisons" ähnlich den petites maisons der Koues mieteten, um wie die G o n c o u r t s sich ausdrücken, „die Wollust einzuquartieren". Ja, es kam vor, dass Aristokratinnen in Bordellen ihr Vergnügen suchten. Retifde la Bretonne glaubte die Gräfin d'Egmont in einem Freudenhaus als Dirne gesehen zu haben. Umgekehrt war es keine Seltenheit, dass Bordellmädchen in vornehme Kreise hineinheirateten. In den „Contemporaines" heisst es: „Ich wabe wohl noch etwas Aergeres gesehen, nämlich, dass die Tochter einer alzhökerin, nachdem sie schon durch die Hände der Weiber gegangen war, ein Kind gehabt, in der Strasse Saint-Honore als öffentliche Hure gelebt hatte, und in der neuen Halle nochmals war erwischt worden u. s. f., dass diese, sage ich, doch noch einem reichen Manne gefiel, ihn heiratete und ihm Kinder brachte." Wir brauchen nur noch ein weiteres Beispiel zu nennen: die Du Barry! Tochter eines niedrigen Steuerbe­amten, war sie zuerst Modistin in Paris und kam dann in das Freudenhaus der Madame G o u r d a n, von dem später noch die Kede sein wird. Hier, also im Bordell, lernte sie Graf Jean Du Barry kennen, an dessen Bruder sie später bei ihrem Avancement zur Maitresse Ludwigs XV. verheiratet wurde. Kein Wunder, dass die hohe Aristokratie solchem Beispiel mit Begierde nacheiferte und eine wahre Jagd auf die „beaut6s popu-laires" veranstaltete. So entstand ein neues Modewort, das Wort „s'encanailler".

So ergriff, je mehr man sieh den Zeiten der Ee-volution näherte, die sittliche Eorruption auch die Frauen des Volkes. Vorbereitet und genährt wurde sie durch die berühmten „Convulsionen", jene merk-Avürdigen hysterischen Krampfepidemien, welche fast 40 Jahre lang (von 1727 bis 1762) besonders in den niedrigeren Volksschichten herrschten. Sie hatten den St.-Medarduskirchhof mit der Grabstätte des einst durch seine Askese so berühmten Abbe Paris zum Mittel­punkte. „Von allen Vierteln der Stadt bewegten sich die Massen zu dem St.-Medarduskirchhofe, um Anteil zu nehmen an den Verkrümmungen und Verzückungen. Der ganze Kirchhof mit den angrenzenden Strassen war dicht gefüllt mit Mädchen, rrau€n. Kranken jeden Alters, die gewissermassen mit einander um die Wette oonvulsionierten." Frauen luden, hingestreckt in ganzer Länge, die Zuschauer ein, auf ihren Bauch zu schlagen und beruhigten sich nicht eher, als bis die Last von 10 oder 12 Männern sich mit voller Gewalt über ihnen aufgetürmt hatte. Leidenschaftliche Tänze, wie der berühmte, von Abbe Becherand ausgeführte „saut de carpe" gaben bald diesen „Convulsionen" eine erotische Färbung. D n 1 a u r e hat beschrieben, welche Kolle zuletzt die Wollust bei dieser merkwürdigen Torin von Hysterie gespielt hat, und wie diese Convulsionen nicht wenig dazu beigetragen haben, die sexuelle Zügel-losigkeit zu verbreiten ). Man konnte den Erotismus in diesen Konvulsionen daran erkennen, dass die jungen Mädchen bei ihren Anfällen „niemals Frauen zur Hilfe-leisUmg verlangten, sondern stets Männer, und zwar junge und kräftige Männer." Dazu kleideten sie sich höchst indecent, zeigten stets Neigung zur adamitischen Entblössung, nahmen lascive Stellungen an, warfen verlangende Blicke auf die ihnen zu Hilfe eilenden jungen Männer. Ja, einige riefen mit lauter Stimme: Da liberos, alioquin moriar! So liessen Unzucht und Ausschweifungen nicht auf sich warten, und wenn die Frauen in ihrem Orgasmus die Männer eingeladen hatten, ihren „Bauch, Busen tmd ihre Schenkel zu Promenaden zu benutzen", mit ihnen zu „kämpfen", konnten die in der Folge „zahlreichen Entbindungen" von Convulsionäriimen auf die natürlichste Weise er­klärt werden.

Die Hysterie („vapeurs") war im 18. Jahr­hundert unter den französischen Frauen ungemein ver­breitet, wie das Buch der Madame Abrieossoff zeigt.) Sauvages hielt nicht mit Unrecht für die Ursachen dieser Hysterie den krassen Egoismus (amoxir ': excessif de soi-meme), das weichliche, wollüstige Leben der Damen jener Zeit.') Die „Hysteria libidinosa" zeitigte denn auch merkwürdige Exzentrizitäten. Die Frauen haben im 18. Jahrhundert das ge­ schaffen, was die neuere Zeit uu engeren Sinne als „Sadismus" bezeichnet, was wir aber später in einem bedeutend erweiterten Sinne definieren werden. Die „mchancete", diö Schlechtigkeit, und die „noirceurs", , die heimtückischen Streiche werden Mode in der Liebe, die verbrecherische Gesinnung („sc6Ieratesse") wird ein notwendiger Bestandteil des Liebesgenusses.') „Die Wollust wird eine Kunst der Grausamkeit, der Treu­ losigkeit, des Verrats und der Tyrannei. Der Mac- chiarellismns beherrscht die Liebe." Kurz vor der Re- ; volution treten nach den „petits maitres" der Liebe die „grands maitres" der Perversität auf, die herzlosen Ver- j teidiger der theoretischen und praktischen Immoralität. Menschen ohne Gewissen, freche Heuchler, die jede Ge- ; legenheit zu ihren Untaten benutzen, die mit kaltem : Blute überlegen, welche „horreurs" sie begehen wollen, i die vor nichts zurückschrecken, und nur verführen, um ta verderben. Die Typen der Gestalten S a d e s lebten! . Darüber kann kein Zweifel bestehen. Und sie fanden ' in den entarteten Frauen bei ihren Sehandtaten .Helferinnen, die noch schlimmer waren als sie selbst. , „Das Eouötum steigerte sich in einigen fürchterlichen Frauen bis zum Satanismus." Diese Scheusale ,' marterten die anständige Frau, deren Tugend ihnen zu- wider war, sie Hessen meuchelmörderisch und in bos-; hafter Freude die Gegenstände ihres Hasses, aber auch ihrer — Liebe aus dem Wege räumen. Sie verkörperten j die Wollust des Böeetuns, die „libertinage des passionsi rachantes."') Man glaube nicht, sagen die Bonet so schöniualendeii Goncourts, dass diese Typen Gebilde der Phantasie eeien. Es sind wirkliche Menschen, die dieser Gesell­schaft das Gepräge geben, deren Existenz durch zahl­reiche Persönlichkeiten bezeugt wird. Die Goncourts nennen den Herzog von Choiseul, den Marquis d e L o u V o i s, den seine Geliebte, Madame de B1 o t, folternden Grafen d e F r i s e als solche männliche Wollust-Teufel. Und eine vornehme Dame von Grenoble, die Marquise L. T. D. P. M., war das weibliche Gegen­stück dieser Helden, vielleicht ein Vorbild für S a d e s Juliette. Die Schreckenszeit war für die Liebe schon vor der Schreckensherrschaft der grossen Revolution an- /' gebrochen, noch bevor S a d e, berauscht von dem in' Strömen fliessenden Blute auf den Guillotinen, in den merkwürdigsten literarischen Dokumenten das aus­malte, was jener mordsüchtigen Zeit nicht fremd war: ; la Terreur dans l'Amour! Und als in der Schreckens­zeit unter Chaumettes Leitung die „theosophischen Orgien der Wollust" gefeiert wurden, als die „Göttinnen der Vernunft" wie die M a i 11 a r d, die M o n e o r o, die A u b r y auf sehr irdische Weise verehrt wurden, da erschienen auch urplötzlich die „tricoteuses de Robes­pierre", die „flagelleuses" und die schrecklichen „furies de guillotine".

Da •vrerden Weiber zu Hyfinen Und treiben mit Entsetzen Seberz; Noch zuckend, mit des Pantbers Zäbnen, ZerreiBS«n sie des Feindes Herz,

wie unser Schiller mit unverkennbarer Andeutung diese entarteten Geschöpfe, diese in Blut getauchten Ge- stalten der Hölle charakterisiert, wie sie auch in einer französischen Gedichtsammlung jener Zeit, „La Ke-publique ou le livre de sang" geschildert werden, wo 68 heisst:

De cea effrayantes femcUes

Les intarisaables mamelles '

Comme de publiques gamelles,

OflFrent ä boire ä tout passant;

Et la liqueur qui toujours coule.

Et dont rabominable foule

Avec aviäit4 se saoule,

Ce n'est pas du lait, mais du sang.)

Wir haben gesehen, wie im 18. Jahrhundert in Frankreich die Frauen bestrebt waren, sich zum Teil wenigstens in Männer zu verwandeln, wie sie in der Politik, in der Liebe und in der Wissenschaft den grössten Einfluss ausübten, wie zwar eine Emanzipation de iure nicht bestand, de facto aber sich geltend machte. Und doch war die Missachtung des Weibes nie so gross gewesen wie in diesem Jahrhundert. Was nützten alle geistreichen Einfälle, alles wissenschaft­liche Streben der Frau, da“ z. B. die junge Gräfin G r i g n y zur Teilnahme an Sektionen trieb '), wenn dabei sichtlich das Familienleben zerstört wurde, wenn der Schwerpunkt des weiblichen Wirkens ausserhalb des eignen Hauses fiel. Wir fürchten beinahe, dass wir im Frankreich des 18. Jahrhunderts das Spiegelbild einer nahen Zukunft vor uns haben, und es wäre eine dank­bare Aufgabe, zu untersuchen, wovon die wahre Schätzung des Weibes als solch abhängig ist, und ob wirklich die sogenannte Frauenemanzipation die Würde des Weibes für alle Zeit sichern wird.

Die vier grössten Denker Frankreichs im 18. Jahr­hundert: Montesquieu, Kousseau, Voltaire und Diderot haben die Verachtung des Weibes ge­predigt. Man denke nur an Voltaires bitter­sarkastische Aeusserungen über seine treue Freundin Madame Du Chätelet. Das Weib ist nach Kousseau nur zum Vergnügen des Mannes ge­schaffen worden. Nach Montesquieu hat der Manu die Kraft utid Vernunft, die Frau nur Anmut, and Diderot sah in der Frau einzig und allein ein Ob­jekt der Sinrienlust. „So ist die Frau nach Diderot eine Courtisane, nach Montesquieu ein anmutiges Kind, nach Eousseau ein Gegenstand des Ver­gnügens, nach Voltaire — Nichts.'") Als in der Eevolution Condorcet und S i e y e s für die häus­liche und politische Emanzipation der Frauen eintraten, da „wurden ihre Proteste erstickt durch die mächtigen Stimmen der drei grossen Fortsetzer (continuateurs) des 18. Jahrhunderts, durch Mirabeau, Danton und Robespierre." Und für Napoleon I. gab es eins in der Welt, das nicht französisch sei: eine Frau tun zu lassen, was ihr gefällt. Einer der besten Kenner der Frau im 18. Jahrhundert, Retif de la Bre­ton n e, äussert oft in starken Worten seine Gering­schätzung des Weibes. Die Ursache dieser Ver­achtung ist klar. Die Ehe ist, wie Westermarck in Beinern klassischen Werke zur Evidenz nachgewiesen hat, dasjenige Institut, dem die Menschheit ihre sitt­liche Yervollkonunnung verdankt, sie ist das absolut sittliche Institut. In der Ehe ist das Weib dem Manne ebenbürtig, weil es ihn ergänzt. Ausserhalb der Ehe kann das Weib den Mann nicht ersetzen, wird folglich alsbald minderwertig erscheinen. Eine vollständige Emanzipation muss an den unleugbaren Verschiedenheiten zwischen mäim-lichem und weiblichem Wesen scheitern. Eine Ge­fährdung der Ehe ist gleichbedeutend mit der Ver­ringerung der sittlichen Achtung, die der Mann dem Weibe entgegenbringt. Dies zu sagen, klingt heute noch spiessbürgerlich, wird aber nach vollendete-Emanzipation des Weibes bestätigt werden.

10. Die Literatur.

Die französische Litteratur des 18. Jahrhunderts steht unter dem Zeichen der Pornographie! Zu keiner Zeit der Weltgeschichte, selbst nicht unter den Cäsaren, ist die schöne Litteratur in so systematischer Weise zu einem Werkzeug der Wollust gemacht worden, wie unter dem ancien regime. Zwar ist „die Darstellung ge­schlechtlicher Lust alt in der französischen Literatur, wie zahlreiche mittelalterliche Fabliaux beweisen, allein erst im 18. Jahrhundertbeganu man an die Stelle der gesunden, derben Natur undl!faivität dieser älteren P r o -dukteder Zotologie Gemälde der Sinn­lichkeitzusetzen, derenraffinierte Ab-sichtlichkeiteinererschlafftenGesell-schaft zu giftigemReizmittel dient e.'")

Das 18. Jahrhundert hat den grössten Teil der heute existierenden pornographischen Litteratur hervorge­bracht, an Zahl der einzelnen erotischen Werke sicher mehr als alle anderen vorhergehenden Jahrhunderte zu­sammengenommen. Den Löwenanteil an dieser Pro­duktion pornographischer Werke beansprucht die Zeit von 1770 bis 1800, jene Epoche, welche der geistvolle Aubertin als die Periode der Talentlosigkeit, der „race intermediaire" bezeichnete, in welcher die platte Mittelmässigkeit den Ton angab und nur durch eine widerliche Erotü das Publikum zu reizen wusste.) Diese Bücher machen den Kultus des Fleisches zu ihrem Ilauptthema. Sie kennen nichts Höheres als wollüstige Formen und die mannigfachsten Varietäten des Liebesgenusses. Das Bordell ist ein Paradies, und die Dirne ehrbarer als die treueste Gattin. „Welches Zeitalter hat sich mit obscönen Büchern so beschmutzt wie dieses grosse Jahrhundert?" ruft Jules Janin aus), „das sogar Männer wie V oltaire, Kousseau, Diderot, Montesquieu und M i r a b e a u dem Geschmacke der Zeit nachgebend derartige Werke ver-fassten." Kurz vor und während der Revolution schien die Schmutzlitteratur alle edleren geistigen Erzeugnisse verdrängt zu haben. Die Bücherläden waren porno­graphische Bibliotheken geworden. Aus dem Jahre 1796 berichtet M e r c i e r ): „Man stellt nur noch ob-scöne Bücher aus, deren Titel und Kupferstiche gleicher­weise die Scham und den guten Geschmack verhöhnen. Ueberall verkauft man diese Ungeheuerlichkeiten auf Tischkörben, an den Seiten der Brücken, in den Türen der Theater, auf den Boulevards. Das Gift ist nicht teuer, 10 Sous das Stück. Die ausgelassensten Erzeug­nisse der Wollust überbieten einander und greifen ohne Zügel und ohne Scheu den öffentlichen Anstand an. Diese Broschürenverkäufer sind gewissermassen privi­legierte Zotenhändler; denn jeder Titel, der nicht ein unflätiger ist, wird augen­fällig von ihrem Schaubrett ausge­schlossen. Die Jugend saugt hier ohne Hindernis und ohne Bedenken die Grundstoffe aller Laster ein". Der hauptsächlichste Verkaufsort war das berüchtigte Palais-Royal, von dem später ausführlicher die Rede sein wird. Dieses Zentrum aller Lustgenüsse war auch der Hauptmarkt für die obscönen Schriften, welche die Pariser Lebewelt mit einer Sündflut von L u s t -reizen überschwemmten. Selbst auf den Toiletten­tisch der Pariser Damen wanderten diese Schand­bücher ), worüber auch B e r a r d eine interessante Ge­schichte erzählt, die zugleich ein Streiflicht auf die un­geheure Verbreitung der Werke des Marquis d e S a d e virft: „Ich erinnere mich, dass eine durch Stand und Alter achtbare Frau, die mich gebeten hatte, ihr für sich und ihre Kinder einige Bücher zum Mitnehmen aufs Land zu besorgen, auf dieser Liste ver-merkthatte: ,,Justine ou les Malheurs de la vertu", in welchem Buche sie wahrscheinlich ein pädagogisches Werk vermutete""). Dass in Bordellen derartige Schriften in überreicher Fülle vorhanden waren, nimmt nicht Wunder und wird auch wohl heute noch der Fall sein. P a r e nt-Duchatelet erfuhr von P e u c h e t, einem ehemaligen Archivar der Polizeipräfektur, dass

N'apoleonLzaEnde seines Konsulats alle derartigen im Jiesitze von Dirnen beiindiiclien Bücher wegzunehmen und zu vernichten befahl. Nur ein Exemplar von jedem wurde in der Nationalbibliothek aufbewahrt. Diese An­gabe Peuchete ist nach Parent-Duchatelet begründet, dem von dem Bibliothekar Van-Praet das Verzeichnis der Bücher vorgelegt wurde, sowie diese selbst in einem Winkel des Erdgeschosses der National­bibliothek gezeigt wurden.

Von obscönen Büchern ist denn auch bei S a d e recht häufig die Rede. Die interessanteste Stelle ist die­jenige im dritten Bande der Juliette (S. 96 ff.), wo Juliette und Clairwil die Wohnung des Karmeliter­mönches Claude durchstöbern und ausser „guten Weinen und weichen Sofas" eine ausgewählte pornographische Bibliothek finden. Juliette sagt darüber: „Man macht sich keine Vorstellung davon, was für obscöne Bilder und Bücher wir dort fanden!" Zuerst bemerkten sie den „Portier des Chartreux", ein mehr „scherzhaftes als wollüstiges Buch, dessen Abfassung der Verfasser trotz­dem auf dem Sterbebette bereut haben soll." — Zweitens die „Academie des Dames", ein dem Plane nach gutes, der Ausführung nach schlechtes Buch. — Drittens die „Edncation de Laure", ein elendes Machwerk, das nach Juliette viel zu wenig Wollust, Mordtaten und „goüts cruels" enthält. Endlich „Therese philosophe", „das bezaubernde Buch des Marquis d'Argens" mit den Bildern von C a y 1 u s, das ein/Age von diesen vier Büchern, welches Wollust mit Gottlosigkeit vereinigt. Ausserdem fanden Juliette und Clairwil bei dem Mönche noch zahllose elende kleine Broschüren, die in den Caf4s und Bordellen ausliegen", zu denen auch die Werke des „nichtigen Mirabeau" gehören.

Auch die Delbene hat in ihrer Bibliothek eine grosse CoUektion schmutziger Bücher. Sie will der Juliette diese Werke leihen, damit diese sie während der Messe lese und so getröstet werde über den Zwang, einer „solchen abscheulichen Zeremonie" beiwohnen zu müssen. (Juliette I, 32). S a d e hat sogar seine eigenen Werke als Muster obscöner Lektüre hingestellt. Eia Abbe liest in dem „Hinrichtungssaale" des Erzbischofe von Grenoble die „Philosophie dans le Boudoir" (Justine IV, 263.)

Zur Orientierung geben wir einen ganz kurzen Ueberblick über die wichtigsten französischen Erotica-des 18. Jahrhunderts. Die grossen bibliographischen Werke von Gay und Cohen vermitteln eine weit­gehende Kenntnis dieser pornographischen Riesen-litteratur, aus der wir nur die am meisten charakterist­ischen Beispiele anführen wollen.

In Pierre Joseph Bernard (1708—1775), von Voltaire „Gentil-Bernard" genannt, hatte das 18. Jahrhundert seinen Ovid. Im Jahre 1761 erschien die „L'art d'aimer"') in drei Gesängen, eine vergröberte

Ifachahmung der ovidischen Ars amandi, die aber grosses Aufsehen erregte und auf dem Toilettentische keiner vornehmen Dame fehlte. „Die Verse sind mit einem Bosa-Bande an einander geknüpft. Die Gedanken darin sind nur ein Girren'"). Aber dieses Girren war sehr wollüstig, und die Deutlichkeit der Sprache konnte sich neben der des Ovid sehen lassen. B e r n a r d erteilte in seinem Gedicht einen ganzen Kursus der raffiniertesten Geschlechtsliebe, in dem er auch das Lesen schlüpfriger Schriftsteller empfahl.

Der jüngere Orebillon (Claude Prosper Jolyot de Crgbillon 1707—1777) kann als der eigentliche Schöpf er der lasziven Schriftstellerei im 18. Jahrhundert bezeichnet werden. Seine Schriften sind charakterisiert durch einen „eleganten Zynismus und eine Grazie in der Wollust".') Am berühmtesten ist das „Sofa", dessen Titel schon den Inhalt verkündigt. Aehnlicher Art sind„L'Ecumoire" (Paris 1735), „Les amours de Zeo Kinizal, roi de Cofirons" (Amsterdam 1746), in denen die Liebesabenteuer des fünfzehnten Ludwig geschildert werden. Ferner „La nuit et le moment" (Amsterdam 1755), „Ah! quel conte" (Paris 175, „Les %arements du coeur et de l'esprit" (Brüssel 1796) u. s. w. In C r e b i 11 o n s Romanen macht sich, bereits die Neigung bemerkbar, die gemeinste Sinnlich- keit durch Umkleidung mit einem philosophischen. Ge­wände zu verschönern und zu rechtfertigen.

Jean Frangois Marmontel (1723—1Y99) hat in seinen „Incas" den Typus des antikleri-ka 1 en Homans im 18. Jahrhundert geschaffen, dessen Inhalt auf spätere Darstellungen des Klerus in erotischen Romanen unverkennbar eingewirkt hat.)

Die bei S a d e von Juliette erwähnte „Therese philosophe"/) stellt im Anschlüsse an den Fall G i r a r d (Dirrag) und Cadiere (Eradicee) die sexuellen Aus­schweifungen der Jesuiten dar. "Wie -wir sahen, schreibt S a d e diesen Roman dem Marquis d' A r g e n s und die Bilder dem Grafen 0 a y 1 u s zu, welche Ansicht auch ' von Gay geteilt wird. Wahrscheinlicher ist aber die vom Abbe S e p h e und von Barbier zuerst entdeckte Urheberschaft des Kriegskommissars de Montigni (genannt Lucas-Montigni). Statt C a y 1 u s soll Antoine Pesne, ber bekannte Hofmaler Fried-richsdesGrossen, die obscönen Bilder gezeichnet haben,')

AndrS Robert Andrea de Nerciat (1739—1800) war zwei Jahre lang 1780—1882) Bibli­othekar in Kassel und wurde später (von 1788 an) Ver­trauter der Königin Karoline von Neapel. Er schrieb die berüchtigte „Felicia ou mes Fredaines" (Paris 1778, 2 Bde.) und als Fortsetzung derselben „Monrose ou le libertin par fatalite" (Paris an V), Seine obscönste Schrift ist der „Diable au Corps" (Paris 1803, 6 Bde), der die angebliche Schrift eines Doktor „Cazzone" (!), ausserordentlichen Mitgliedes der „joyeuse faculte phallo-coiro-pygo-glottonomique" vorstellen soll, wie der Verfasser im Vorwort versichert.

Dass die Pornographie in jener Zeit Mode war und zum guten Ton gehörte, beweist ja am schlagendsten der Umstand, dass die hervorragendsten Geister des Jahr­hunderts es nicht verschmähten, diesen billigen Euhm zu erwerben. Wir haben schon auf den berühmten Altertumsforscher Caylus hingewiesen. Aber auch Geisteshelden wie Mirabean und Diderot haben sich nicht gescheut, ihre litterarische Tätigkeit durch die Veröffentlichung von schmutzigen Erzählungen zu schänden. Besonders Mirabeau wird vom Marquis de S ade öfter genannt, und es ist kein Zweifel, dass Mirabeaus „Education de Laure" das Vorbild der „Philosophie dans le Boudoir" gewesen ist, wie dies schon Eulenburg erkannt hat.) In „Ma conversion" (London 1783) hat Mirabeau die Erlebnisse eines männlichen Prostituierten geschildert, der sich für seine Dienstleistungen von den vornehmen Damen, Nonnen u. s. w. bezahlen lässt. Ein drittes obscönes Buch Mirabeaus ist „Erotica Biblion" (Eom 1783).

In Denis Diderots „Jacques le Fataliste" (Paris 1746) kommen schlüpfrige Geschichten vor, die Diderot „tief unter Crebillon herabsetzen".) In der berühmten „Nonne'") bringt Diderot eine Schilderung des Klosterlebens, in der tribadische und andere lasterhafte Ausschweifungen der Nonnen und Oberinnen beschrieben werden. Auch die „Bijoux in-discrets" (Paris 1748) haben erotischen Inhalt. Ins­besondere hat vielleicht die auch bei S a d e wieder­kehrende Vorliebe Diderots für paradoxe Behaupt­ungen auf sexuellem Gebiete auf Ersteren einen Ein-fluss ausgeübt.

Choderlos de Laclos war nach Kodier der „P e t r 0 n einer weniger litterarischen und mehr verderbten Epoche als diejenige des wirklichen Petronius war." Seine vielgenannten „Liaisons dangereuses" schildern die Korruption der Aristokratie, welcha der Verfasser als Freund des berüchtigten Philippe Egalite aus eigenster Anschauung kennen gelernt hatte. Charles Nodier erzählt in einer interessanten Notiz „über einige satirische Werke und ihren Schlüssel", dass man ihm in seiner Jugend in verschiedenen Provinzialhauptstädten mehrere „un­reine und lasterhafte Helden dieses Garnison-Satyricon gezeigt habe." Nach ihm verdienen die „Liaisons dangereuses" dasselbe Schicksal (der Verachtung) wie die „scheusslichen Obscönitäten eines frechen Nach­ahmers des Herrn Laclos, des Marquis de Sade,

welchem der Preia eines Ekel erregenden Cynismus ge­bührt.'")

Weniger zynisch, aber ebenfalls die Lasterhaftig­keit des Adels schildernd, hat J. B. L o u v e t de Ootirray in seinem „Faublas" den Typus des „Chevalier" gezeichnet. In Faublas' zahlreichen Liebes­abenteuern spielt die der Wirklichkeit (des Chevalier d'E o n) entlehnte künstliche Effeminatio des Helden eine Rolle, die auch bei S a d e am Schlüsse der Jtiliette Verwendung findet, wo Noirceuil als Frau verkleidet einen Mann heiratet.

Neben dem Marquis de S ade ist der berühmteste erotische Schriftsteller der Revolutionszeit der ungemein produktive Restif(RetifdelaBretonne. Paul L a c r o i X hat diesem merkwürdigen Manne ein Muster-und Meistenverk der modernen Bibliographie ge­widmet , das jeder Bücherliebhaber immer wieder mit neuem Vergnügen lesen wird. Wir werden später Retif de la Bretonne als einen der ersten Schriftsteller über S a d e zu "würdigen haben. Hier interessiert er uns nur als ein gleichzeitig mit S a d e wirkender Autor, von dem dieser letztere sicher nicht unbeeinflusst geblieben ist. Es ist offenbar Retif, den S a d e an einer Stelle in seiner Abhandlung über den Roman höchst ungünstig beurteilt. Er sagt dort: „R ... überschwemmt das Publikum und braucht eine Druck­presse neben seinem Bette. Glücklicherweise seufzt diese allein unter seinen schrecklichen Geistesprodukten; ein plätter und kriechender Stil, ekelhafte Abenteuer in schlechtester Gesellschaft; kein anderes Verdienst als eine grosse Weitschweifigkeit, für die ihm nur die — Pfefferhändler dankbar sein werden."') Sollte bei diesem Urteile' S a d e s nicht etwas Konkurrenzneid im Spiele sein? Wir werden später sehen, dass Retif über S a d e nicht besser dachte. Auch mochte sich wohl der hochgeborene Marquis weit erhaben dünken über dem aua niedrigstem Stande hervorgegangenen Egtif.

In der Tat hat Retif de la Bretonne (1734 bis 1806), wenn er auch den Adel keineswegs vergessen hat, hauptsächlich die sittliche Korruption auch der niederen Volksschichten dargestellt und ergänzt ge-wissermassen die Schriften des Marquis de S ad e nach dieser Richtung hin, mit dem er sonst viele Aehnlich-keit hat. Eulenburg macht darüber folgende inter­essante Bemerkungen: „Einem de Sade unendlich näher als die trotz allem grosse und ergreifende Gestalt Eousseaus steht jener „Rousseau du ruisseau", E ss t i f de la Bretonne, über den Dess oir urteilt: „Er wurde von wütendster Sinnlichkeit gepeitscht und durch den Götzendienst des eigenen Ich in eine Art Ex­hibitionismus hineingetrieben. Daher hat er wie kein Zweiter verstanden, die Entstehung, Eigentümlichkeit und Gewalt der GeschlechtsHebe zu analysieren und dem Ich einen geradezu raffinierten Kiiltus zu widmen." Da haben wir im Keime den literarischen de Sade, nur schwächlicher, passiver, sozusagen unblutiger. Wäre Retif eine mehr aktiv und impulsiv, weniger kon-templativ veranlagte ITatur gevesen imd hätten ihm, dem armen Bauemsohne, die Mittel und die Atmos­phäre des „celebre Jiarquis" von früh auf zur Ver­fügung gestanden, so wäre vielleicht ein zweiter d e Sa de aus ihm geworden, der schriftstellerisch dem anderen an Kraft und jedenfalls an Feinfühligkeit der Schilderung überlegen gewesen wäre. Nicht umsonst ertönt bei K 61 i f aus allen Tonarten das Lob dieser un­gemeinen Feinfühligkeit dieser „sensibilitss quelquefois dlicieuse, quelquefois cuisante, affreuse, dechirante." Wir fügen noch zur Charakteristik dieses merkwürdigen Schriftstellers hizizu, dass er ein leidenschaftlicher Lieb­haber der Frauen war und, sieh mit seinen zahlreichen Maitressen nicht begnügend, auf der Strasse jedem hübschen Mädchen nachlief und nicht eher ruhte, als bis er ihre Bekanntschaft gemacht hatte. Dabei war er von der grössten Unreinlichkeit. Er erzählt höchst naiv in den „Contemporaines": „Seit 1773 bis heute, 6. Dezember 1796 habe ich keine Kleider gekauft. Es fehlt mir an Hemden. Ein alter blauer Bock ist meine tägliche Kleidung". Dieser war zerrissen und voll von Flecken. Dabei liebt R e t i f die Eeinlichkeit sehr bei den — Frauen. Er spricht immer wieder davon, giebt in seinem „Pomographe" genaue Vorschriften in dieser Beziehung und konstatiert mit Befriedigung die grosse Verbreitung dieser Tugend unter den Pariser Pro­stituierten.

Für die Art seiner Schriftstellerei ist bezeichnend, dass er neben der eigenen unermüdlichen Beobachtung auch diejenigen anderer verwertete. So erzählt Graf AlexandervonTillyin seinen Memoiren , dass Betifde la Sretouue zu ihm kam mit der Bitte um Erzählung seiner erotischen Abenteuer, die er in einem Werke verarbeiten wolle. Sehr wichtig ist ferner das Verhältnis ssetifs zu Mathieu Eran§ois Pidanzat de Mairobert 1727—1779), dem be­rühmten Verfasser des „Espion anglais" und dem Sammler der Materialien zu den „Memoires secrets de Bachaumont." Dieser Uess nicht nur einzelne Werke in der geheimen Druckerei Ketifs herstellen, sondern war selbst Mitarbeiter an dessen eigenen Schriften. So rührt von ihm die wertvolle Abhandlung über die 16 Klassen der Prostituierten und über die Zuhälter in Ketifs „Pornographe" her. Auch für die „Contemporaines", den „Hibou", und die „Malediction paternelle" hat Pidanzat de Mairobert zahlreiche Notizen bei­gesteuert ).

Das ohne Zweifel wertvollste Werk B 61 i f s sind die „Nuits de Paris'"), eine unerschöpfliche Fundgrube für die Kenntnis des Sittenlebens der Eevolutionszeit, eine „in ihrer Art einzige Darstellung der moralischen Physiognomie von Paris" am Ende des 18. Jahrhunderts, das wahre „Tableau nocturne de Paris", dessen Inhalt eine 20 jährige Arbeit erfordert hat. „Jeden Morgen schrieb ich nieder, sagt E e t i f, was ich in der Nacht gesehen hatte." L a c r o i x gibt eine ausführliche Analyse des reichen Inhaltes dieses „nächtlichen Zu­schauers", auf dessen unzählige.Details wir an dieser Stelle nicht näher eingehen können.

In „Monsieur Nicolas" (Paris 1794—1797. 16 Bde.) hat Retif de la Bretonne die Geschichte seines Lebens errählt, wahrheitsgetreTier als dies in älmlichefn Büebera wie „Pantläs", „Clariasa" und Kotisseans „Heloise" geschieht. Von besonderem InteTeaae ist der dreizehnte Band (,on Calendrier"), iii welchem R e t i f Tag für Tag alle Frauen aufzeichnet, deren Be­kanntschaft er gemacht, die er verführt und die er zu — Müttern gemacht hat.

In Deutschland am bekanntesten sind die bei-ühmten „Contemporaines", eine Sammlung von Erzählungen, die auf wirklichen Ereignissen beruhen. Die Helden dieser Novellen sollen den Verfasser dazu ermächtigt haben, sie unter ihren wahren Namen zu nennen. Es sind wesentlich Sittendarstellungen aus dem Volksleben, „Le Paysan et la paysanne pervertis, ou les dangers de la ville" (A la Haye 1784. 16 Teile in 4 Bänden sind nach dem Grafen von Tilly die „Liaisons dangereuses der niederen Volksklassen", welche die traurige Wahrheit predigen, dass die Tugend durch be­ständigen Verkehr mit dem Laster notwendig vernichtet wird.

Hieran reiht sich der „Pied de Fanchette" (A la Haye 1769), die Geschichte einer jungen Modistin aus der Rue Saint-Denis, deren kleiner Fuss R 6 t i f be­zaubert hatte. Ueberhaupt ist R 61 i f ausgesprochener Fussfetisohist. Für hübsche Frauenfüsse und Frauenschuhe hatte er eine fanatische Leidenschaft. Fanehettens Fuss ist wirklich der Held dieses Romans. „Son pied, le pied mignon, qui fera toumer tant de tetes, etait chauss d'un soulier rose, si bien fait, si digne d'enfermer un si joli pied, que mes yeux, une fois fixes sur ce pied cliarmant, ue purent a'eu detouruer... Be&n piedl dis-je tout bas, tu ne foulea pas les tapis de Ferse et de Turquie, uu brillaut equipage ne te garantit pas de la fatigue de porter wo. corps chef-d'oeuvre des Qräces :tu ma rohes enpersonne, mais tu vas avoir un trone dans mon ooeur/") Betif gibt sogar ia den Anmerkungen eine Geschichte der hübsehen Trauenf üsse. In allen übrigen Werken kehren immer diese kleinen beschuhten Füsse meder. Er sah «ines Tages „Fanchette" wirklich ia der Bue Saint-Denis, und ihr Fuss, ein „Wunder an Eleiaheit", in­spirierte ihn zu seiner Erzählung,

Ein Buch BStifs, das am meisten an die Werke des Marquis de Sade erinnert, ist „Ingenue Saxancour, ou la femme sparee" (Liege, 1789, 3 Bände), angeblich die Geschichte seiner unglücklichen yerheirateten Tochter Agnes. Betif hat in diesem Buch „die Grenzen des kühnsten Zynismus überschritten", d der Verfasser sagt selbst, dass man in dem Werke finden wird „ce qu'on nomme dans le monde d e s horreurs".. Die unglückliche Gattin wird nach der Hochzelt von ihrem Ehemanne allen Launen eines entnervten Wüstlings unterworfen, sie erduldet die unglaublichsten Infamien und Grausamkeiten ihres „wollüstigen Henkers". Alexander Dumas der Aeltere, der im Jahre 1851 auf Veranlassung von Paul Lacroix im „Siecle" unter dem Titel „Ingenue" eine ganz harm­lose Erzählung veröffentlicht hatte, deren Helden Betif und seine Tochter Agnes waren, wurde von der Familie Bsstif de la Bretonne verklagt und zu einer Geldstrafe verurteilt.

Einige andere Schriften unseres Autors werden wir au anderer Stelle anführen, weil sie weniger zur schönen Idtteratur gehören. Zum Schlüsse gedenken wir in unserer kurzen üebersicht, welche nur das am meisten Charakteristische hervorheben sollte, noch zweier sehr bekannter obscöner Gedichte des 18. Jahrhunderts. Das erste ist „La Foutromanie. Poeme lubrique, ä Sardano-polis, aux depens des amateurs. 1775'"). Es enthält sechs Gesänge zu je 300 Versen. Der Zensor L e N o i r bekam die strengsten Weisungen von der Regierung, die Verbreitung des Gedichtes zu verhindern. Trotz­dem gelangten einige Exemplare zu dem hohen Preise von 9 Livres in den Handel. Das Gedicht beginnt mit den Versen:

Vous les Toulez ... je vaia souiller mes rimes,

Po€tiaer en jargon ordurier . . .

Toi dont les feux raniment la nature,

Qui, maltrisant Thomme et les animaux,

Brflle en aecret le cuistre et le hSros,

Sois ma deesse, adorable Luxurel

Die „Foutromanie" ist das Glück der Götter, das ihnen die Langeweile vertreibt. Aber auch die Menschen macht sie glücklich. Der Verfasser eröffnet den Reigen dieser Glücklichen mit Fräulein D u b o i s, einer Schau­spielerin der Oomedie Fran§aise. Dann folgen die Damen A r n o u x und C1 a i r o n, letztere mit dem Grafen Valbelle, Madame A 11 ard mit dem Duc de Mazarin, Auch die Opernsängerin Fräulein Vestris hat ihre Freude daran. Gegen Ende dieses ersten Gesanges erscheinen die Herzoginnen und Hofdamen, die sich mit ihren Lakaien vergnügen. Zu- letzt "wird die unersättliche Libido der alten Folignac de Faulieu geschildert.

Der zweite Gesang beginnt mit der Beschreibung der Reize einer jungen Anfängerin, welche der Leiden­schaft eines jungen Wüstlings zum Opfer fällt. Ein­geschaltet wird ein Gedicht „Pere Chrysostome" gegen die sexuellen Ausschweifungen in den Klöstern. Weiter dringt ein von Satyriasis Ergriffener in ein Nonnen­kloster ein. Hier folgt ein Ausfall gegen Tribadie und Paederastie. Der alte Duo d'Elboeuf war einer der ersten, der die Secte der Paederasten nach Frank­reich einführte. Zum Schluss Exeurs über Syphilis.

Der dritte Gesang ist fast ganz der EoUe der Syphilis in der Liebe gewidmet. Zuerst wird die hohe Vollendung in der Heilkunst dieses galanten Leidens gepriesen; die „syphilitischen Liebeshelden" werden gefeiert, insbesondere die am Mal de Naples leidenden Prälaten. Herr de Montazet, Erzbischof von Lyon, wird hier im Verein mit der Duchesse de Mazarin genannt. Nach höchst indezenten Aeusse-rungen über den Herzog von Orleans und Madame de Montesson wird die Liaison zwischen der ver­storbenen Herzogin Von Orleans und den Herren de 1' A i g 1 e und de Melfort enthüllt, welche letzteren von der Herzogin syphilitisch angesteckt wurden. Der Prinz de Beauffremont fiel in Ungnade, weil er sich mit einem Schweizer abgab. Am Schlüsse Lob des A r e t i n o, des Erfinders der „plastischen Stellungen".

Der vierte Gesang ist ein Loblied auf das Bordell, Die berühmtesten Kupplerinnen und Bordell­wirtinnen werden vorgeführt, so die F a r i s, 0 a r 1 i e r, Rokingston, Montigny, d'Hericourt und Gourdan. Beschreibung der wollüstigen Orgien an diesen infamen Orten, „Bett und Tisch" müssen sich folgen, daher sind die deutschen Frauen geeigneter für die „Foutromanie". Der Autor verwünscht Italien, wo er Geld und Gesundheit verloren hat.

Ln fünften Gesang werden zunächst die Syphilophoben ermutigt. Alle Frauen haben ja nicht die Syphilis, Montesquieu war im Feuer ebenso wie Eousseau und Marmontel. Grosses Lob des D 0 r a t, des „poete foutromane". Exkurs über die Holländer, die nur das Geld lieben. Schilderung der unkeuschen Kardinäle. S p i n o 1 a schläft bei P a 1 e s -trina, Albani bei Altieri, Bernis bei Saint-

Croix, BorgheseistB Auch die Kaiserinnen

Maria Theresia und K a t h a r i n a IL verstehen ihre Sache, ebenso der König von Polen und die ver­storbene Königin von Dänemark. Es ist nur ein Jammer, dass die „Dames de France", die Tanten Ludwigs XVI. im Zölibat leben.

A g y r o n i ist der Held des sechsten Ge­sanges '). Dieser Charlatan hat den Verfasser wohl von einem galanten Leiden geheilt. Zahlreiche medizinische Details wie in R o b e s Gedicht über Syphilis. Schliess­lich wird wieder die „Foutromanie" gepriesen als die Seele des Weltalls.')

Das zweite Gedicht „Parapilla" ist eine Ueber-setzung des italienischen Originals „La Novella dell' Angelo Gabriello oder II Cazzo" (= Phallus), ein Wort, welclies Papst Benedikt XIV. beständig im Munde hatte. Als ihm ein Höfling die Schmutzigkeit des Wortes vorhielt, erwiderte er:„Cazzo, cazzo l Ich werde es so oft sagen, bis es nicht mehr schmutzig ist." Das französische Gedicht besteht aus fünf Gesängen, deren Inhalt ganz kurz dieser ist:

E o d r i c empfängt vom Himmel ein gewisses In­strument, das alle Damen beglückt. Zunächst in Florenz die berühmte Donna C a p p o n L Dann gerät es in ein Nonnenkloster, in die Hände der Lucrezia, der Tochter Alexanders VI. Hierbei werde“ die Ausschweifungen in Rom unter diesem Papste ge­schildert, und das Gedicht sehliesst mit einem obscönen Gespräch zwischen ihm und seiner Tochter.

Erwähnen wir noch, dass ein gewisses Incitamentum jmoris, das in den Romanen des Marquis d e S a d e eine grosse Rolle spielt, sogar in einem eignen Poem als solches gepriesen wurde.

Wir konnten nur das Allerwichtigste aus der ero­tischen Literatur des 18. Jahrhunderts flüchtig berühren. Der Einfluss derselben auf die Sitten war gewaltig, und der Marquis de Sa d e selbst hat diesen Einfluss der Litteratur empfimden. Er hat selbst eine treffende Charakteristik derselben zu geben versucht, die er­kennen lässt, dass er die Bedeutung dieser pornograph- lachen Litteratur woM erkannt hat. Er sagt: „Der Epicuräismus der Ninon-de-Lenclos, der Marion-de-Lorme, der Marquise de Sevignö und de Lafare, der Chaulieu, der St.-Evre-mond, dieser ganzen feinfühligen Gesellschaft fing endlich an, müde des, cytherischen Liebessehnens, mit B u f f o n „nur das Physische in der Liebe für gut zu halten" und veränderte bald den Ton in den Eomanen. Die Schriftsteller empfanden, dass die galanten Schwätzer nicht mehr ein durch den Eegenten ent­sittlichtes Jahrhundert, das von den Kavaliertorheiten, der religiösen Schwärmerei und der Verehrung der Frauen zurückgekommen war, unterhalten konnten. Sie fanden es einfacher, diese Frauen zu amüsieren und zu verderben, als ihnen zu dienen und sie zu verherrlichen. Sie schufen Ereignisse, Gemälde, Konversation mehr nach dem Geiste der Zeit und entwickelten in einem angenehmen, leichten und bisweilen selbst philosoph­ischen Stile den Zynismus und die Immoralität."

11. Die Kunst im 18. Jahrhundert.

18th century French art

Auch die französische Kunst des 18. Jahrhunderts ist ein getreuer Spiegel der Zeit. Baukunst, Malerei, Schauspiel- und Tanzkunst dienen dazu, die Sinne zu erregen. Daa berühmte „Rococo" ist nichts wenijyer als ein Bild der Harmonie. Es wäre dies ja auch ein Wunder gewesen. Denn niemand kann aus seiner Zeit heraus. Der Rococostil folgte in der Kunst den Eingebungen der künstlich erregten Sinne, die an überladenen Verzierungen, an unruhig verschlungenen limen ein Gefallen fanden sowie an den Darstellungen wollüstiger Szenen, raffiniert erdachter „Nudites." Eine prachtvolle Schilderung der bildenden Kunst, vorzüglich der Architektur im 18. Jahrhundert, entwirft Georg Brandes: ,Was man unter Ludwig XIV. in der Baukunst erstrebt hatte, -wat das Imponierende. Man opferte sogar jede Rücksicht auf Behagen und Bequem­lichkeit der kalten Prunksucht und der steifen Etikette auf. Wer das Schlafzimmer Ludwigs XIV. in Ver­sailles gesehen hat, wird einräumen, dass ihm selten ein unleidlicher gelegenes Schlafgemach vor Augen kam. Jetzt werden die unbewohnbaren und majestätischen Säle von den „petites maisons" abgelöst, wie damals jeder Mann von Welt sie besass, und in welchem die tändelnde Konversation und der üppige Leichtsinn sich ebenso gut befanden. Daher verschwinden in der Architektur die grossen, einfachen Verhältnisse, die reinen und klaren Massenwirkungen. Die Härte imd Schwere des Steins wird verleugnet, die Strenge der Linien gebrochen, alles wird rund und schwellend, alle Linien werden ausschweifend und übermütig. Der Barockstil erreicht sowohl in der Baukunst wie in der Bildhauerkunst seinen Gipfel. Tleberall stösst man auf unendlich wiederholte Amoretten und Grazien, ganz wie auf den Kupferstichen zu Voltaires „Poesies fugitives". In den Gärten umarmt der bockfüssige Pan schlanke, weisse Nymphen am künstlichen Wasserfalle. In der Malerkunst entstehen jene ländlichen Bilder, deren entferntes Vorbild Eubens Liebesgarten ist, die aber statt seiner breiten Lebenslust und schweren Figuren gleichsam hingehauchte und feine Gestalten in koketten Trachten, und statt Rubens derber Sinnlich­keit ein erotisches Spiel, ein Liebeln und Flüstern auf­weisen, einen Hintergrund schattiger Gänge, mit stillen Verstecken, mit üppigen Statuen und frischen Easen-teppichen.

Unter Ludwig XIV. war die ganze Tracht steif ge­wesen; man trug grosse TJeberschläge und Kragen, selbst die Rock- und Westenschösse waren gesteift, Halskragen imd Manschetten gestärkt, so dass nicht eine Falte sich verändern konnte; die unbequeme Allongeperrücke machte eine gravitätische Saltuiig zur Notwendigkeit. Unter der Regentschaft war alles auf Zwanglosigkeit und Leichtigkeit gerichtet. Das steife Futter der Schösse verschwand, an die Stelle der grossen Allonge­perrücke trat das gepuderte Haar, steif frisiert, so dass keine noch so hastige Bewegung es in Unordnung bringen konnte; überall in Tracht und Benehmen über-liess man sich einer gewissen Nachlässigkeit. Man ver­weilte in Boudoira. Wie Tee und Kaffee aus dem Orient eingeführt wurden, so auch das orientalische Sofa, welches dem jüngeren Crebillon den Titel für seine be­kannteste und berüchtigste Erzählung gibt. Der weiche Lehnsessel verdrängt den hohen, unbequemen Armstnhl mit schnurgerader Rückwand. Das Zimmergerät be­steht aus schweren Seidengardinen, welche wollüstig das Licht dämpfen, aua grossen Spiegeln in Gold­rahmen, aus reich verzierten Pendeluhren, aus üppigen Malereien und achnörkelbaften Möbeln. Das ganze Zimmer duftet von einem wollüstigen Parfüm,'")

Noch deutlicher als die Architektur bringt die Malerei des 18. Jahrhunderts den Charakter des- selben zum Ausdruck. Der Wunsch IT'enes zu bringen den „blasierten Appetit zu reizen" verlieh den Künst­lern des 18. Jahrunderta ein raffiniertes Erfindungs­talent. Boucher, Watteau, Fragonard, Lancret, der Maler der „fetes galantes", ver­schmähten die einfache und naive Nacktheit der Göttinnen eines Lebrun und Nicolas Mignard. Ihre „baigneuses" und „bergeres" sind nicht mehr mythologische Figuren, Bondem Pariser Dirnen, die sieh gern den Beschauern nackt im Bade oder auf dem Ruhelager zeigen. Diese vorgeblichen ÜSTajaden und koketten Schäferinnen mit entblSsstem Busen, mit mehr oder weniger aufgehobenem Kleide, sind Frauen der Zeit, Dämchen „fort en vogue au petites soirees de Trianon et de Luciennes".

Bichard Muther hat in seiner neuen Dar­stellung der Geschichte der Malerei) in dem Kapitel „Die Frivolen" diese erotische Eichtung in delr französischen Malerei des 18. Jahrhunderts glänzend geschildert. Er sagt u. a.: „Mit den zierlich gemessenen Menuetten Watteaus hatte die Redoute begonnen. Um Mitternacht, unter der Anführung Bouchers, wurde der Cancan getanzt. Jetzt vor Tagesgrauen, folgt noch der Kotillon, Man hatte zu viel getanzt und zu viel geliebt. Statt sich selbst zu bemühen, will man nur noch zusehen, so wie der Pascha, Opium rauchend, apathisch in seinem Harem sitzt. Auch Balletteusen tanzen zu lassen, hat keinen Reiz mehr. So bennt am Schlüsse des Rokoko die eigentlich galante Kunst, das Tableauvivant. Stramme Burschen und hübsche Mädchen aus dem Volke müssen den vornehmen Herren Liebesszenen vorspielen, für die sie selbst zu blasiert ge­worden .... Als geistreichster dieser Gruppe, über­haupt als einer der feinsten des Jahrhunderts ist Fragonard, der nervöse Charmeur, zu feiern, in dem sich noch einmal alle Lebenslust und Leichtlebig­keit, die ganze Grazie des Rokoko sammelt ... Wenn der Name Fragonard genannt wird, denkt man an Reif rocke, seidene Garnierungen und hochgeschürzte Jupona, an lustige Schaukeln, die pikante graue Strümpfe sehen lassen, an feine Battisthemden, die von rosigen Schultern herabgleiten, an Amoretten, Küsse und Liebesspiel.

„Kurz nach Schluss der Salonausstellung 1763," erzählt Fragonard selbst, „schickte ein Herr zu mir und bat mich, ihn zu besuchen. Er befand sich, als ich bd ihm vorsprach, gerade mit seiner Maitresse auf dem Lande. Zuerst überschüttete er mich mit Lob­sprüchen über mein Bild, und gestand mir dann, dass er ein anderes von mir wünschte, dessen Idee er angeben würde: „Ich möchte nämlich, dass Sie Madame malen auf einer Schaukel. Mich stellen Sie so, dass ich die Füsse des hübschen Kindes sehe — oder auch mehr, wenn Sie mich besonders erfreuen wollen." Diesem seltsamen Liebhaber dankt man das Bild „Die Schaukel", das erste, das den eigentlichen Frago­nard zeigt . . . . Fragonard ist der Pierrot lunaire, der beim Morgengrauen blass und geister­haft seine Sprünge macht. Manche seiner Bilder, so toll sie sind, haben etwas von Gebeten. Altäre sind er­richtet. Opferflammen züngeln lohend gen Himmel, und bleiche Menschen legen weisse Kränze zu Füssen des allmächtigen Eros nieder. Da heben Weiber flehend ihre Hände zu Satan empor und beten, ihnen das Ge­heimnis neuer unbekannter Sensationen zu enthüllen." Bildet schon die Verherrlichung der Geschleehts-lust in einem gedruckten Buche einen die Sinne aufs Höchste anstachelnden Heiz, der daher im 18. Jahr­hundert sehr begehrt war, so muss die bildliche Darstellung der Wollust noch tausendmal schlimmer wirken. „Le realisme de la peinture, se traduisant dans les actes et les paroles, les livres et les chants, doit exercer une funeste influence sur la jeunesse en surexcitant le sens genital'"). Und der Marquis de S a d e, der in seinen Eomanen alles auf­zählt, was den sexuellen Genuas zu steigern vermag, lässt Saint-Fond (Juliette II, 15) nach einer wilden Orgie ausrufen: „O wie nötig hier ein Maler wäre, um der Nachwelt dieses wollüstige und göttliche Bild zu überliefern!"

So konnte es denn nicht fehlen, dass neben den pikanten Nudites eines Fragonard und Laueret bald die Schmutzbilder in der erschrecklichsten "Weise sich verbreiteten. Dass die Maitressen sieh für ihre Liebhaber nackt und in irgend einer plastischen Stellung malen Hessen, war nichts seltenes. Bekannt ist die Geschichte der O'Morphi, einer Maitresse Lud­wigs XV. und Insassin des Hirschparks, deren Besitz der König dem berühmten Abenteurer Oasanova auf folgende "Weise verdankte'). Casanova hatte bei einem seiner zahlreichen Liebesabenteuer in Paris auch die Bekanntschaft einer flämischen Schauspielerin O'Morphi gemacht, welche eine junge Schwester von hervorragender Schönheit besass, in die Casanova sich sterblich verliebte, und deren Reize er enthu­siastisch schildert. Er bekam Lust, diesen herrlichen Körper gemalt zu besitzen, und ein deutscher Maler malte sie auf ein© j,göttliclie" W eise für sechs Xiouisdors. Die Lage, in der er sie darstellte, war „entzückend". „Sie lag anf dem Bauche, stützte den Arm und den Busen auf ein Kissen und hielt den Kopf gewendet, als läge sie drei Viertel auf dem Rücken. Der gewandte und mit Geschmack begabte Künstler hatte ihren unteren Teil mit soviel Kunst und Wahrheit gemalt, dass man sich nichts Schöneres denken konnte." Ein Freund C a s a n o v a's bekam Lust, eine Gopie dieses Bildes zu besitzen. Der Maler zeigte in Versailles diese Oopie, welche Herr von Saint-Quentinso schön fand, dass er nichts Eiligeres zu tun hatte, als sie dem König zu zeigen, „Seine aUerchristliche Majestät, ein grosser Kenner auf diesem Gebiete, wollte sich mit eigenen Augen überzeugen, ob der Maler treu kopiert hätte, und wenn das Original ebenso schön war, wie die Copie, dann vrasste der Enkel des heiligen Ludwig wohl, wozu es ihm dienen würde." So verlor Casanova seine Geliebte an den König Ludwig XV., der sie nach Zahlung von 1000 Louisdors an die Schwester so­fort in seinem Hirschpark unterbrachte, wo sie nach Ablauf eines Jahres mit einem Kinde niederkam, das „gleich so vielen weggetan wurde, ohne dass man wusste, wohin; denn so lange die Königin lebte, erfuhr man uie, wohin die natürlichen Bander L u d w i g 's XV. kamen."

Dieses berühmte Bild zeigte Casanova später einer französischen Nonne in AJx, mit der er ein Liebes-Verhältnis angeknüpft hatte, und d i e s e IT o n n e Hess sich in eben derselben obscönen Stellung für Casanova male n!) Kach Parent-Duchatelet vertrieb man während des vorigen Jahrhunderts und besonders vor der Kevolation in den Bordellen die unzüchtigsten KTipfer8.tiche, ohne dass sich die Polizei darum be­kümmerte. Von 1790 bis 1Y93 verteilte man an alle Bordellbesucher die schändlichsten Karikaturen auf Ludwig XVI., Marie Antoinette und andere Personen. Man könnte daher wohl sagen, dass die Orte der Unzucht zu den politischen Unfällen Frankreichs wesentlich beigetragen hätten. Unter der Schreckens­herrschaft fanden sich solche schändlichen Bilder nicht nur in den Bordellen, sondern viele Kaufleute schämten sich nicht, in den öallerien des Palais Eoyal und an anderen Orten die frechsten Kupferstiche aufzuhängen, wo die Gtenüflge der Geüheit, der Paederastie, der selt­samsten Wollust den Blicken aller Vorübergehenden preisgegeben Avurden.

Dass die Erotica mit obscönen Bildern reichlich ausgestattet wurden, verstand sich von selbst. So sind auch die Eomane des Marquis de S a d e durch eine grosse Fülle von scheussHchen Darstellungen „schmack­hafter" gemacht. Wir werden später auf diese Bilder zurückkommen.

Ueber ein sehr merkwürdiges Versteck von ob­scönen Bildern berichtet die „Chronique scandaleuse'"). Eine derartige Idee konnte nur die nach immer neuen Beizen lüsterne Phantasie eines abgelebten Wollüstlings ersinnen. Es war eine „neue Art der Obscönität", bis zu diesem Jahrhundert unbekannt, eine „epoche­machende Entdeckung". Das waren die „vestes de petits-soupers". Da nach der damaligen Mode die EÖcke zugeknöpft wtirdeii, konnte maai 5©n oberen Teä der "Weste nicht sehen. Aber bei den Orgien „d'ira certain genre" knöpften die Wüstlinge den Bock auf und zeigten ihren Messalinen Bilder und Stickereien auf ihrer Weste, welche den Gegenstand der Orgien und alle Wollust derselben darstellten. Diese raffinierte Idee macht selbst den bekannten Ausspruch des BenAkiba illusorisch.

Noch einer letzten Gattung von SctmutzbildCTs haben "wir zu gedenken. Bei Sa de ist auch die Defaecation wie alles Schmutzige und Widerliche ein Gegenstand der Wollust/ Ler Kot ist deliciös und wird von Männern und Weibern als Delicatesse ver­schlungen. Sollte man es glauben? Auch der Akt der Defaecation wurde den Parisern im 18. Jahrhundert bildlich vor Augen geführt. Konnte es ausbleiben, dass einige, besonders starker Eeize bedürftige WüstHnge auch an diesem Akte Gefallen fanden und ihn zur Er­höhung ihrer Genüsse verwendeten? JohannFried-rich Eeichardt erzählt, dass den Vorübergehen­den an allen Ecken die schmutzigsten und nieder­trächtigsten Poissardenlieder tlnd Gespräche, mit ekel­haften illuminierten Holzschnitten, die alle den schmutzigstenAusleerungsaktscheuss-lich natürlich darstellten, angeboten und aufgedrungen wurden. Bei den Parisem sei dies Letzte nicht einmal nötig. Man sähe die anständigsten (?), ernsthaftesten Leute solche Blätter zu beliebiger Scherz­anwendung ia die Tasche stecken).

Auch in der Skulptur machte sich, wenn gleich natürlich in beschränkterer Weise, das Bestreben nach Hervorhebung des rein Sinnlichen geltend. Mit den drei Ooustou's „versinkt die Kunst in die Wollust". Das jungfräulich Nackte wird durch den Ausdruck sinn­licher Liebe entweiht. Der Marmor wird Fleisch und zeigt das wollüstige Beben und die Weichheit der leben­den Arme und Brüste. Die Frauen werden dargestellt als „petites filles", bleich, in der wollüstigen Erschlaff­ung lasciver Courtisanen oder wie Fischerinnen am Hofe L u d w i g 'a XV. und der Pompadou r'"). „Der berühmte H o u d o n, nach Araene Houssaye der „letzte Ausdruck (expression) des 18. Jahrhunderts", stellte in seinen Büsten „alle Ideen, alle Leidenschaften und alle Physiognomien" dar. Seine „Diana", seine jFrileuses" und „Baigneuses" zeigen alle eine wollüstige JSTacktheit.

André Gretry, der Hauptvertreter der fran­zösischen Musik des 18. Jahrhunderts, der stets mehrere „filles et fillettes" zu gleicher Zeit liebte, zeigte in seinen musikalischen Werken keine echte Leiden­schaft, sondern nur Wollust. Wie sehr der Marquis de S a d e ein Mensch seiner Zeit war, der nur aus ihr erklärt werden kann, zeigt vor allem der Umstand, dass auch er von jener dem 18. Jahrhundert eigentümlichen Manie ergriffen war: der Theaterwut, der Mimo-anie! de Sade hat nicht nur zahlreiche Theater­stücke geschrieben, sondern auch dilettantische Theater­aufführungen veranstaltet.

Die Leidenschaft des Theaterapielens, die „Mimo-manie", herrschte in Frankreich während des ganzen Jahrhunderts mit einer uns heute kaum verständlichen Macht. Ueberall im Lande bildeten sich förmliche 'Dilettantengesellschaften. Ein Hauatheater gehörte zu jedem Schloee, zu jedem vornehmen Haus. ,8 ist eine unglaubliche Manie", heisst es in Bachaumont's Memoiren, „selbst jeder Prokurator will in seinem Landhäuschen eine Gauklerbühne und eine Komödientruppe haben." Sogar in die Kreise dee Klerus drang die Theaterwnt. Ihirch die Pompa­dour wurde das Theaterspielen am Ilofe Ludwig's XV. eingeführt. „Die Damen studieren mit den Schau­spielern die Stücke ein, die sie an ihrer Privatbühne auf­führen. Es war so lustig, bot so viel Stoff zu niedlicher Intriguen und galanten Erlebnissen, den bunten Flitter des Pierrot und der Colombine zu tragen." (M u t h e r). Die Theaterstücke hatten, besonders seit dem letzten Jahrzehnt vor der Revolution, einen immer freieress Charakter angenommen. Wir haben schon auf Lan-jon's Klosterstücke hingewiesen. Kurz vor und während der Revolution kam eine wahre TJeber-schwemmung von obscönen, gegen das Königtum und die Kirche gerichteten Komödien. Die Zahl dieser so­genannten „Pieces revolutionnaires" ist sehr gross. Die scheusslichsten sind von Guigoud Pigale („Le triomphe de la raison publique"), Leonard Bour-d o n („Le tombeau des imposteurs et l'inauguration du temple de la verite sansculotide, dediee au Pape"), Sylvain Marechal („Le jugement dernier dess rois"), Desbarreaux („Les potentats foudroyes par la montagne et la raison ou la deportation des rois de l'Europe"). In letzterem Stücke zanken sich die Fürsten Europas um ein Stück Land. Die Kaiserin Katharina sagt zum Papst: As-tu avale ton goujon, Saint-Pero? Dieser antwortet: Vous avez un avaloir oü les grande morceaux passent aisement. Hierauf giebt jene dem König von Pxeussen eine Ohrfeige, und dieser antwortet durch einen Fussstritt, und so gehen die Gemeinheiten und schmutzigen Heden fort. Der Marquis de S a d e hatte ein weiteres Vorbüd für seine obscönen Komödien, die er in Bicetre und in Charenton seine Mitgefangenen spielen Kesa, in dem berüchtigten „Theatre gaillard" (London 1788, 2 Bände), für welches sogar Grand-val, Oaylus, Gröbillon und Piron Stücke ge­schrieben ha,tten ). Ja, es blieb nicht bei blossen Worten und unzüchtigen Gesten! Noch im April 1791 existierte nach Mercier im Palais Royal ein öffentliches Theater, wo ein sogenannter Wilder und eine Wilde, ganz im Stand der Natur, vor den Augen eines zahl­reichen Publikums beiderlei Geschlechts das Werk der Begattung vollzogen. Der Coitus als Schauspiel! Das Das war etwas für die zahlreichen „voyeurs" der Hauptstadt, die auch in S a d e 's Romanen vertreten sind. „La vue des plaisirs d'autrui nous en donne" hatte schon La Met tri e in seiner „L'art de jouir" (1751, S. 13 gesagt. Der Friedensrichter Hess endlich die beiden Akteurs vorfordern und da fand es sich, dass der Wilde ein Kerl aus der Yorstadt St. Antoine und die Wilde eine gemeine Hure war, die sich sehr ansehn­liche Summen Geldes von den neugierigen Zuschauern auf diese Art verdient hatten.

Die Schauspielerinnen, Opernsängerinnen, Choris­tinnen und Tänzerinnen bildeten einen sehr begehrten Bruchteil der Prostitution, wie wir später sehen werden. Aber auch die Foyers der Theater waren die „Bazare, auf denen die Liebhaber ihre Talente aiisübten, um Intriguen anzuknüpfen" .

12. Die Mode.

Die Laster müssen das Volk beherrschen und unter demselben verbreitet werden. Sonst will es selbst herrschen. Viele Theater, der Luxus, viele Cabarets, Bordelle müssen diesem Zwecke dienen. Es muss eine Straflosigkeit für die Unzucht geben. I>ann endlich die M 0 d e n, die ja in Frankreich so einflussreich sind! Männer und Frauen sollten Kleider tragen, die dass Ge-säss besonders freilassen. Feste, ähnlich denen der Flora, sollten gegeben werden, wobei die Mädchen nackt tanzen. — Das ist die EoUe, welche der Marquis d e S a d e durch den Minister Saint-Fond (Juliette II, 197) der Mode zuerteilen lässt. Derselbe Saint-Fond empfiehlt der Juliette, sie sollte sich, um den letzten Eest von Scham zu ersticken, halbnackt dem Publikum auf der Promenade zeigen (Juliette III, 125).

Auch hier lässt d e S a d e die Wirklichkeit sprechen. Der Eat des Saint-Fond wurde wirklich befolgt. „In der Kühnheit des Nackten gab es noch Kühnheiten! An einem Euhetage des Jahres V spazierten zwei Frauen auf den Champs-Elysees, vollständig nackt, nur mit einer dünnen Gaze bekleidet. Eine andere zeigte siöh dort mit gänzlich entblössten Brüsten. Bei diesem Gipfel der Schamlosigkeit ertönten laute Eufe. Man führte diese Griechinnen im Kostüm einer Statue unter Hohngelächter und heftigem Schelten zu ihren "Wagen zurück."

Kleidung der Frau und Detail der Kleidung wurden im 18. Jahrhundert von der Wollust erfunden. Die Kleidung wurde den Bedürfnissen einer üppigen Sinn­lichkeit angepasst. Die Blasiertheit geriet auf merk­würdige Einfälle. Junge Männer und junge Frauen glaubten die Natur zu verbessern und ihr eine Lection zu erteilen, indem sie ihren Haaren das Weiss des Alters verliehen,") Die Goncourts schildern un-iibertreflflich') die unaufhörlichen Wandlungen der Mode im 18. Jahrhundert mit ihren bizarren Einfällen, ihren raffinierten Ent- und Verhüllungen, die gigan­tischen Frisuren der Frauen, das Schminken, die Schön­heitspflästerchen, die Schulie, Schleifen und Bänder. Die Mode huldigte dem Moment. Nach dem Prozesse des Pater Girard erschienen die Bänder ä la 0 a d i S r e, deren Stickereien Szenen aus dieser Affaire darstellten. Law's System hatte Schleifen „du Systeme" zur Folge. Den „rubans älaCadiere"im Anfange des Jahrhunderts entsprechen am Ende die „rubans ä la Cagliostro."

Je mehr man sich dem Zeitalter der Eevolution näherte, desto mehr traten die Nuditätenin der Mode hervor. Der C u 11 d e r G a i e, die Vorliebe für ausschliesslich gazeartige Umhüllungen trat auf. Die Kleidung der „Göttinnen der Vernunft" wurde immer durchsichtiger. Das Kleid zog sich immer mehr vom Busen zurück, die Arme wurden bis zur Schulter ent blösst. Dann folgten Beine und Füsse. Man trug Kiemen um die entblö'ssten Fussknöchel und goldene Hinge an den Zehen. In den öffentlichen Gärten er­gingen sich nacktbeinige Terpsiehoren, die nur mit einem Hemde bekleidet, ihre mit diamantverzierten Eingen geschmückten Oberschenkel sehen liessen. Ein Journalist, welcher der Eröffnung des Pariser Tivoli beiwohnte, erzählt, dass an diesem Tage mehrere Göttinnen in so leichten und durchsichtigen Kostümen erschienen, dass man alles sehen konnte, was man sehen wollte. Die Baronin de Y . . . traf einmal in den Champs-Elysees eine ebensolche „nackte" Dame am Arme eines vornehmen Herrn. Ein deutscher Be­richterstatter schrieb: „Besuchen Sie einmal das Konzert im Theater de la rue Feydeau, und Sie werden von der Menge Juwelen und Gold geblendet werden, womit die Damen bedeckt sind. Betrachten Sie diese brillanten Geschöpfe näher, und Sie werden leicht bemerken, dass sie entweder gar keine oder höchstens nur halbe Hemden tragen. Der ganze Arm, der halbe Nacken, die ganze Brust ist bloss. Verschiedene haben ihren dünnen Florrock noch auf jeder Seite hinaufgeschürzt, so dass sie auch noch die schöne Wade sehen sollen; kurz, die Indecenz der Trachten dieser Impossibles ist unbe­schreiblich. Madame Tallien erschien auf dem letzten grossen Balle im Opernhaus und hatte nicht nur den Kopf, die Brust, Arme und Hände mit Juwelen bedeckt, sondern sie hatte sogar die Füsse auf römische Art mit Bändern umwunden und an jeder Zehe einen prächtigen Ring stecken". Diese Kostüme ä la grecque, deren Trägerinnen die „Merveilleuses" genannt wurden, hatte Therese Cabarrus, die Geliebte Tallien's, in Paris eingeführt, nachdem sie schon während der Schreckenszeit in Bordeaux öffentlich sich in einer über­frivolen Kostümierung gezeigt hatte. Den „Mer­veilleuses" entsprachen auf der männlichen Seite die „Incroyables", die sich nach dem Ideale des Hässlichen kleideten. Denn beim. Manne galt zur Revolutionszeit nicht die Schönheit, sondern die Kraft, die Stärke der Muskeln für das höchste Gut. Die Don Juans ver­wandeln sieh in Herkulesse, die Wollust wird brutal. Auch die perversen sexuellen Neigungen fanden im 18. Jahrhundert einen Ausdruck in der Mode. Die weit verbreitete, auch zwischen Trau und Mann geübte Paedicatioerzeugte im 18. Jahrhundert die merkwürdige Mode des sogenannten „Cul de Paris". „Eben weil dieser wunderliche Teil, der in anderen Hinsichten doch so verrufen und so garstig ist, so sehr die Sinnlichkeit reizt und fesselt, haben die öffentlichen Weiber der Freude die Manier, eben diesen Teil, den die verschämte Sittsamkeit bescheiden in den gehörigen Hinter­grund zurückzieht, recht frechlüstig zu präsentieren, und durch Bewegungen im Gange alle seine Formen recht anschaulich zu machen.") Unter Ludwig XVX war bei den Frauen jene das Gesäss stark hervortreten lassende Mode sehr verbreitet, von der Dulaure sagt, daas er die Trägerinnen der „Venus Hottentotte" ähn­lich gemacht habe ). Damals besang P i r o n in „wilder Lust" diese Spekulation auf die männliche Sinnlichkeit f olgendermassen:

L'aimable C . . de BrisGis N'a point de pareil ni de prix! Plus rond qu'une boule d'ivoire — Le croira qui le voudra croire.

J'en ai presque mes sens ravis Mon coeur de joie en est epris Et j'ai toujours dans ma memoire. L'aimable C . . .!

Auch die Männer zeigten in der Blütezeit des Eokoko eine gewisse Effeminatio in ihrer Kleidung. „Sammet und Seide in allen Nuancen, Spitzen als Halsschmuck und als Manschetten, Stickereien in Gold, Silber und Seide, werden selbst von alten Herren getragen. Alle sind so elastisch, schlank, so effeminiert und ewig jung, so anmutig und von Rosenduft um­haucht, als ob es gar keine Männer, sondern erwachsene Amoretten wären" s).

Andererseits war die immer mehr um sich greifende Tribadie Ursache besonderer Kostümierung. Die Tribaden mit männlichen Neigungen hatten sich unter der Schreckenszeit auffallend vermehrt. Die Virago auf der Strasse war eine allbekannte Erscheinung.) Sie hatte ihr eigenes Kostüm. M e r c i e r erzählt: „Ich habe in meinem Laden, wo man oft über die Moden spricht, mir erzählen lassen, dass diejenigen Frauen Tribaden sind, welche die Sitte aufgebracht haben, sich wie ein Mann zu frisieren, Hüte und Männerstiefel zu tragen."

13. Prostitution und Geschlechtsleben im 18. Jahrhundert.

In Paris hat der Marquis de S ade seine Studien für die beiden berüchtigten Romane „Justine" und „Juliette" gemacht. Hier hat er den grössten Teil des Inhalts derselben erlebt und erdacht. Pariser Er­eignisse und Zustände haben fortwährend seine Phantasie befruchtet, und die Vorbilder für die Schilderungen einzelner Verhältnisse in seinen Werken j sind leicht zu finden. Dies wird sich in geradezu über­raschender Weise aus der Betrachtung der Prostitution j und des Geschlechtslebens in Paris ergeben. Von Paris gilt ja heute noch, was Montesquieu im 106 ten persischen Briefe sagt, daas es die „sinnlichste Stadt der Welt" sei, wo man die „raffiniertesten Vergnügungen" ersinnt. Die Schilderungen der grossen Bordelle bei S a d e mit ihren ingeniösen Einrichtungen beziehen sich fast durchweg auf Pariser Bordelle. Die meisten Heldinnen in seinen Romanen sind Pariser Dirnen. Es wird daher angemessen sein, dass wir diese Verhältnisse zunächst ins Auge fassen.

14. Bordelle, geheime pornologische Clubs und Prostituierte.

In „Juliette" (I, 187) schildert der Marquis de S a d e das Bordell der Duvergier in einer Vorstadt von Paris. Diese Kupplerin hat ein Frauen- und Männer­bordell. In dem einsam in einem schönen Garten ge­legenen Hause hält sich die Duvergier einen eigenen Koch, deliciöse Weine und charmante Mädchen, die für das einfache Tete-ä-Tete 10 Louisdors bekommen. Das Haus hat zwei entgegengesetzte Ausgänge, so dass all« Eendez-vous mit dem nötigen Mysterium umgeben werden können. Die Möbel sind prächtig, die Boudoirs ebenso wollüstig wie vornehm ausgestattet. Ohne Moral und ohne Pteligion konnte die Duvergier, von der Polizei heimlich unterstützt, als Lieferantin sehr vor­nehmer Herren, sich mehr erlauben als ihre Con-currentinnen und straflos Greuel aller Art begehen. Das Bordell versorgt Prinzen, Adlige, reiche Bürger mit seiner Waare. Als Juliette später selbst in Paris ein Freudenhaus einrichtet, sind 6 Kupplerinnen (maque-relles) für dasselbe tätig, die aus Paris und den Pro­vinzen die jungen Mädchen herbeiholen (Juliette VI, 306). Clairwil führt Juliette in das Haus der „Societe des amis du crime" ein, welches zwar im Herzen von Paris liegt, aber indiscreten Blicken durch die um­gebenden Häuser entzogen wird. Eb enthält herrliche Empfangssäle, düstere Zimmer, Galerien, Boudoirs, „cabinets d'aisance" und Harems oder Serails, wie d e S a d e sie nennt, in denen die Opfer von beiden Ge­schlechtern für die Orgien gezüchtet und gepflegt werden. Diese Unglücklichen sind meist mit Gewalt ihren Eltern entrissen worden, unter dem Schutze der Polizei. Hier feiert die vornehme Welt ihre schauer­lichen Wollustorgien unter Assistenz von Henkern, Ab­deckern, Kerkermeistern und Flagellatoren 1 (Juliette III, 33 ff). Aehnlich ist das Haus Vespoli's zu Salerno eingerichtet (Juliette V, 343 ff), ferner das Bordell, welches Juliette und die Durand gemeinschaftlich zu Venedig errichten (Juliette VI, 144).

Alcide Bonneau meint, dass der Hirschpark dem Marquis de S a de als Vorbild für seine Bordell-Schilderungen gedient habe ) die übrigens auch in der „Justine wiederkehren z. B. die der Benediktinerabtei Sainte-Marie-des-Bois (Justine II, 40 ff). Indessen hat der Marquis de S a de doch ganz sicher die Pariser Bordelle eingehend studiert und danach seine Schilde­rungen entworfen. Er spricht (Juliette I, 333) davon, dass „in mehreren Bordellen von Paris" Truthähne zu wollüstigen Zwecken für Zoophile gehalten werden. Dass er, der beim Tode L u d w i g 's XV. 34 Jahre alt war, den Hirschpark aus eigener Anschauung gekannt hat, halten wir allerdings auch für wahrscheinlich. Der oben erwähnte deutsche Autor, der ihn sogar als maitre de plaisir des fünfzehnten Ludwig auftreten lässt, ver­sichert, seine Nachrichten aus glaubwürdigen Quellen zu haben.

Wie dem auch sein mag, so viel steht fest, dass der Marquis de S a d e seine Schilderungen der Prostitution und des Geschlechtslebens der Wirklichkeit ent­lehnt hat. Wir haben daher die Pflicht, diese Wirklich­keit näher zu untersuchen. Wir stützen uns auch hier durchweg auf authentische Berichte. Die berühmtesten Bordelle von Paris, die geheimen pornologischen Clubs und die Verhältnisse der Prostituierten sollen im Folgen­den geschildert werden.

a. Das Freudenhaus der Madame Gourdan.

Das berühmteste, besuchteste und am meisten von den gleichzeitigen Schriftstellern erwähnte Pariser Bordell im 18. Jahrhundert ist das Freudenhaus der Madame Gourdan in der Kue des deux Portes, das unter den Eegierungen Ludwig's XV. und Lud" w i g 's XVI. als Bordell für den Hof und die vornehmen Fremden galt.

Dies Bordell zeichnete sich durch die raffiniertesten Einrichtungen aus, welche alle Bedürfnisse der Be­sucher und Besueherinnen zu befriedigen versuchten. Entwerfen wir eine kurze Skizze derselben.

1. DasSerail.

Dies war ein grosser Empfangs­salon mit „plastrons de corps-de-garde", d. h. zwölf Dirnen, die stets in demselben anwesend sein mussten, um den Wünschen der Besucher nachzukommen. Dort wurden die Preise und die Einzelheiten der Wollust verabredet. Es wurde alles aufs genaueste festgesetzt. „Jugez que d'ordures doivent se debiter dans un pareil cercle! que d'horreura et öinfamies doivent s'y com-mettre!" ruft PidanzatdeMairobert bei dieser Schilderung aus. Es ist kein Zweifel, dass dies Serail der Gourdan den Namen für die „Serails" bei S a d e hergegeben hat. Ebenso lässt de Sade in semen Romanen häufig den Preis der Liebe vereinbaren und vor allem die Details der zu veranstaltenden Orgie vor­her genau analysieren.

2. Die „P i s c i n e".

Dies war ein Badekabinet des Bordells, wohin man zuerst die in der Provinz und in Paris für die Gourdan aufgegriffenen Mädchen führte. Dort wurde die Betreffende gebadet, die Haut „weich gemacht", gepudert und parfümiert. In einem Toilettentische befanden sich verschiedene Essenzen, Mund- und Schönheitswässer. Auch das berühmte „Eau de pucelle", ein starkes Adstringens, mit welchem Madame Gourdan etwas „verwüstete Schönheiten" wieder herstellte und das wieder zurückgab, was man „nur ein Mal verlieren kann". Dass der Marquis de S a d e dieses merkwürdige Mittel sehr oft erwähnt und praktisch anwenden lässt, wie wir später bei der Be­sprechung der Kosmetica und Aphrodisiaca sehen werden, beweist wohl schlagend seine Arbeit nach be­rühmten Mustern. — Weiter fand sieh in der „piscine" die „Essence ä l'usage des monstres", die durch ihren scharfen Geruch Impotente wieder potent machte und die „Ungeheuer" zu wollüstiger Grausamkeit anreizte. — Das „Spezificum des Doktor Guilbert de P r e v a 1 (von welchem Charlatan später ausführlich die Rede sein wird), war ein wahres Wundermittel. Denn es diente zur Verhütung, Diagnostik und Heilung der Syphilis zugleich I Madame Gourdan injicierte etwas davon den neu ankommenden Mädchen, um zu sehen, ob sie gesund seien. Also ein sexuelles Tuber­kulin des 18. Jahrhunderts ! Alles ist schon da­gewesen.

1.Das „0 a b i n e t d'e Toilette".

Hier em­pfingen die Schülerinnen dieses Venusseminars ihre zweite Vorbereitung.

4. Die „Salle de bal."

Aus diesem Saale führte ein geheimes Zimmer in das Haus eines Kauf mannes in der Kue Saint-Sauveur, der mit der Gourdan unter einer Decke steckte. Durch sein Haus gelangten die Prälaten und Richter (gens ä simarre) und die Damen von vornehmer Abkunft in das Bordell hinein. In diesem geheimen Zimmer waren Kleider aller Art, sowie „Gegenstände der Raffinerie." Hier konnte sich der Geistliche in einen Weltmann ver­wandeln, der Beamte in einen Soldaten, die Damen in Köchinnen und „Cauchoisen" (aus der Provinz Caux). Hier „erduldeten die vornehmen Damen standhaft die kräftigen Umarmungen eines groben Bauern, welchen ihnen ihre vertraute Lieferantin ausgewählt hatte, um ihr unbezähmbares Temperament zu befriedigen." Andrerseits glaubte der Bauer mit seinesgleichen zu tun zu haben und genierte sich wenig in Ausdrücken und Handlungen.

5. D i e „I n £ i r m e r i e."

Das war das Gemacht für Impotente, deren erschöpfte Kraft durch alle mög­lichen Reize wieder aufgestachelt wurde. Das Licht fiel von oben herein; an den Wänden hingen wollüstige Bilder und Kupferstiche, in den Ecken standen eben­solche plastische Kunstwerke, auf den Tischen lagen obscöne Bücher. In einem Alkoven befand sich ein Bett von schwarzer Seide, dessen Himmel und Seiten­wände aus Spiegelglas bestanden, welches alle Gegen­stände dieses wollüstigen Boudoirs und alle Vorgänge in demselben wiederspiegelte. Parfümierte Stechginster-Ruten dienten zur Flagellation. Dragee-Pastillen in allen Farben wurden zum Essen angeboten, von denen „man nur eine zu gemessen brauchte, um sich bald als «inen neuen Menschen zu fühlen." Sie hiessen „Pastilles ä la Richelieu", weil dieser sie oft den Frauen als Aphrodisiacum gegeben hatte. Man sieht, dass die berüchtigte Marseiller Oantharidenbonbons-Affaire des Marquis de S a d e in jener Zeit nicht ver­einzelt war. — Auch für die Frauen war in dieser „Infirmerie" gesorgt. Zahlreiche kleine Kugeln aus Stein waren vorhanden, sogenannte „pommes d'amour", die in die Vagina eingeführt wurden. Mairobert konnte nicht erfahren, ob „die Chemiker diesen Stein analysiert hätten, der eine bestimmte chemische Zu­sammensetzung haben sollte und von dem die Chinesen oft Gebrauch machten." — Der „Consolateur" war ein ingeniöses Instrument, „in den Nonnenklöstern er­funden", um den Mann zu ersetzen. Die G o u r d a n trieb mit diesen künstlichen Phalli ein Engros-Gesehäft. Man fand in ihrem Nachlass „zahllose" Briefe von Aebtissinnen und einfachen Nonnen mit der Bitte um Uebersendung eines solchen „Trösters". Wie man sieht, war unsere früher geäusserte Ueberzeugung von der sittlichen Korruption in den Nonnenklöstern nicht über­trieben. — Grosser schwarzer Ringe, der sogenannten „aides" bedienten sich die Männer zur künstlichen Irritation der Frauen. Manche dieser Ringe waren sogar mit harten Buckeln besetzt, was das Vergnügen noch vermehren sollte. Endlieh war ein ganzes Arsenal von „redingotes d'Angleterre" vorhanden, die heute „Condome" heissen und welche, wie Mairobert sich aus­drückt „gegen das Gift der Liebe schützen sollen, aber nur das Vergnügen abstumpfen". Also gebührt die Priorität für das berühmte Wort von dem „Panzer gegen das Vergnügen und dem Spinngewebe gegen die Gefahr" nicht R i c o r d, sondern Pidanzat de Mairobert, der es 70 Jahre früher aussprach!

1.Die„Chambredela question". —- Dae war ein Kabinet, in welches man durch ein« verborgene Luke hineinschauen konnte, so dass die Vorsteherin des Bordells und ihre Vertrauten alles sehen und hören konnten, was in dem Zimmer geschah. Eine Ein­richtung für „Voyeurs".

2.Der „Salon des Vulean". — In ihm be­fand sich ein Fauteuil von sonderbarer Form. Setzte man sich hinein, so drehte sich sofort eine Klappe. Die betreffende Person sank nach rückwärts, mit gespreizten Beinen, die an den Seilen gefesselt wurden. Dieser Stuhl war eine Erfindung des Herrn de Fronsac, Sohnes des Herzogs von Kichelieu, welcher ihm Widerstand leistende Mädchen mit Gewalt in diesen Klappstuhl presste und so verführte, wofür er, aber nur zeitweilig, vom Hofe verbannt wurde, um später sein Treiben unbehelligt fortzusetzen. Der „Salon des Vulean" war so gelegen, dass „das durch die Schmerzens-rufe, durch Weinen und Schreien verursachte Geräusch auf keine Weise von Aussenstehenden gehört werden konnte." Dieses Mysterium des Lasters finden wir auch bei de S ade wieder.

Die Gourdan war die Hauptlieferantin für die vornehme Welt. Sie konnte alle Wünsche befriedigen und verfügte über grosse Mittel. In Villiers-le-Bei hatte sie ein im Walde einsam gelegenes Land­haus, wohin sie selten kam, aber öfter kranke Mädchen hinschickte, auch die Schwangeren. Zugleich war diese ländliche Villa ein viel benutztes Versteck für besonders raffinierte Ausschweifungen. Die Bauern nannten das­selbe ironisch das „Kloster".

Man unterschied in Paris zwei Arten von Kupplerinnen, erstens die Verführerinnen der Un­schuld, zweiteng die Lieferantinnen von schon de­florierten Mädchen. Nur die Ersteren wurden dadurch bestraft, dass man sie rückwärts auf einem Esel reiten liess. Die G o u r d a n gehörte zu der zweiten Klasse, welche dafür sorgte, dass ihre Novizen zunächst offiziell von irgend einem ihrer zahlreichen Helfershelfer pro­stituiert wurden. Zugleich mussten diese der Bordell­vorsteherin einen Bericht über die körperliche Be-heit der Betreffenden erstatten. Wir werden später einen solchen Bericht mitteilen.

Im Hause der Oonrdan wurden die Maitressen für die vornehme Welt herangebildet. So hatte die spätere Gräfin Du Barry ihre glänzende Laufbahn dem Aufenthalte im Bordelle der Gourdan zu ver­danken. Aber auch viele Aristokratinnen suchten hier neue Genüsse. Eine vornehme Dame, Madame d'Oppy wurde 1766 von der Polizei bei der Gourdan ent­deckt, bei der sie zeitweise als Dirne fungierte. b. Justine Paris und das Hotel du Eoule.

Am 14. November 1773 hielt Madame Gourdan auf ihre verstorbene Kollegin Justine Paris eine Leichenrede, die im „Espion anglais" (Bd. II, S. 401 bis 412) abgedruckt ist und so voll sadischen Geistes ist, dass wir einen kurzen Auszug aus der­selben hier mitteilen. Die Idee zu dieser Leichenrede concipierte der Prinz Conti, einer der berüchtigsten Lebemänner des ancien regime. Ausgeführt wurde sie von der Gourdan, welche die Kede bei einer Orgie in C o n t i 's Hanse vorlas. Die „Oraiaon funebre de la tres-haute et tres-puissante Dame, Madame Justine Paris, grande-pretresse de Cythere, Paphos, Amathonte, etc. prononcee le 14. November 1773, par Madame Gourdan, sa coadjutrice, en presence de toutes les nymphes de Venus" hatte das charakteristische Motto:

La vérole, o mon Dieu,

M'a criblö jusq'aux oa.

Justinen's Eltern predigten ihr auf dem Sterbe­bette die Unzucht als einziges Heil der Zukunft. „Comptez pour rien tous les jours que vous n'aurez pa“ consacre au plaisir I" Justine setzt diesen Hat, den man in den Romanen des Marquis de Sade fast auf jeder Seite findet, schleunigst in die Tat um und giebt sich bereits auf dem Sarge ihrer Eltern hin. Darauf tritt sie in ein Pariser Bordell ein, wo sie schnell grosse Fortschritte im Dienste der Venus macht, und durch ein Verhältnis mit dem türkischen Gesandten bald be­rühmt wurde. Reisen nach England, Spanien und Deutschland lehrten sie phlegmatisch mit dem Eng­länder, ernst mit dem Spanier und hitzig (emportee) mit dem Deutschen zu sein. Zuletzt kommt sie nach Italien und ist in Eom die „Königin der Welt und das Centrum der paillardise". Sie durchreist ganz Italien, von Fürsten und Geistlichen verehrt und be­gehrt. Leider macht sich von Zeit zu Zeit ihre hereditäre Syphilis wieder geltend, die sie aber nicht abhält, nach ihrer Rückkehr in Paris neue Orgien zu feiern und neue Erfolge zu erringen und sich grosses Ansehen als Be­sitzerin eines Bordells zu erwerben. Doch endet sie im Hospital.

Sollte dem Marquis de Sade diese Leichenrede ganz unbekannt geblieben sein? Wir glauben es kaum lind waren jedenfalls überrascht, in Madame Paris und ihrer Reise durch Italien ein Vorbild der Juliette zu finden, die ebenfalls in Italien, in Florenz, Eom und Neapel als Königin der Welt und als Idealhure ge­feiert wird.

Casanova, dieser geniale Schilderer, dessen his­torische Glaubwürdigkeit u. a. durch die vortreffliche Schrift von Barthold' überzeugend dargetan ist, erzählt in seinen Memoiren von einem Besuche im Bordell der Paris im Jahre 1750, dem sogenannten Hotel du Eoule, und führt uns ein lebendiges Bild von dem Leben und Treiben in einem Pariser Bordell des achtzehnten Jahrhunlerts vor Augen, das als Er­gänzung der mehr systematischen Beschreibung des Hauses Gourdan hier Platz finden möge: „Das Hotel du Eoule war in Paris berühmt, mir aber noch anbekannt. Die Besitzerin hatte es elegant möb­liert und hielt zwölf bis vierzehn ausgezeich-aete N'.ymphen. Man fand bei ihr alle wünschens­werten Bequemlichkeiten; guten Tiäch, gute Betten, Reinlichkeit, Einsamkeit in herrlichen Ge­büschen; ihr Koch war vortrefflich, ihre Weine ausgezeichnet.

„Sie hiess Madame Paris, ohne Zweifel ein ange­nommener Name, der aber Alle befriedigte.

„Durch die Polizei geschützt, war sie weit genug von Paris entfernt, um überzeugt zu sein, dass die Besucher ihrer Anstalt Leute waren, die über der Mittelklasse standen.

„Die innere Polizei war geordnet wie nach Noten, und alle Vergnügungen hatten einen gewissen Tarif.

„Man zahlte secJts Francs für ein Frühstück mit einer Nymphe, zwölf für ein Diner und das Doppelte für eine Nacht".

Hier machen wir einen Augenblick Halt und kon­statieren, dass diese Schilderung Casanova's fast Wort für Wort mit der oben gegebenen Beschreibung des Bordells der Duver-gier in de S a d e 's „ J u 1 i e 11 e" übereinstimmt. Das Haus der Duvergier liegt wie das der Justine Paris „einsam" in einem „Garten", auch sie hatte einen vor­trefflichen „Koch", ausgezeichnete „Weine", und last not least war auch sie „durch die Polizei geschützt" (soutenue ä la Police). Vergegenwärtigen wir uns, dass bei der genauen Beschreibung des Bordells der Gourdan sowie auch bei anderen Pariser Freudenhäusern nirgends ein Koch erwähnt wird, dass die Reihenfolge der übrigen Epitheta bei Casanova und d e S a d e genau dieselbe ist, endlich dass Casanova, der im Juni 1798 starb, nachdem seine nur bis 1773 reichenden Memoiren längst im Manuscripte vollendet waren, die im Jahre 1797 erschienene „Juliette sicher nicht mehr für diese verwertet hat und auch früher den Marquis d e S a d e nicht gekannt hat, dass ferner seine Memoiren erst im Jahre 1822 in der Oeffentlichkeit erschienen, so lässt sich daraus der sichere Schluss ziehen, dass beide Männer, die deshalb kulturhistorisch so wichtig sind, weil in ihren Schriften ein photographisch getreues Bild der sittlichen Corruption des 18. Jahrhunderts uns dar­geboten wird, mit fast den gleichen Worten dasselbe Bordell schildern. Der Marquis de Sade hat unter dem Namen der Duvergier das Treiben der Justine Paris geschildert. Wir sind überzeugt, dass spätere Forscher den von uns gefundenen zahlreichen Analogien neue hinzufügen werden. Daraus ergiebt sich, dass die Werke des Marquis de Sade ebenso ein Objekt der Kulturgeschichte wie derMedizin sind. Dieser merwürdige Mensch hat uns von vorn­herein ein lebhaftes Interesse eingeflösst. Wir wollten ihn verstehen, um ihn erklären zu können, und wir überzeugten uns bald, dass auch der Arzt hier die wichtigste Belehrung nur aus der Kulturge­schichte empfangen kann. Das Individuum de Sade wird erleuchtet durch den geschicht­lichen Menschen.

Kehren wir nach diesem Excurse zu der Schilderung Casanova's zurück. „Wir stiegen in einen Fiaker und Zatu sagte zu dem Kutscher: „Nach Chaillot".

„Nach einer halbstündigen Fahrt hielt dieser vor einem Torwege, über dem man „Hotel du Eoule" las.

„Das Tor war geschlossen. Ein Schweizer mit grossem Bart trat aus einer Seitentür und mass uns ernsthaft mit den Augen. Er fand uns anständig, öff­nete und wir fuhren hinein.

„Eine einäugige Frau von ungefähr fünfzig Jahren, welche aber noch Spuren früherer Schönheit erkennen liess, redet uns an, und nachdem sie uns artig begrüsst hatte, fragte sie, ob wir bei ihr dinieren wollten.

„Auf meine bejahende Antwort führte sie uns in einen schönen Saal, in welchem wir vierzehn junge Mädchen sahen, die sämtlich schön und gleichmässig in Mousselin gekleidet waren.

„Bei unserem Eintritt erhoben sie sich und machten uns eine sehr anmutige Verbeugung.

„Alle waren ungefähr von gleichem Alter, die Einen blond, die Anderen braun oder brünett, oder mit schwarzem Haar.

„Jeder Geschmack konnte hier befriedigt werden.

„Wir sprachen mit allen ein "Wort und bestimmten unsere Wahl.

„Die beiden Erwählten stiessen einen Freudenruf aus, umarmten uns mit einer Wollust, die ein Neuling für Zärtlichkeit hätte halten können, und -wir gingen nach dem Garten, in Erwartung, dass man uns zum Diner rufen würde.

„Dieser Garten war umfangreich und künstlich so eingerichtet, dass er den Freuden der liebe dienen konnte.

Madame Paris sagte:

„Gehen Sie, meine Herren, und gemessen Sie die frische Luft und halten Sie sich sicher in jeder Be­ziehung; mein Haus ist der Tempel der Kühe und der Gesundheit."

„Während der süssesten Beschäftigung rief man uns zum Essen.

„Wir wurden recht gut bedient; die Mahlzeit hatte in uns neue Neigung erregt, aber mit der Uhr in der Hand trat die Einäugige auf uns zu, um uns zu be­nachrichtigen, dass unsere Partie beendigt sei.

„Das Vergnügen wurde hier nach der Stunde ge­messen".

Schliesslich lassen sich Casanova und sein Freund dazu bewegen, die Nacht in dem Bordell zu ver­leben.

Das Hotel du Eoule ist auch in zwei galanten Ge­dichten des 18. Jahrhunderts verherrlicht worden. Das eine hat den Titel „Le Temple de l'Amour" (Paris 1751; Neudruck: Brüssel 1869, 8 Seiten); es schildert die mannigfaltigen dort begangenen Ausschweifungen Der Anfang lautet:

Das zweite Gedicht heisst „Les Eeclusieres de Venus" (Allegorie, A la nouvelle Cytheropolis 1750; Neudruck: Brüssel 1869, 16 Seiten). Ich citire eine interessante Stelle daraus, wo erzählt wird, dass die Paris ihren Mädchen andere wohlklingendere, sug­gestivere Namen zu geben pflegte, ganz wie dies auch in unseren heutigen Bordellen noch geschieht:

Des noms mignards, respirant la luxure, Feront au coeur la premiere blessure; Margot sera la charmant Aglag, Faiichon Victoire, et Pernette Daphnö, Dodon Fatime, et Charlotte Emilie, Cateau Lolotte, et Jeanette Julie.

c. Das Bordell der Eichard.

Dieses Freudenhaus wurde hauptsächlich von Geistlichen besucht. Madame Richard hatte ihre Thätigkeit damit begonnen, systematisch junge Beichtväter zu verführen. Diese Spezialität der Eroto- S manie gab ihr den Gedanken ein, ein Bordell für Geist- j liehe zu eröffnen. Dasselbe florierte glänzend. Madame B i c h a r d wurde die Lieferantin von jungen Mädchen für ein „Missionshaus, für Prälaten und andere Geist­liche." Eine erotische Szene aus diesem Freudenhause haben wir bereits erzählt.

d. Ein Negerbordell.

Ein Lüstling in Venedig bringt stets in das Bordell der Juliette zwei Negerinnen mit, weil der Kontrast zwischen weissen und schwarzen Menschen ihm be­ sondere Befriedigung verschafft (Juliette VI, 152). Neger und Negerinnen spielen auch bei dem anthropo­phagischen Diner in Venedig eine Eolle (Juliette VI, 304). In dem Sehlosse des Cardoville bei Grenoblc, wohin Justine als ein Opfer der Lüste dieses Wüstlings geführt wird, sind zwei Neger als Helfershelfer bei diesen Orgien thätig. (Justine IV, 331.) — Im dritten Bande von „Aline et Valcourt" findet sich auf Seite 200 ein obscönes Bild, drei nackte Weiber darstellend und einen Mann, der die Genitalien des einen Weibes berührt, während von vier dabei stehenden Negern zwei mit wildem Ausdruck Keulen schwingen.

Die Neger sindauchkeineErfindung S a d e 's! Es existierte schon vor 1790 in Paris ein Negerbordell! Dies befand sich im Hause einer Mlle. I s a b e a u, früher rue neuve de Montmorency, später rue Xaintonge, welches letztere Haus einem ge­wissen Marchand gehörte. In diesem Bordell waren Negerinnen, Mestizen und Mulattinnen vorrätig. Es gab keine festen Preise, sondern die Insassinnen wurden „verkauft wie man die Sklavinnen einer Karawane ver­kauft."

F r a x i meint ), dass der Geschmack für schwarze Frauen vielleicht den Franzosen eigentümlich sei. Jeden­falls findet man noch heute in mehreren Bordellen von Paris und in den Provinzen ständig Exemplare dieser schwarzen Schönheiten. Auch Hagen macht in seiner „Sexuellen Osphresiologie" (S. 179—18 ausführliche Mitteilungen über diese Vorliebe der Franzosen für Negerinnen, die er vielleicht mit Hecht auf Geruchs­reize zurückführt.

e. Die „petites maisons".

Indem wir bezüglich der anderen grossen Pariser Bordelle des 18. Jahrhunderts auf das berühmte Werk von Restif de la Bretonne verweisen ), sowie auf die Schrift „Les bordels de Paris" (1790), erwähnen wir nur noch das Freudenhaus im Faubourg Saint-Antoine, wo nach Retif's Erzählung der Herzog von Orleans, der Graf von Artois sich den wildesten Ausschweifungen und Grausamkeiten hingaben, - wo man „Bestialitäten" beging, die später der Marquis de Sade in „seinem „execrable roman": Justine ou les Malheurs de la vertu beschrieben habe.

Offenbar genügte diese grosse Zahl von Bordellen noch nicht dem Unsittlichkeitsbedürfnisse des ancien regime. Man musste die "Wollust bei sich selbst ein­quartieren. So schufen sich die vornehmen Herren und reichen Wüstlinge jener Zeit in den sogenannten „petites maisons" gewissermassen ihre eignen Privatbordelle, Freudenhäuser en miniature. Jeder hat sein „kleines Haus" mit mehreren Maitressen. Das gehörte zum vor­nehmen Ton bei Jung und Alt. Casanova lernte in Paris den 80jährigen Chevalier d'Arzigny kennen, den „Aeltesten der petits maitres", der sich rot schminkte, geblümte Kleider trug, die Perrücke pomadi­sierte, die Augenbrauen braun malte und ebenfalls parfümierte und ein Gebiss von Elfenbein trug. Selbst dieser alte Lebemann war „seiner Geliebten zärtlich zu­getan, die ihm sein kleinesHaus führte, in welchem er stets in Gesellschaft ihrer Freundinnen zu Abend ass, die sämtlich jung, sämtlich liebenswürdig -waren und jede Gesellschaft für die seinige aufgaben.

Auch der Marquis de Sade besass im Jahre 1772 auf der butte Saint-Roch sein „petite maison".

f. Die geheimen pornologischen Klubs

pornologischen Klubs

Das, was der Marquis de Sade in der „Societe des amis du crime" geschildert hat, was wir später als das „Mysterium des Lasters" in den Romanen dieses Autors bezeichnen werden, existierte in Wirklichkeit. Es gab in Paris geheime Klubs, deren Mitglieder sich zum Zwecke des praktischen Studiums der Wollust ver­einigten, die ihre „Tempel" hatten mit den Statuen de3 Priapus, der Sappho und anderer Symbole der ge­schlechtlichen Lust, ihre besondere Sprache und Er­kennungszeichen.

Die „Insel der Glückseligkeit" oder „der Orden der Glückseligkeit" oder die Gesellschaft der „Herma­phroditen" war der berüchtigste Liebesklub. Gegründet wurde er vom Herin von Chambonas.') Diese ge­heime Gesellschaft entlehnte alle Bezeichnungen, alles Ceremoniell und alle Formen dem. Seemannsleben und richtete ihre Gesänge und Anrufungen an den heiligen Mcolaus. „Maitre", „Patron", „Chef d'escadre"; „Viceadmiral" waren die Namen der einzelnen Grade der „Ritter" und „Ritterinnen", die einen Anker auf dem Herzen trugen, und ewige Treue und Verschwiegen­heit geloben mussten, wenn sie sich auf die Insel des Glückes führen liessen. In ihren „mehr als galanten Versammlungen" wurden die obscönsten Reden ge­führt. Ein sehr eifriges Mitglied dieses obscönen Klubs war Moet, der Verfasser des „Code de Cythere" (Paris 1746) und Uebersetzer der englischen Schrift „Lucina sine concubitu" (Vgl. über diese Bd. H von D ü h r e n „Das Geschlechtsleben in England"). Er verfasste für seinen Klub das merkwürdige Buch „L'Anthropophile, ou le Secret et les Mysteres de l'Ordre de la Felicite devoiles pour le bonheur de tout l'univers", Aretopolis (Paris) 1746. Es enthält die Regeln und Statuten der Vereinigung, das „Wörter­buch" derselben und Gedichte. Aus dem Dictionnär teile ich einige Ausdrücke mit: „Chaloupe" = petite fille; „flute" = grosse femme; „fregate" = femme; „gabari" = fille ou femme bien faite; „goudron" = fard; „hisser une fregate" = enlever une femme; „mät" = le corps; „mer" = amour, intrigue; „sondes" = les doigts. Den Zweck des Klubs verkündigen folgende Verse:

L'isle de la Fölicite N'est pas une chimerc; C'est oü rtgne la voluptö Et de l'amour la mere; Fröres, courons, parcourons Tous les flots de Cythere Et nous la trouverons.s)

Sehr mystei-iös war die Gesellschaft der „Aphro­diten", die durch einen heiligen Eid, durch häufigen Wechsel der Versammlungsorte ihr Geheimnis zu hüten suchten. Sie benannten die Männer mit Namen aus dem Mineralreiche, die Erauen nach dem Pflanzen­reiche.

Dagegen hat man von einem andern Klub das Manuscript der Statuten, der Erkennungszeichen, des Mitgliederverzeichnisses mit den „noms de plaisir" auf­gefunden. Das war die „Societe du Moment". Dieses Manuscript gewährt einen tiefen Einblick in den wider­lichen Schmutz, in dem sich diese „societes de cynisme", wie die Goncourts sie nennen, wälzten.

Eine vierte geheime pornologische Gesellschaft war die „Secte Anandryne", der Klub der Tribaden, der im „Tempel der Vesta" seine Orgien feierte. Wir werden weiter unten diesem Klub und seinen Versammlungen eine ausführliche Darstellung widmen. Die Entstehung dieser geheimen Gesellschaften erklärt ein Wort der Delbene (Juliette I, 25): „Die Laster darf man nicht unterdrücken, da sie das einzige Glück unseres Lebens sind. Man muss sie nur mit einem solchen Mysterium umgeben, dass man niemals ertappt wird." de Sade'a Schilderung des geheimen Klubs der „Gesellschaft der Freunde des Verbrechens" (Juliette HE, 30 ff) ist offenbar nach den ihm bekannten Vorbildern entworfen. Diese Gesellschaft besitzt eine eigene Druckerei mit zwölf Kopisten und vier Lesern. Im Klubgebäude befinden sich zahlreiche „cabinets d'aisance", die von jungen Mädchen und Knaben be­dient werden, die sich dabei allen Gelüsten der Besucher dieser appetitlichen Orte hingeben müssen. Daselbst findet man „seringues, bidets, lieux ä l'anglaise, linges tres-fins, odeur3. Aber man kann auch linguam puellarum sive puerorum nachher zur Reinigung be­nutzen.

In den beiden „Serails" des Hauses werden Knaben, Mädchen, Männer, Frauen und — Tiere zur Be­friedigung jeglicher Art von Wollust gehalten. Der „Mord" kostet 100 Thaler. Der Eintritt in den Haupt­versammlungssaal erfolgt nackt.auf einem mit Hostien bedeckten Cruzifix, an dessen Ende die Bibel liegt. Vor der Aufnahme wird Juliette befragt, ob sie die Arten der Unzucht und die Verbrechen, die man ihr nach­einander aufzählt, begehen würde. Nachdem sie bejaht hat, empfängt sie die „Instruktionen für die in die Ge­sellschaft der Freude aufgenommenen Frauen". Die in dem geheimen Club stattfindenden Orgien werden in der Analyse der „Juliette" erwähnt werden.

15. Das Palais-Royal und andere öffentliche Dirnenlokale.

Das Palais-Eoyal ist eine Stadt in der Stadt. Es ist die Dirnenstadt von Paris und zugleich das Centrum des Pariser Lebens im. 18. Jahrhundert, ein gesondert zu betrachtendes kulturgeschichtliches Ob­jekt, das „mit seinen Spielhäusern, seinen royalistischen und jacobinischen Verschwörern, seinen Dirnen und Banditen, seiner vornehmen und. doch verkommenen Kundschaft, seinem Luxus und seinem Elend eine kleine, aber keineswegs schöne Welt für sich darstellte."

Das Palais-Royal, nicht weit vom Louvre, wurde in den Jahren 1629 bis 1634 von Lemercier an der Stelle der ehemaligen Hotels de Mercoeur und de Rambouillet für den Kardinal de Richelieu erbaut und später eine Zeit lang von Ludwig XIV. bewohnt, der es umbauen liess und es seinem Enkel, dem Herzog von Ohartres schenkte, wodurch es an die'Familie Orleans kam. Der Regent Philipp von Orleans inaugurierte das Palais-Royal als Haupt­stätte des Vergnügens und der Ausschweifungen für die vornehme Welt. Sein Urenkel, Herzog Louis j Philipp Joseph von Orleans, der berüchtigte j Philippe-Egalite liess in den Jahren 1781 bis j 1786 den Palast gänzlich umbauen, so dass er seine | heutige Gestalt annahm und sich zu einem grossen Complexe von Palast, Garten, Arkaden, Kaufhallen, I Theatern, Cafes, Spiel- und Speisehäusern und zahl­reichen Vergnügungsorten gestaltete. Die Haupt­galerien des Palais-Royal waren im Osten die „Galerie de Valois", im Westen die „Galerie de Montpensier", an deren nördlichem Ende das seit 1784 bestehende Theätre du Palais-Royal lag, im Norden die „Galerie de Beaujolais". 186 Arkaden umgaben den prächtigen Garten des Palais-Royal, der in Form eines Parallelo grammes sich ausdehnte. In seiner unmittelbaren Nähe wurde das Theater der „Comedie frangaise" erbaut.

In Palais-Royal entwickelte sich nun vor und während der Revolution jenes überaus lebhafte und bunte Treiben, das so viele vortreffliche Schilderer aus allen Ländern gefunden hat. Wie es hier im Jahre 1750, also vor dem Umbau aussah, erzählt Casa­nova: „Neugierig auf diesen so vielgerühmten Ort, beobachtete ich Alles. Ich sah einen ziemlich hübschen Garten, Alleen grosser Bäume, Bassins, hohe Häuser, welche ihn umgaben, viele Männer und Frauen, die spazieren gingen, hier und dort Bänke, auf denen man Broschüren, Parfüms, Zahnstocher und Kleinigkeiten verkaufte. Ich sah ganze Haufen von Strohstühlen, die man für einen Sou vermietete, Zeitungsleser die ßich im Schatten hielten, Mädchen und Männer, die allein oder in Gesellschaft frühstückten, Kellner, welche schnell die unter Laubwerk verborgenen Treppen hinauf und hinabeilten." Ein Abbe nannte Casanova die Namen aller Dirnen, die dort herumspazierten.

Aus dem Beginne der Revolution besitzen wir eine höchst interessante und wahrheitsgetreue Schilderung des Palais-Royalj dieser „capitale de Paris", wie er es nennt, von dem oldenburgischen Justizrat Gerhard Anton von Halem, dem Freunde der Grafen Stolberg und Verfasser der Geschichte des Herzog­tums Oldenburg. Er war im Jahre 1790 in Paris. Schon beim Einzug lernte er das Hauptmerkmal dieser Stadt kennen.8) Als die Reisenden hineinfuhren, „wanden sich Haufen von Buben in Ringelreihen und sangen ein Chanson mit dem Refrain:

Viva l'amour Viva l'amour!

Dann heisst es in dem dreissigsten Reisebriefe: „Die Inschrift von Epikurs Gärten:

„Fremdling 1 hier wird dir wohl sein! Das grösate Out ist hier Wollust,"

würde ganz für das Palais-Royal passen. Das Detail von seinen Herrlichkeiten, sowie von denen der Boule­vards und des Font-neuf, las man schon vor meiner Ab­reise in mehreren deutschen Journalen; und wenn ich Sie also geradezu in die allee des Soupirs führe, so kommen Sie an keinen unbekannten Ort. Hier muss ich Sie aber Ihrem Schicksal überlassen. Sehen Sie zu, wie Sie sich durch Scylla und Charybdis, die Braune und die Blonde, ohne zu scheitern durchschiffen. Verbinden Sie Ihre Augen, um nicht die vorüberrauschenden Schönen, deren Heize der Abend hebt, nicht ihre schmachtenden Blicke, nicht die Blumensträusse, die sie so freundlich darbieten, zu sehen; verstopfen Sie, wie Ulyss, Ihre Ohren, um weder jenes sanfte öelispel, jene Tassoischen sorrisi, parolette e dolci stille di pianto 6 sospiri, jene lockenden „Viquets" (wie geht's) und „good night, my dear Sir!" noch den Sirenengesang zu ver­nehmen:

Aimons au moment du reveil, Aimons au lever de l'Aurore, Aimons au coucher du soleil, Durant la miit aimons encore." .

Trotz der etwas idealisierenden Erzählung Halem's erkennt man, daes das Palais-Royal nichts weiter war als der Hauptversammlungsort der Freudenmädchen.

H a I e m 's Schilderung ist deswegen, von Interesse, weil ihr die Ehre widerfahren ist, von Art hu r C h u q u e t, dem treuen Teutophilen, Freunde unserer Literatur und alter deutscher Bücher, ins Französische übersetzt zu werden. Ha lein, der Mitglied des Jakobinerklubs wurde, berichtet auch haarsträubende Dinge über die sittliche Korruption in dem Hause, wo er Wohnung ge­nommen hatte.

Wenn im Jahre 1772 der Marquis deCarrac-cioli noch bemerkt, dass das Palais-Royal die Prome­nade der Elegants sei, der Luxembourg die der Träumer, die Tuilerien, die „von aller Welt", vor und nach der Oper, besonders des Abends, so konzentrierte sich nach dem Brande der Oper (178 und nach der "Umgestal­tung des Palais-Royal durch den Bau von Galerien und ArkadenMas gesamte Nachtleben von Paris an diesem j Orte. Hier spielten sich dann, besonders mit be- / ginnender Dunkelheit, während der Revolution und des j Direktoriums alle jene scheusslichen Szenen ab, deren ! wir zum Teil schon oben gedacht haben. Das Palais- f Royal wurde eine „Höhle der Schurken und Dirnen"8), j die „Kloake von Paris", wie es Mercier in „Le J nouveau Paris" und Retifde la Bretonne in , seinem grossen Werke über das Palais-Royal geschildert j haben. Retif hat das Leben im Palais-Royal unter- >, sucht wie „der Anatom den Leichnam". Im „Monsieur j Nicolas" schreibt er 1796: „Man weiss, dass das neue Palsris-Royal da“ allgemeine Kendez-vous der Leiden­schaften, Unternehmungen, der Wollust, Prostitution, des Spiels, der Agiotage, des GeldverkehrB, der Assig­naten, und daher das Zentrum für alle Beobachtungen geworden ist. Dieser berühmte Bazar zog mich nicht blos duroh seine Sehenswürdigkeiten an, sondern auch durch die Vergnügungen, welche ich dort fand."

Mercier wünscht lebhaft, dass doch Lavater, der berühmt© Physiognomiker, an einem Freitag Abend im Palais-Eoyal anwesend sein möge, um dort auf den Gesichtern alles zu lesen, was der Menech sonst im innersten Herzen zu verbergen pflegt. Dort seien die Dirnen, die Courtisanen, die Herzoginnen und die ehr­baren Bürgerfrauen und Niemand täußchesich dort. Aber vielleicht würde dieser grosse Doktor mit all seiner Wissenschaft sich täuschen. Denn hier handelt es sich um Unterscheidung sehr feiner Nuancen, die man an Ort und Stelle studieren müsse. „Ich be­haupte nun, dass Herr Lavater sehr grosse Mühe haben würde, eine Frau von Stellung von einer unter­haltenen Dirne zu unterscheiden, und dass der gewöhn­lichste Kaufmannagehilfe ohne grosses Studieren mehr davon weiss als er." Dort betrachtet man sich mit einer Ungeniertheit, die nirgends in der Welt üblich als in Paris, und in Paris nur im Palais-Royal. Man spricht laut, man ruft sich an, man nennt die vorbeigehenden Frauen mit Namen, ebenso ihre Gatten, ihre Liebhaber. Man charakterisiert sie mit einem Wort.' Man lacht sich ins Gesicht. Und alles ohne beleidigende Absicht. Man wird im Wirbel mit fortgerissen und lässt sich alle Blicke und Worte gefallen. Ja, in Paris und im P a 1 a i s - E o y a 1 h ä 11 e L a v a t e r s e i n e p h y s i-ognomischen Studien machen müssen. Dort empfingen auch die geistvollen Leute ihre An­regungen, suchten dort ihre Gesellschaft, gaben sich dort ihren Gedanken hin. „Es mag schön oder hässlich Wetter sein, meine Gewohnheit bleibt auf jeden Fall um 5 Uhr abends im Palais-Eoyal spazieren zu gehen. Mich sieht man immer allein, nachdenklich auf der Bank d'Argenson. Ich unterhalte mich mit mir selbst von Politik, von Liebe, von Geschmack oder Philosophie, und überlasse meinen Geist seiner ganzen Leichtfertig­keit. Mag er doch die erste Idee verfolgen, die sich zeigt, sie sei weise oder thöricht! So sieht man in der Allee de Foi unsere jungen Liederlichen einer Courtisane auf den Fersen folgen, die mit unverschämtem Wesen, lachendem Gesicht, lebhaften Augen, stumpfer Nase dahingeht; aber gleich verlassen sie diese um eine andere, necken sie sämtlich und binden sich an keine. Meine Gedanken sind meine Dirnen". So spricht Diderot im Anfange von „Bameaus Neffe" nach der TJeber-setzung unseres Goethe. Wieder ein köstliches Genrebild aus dem Palais-Eoyal und eine merkwürdige Vergleichung.

Diese „nächtlichen Promenaden" im Palais-Eoyal waren in der ganzen Welt berühmt und repräsentierten die erste Pariser Sehenswürdigkeit. Hier suchte man pikante Abenteuer und fand sie. Es kam oft vor, dass Männer, die im Palais-Eoyal ihr Vergnügen suchten, bei den nächtlichen Promenaden ihre eigenen Frauen in gleicher Absicht lustwandelnd ertappten oder gar mit einem Galan überraschten. Die Frauen des Palais-Eoyal waren alle Dirnen, ob sie nun zur engeren Pro stitution gehörten oder nicht. "Wer sich nächtlicher Weile dorthin begab, hatte sich damit einen gewissen Stempel aufgedrückt. Ein galantes Gedicht feiert diese nächtlichen, sternenbeglänzten Schönheiten des Palais-Koyal.

Vivent les nuits etoilSes De ce jardin enchanteur 04 nos femmes sont voilfies, Aus d£pens de la pudeur! Dessous ces fraiches allfies La moins sage est ä l'abri De la honte et du mari.

Ce mglange d'impudence,

De tendresse et de gälte,

Depuia quelque temps en France,

Fait notre amabilite,

La prüde et froide dScence

Combat, brouille tous les goüts;

La licence les Joint tous.

Die berühmte „Seufzerallee" (Allee des Soupirs) war die Promenade der schönsten und verführerischsten Mädchen und Trauen, die sich aus allen Gesellschafts­klassen rekrutierten. Vornehme Damen, die Theater­welt, die höhere Demi-monde und die feineren Dirnen waren hier das Ziel der beutelustigen Lebemänner. Aber auch in den übrigen Alleen, in der „Allee de la Eoi", den „Alices de Club", unter den Colonnaden und Ar-caden tummelten sich unzählige Spenderinnen der Lust, begehrt, verfolgt und umworben von jungen und alten Wüstlingen aus allen Teilen der Welt. Hier war das Eldorado der Prostitution. Hier waren ihre Schlupf­winkel in Gestalt zahlreicher Verkaufsläden, EJieipen, Spielhäuser, Varietes, Theater. Hier lernte B 61 i f d e laBretonne von seinem Freunde, dem berüchtigten Charlatan G-uilbert de Preval, der in alle Ge­heimnisse und Arten der Wollust im Palais-Eoyal ein­geweiht war, „die verschiedenen Arten, sich mit Frauen zu amüsieren" kennen oder „wie man die Frauen zum Vergnügen der Männer abrichtet". E <ä1 i f konnte aus der Erinnerung die Namen der Dirnen der Seufzer­allee aufschreiben; er kannte auch die „Huris", die „Ex-sunamitinnen", die „Berceuses", die „Ohanteuses", die „Converseuses", lauter „dem 18. Jahrhundert eigen­tümliche moralische Phänomene" oder wie wir heute sagen würden, lauter verschiedene sexualpathologische Typen. E 61 i f 's Werk über das Palais-Eoyal ist uns durch einen Neudruck (bei A. Chrißtiaens in Brüssel, 3 Bände) zugänglich geworden. Der Ver­fasser sagt über den Inhalt desselben in der Vorrede: „Pfui! welch eine Geschichte! — Ha! ha! gnädiger Herr, gnädige Frau, gnädiges Fräulein) machen Sie nicht immer so „Pfui"! Sie lesen doch die Geschichte des Affen, des Ochsen, des Elepbanten, des Ehinoceros, und B u f f o n hat Sie für den Esel zu interessieren ge-wusst. . . Wir Werden Ihnen von menschlichen Wesen erzählen und ein sehr moralisches Buch über sehr un­moralische Geschöpfe schreiben, die trotz einiger Aehn-lichkeiten sich weit über Stuten, Eselinnen und alles mögliche Getier erheben. Die Schönen des Palais-Eoyal sind sehr hübseh, besonders die jungen. Was die Alten betrifft, so ist es damit wie überall: ein altes Tier ist niemals schön. — Wie es sich auch verhalte, wir werden Einen merkwürdige, unerhörte Sitten vorführen, viel pikantere als vor sechs Monaten. Aber vorher wollen wir eine Vorstellung geben von dem Gesichte, dem Alter, dem Wüchse, der Haltung, dem Gange, den Sitten und Talenten dieser Schönen, unter den „noms de guerre", die sie angenommen haben". Hierauf be­schreibt Ketif 32 Freudenmädchen aus der „Allee dea Soupirs", die man auch auf einem dem ersten Bande beigegebenen Bilde erblickt. Er erzählt dann die Ge­schichte jedes einzelnen Mädchens, wobei häufig die interessantesten Streiflichter auf die Sitten der Ret-volutionszeit fallen. Der zweite Band führt uns in den berühmten „Cirkus" des Palais-Royal. „Die Majestät dieses Saales, der Beiz des Orchesters, die anmutigen Bewegungen der Tänzerinnen, die Schönheit, die Eleganz der Zuschauerinnen, alles trug dazu bei, um diesem schönen Souterrain ein magisches Aussehen zu geben. Ferner wurde die Aufmerksamkeit durch Spiele erregt, durch Kaffeetische und heimliche Oabinette, -welche der Wollust und selbst der Liebe als Zufluchts­ort dienen konnten. Nachdem wir alles dies geprüft hatten, bemerkten wir gegen neun Uhr, in dem Augen­blick, wo alle anständigen Frauen hinausgingen, um fein zu soupiren, dass nur die öffentlichen Mädchen dort blieben. Wir beobachteten sie neu­gierig in unserer Eigenschaft als Aushorcher." Eins der zurückbleibenden Mädchen diente ihnen als Cicerona und berichtete ihnen über die anderen, die sogenannten „Sunamitinnen".

Die Sunamitinnen trugen ihren Namen nach der bekannten Beischläferin des Königs David, welche durch ihre Lebenswärme die Kräfte des alternden Königs neu beleben sollte. In Paris gab es im vorigen Jahr­hundert Unternehmerinnen im Palais-Royal, die sich zu diesem Zwecke zahlreiche Mädchen hielten, die in der ersten Blüte ihres Alters und vollkommen gesund sein mussten, was man durch den Genuas ausgewählter Speisen und durch tägliche Bewegung zu unterstützen suchte. Zu der Kur eines einzigen Mannes werden sechs Mädchen erfordert. Das erste Mal war die Matrone selbst gegenwärtig, liees den Patienten in ein aroma­tisches Bad steigen und nahm eine gründliche Reinigung seines Körpers vor. Dann legte sie ihm einen festen Maulkorb an, führte ihn zu Bette und legte zu beiden Seiten von ihm eine Sunamitin, deren Haut die seinige berührte. Ein paar Mädchen konnten diesen Dienst nur 8 Nächte hintereinander versehen, dann lösten ein paar frische sich ab und die beiden ersten ruhten aus, badeten sich die ersten beiden Tage, und vergnügten sich 14 Tage lang, bis die Reibe wieder an sie kam. Der Alte musste nicht nur das vdienstthuende, sondern auch die aus­ruhenden Mädchen bezahlen, im ganzen drei Louisdors. Jedes Mädchen bekam sechs Francs und die Matrone behielt die zwölf übrigen für sich. Man gab sorgfältig Acht, dass die jungfräuliche Keuschheit dieser Suna-mitinnen unangetastet blieb. Denn sonst würden die Lebensverlängerinnen, besonders während der Schwan­gerschaft, schädlich statt nützlich sein. Erlaubte sich der Patient den Genuss eines solchen Mädchens, so würde er sich nicht allein sehr schaden, sondern musste auch eine beträchtliche Summe verlieren, die er gleich anfangs in die Hände der „Wiederherstellerin" nieder­zulegen verpflichtet war. Ein Mädchen diente zu diesem Gebrauche drei Jahre, von dem Zeitpunkt an gerechnet, wo sie mannbar wurde. Später würde sie den Greis be­herrschen und „seine Ausflüsse zurückstossen, statt durch ihre Einflüsse auf ihn zu wirken", und würde sie ihm die „verderbten Auswurfsflüssigkeiten zurückgeben, die sie von ihm empfangen hatte." Ein Mädchen, das täglich gebraucht wurde, konnte höchstens nur ein Jahr tauglich bleiben. Die Periode des sunamitischen Dienstes war gleichsam das Noviziat zum Orden der Buhlerin. War jene vorüber, so "wurden sie in diesen eingeweiht.

Auch in der „Justine" des Marquis d e S a d e musa die Titelheldin einem greisen Mönche diese nächtlichen sunamitischen Dienste leisten (Justine H, 228).

Der dritte Band von Betif 's „Palais-Boyal" spielt in den „Colonaden" und führt uns dort die „Con-verseuses" oder „Exsunamitinnen" vor, 43 an der Zahl, die vornehme Damen auf die mannigfaltigste Weise "unterhalten mussten.

Von einer anderen Spezialität des Palais-Royal er­zählt Mercier. In einem Restaurant, das gleich­zeitig ein Bordell war, öffnete sich während der Mahl­zeit in einem Salon particulier auf ein gegebenes Zeichen beim Bausehen einer sanften Musik und unter einer Wolke von Wohlgerüchen der Balkon, und herabstiegen, wie aus einem Olymp, ebenso schön als — leicht ge­kleidete Nymphen, die dann — die Verdauung befördern halfen. Ein© „satanisch geistreiche" Erfindung.

Die vierundvierzig Figurae Veneris, die ein lasciver französischer Schriftsteller zusammengestellt hat, könnten wohl bis aufs halbe Hundert vermehrt werden, wenn man alle die Anerbietungen addierte, welche einem zwischen elf und zwölf TJhr in einer schonen Sommer­nacht in den hölzernen Gallerien des Palais-Boyal von den ebenso viele Spezialitaten der Liebe durch ihre ver schiedenen Kamen ausdrückenden Dienerinnen der Venus gemacht wurden ).

In der Schreckenszeit wurde das Palais-fioyal ein Schauplatz der wüstesten Orgien und ein ständiger Aufenthaltsort für den Auswurf der Prostitution, für die Soldatendirne. Der Garten, die Gallerie und andere öffentliche Räumlichkeiten des Palais-Royal wurden „ebenso ekelhafte als ruhestörende Tummel­plätze des Militärs und der Freudenmädchen. Auf die schamloseste Weise ergingen sie sich beiderseits öffent­lich und rudelweise in den schmutzigsten Handlungen und Zoten, so dass die Passage gehemmt ward und kein anständiger Mensch sich blicken lassen durfte. Im Ver­laufe des Jahres gestaltete sich auch die Wasserseite des Tuileriengartens abends zu einem ähnlichen Stell­dichein in Masse zwischen Soldaten und liederlichen Weibsbildern, die, den Skandal nicht achtend, hier offen Unzucht trieben und Frechheiten aller Art. Ausser­halb und innerhalb der Stadt feierten die Soldaten schauerliche Orgien."s) Fast alle Soldaten in der Garde waren Zuhälter. Ja, viele nahmen in diesem Corps nur Dienste, um auf Kosten einiger Dirnen zu leben.“)

Schliessen wir unsere Schilderung des Palais-Royal mit den Worten eines der besten Kenner der gesamten Pariser Korruption im 18. Jahrhundert. Mairobert ruft im „Epion anglais" aus: „Tous ces monumente du luxe et de la volupte francaise n'approchent pas d'une sorte de spectaele q“i s'est etabli natureDement et eansfrais, bien superieur, suivant moi, par l'aisanee, la familiaritß, l'abandon qui y regnent. Oesontles promeuades nocturnea du Palais-Koyal."

Gegenüber dem Palais-Royal versehwanden die übrigen Vergnügungslokale, die trotzdem in grosser Zahl vorhanden, aber nur von. kurzer Dauer waren, zu­mal da sie im Gegensatze zum Palais-Royal ein Entree erhoben. Die Vaux-hall d'ete und d' h i v e r, das 0 o 1 i e e e waren die besuchtesten TTnterhaltungsorte, in denen man nach Entrichtung von 1 bis 3 Livres Entree sich ebenfalls der verschiedenartigsten Genüsse erfreuen konnte.

Ein italienischer Artist Tone oder Torres er­ öffnete das Vaux-hall d'ete im Jahre 1764 am Boulevard Saint-Martin. Hier wurden Feuerwerk, j Illuminationen veranstaltet, Ausstattungsstücke ge- \ geben. Von 1768 an kamen Bälle, ländliche Feste, \ Pantomimen und Clownkunststücke hinzu. I Das Vaux-hall d'hiver befand sich im west-

j liehen Teile des Stadtteils Saint-Germain, nahe der rue f Guisard. 1769 erbaut, wurde es am 3. April 1770 er-| öffnet. Hier wurden hauptsächlich Ballets von schönen j Tänzerinnen aufgeführt. Im Jahre 1785 musste das

Unternehmen aufgegeben werden. I Das 0 o 1 i s e e war ein Gebäude mit Garten für

r Tänze, Gesang, Schauspiele, Feste, Feuerwerk u. s. w. Es lag im äussersten "Westen der Champs-Elysees, rechts von der Avenue Neuilly und wurde bei der Vermählung des Dauphins (späteren Ludwig XVI.) eröffnet. Schon 1778 ging das Etablissement ein.

Nach Dulaure war der öffentliche Zweck dieser Etablissements, wie der vieler ähnlicher, die Pariser zu amüsieren. Der geheime Zweek aber war der, sie „zn

verderben, zu betäuben und auszuplündern" Es wimmelte dort von Tänzerinnen, und öffentlichen Dirnen.

16. Die Onanie im 18. Jahrhundert.

Wir gehen nach der Schilderung der Verhältnisse der Prostitution und nach der Beschreibung ihrer Haupt­sitze nunmehr dazu über, die hauptsächlichsten Ver-irrunngen des Geschlechtslebens zu untersuchen und be­ginnen mit der gewöhnlichsten, der Onanie.

Das „branler" wie der technische Ausdruck bei ! S a d e lautet, kehrt fast auf jeder Seite wieder. Gleich > im Anfang der „Justine", als Justine über den Verlust ihrer Eltern trauert, zeigt ihr Juliette, die im Kloster ', diese Praktiken erlernt hat, an sich selbst die Be- / friedigung durch Manustupration. Diese wollüstige Er- j regung, die man sieh jeden Augenblick ohne einen j anderen verschaffen könne, sei der beste Trost über alles | Leid, da die Onanie mit Sicherheit alle Schmerz- | empfindungen zum Verschwinden bringe. (Justine I, j 5). Delbene, die Oberin des Klosters, in dem Juliette j erzogen wurde, eine sehr wollüstige Erau, hatte schon j im Alter von neun Jahren „ihre Finger daran gewöhnt, den Wünschen ihres Kopfes zu antworten" (Juliette I, ' 3). In der „Societe des amis du crime" existiert sogar ein eigner „Saal für Masturbation" (Juliette HC, 65). Der Herzog von Chablais rühmt denn auch die „fran­zösische Methode" der Onanie als die beste (Juliette in, 292). Madame de St-Ange, welche der Eugenie im An­fang der „Philosophie dans le Boudoir" einen ganzen Lehrkursus in den Künsten und technischen Ausdrücken der Liebe erteilt, vergisst auch nicht, sie mit der Onanie bekannt zu machen, dieser bequemen Art „de se donner du plaisir" (Philosophie dans le Boudoir I, 43). —)

Hairobert lässt die Madame Bichard sich in charakteristischer Weise über die ungeheuere Ver­breitung der Onanie in Frankreich äussern. Diese so raffinierte Kunst, welche, wie sie von einem Geistlichen und Mitglied der Akademie der schönen Wissenschaften erfahren habe, bei den Alten sehr in Flor gewesen, später aber vernachlässigt worden sei, werde immer mehr Mode in diesem Jahrhundert der Wollust und der — Philo­sophie. In den berühmten Bordellen der Florence, der Paris, der Gourdan, der Brisson, könne i man diese Künste sehen. „Viele treiben auch einfache 1 und mutuelle Onanie, um keine Kinder zu bekommen f oder die syphilitische Ansteckung zu vermeiden.")

Höchst realistisch, in glühend sinnlichen Farben l schildert La Mettrie die „voluptueuse approche des | doigfes libertins" ), und die mutuelle Onanie zwischen i Frauen muss sehr verbreitet gewesen sein, um das | folgende boshafte Couplet hervorzurufen:

H est des Dames cruelles,

Et Von s'en plaint chaque jour:

( Savez-Yous pourquoi ces belies

j Soiit si froides en amourt

Ces Dames se fönt entr'elles,
Par un gfoereux retour

• Ce qu'on appelle un doigt de cour.

Für immer verewigt sind die zügellosen Ausschwei­fungen der Onanie im 18. Jahrhundert durch die be­rühmte Monographie von Simon Andre Tissot über die Onanie, das. erste Werk seiner Art, das „in glühendsten Farben, in brillantem, geradezu klassischem Stile die Folgen unseres Lasters, überhaupt sexueller Ausschweifungen der damaligen verlotterten fran­zösischen Bourgeoisie vor Augen führte, ein Werk, das trotz seiner Ueberhebungen und Uebertreibungen der Folgen der Onanie oder wohl auch infolge derselben ein ungeheures Aufsehen erregte und zu europäischer Be­rühmtheit gelangte, das viele Auflagen erlebte und von der damaligen Zeit fast verschlungen wurde.")

17. Die Tribadie im 18. Jahrhundert.

Dieses Kapitel ist vielleicht das kulturgeschichtlich merkwürdigste in Beziehung auf das Geschlechtsleben Frankreichs im 18. Jahrhundert. Wir glauben nicht, dass selbst das antike Lesbos derartige Zustände ge­sehen hat, wie sie in Frankreich im vorigen Jahrhundert herrschten. Auch hier spiegeln die Werke d e S a d e 's getreu das Bild jener Zeit wieder und belehren über die Häufigkeit des amor lesbicus oder der sapphischen Liebe.

Die „Juliette" wird gleich eröffnet mit der Be­schreibung der wollüstigsten tribadischen , Szenen zwischen den Nonnen des Plosters Panthemont (Juliette I, 43 ff); Mondor ergötzt sich an einer ihm vorgeführten lesbischen Liebesszene (Juliette I, 283). Ein ausg zeichneter Typus einer Tribade wird in der von einem glühenden Männerhasse erfüllten Olairwil gezeichnet (Juliette II, 106), die dann gleich mit Juliette und vier anderen Frauen eine Orgie veranstaltet (Juliette LT, I 138—150 auch HI, 157.) Die höchste tribadische Kunst findet sich in Bologna (Juliette TU, 306 ff). Die Prin­zessin Borghese (Juliette IV, 100 ff), die Königin Karoline von Neapel (Juliette V, 259, VI, 12 ff) sind Tribaden. Sehr zahlreiche Anhänger hat diese Spezialität der liebe in Venedig (Juliette VT, 156 ff).

In „Justine" kommen ebenfalls, wenn auch nicht

so häufig, lesbische Szenen vor, z. B. zwischen Dorothße

und Madame Gernande (Justine HC, 284); Seraphine

j ist eine Verehrerin der sapphischen Kunst (Justine IV,

I 116).

Auch an Andeutungen zu einer Erklärung der Tribadie läset es S a d e nicht fehlen. Eine tribadische ) Orgie zwischen Juliette und der Durand betrifft eine f junge und alte Frau, welche letztere im Herbst ihres ; Lebens wohl keine Männer mehr anlockt und daher gern geneigt ist, als Surrogat die Liebe beim gleichen Ge­schlecht zu suchen (Juliette DU, 60—64). Vielleicht prädestinierte sie aber auch ihre „lange Clitoris" zu diesem Geschicke. Wenigstens hebt Sade bei einer anderen Tribade Madame de Volmar (Juliette I, 34) dies ausdrücklich hervor. Diese, erst 20 Jahre alt, ist „die wollüstigste Gefährtin der Delbene und hat eine „clitoris de trois pouces", wodurch sie befähigt wird die Holle eines Mannes und Paederasten zu spielen. Solch ein Weib mit männlichen Allüren ist auch die venezi anische Tribade Zatta (Juliette VI, 194). Sa de be­hauptet, dass fast alle Tribaden die Praktik der Paedi-catio übten. Denn mit den Leidenschaften der Männer hätten sie auch deren Raffinements sich angeeignet und „comme celui de la Sodomie ) est le plus delicat de tous, il est tont simple qu'elles en composent un de leurs plus divins plaisirs". (Justine I, 253).

Eine grosse von 30 Hofdamen ausgeführte Tribaden-szene beschreibt auch Mirabeau in „Ma con-version".)

Die Schilderungen dieser Autoren, denen sich noch Diderot mit seiner „Nonne" und zahlreiche Andere anreihen Hessen, haben die Wirklichkeit nicht über­boten. Mairobert hat nämlich in seinem „Espion anglais" mehrere hochinteressante Dokumente beige­bracht, welche uns einen überraschenden Einblick in das Treiben und die Organisation der Pariser Tribaden des 18. Jahrhunderts gewähren. Es ist die schon öfter er­wähnte „Confession d'une jeune fille", welcher wir hier folgen) und welche uns ein lebensvolles Bild der Mysterien der berüchtigten „Secte Anandryne" entrollt welche im „Tempel der Vesta" ihre Orgien feierte.

Ein junges Mädchen aus dem Dorfe Villiers-le-Bel, Tochter eines Bauern, war von der Madame G o u r d a n für ihr Bordell eingefangen worden. Eines Tages traf der Vater sie als Dirne bei den Tuilerien. Es kam zu einem grossen öffentlichen Skandale. Die Tochter war aber bereits für die königliche Akademie der Musik ver­pflichtet worden, so dass der Vater unverrichteter Sache heimkehren musste. Ausserdem war sie schwanger. Mairobert, der dem Auftritte beiwohnte, liess sich von dem Mädchen, die sieh Mademoiselle S a p h o nannte, ihre Lebensgeschichte erzählen. Es ist aber mit Sicherheit anzunehmen, dass Mairobert, als könig­licher Censor in alle Geheimnisse der Pariser Gesell­schaft eingeweiht, in die „Confession d'une jeune fille" seine eigenen Erfahrungen verwebt hat. Auf jeden Fall stellt diese seltsame Beichte einen der allerwichtigsten Beiträge zur Kultur- und Sittengeschichte des vorigen Jahrhunderts dar, dem wir daher eine ausführliche Be sprechung widmen.

Von Jugend auf war Sapho zur Koketterie geneigt, putzsüchtig, eitel, faul und vergnügungssüchtig, kurz [ sie besass alle Anlagen, um eine Dirne zu werden. Mit I 15 Jahren war sie bereits sehr lasciv, so dass sie sich in < ihrer Nacktheit selbst bewunderte und den Spiegel häufig benutzte, wobei sie sich selbst am ganzen Körper lieb­koste. „Je caressais ma gorge, mes fesses, mon ventre; je jouais avec le poil noir qui ombrageait dejä le sanc-tuaire de l'amour;) j'en chatouillais legerement l'entree. Cependant je sentais en cette partie un feu devorant; je me frottais avec delice contre les corps durs; contre une petite soeur que j'avais". Dieses Geständnis ist sehr lehrreich und beweist, wie so häufig eine sexuelle Perversität zu Stande kommt. Nehmen wir an, Sapho wäre nickt von der Gourdan entführt worden, wäre weiter bo streng von ihren Eltern im Hanse gehalten worden, ohne Gelegenheit zum Verkehr mit einem Manne zu finden, so ist es klar, dass eine solche zügel­lose und feurige Natur ganz von selbst auf den Weg der Tribadie gedrängt worden wäre, indem sie sich immer mehr an ihre Schwester gewöhnt hätte, und schliesslich dieser Umgang ihr ein Bedürfnis geworden wäre. Die Gewohnheit, das Erworbensein der conträrsexuellen Gefühle spielt die Hauptrolle. Wir betrachten die Heredität sehr skeptisch.

Eines Tages wurde Sapho bei diesen Manipulationen von ihrer Mutter überraacht und sehr hart bestraft, so dass sie beschloss, aus dem Elternhause zu entfliehen. Wie wir früher erwähnten, hatte Madame Gourdan \ eine Filiale ihres Pariser Bordells in Villiers-le-Bel, / deren Insassinnen Sapho oft schön geschmückt, lachend, I singend und tanzend im Dorfe umhergehen sah. Sie beschloss, dorthin zu gehen, wurde natürlich mit Freuden l aufgenommen und von der Gourdan nach Paris ge­bracht, wo sie zunächst bei einem Helfershelfer, einem I Gardisten, untergebracht wurde, dessen Frau die erste j Prostituierung der Gourdan 'sehen Novizen besorgen musste. Nachdem dieselbe aber eine genaue Inspektion des Mädchens vorgenommen hatte, verzichtete sie auf ihr gewöhnliches Vorhaben und richtete folgenden charakteristischen Brief an die Gourdan:

„Sie haben ein Peru in diesem. Kinde gefunden; sie ist bei meiner Ehre „pucelle", wenn sie nicht „vierge" ist. Aber sie hat clitoridem diabolicam. Sie wird sich daher mehr für Frauen als für Männer eignen. Unsere renommierten Tribaden müssen Ihnen diese Acquisition mit Gold aufwiegen."

Von dieser Entdeckung benachrichtigte die G o u r -d a n sofort Madame deFuriel, eine der berühmtesten Tribaden von Paris, durch den folgenden Brief:

„Madame, ich habe für Sie ein Königs- oder vielmehr ein Eäniginnenstück entdeckt — für diejenigen wenig­stens ist es das, die Ihren depravierten Geschmack haben — denn ich kann eine meinen Neigungen ganz entgegengesetzte Leidenschaft nicht anders beurteilen. Aber ich kenne Ihre Freigebigkeit, die mich veranlasst, meine Rigorosität etwas zurückzuhalten, und benach­richtige Sie, dass ich zu Ihren Diensten pulcherrimam clitoridem von Frankreich halte, eine Jungfrau von höchstens 15 Jahren. Probieren Sie dieselbe (essayez-la) und ich bin überzeugt, dass Sie mir nicht dankbar genug sein können. Andernfalls senden Sie mir die­selbe zurück, vorausgesetzt, dass Sie ihr nicht zu viel angethan haben. Es wird immer noch eine ausge­zeichnete Jungfrauenschaft für die besten Fein­schmecker sein.

Verbleibe in Hochachtung u. s. w.

Ihre G o u r d a n."

Das Geschäft kam zu Stande, und Sapho wurde für 100 Louisdors an die Furiel verkauft.

Es folgt nun eine Schilderung des üppigen Hauses der Madame de Furiel. Zuerst musste Sapho ein Bad nehmen, erhielt ein opulentes Souper und musste dann schlafen gehen. Am folgenden Morgen unter­suchte zunächst der Zahnarzt der Furiel Saphos Mund, brachte die Zähne in Ordnung, reinigte sie und gab ihr ein aromatisches Mundwasser. Dann erfolgte wieder ein Bad, sorgfältiges Beschneiden der Nägel an Händen und Füssen und, Entfernen der Hühneraugen und — überflüssigen Haare; Kämmen der Haare. Zwei junge Gartenmädchen reinigten ihr alle Körper­ öffnungen, aures, anum, vulvam, massierten voluptu- eusement alle Gelenke nach Art der „Germanen", um sie biegsamer zu machen. Darauf begose man sie mit wohlriechenden Essenzen in grossen Mengen, frisierte sie mit einem sehr lockeren Chignon, dessen Locken auf Schultern und Busen wallten und steckte ihr Blumen ins Haar. Ein Hemd ä la tribade, d. h. vorn und hinten offen (vom Gürtel an bis unten) und mit Bändern ge­ schmückt, ein Mieder um die Brust und ein „Intime" d. h. ein aus Mousselinstoffen bestehender Unterrock, der sich eng an den Körper anschmiegte, darüber eine rotseidene Polonaise bildeten ihre neue Kleidung. So wurde sie zu Madame d e F u r i e 1 geführt.

Madame d e F u r i e 1 empfing sie, auf einem Sopha j ruhend. Sie war eine Frau von 30 bis 32 Jahren, brünett ] mit sehr schwarzen Brauen, etwas beleibt und etwas j Männliches (hommasse) in ihrem ganzen Habitus dar- I bietend. Doch geberdete sie sich als die zärtliche „Mama", die nur „ein wenig Liebe" beanspruchte, zeigte ihr das Symbol der Tribadie, zwei mit einander schnäbelnde Tauben. Elle darde sa langue dans la bouche, bewunderte die mammas duras, marmoreas und fragte, ob man ihr schon einmal das Gesäss gegeisselt habe. Das könne Niemand so gut wie sie. Nates \ levissime flagellavit quod maximam dedit voluptatem filiae. Defigit illa postremum in cunnum oculus. „O clitoridem pulcherrimam magna voce clamat, qua Sappho ipsa non habuit pulchriorem. Eris mihi Sappho." Et per duas horas artifex filiae fuit Veneria novae.

. Nach zweistündiger Einweihung Sapho's in die

Mysterien der lesbischen Liebe, rief Madame de i F u r i e 1 zwei Kammerfrauen, von denen sie Beide ge­waschen und parfümiert wurden, tun sieh dann bei einem ; deliciösen Souper zu erholen, bei welchem die F u r i e 1 ! Sapho Aufklärungen über die Tribadie in Paris gab, ! die als „Secte Anandryne" organisiert im „Tempel der Vesta" ihre geheimen Feste feierte. Nicht jede Frau | erhielt Zutritt. Es gab Proben für die, welche den ' Eintritt wünschten. Besonders jene für verheiratete Frauen waren sehr streng und von zehn bestand die­selben nur eine. Man schloss die Betreffende in ein Boudoir ein, in dem sich eine Statue des Priapus „dans toute son energie" befand. Ausserdem erblickte man verschiedene Gruppen sich paarender Männer und 1 Frauen in den obscönsten Stellungen. Die Wandfresken , stellten dieselben Bilder dar. Zahlreiche Nachbildungen .! männlicher Glieder reizten die Sinne; Bücher und Bilder obscönen Inhalts lagen auf einem Tische. Am Fusse der Statue befand sich ein Feuer, das durch sehr leicht verbrennbare Stoffe unterhalten werden muaste, so dass die „postulante" immerwährend Acht darauf haben musste und genötigt war, von diesen Materialien ununter-j brochen etwas hineinzuwerfen; vergass sie dieses nur ' einige Minuten, indem sie beim Anschauen so vieler Gegenstände der männlichen Wollust ihrer Phantasie das kleinste Spiel einräumte, so erlosch das Feuer und gab den Beweis ihrer Zerstreuung und Schwäche. Diese Prüfungen dauerten drei Tage und an jedem Tage drei Stunden«

Nach dieser Erzählung versprach Madame de Furiel unserer Sapho schöne Kleider, Hüte, Dia­manten, Kleinodien, Theater, Promenaden, Unterricht im Lesen, Schreiben, Tanzen und Singen, wenn sie ihr treu die Liebe bewahren wolle und nie mit Männern verkehren werde. Dazu erklärte sich Sapho bereit.

Darauf begann am anderen Tag die grosse Meta­morphose. Wäscherinnen, Modistinnen, Toilettenver­käuferinnen kamen und versorgten. Sapho mit allem Comfort, worauf sie in die Oper geführt und von den übrigen Tribaden lebhaft bewundert wurde. Die Männer aber sagten in den Corridoren: „Die Furiel hat frisches Fleisch; wirklich ganz neues; welch ein Jammer, I

dass es in so schlechte Hände fällt/'


Am folgenden Tage geschah die Einführung der

Sapho in die Mvsterien der anandrynisehen Sekte mit

grosser Feierlichkeit und merkwürdigen Ceremonien. In

der Mitte des „Tempels der Vesta" befand sich ein Saal

von runder Form, der durch eine Glasdecke von oben

und von den Seiten Licht empfing. Eine kleine Statue

der Vesta befand sich im Saale. Die Göttin war dar-

gestellt, als ob sie, die Füsse auf einen Globus gestützt,

majestätisch in die Versammlung herabstiege, um ihr

zu präsidieren. Sie schwebte ganz in der Luft, ohne dass dies Wunder die Eingeweihten überraschte. Um dieses Heiligtum der Göttin zog sich ein schmaler Korridor, in dem 2 Tribaden während der Ver­sammlung auf und ab gingen und alle Zugänge be­wachten. Dem aus zwei Flügelthüren bestehenden Ein­gang gegenüber befand sich eine schwarze Marmortafel mit goldenen Versen, zu beiden Seiten Altäre mit dem vestalischen Feuer. Neben dem vornehmsten Altar stand die Büste der Sappho, der Schutzheiligen des Tempels, der ältesten und berühmtesten Tribade; neben

Die Aufnahme unserer Sapho gestaltete sieb folgendermassen: Alle Tribaden sassen auf ihren Plätzen, in ihren Festkleidern. Die „Mütter" trugen eine rote Levite mit blauem Gürtel, die Novizen eine weisse Levite und einen roten Gürtel, Jacke und Hemd, mit vorn offenen oder ganz empor geschlagenen Unterröcken. Als Sapho eintrat, erblickte sie zuerst das heilige Feuer, das auf einer goldenen Pfanne mit lebhafter und aro­matisch duftender Flamme brannte und durch Hinein-werfen gepulverter Substanzen fortwährend von zwei Tribaden unterhalten wurde. Sapho musste sich zu den Füssen der Präsidentin, Mademoiselle Baucourt, einer berühmten Schauspielerin der Comedie Franchise, niederlassen, und ihre „Mutter", Madame Furie! / sagte: „Schone Präsidentin und Ihr, liebe Gefährtinnen, j hier ist eine „postulante": Sie scheint alle verlangten i Eigenschaften zu haben. Sie hat niemals mit einem Manne verkehrt, ist wunderbar schön gebaut, und hat bei den „Versuchen", die ich mit ihr angestellt habe, viel Feuer und Eifer gezeigt. Ich bitte Euch, dass sie I unter dem Namen „Sapho" bei uns zugelassen werde." Nach dieser Eede mussten sich beide zusammen zurück- ! ziehen. Kurz darauf meldete eine der Wächterinnen j der Sapho, dass sie einstimmig zur Probe zugelassen I worden sei, und entkleidete sie vollständig, gab ihr ein j Paar weiche Pantoffeln, hüllte sie in einen lichten Mantel und führte sie in die Versammlung zurück. Hier ) wurde sie auf den von der Präsidentin verlassenen Sitz ' geführt, gänzlich entblösst und von allen anwesenden | Tribaden genau daraufhin untersucht,') wie viele von den auf der Marmortafel aufgezeichneten dreissig Beizen des Weibes sie besäsae. Hierbei las eine der ältesten Tribaden die folgende französische Uebersetzung eines alten lateinischen Gedichtes vor.

Que Celles pr&endant ä l'honneur d'etre belle,

De reproduire en soi le süperbe modale.

D'Helene qui jadis embrasa l'univers,

Etale en sa faveur trente charmea divers 1 Que la couvrant trois fois chacun par Intervalle Et le blanc et le noir et le rouge melfis Offrent autant de fois aux yeux 6merveill6s, D'une meme couleur la nuance inegale. Puisque neuf fois envers ee chef d'oeuvre d'amour Ca nature prodigue, avare tour ä tour,

Dans l'extreme oppos6, d'une main toujours süre De «es dimensions lui traee la mesure:

Trois petita riens encore, eile aura dans ses traits,

D'un ensemble divin les contrastes parfaits. Que ses cbeveux soient blonds, ses dents comme l'ivcire,

Que sa peau d'un lys pure surpasse la fralcheur, Tel que l'oeil, les aureus, mais de couleur plus noiro, Que son poil des entours releve la Manchem. Qu'elle ait l'ongle, la joue et 1a lfivre vermeille. La chevelure longue et la taille et la main, Ses dents, ses pieda soient courta ainsi quo son oreille. Elev6 soit son front, ßtendu soit son sein: Que la nymphe surtout aux fesses rebondies, PrSsente aux amateurs formes bien arrondies: Qu'ä la chute des reine, l'amant sans la Messer, Puisse de ses deux mains fortement l'enlacer, Que sa bouche mignonne et d'augare infaillible, Annonce du plaisir l'accös Stroit penible. Que l'anus, que la vulve et le ventre assortis, Soient doucement gonflßs et jamais applatis. Un petit nez platt fort, une tete petite. Un t6tin repoussant le baiser qu'il invite; Cheveux Ans, levre zoince, et doigts fort dfilicats Complettant ce beau tout qu'on ne rencontre pas.

Von diesen Beizen brauchte die zur Aufnahme be-stimmte aber nur etwas mehr als die Hälfte zu besitzen,, um aufgenommen zu werden, d. h. mindestens sechzehn. ; Jedes Tribadenpaar stimmte ab und sagte seine Meinung j der Präsidentin ins Ohr. Diese zählte und verkündete I das Resultat. Alle stimmten für die Aufnahme unserer | Novize. Dieser Beschluss wurde dann durch einen j „baiser ä la florentine" bekräftigt, worauf S a p h o als j Tribade gekleidet ward und vor der Präsidentin einen Eid ablegen musste, nie mit Männern zu verkehren und nie die Mysterien der Versammlung zu verraten. Hier- j auf wurde auf jede Hälfte eines goldenen Ringes von ! Madame F u r i e 1 und der Sapho ihr Name eingeritzt. ! Dann hielt die Präsidentin, Mademoiselle Raucourt eine A u f n a b in e r e d e deren Inhalt in Kürze an­gegeben werde.

„Femmes, recevez-moi dans vötre sein, je suis digne de vous". Diese Worte stehen in dem 2 ten „Lettre ! aus femmes" der Mlle. d'Eon. Dies© d'Eon ist das I Muster einer Tribade die überall dem männlichen Ge-j eohleehte Widerstand geleistet hat. Ihr Ausspruch kann j als Motto der Bede gelten.

Zunächst verbreitete sich dieRaucourt über den

Ursprung der „Secte anandryne". Schon Lykurg habe

zu Sparta eine Tribadenschule eingerichtet. Die

Nonnenklöster im modernen Europa, eine Emanation

des Collegiums der Vestalinnen, verkörperten

das beständige Priestertum der Triba-

die, wenn auch nur als ein schwaches Abbild der wahren lesbischen Liebe wegen des Gemisches von

„pratiques minutieuses et de formules pueriles."

Weiter wird nur allzu wahr ausgeführt, wie ein i junges Mädchen überall Gelegenheit findet, ihren wol-; lüstigen Kitzel zu befriedigen, viel eher als ein Mann. I „Elle les trouve dans presque tout ce qui l'environne, | dans les instrumenta de ses travaux, dans les utensiles j de sa ehambre, dans ceux de sa toilette, dans ses prome-| nades et jusque dans les comestibles." Dann helfe man sich gegenseitig und werde einander unent-j behrlich, und das neue Leben triumphiere über alle Eitelkeiten dieses Jahrhunderts. Die Busskleider verwandeln sich in Kleider der Lust. Die Tage der all­gemeinen Geisselung würden zu Orgien; denn die Flagellation sei ein mächtiges Beizmittel der Wollust. So wird man im Kloster Tribade.

Ueberallhin muss nun die Tribade den Kultus der Vesta bringen und eifrig Propaganda für denselben machen. Die Baucourt nennt jetzt die bekanntesten Tribaden: die Herzogin von TT r b s r e x, die Marquise de Terracenes, Madame de Furiel (die Be­schützerin unserer Sapho und Gemahlin des General-procurators); die Marquise de Techul (die sich als Kammerfrau, Coiffeuse, Köchin verkleidete, um ihre Zwecke bei den Gegenständen ihrer Liebe zu erreichen), Mademoiselle 01 a i r o n (berühmte Schauspielerin des Theätre Francai“), die Schauspielerin Arnould, die deutsche Tribade S o n c k (unterhalten von einem Bruder des preussischen Königs).

Als Novize wird Mlle Julie, eine junge Tribade, erwähnt, die von der Arnou 1 d und der Baucourt in die lesbische Liebeskunst eingeweiht wurde. Zum Schluss verherrlichte die Bednerin die Freuden der Tribadie. Der Genuss zwischen zwei verschiedenen Ge­schlechtern ist flüchtig, kurz und illusorisch. Nur der zwischen Frauen ist wahr, rein und dauerhaft und hinter-lässt keine Beue. Sind Defloration, Schwangerschaft und Geburt ein Genuss?

Die Tribadie gewährt nur reine, immer herrlicher werdende Freuden. Den Mann schwächen die Aus­schweifungen mit zunehmendem Alter. Bei der Tribade wächst die Nymphomanie mit dem Alter. Sie wird aus einer Succuba zu einer Incuba d. h. activ. Sie bildet I selbst neue Schülerinnen aus.


„Die Tribadie hinterlässt keine Reue und ist die

„sauve-garde" unserer jungen Mädchen und Witwen, sie

vermehrt unsere Reize, erhält sie länger, ist der Trost

unseres Alters, wenn kein Mann uns mehr will, eine

wirkliche Rose ohne Dornen durch das ganze Leben."

Nach dieser effektvollen Rede Hess man das heilige Feuer ausgehen und begab sich zum Bankett ins Vesti-i bül, wobei die „feinsten Weine", besonders griechische getrunken, heitere und sehr wollüstige Lieder gesungen ' wurden, meist aus den Werken der S a p p h o. Als alle berauscht waren und ihre Leidenschaft nicht mehr zügeln konnten, wurde das Feuer im Sanctuarium wieder angezündet, die Wächterinnen wurden wieder auf gestellt, und eine wilde Orgie nahm ihren Anfang. „Ce senat auguste, sagt ein berühmter Schriftsteller, est composö des Tribades les plus renommees, et c'est dans ces assemblees que se passent des horreurs que l'ecrivain le moina delicat ne peut citer sans rougir." Die Teil­nehmerinnen erröteten jedenfalls nicht, und den beiden Heldinnen, welche am längsten die „Liebesstürme" aus­gehalten hatten, winkte als Belohnung eine goldene Medaille mit dem Bilde der Vesta und den Bildern und Namen der beiden Heldinnen. Das waren an diesem Tage Madame de F u r i e 1 und Sapho.

Fräulein, Kaucourt, die Präsidentin dieser etwas sehr emanzipierten Versammlung, wusste das An­genehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Sie ver-liess den Marquis de Bievre, dessen Maitresse sie gewesen war, um fortan sich ganz ihrem tribadischen Leben zu widmen. Aber nicht ohne sich vorher eine Bente von 12 000 Livres zusichern zu lassen. Dieser Seigneur machte darüber einen Calembour, indem er seine ehemalige Freundin als „l'ingrate Amaranthe" (l'ingrat© ä ma rente) bezeichnete.

Eine französische Zeitschrift teilt den folgenden hochinteressanten sapphischen Brief der Eaucourt mit, der ebenfalls dazu beiträgt, die Mitteilungen des „Espion Anglais" als vollkommen glaubwürdig erschei­nen zu lassen:

„An Madame de Ponty, Schloss La Ohapelle-Saint-Mesmier, bei Orleans. Brüssel, 21. Messidor. Sonntag, 10. Juli.

Wie mein BTerz Dir dankt, meine Liebe, für Deinen schönen Brief vom für ten! Wie ich denselben nötig hatte, um mich von der Aufregung zu erholen, die mir Dein letzter verursacht hatte! Ich werde Dir niemals den Zustand schildern können, in den er mich versetzt hatte, die Gedanken“ die er in mir Hervorrief. Welch' seltsames Ding ist doch das menschliche Herz Ich würde verzweifeln, wenn Du Dich so sehr ver­gnügtest, das Du meine Abwesenheit gar nicht be­merktest, und doch, wenn Du mir sagst dass Du Dich langweilst, dass Du traurig bist, so würde ich mich so sehr darüber grämen und beunruhigen, dass ich alles verlassen und mich in die Eilpost werfen würde, um Dich wieder aufzusuchen. Ja meine Henriette, ich fühle mich dessen fähig; für mich ist das einzige un­mögliche Ding: ohne Deine Liebe zu leben. — Ich bin entzückt, dass das Badezimmer und Deine Boudoirs nach englischer Art Dir gefallen; sie sind von mir für Dich eingerichtet worden, und ich darf wohl hoffen, dass Du, wenn Du sie benutzest, an diejenige denken wirst, welche die Arbeiten leitete. Du hast mir nicht gesagt, ob Du mit den Blumenvasen zufrieden bist, unglücklicher Weise giebt es augenblicklich keine mehr. Lass Nelken auf dem Markte kaufen, es kön­nen gewöhnliche sein. Wir brauchen sie für die Bou­doirs. — Ich bin überrascht, dass Du Mm«. Dugazon nicht gesehen hast; sie sollte zwei Tage nach mir ab­reisen, wie mir Labuxiere sagte. Eiboutet hatte mir versprochen, dass seine Frau Dich bald besuchen würde. Aber ich wünsche, dass alle diese Zerstreu­ungen, für die ich gesorgt habe, Dir unbefriedigend erscheinen, und dass Du meiner inständigen Bitte nachkommst und mich besuchst. Ich versichere Dich, dass Du es nicht bereuen wirst. Von allen Ländern, die wir zusammen bereist haben, giebt es nicht eines, welches so vortreffliche Spaziergänge hat wie dieses; dies ist auch mein einziges "Vergnügen. Ich ermüde meinen Körper, um meine Gedanken zu zerstreuen, immer wenden sie sich trotzdem zu Dir; dann krampft sich mein Herz zusammen, und alle meine Freuden sind in der Vergangenheit und in der Zukunft. Ich habe indessen gestern grosse Abenteuer erlebt. loh habe Dir erzählt, dass Barras mich mehrere Male be­sucht hat; gestern hatte er mich zu Tische geladen. Ich war dort, ebenso Talma und seine Frau. Wir waren in guter Gesellschaft. Nach dem Essen fuhr er mit mir in einer Kalesche in der Force spazieren. In meinem Leben habe ich so etwas Schönes nicht ge­sehen. Wie ich Dich herbeiwünschte! Um 9 Uhr kehrte ich zurück und machte Toilette, um bei dem Praefekten zu soupiren, dessen Frau mich eingeladen hatte. Der Garten war illuminirt, es waren 60 Per­sonen dort, unter ihnen wenigstens 20 Frauen, alle vortrefflich gekleidet, und mehr als die Hälfte sehr

hübseh Oh, sage mir aufrichtig in Deiner

Antwort, ob Dich meine Briefe nicht langweilen. Es ist mein einziger Genuas, mich in Gedanken zu Dir zu versetzen Es ist mir als ob ich mit Dir spräche, wenn ich Dir schreibe, und wenn ich mir diese Illusion mache, habe ich täglich eine Stunde des Glückes. Gute Nacht, meine theure, vielgeliebte Henriette; denn ich schreibe Dir nächtlicher Weile. Ich komme gerade von einem Spaziergange mit Mlle Mars zurück, die von den Schönheiten dieses Landes entzückt ist. Bei jedem Schritt sagten wir alle Beide: Wenn Mme de Ponty hier wäre, würde sie das reizend finden. Du, immer Du, kann das anders sein, da Du ja mein ein­ziger Gedanke bist? Noch einmal eine gute Nacht der Gefährtin, welche sich mein Herz erwählt hat. Es ist so voll von ihr, dass ich hoffe, dass ein tröstender Traum mich an ihre Seite, in ihre Arme trägt. Hen­riette! noch vierzehn Tag! und heute ist erst der sechste meiner Enthaltsamkeit . . Es ist zum

Sterben." Auch einige witzige Verse über diese berühmteste Tri-bade haben sich erhalten: a)

Pour te föter, belle Baucourt, Que n'ai-je obtenu la puissance De changer vingt fois en vn jour Et de sexe et de jouissance! Qui, je voudrais, pour t'exprimer Jusqu'ä quel degr6 tu m'es chfere, Etre jeune homme pour t'aimer, Et jeune fille pour te plaire.

Wer war aber die Mlle. d'Eon, deren Büste im Tribadenheiligtum der „Secte Anandryne" aufgestellt war? Die Geschichte dieses Fräuleins d'Eon bildet eines der merkwürdigsten kulturgeschichtlichen Vor­kommnisse, dessen wir kurz gedenken wollen.

Der Chevalier d'Eon war ein talentvoller burgun-discher Landjunker, der sich in Paris zum Doktor der Kechte, Cen3or, litterarischen Dilettanten, vor Allem aber zum Liebling hochadliger Familien emporgearbeitet hatte. Er galt als findiger Kopf. Den entscheidenden Umschwung seines Geschickes führte aber seine eigen­tümliche, frauenhaft zarte Erschei­nung herbei. Als Ludwig XV. kurz vor dem Aus­bruch des siebenjährigen Krieges einen geheimen Agen ten Douglas nach Petersburg schickte, gesellte man diesem d'Eon bei, der — auf Wunsch Conti's oder des Königs Frauenträcht anlegte und in dieser Verkleidung wirklich bei Hof Eingang gewann, der Kaiserin eigenhändige Briefe Ludwigs XV. in die Hände spielte, das Wohlgefallen der Czarin erregte und sich so als geheimer diplomatischer Agent grosse Ver­dienste um sein Vaterland erwarb. Später, nach An­legung seiner Frauentraeht, machte er den siebenjähri­gen Krieg mit, ging dann wieder als geheimer Agent nach London, welche Rolle er jedoch als Mann durch­führte. Hier geriet er aber mit dem französischen Ge­sandten G-uerchy in Zwist. Es kam soweit, dass d'Eon drohte, alle in seinem Besitze befindlichen ge­heimen Papiere der englischen Regierung auszuliefern. Es gelang jedoch Ludwig XV. den Chevalier vorläufig durch eine Rente von 12 000 Livres zu beschwich­tigen, und damit dieser eich gegen seine Feinde schützen könne, riet der König ihm in einem unter dem 4. Oktober 1763 geschriebenen Briefe, dass er wieder Frauenkleider anlegen solle, was aber d'Eon noch nicht befolgte. Nach dem Tode des Königs wiederholte d'Eon seine Drohungen, als er Gefahr lief seine Rente zu verlieren. Nun taucht eine neue Person in dieser Komödie auf. Das war kein Geringerer als der Autor der „Hochzei des Figaro", Beaumarchais, der als Abgesandter König L u d w i g' s XVI. nach London ging, um d'Eon zur Auslieferung der Geheimpapiere zu bewegen. Schon scheint die Rückkehr d'E.ons gesichert, die Auslieferung der Papiere unmittelbar bevorzustehen, da erklärt der Sohn des ehemaligen französischen Ge­sandten Gu e x-ehy, dass er das Andenken des Vaters an dienern Wichiswurdigen rächen würde, wann und wo er es immer wagen sollte, sich in seinem Vaterlande zu zeigen.

Bei diesem precären Stand der Sache kam ein sinn­reicher Kopf — wahrscheinlich Beaumarchais selbst, — auf den Einfall, alle Schwierigkeiten in der Art zu heben, dass man d'Eonzu der öffentlichen Er­klärung vermöchte: er sei überhaupt kein Mann, sondern ein — Weib. Alle Weite­rungen wären damit auf einen Schlag beseitigt: alle Vergehen wider die Beamten-Disciplin, alle litterari­schen Anfeindungen Q-uerchy's würden dadurch als Unarten einer in ihrer Eitelkeit verletzten Frau ent­schuldbar und jede Forderung von Genugthuung als Narretei erscheinen. In den Friedens-Unterhandlungen Beaumarchais' war es mithin der erste und der entscheidende Punkt, d'Eon zu der unumwundenen, feierlichen Versicherung zu bestimmen, er sei seit jeher ein Weiblein gewesen, das nur durch wunderbare Schicksalsfügung sich alle Zeit als Mann im Leben um-gethan habe.)

So kam am 25. August 1775 der folgende seltsame Vertrag zu Stande, ein Unicum in der Weltgeschichte:

„Wir Endesgefertigte, Pierre Augustin Caron de Beaumarchais einerseits (mit besonderer Vollmacht des Königs von Frankreich ddo. 25. August 1775 beglaubigt, welche dem Chevalier d'Eon vor­gewiesen und abschriftlich dem gegenwärtigen Protokolle ange­schlossen wurde) und

Fräulein Charles Generiere Louise Auguste Andree Thimothee d'Eon de Beaumont, grossjährig, vormals Dragoner­hauptmann, Ritter des königlichen Ludwigsordens, Adjutant des Marschalls und des Grafen von Broglie, vordem Doctor des kano- nisehen und des bürgerlichen Rechtes, Advokat am Parlament von Paris, königlicher Censor für belletristische und historische Werke, mit dem Chevalier Douglas nach Hussland entsendet, um die Annäherung beider Höfe herbeizuführen, französischer Bot­schaftssekretär des bevollmächtigten Ministers am russischen Hofe, Marquis l'Höpital, Gesandtschaftssekretär des Herzogs von Niver-nais etc, andererseits — sind über folgende Vertrags-Bestimmungen einig geworden!

Art. I. Ich Caron de Beaumarchais fordere u. s. w. (Ueber-gabe der politischen Papiere.)

Art. IL Ich Caron de Beaumarchais fordere u. e. w. (Ueber-gabe der Correspondenz d'Eons.)

Art. III. Verpflichtet sich d'Eon, Guerchy's Andenken und Familie fortan in Frieden zu lassen.

Art. IV; Und damit eine unübersteigliche Schranke zwischen ' den Streitteilen aufgerichtet werde, fordere ich im Namen Sr. Majestät, dass die Verkleidung, welche bis zu diesem Tage die Person eines Mädchens fälsch- j lieh in Gestalt eines Chevalier d'Eon hat er-scheinen lassen, völlig aufhöre. Und ohne weiter ; Charles Genevifive Louise Auguste Andrfie Thimoth£e d'Eon de Baum ont einen Vorwurf aus dieser Veränderung ihres Standes ! und Geschlechtes zu machen, deren Schuld einzig und allein ihre Eltern trifft: ja, indem wir dem tapferen und kraftvollen Be- ! tragen volle Gerechtigkeit widerfahren lassen, das sie stets in der i Tracht ihrer Wahl (habits d'adoption) bewährt hat, verlange ich j unbedingt, dass zur Behebung aller Zweifel über ihr Geschlecht, welches bis heute unerschöpflichen Anlass zu Gerede, unziemlichen I Wetten und schlechten Spässen gegeben, die sich immerfort er- | neuern könnten, vor Allem in Frankreich: verlange ich also, dass j das Phantom eines Chevalier d'Eon völlig verschwinde und eine öffentliche unzweideutige Erklärung über das wahrhaftige Ge­schlecht von Charles Genevifive etc. d'Eon vor ihrer Ankunft in Frankreich und vor der Wiederaufnahme ihrer Mädchenkleider diese Frage für alle Welt endgiltig zur Entscheidung bringe. Fräulein d'Eon kann sich heute diesem Begehren um so weniger verschliessem), als sie durch dessen Erfüllung in den Augen beider Geschlechter, welche sie gleicherweise durch ihre Lebensführung, ihren Hut und ihre Talente geehrt hat, nur desto interessanter erscheinen wird. Unter diesen Bedingungen werde ich ihr urkund­lich freies Geleit zusichern, kraft dessen sie nach Frankreich gehen und daselbst unter dem besonderen Schutz Sr. Majestät verweilen kann; und nicht blos Schirm und Sicherheit wird ihr der König zu Teil werden lassen, er hat auch die Güte, die Jahrespension von 12 000 Livres, welche ihr der verstorbene Herrscher im Jahre 1766 bewilligt hat, in einen Leibrentenvertrag auf die gleiche Summe umzuwandeln."

d'Eon verpflichtete sich zur Annahme all dieser Bedingungen, erhob aber noch Anspruch auf allerlei grosse und kleine Vorteile und Ehrenrechte. So wünschte er auf den Frauenkleidern das Ludwigskreuz tragen zu dürfen. Weiter einen ansehnlichen Geldbetrag zur Anschaffung von — Mädchenwäsche und Frauenklei-dern.

Endlich war alles geordnet und der ehemalige Dra­gonerkapitän galt in ganz Frankreich — mit Ausnahme der Eingeweihten — als Mädchen.) Daher die Büste, welche ihm seine „Geschlechtsgenossinnen" im „Tem­pel der Vesta" errichteten. Casanova erklärt ge­radezu: „Der König wusste und hat es stets gewusst, dass er (d'Eon) eine Frau sei, und der ganze Streit, den dieser falsche Chevalier mit dem Bureau der auswärtigen Angelegenheiten hatte, war eine Posse, welche der König bis zu Ende spielen Hess, um sich da­durch zu unterhalten.

Louvet de Oouvray lässt seinen „Faublas" dieselbe Metamorphose vom Manne zum Weibe durch­machen. Nur dass dieser Ohevalier sich stets zur rech­ten Zeit und am rechten Orte als Mann, ja allzumännlich — enthüllt.

Dass zur Zeit der Revolution die Viragines, die Weiber mit männlichen Allüren, immer mehr hervor­traten, haben wir schon früher erwähnt. Sade hat mehrere solche Typen geschildert.

Wie die Tribadie im vorigen Jahrhundert beurteilt wurde, erhellt aus einer Bemerkung des Grafen von Tilly über die lesbische Freundin eines Mädchens, das er zu heiraten wünschte: „J'avoue, que c'est un genre de rivalite, qui ne me donne aucune humeur; au contraire, eela m'amuse et j'ai l'immoralite, d'en rire.“

18. Die Paederastie.

Der Marquis de Sade singt das Lied der Paede­rastie in allen Tonarten. Wohl der vollendetste und konsequenteste Paederast ist Dolmance in der „Philo­sophie dans le Boudoir". „Es giebt, sagt Dolmance, kei­nen Genuas in der Welt, der diesem vorzuziehen wäre. Je l'adore dans l'un et l'autre sexe. Mais le c . . d'un jeune garcon me donne encore plus de volupte que cetai dune fille." (Philosophie dans le Boudoir I. 99). Er i beschreibt ausführlich; die Freuden dieses Lasters und j betont vor allem, dass es die Schwängerung mit absoluter j Sicherheit verhindere (ib. I. 104). Obgleich Dolmancä sich mehr zum männlichen Geschlecht hingezogen fühlt, i verschmäht er gelegentlich nicht paedicationem mulieris, und übernimmt es gern, Eugenie mit diesem „Ver-I gnügen" bekannt zu machen. Dagegen ist Bressac, den I Justine im Verkehr mit seinem Lakaien überrascht (Justine I. 145) ein durchweg homosexuell veranlagter ; Jüngling, der einen angeborenen Hass gegen das weib-i liehe Geschlecht empfindet, welches er das „infame" nennt. Er ist, soweit wir uns erinnern, der einzige Typus mit hereditärer sexueller Inver­sion, den de Sa de gezeichnet hat. Alle übri­gen haben die sexuellen Perversitäten während des Lebens allmählig erwor­ben. Wir sind überzeugt, dass S a d e, der eich über all als ein genauer Kenner sexualpathologischer Persön­lichkeiten und Neigungen erweist, hier nach der "Wirk- lichkeit schildert. So ist es im Leben. Der Urning l durch Heredität ist die Ausnahme, der Urning durch ; Verführung, durch lasterhafte Entartung, last not least I durch Geisteskrankheit, ist die Eegel. — Bressac ent-; wickelt (Justine I. 162—164) die Theorie, dass der j Pathicus, der er ist, von Natur ein ganz anderer | Mensch sei als die übrigen Männer. Er erklärt diese Leidenschaft für angeboren, beruhend auf einer „con-struetion toute differente". Es wäre eine „stu-pidite", sie zu bestrafen! Dolmanee dagegen giebt eine Erklärung der Paederastie, die wohl für die meisten Urninge als Beweggrund zutreffen dürfte. „Ahl sacredieu, si son intention (de la nature) n'etait pas que nous f . . . . des culs, aurait-e 11 e aussi justement proportionne leur orifice ä nosmembres; eet orifice n'est-il pas rond comine eux, quel etre assez ennemi du bon sens peut imaginer qu'un trou ovale puisse avoir ete cree par la nature pour des membres r o n d s. Ses intentions se lisent dans cette difformite." (Ph. d. 1. B. I. 176). —

Selbst die Tribaden f röhnen bei S a d e der griechi­ schen Liebe, sei es mit künstlichen Instrumenten, sive auxilio clitoridis — Die Verbreitung dieses Lasters wird als eine sehr grosse geschildert. Die Duvergier erzählt, wie sehr gesucht und wie gut bezahlt jetzt die Paede- rastie werde. „Les cons ne valent plus rien, ma fille, on est en las, personne n'en reut (Jul. I. 234). Demge- mäss wird manchmal der „coniste" mit offenbarer Ver- j achtung gegenüber dem „bougre") behandelt. (Juliette / LLT, S4). „Venus hat mehr als einen Tempel auf j Cythera", sagt Juliette (LT, 18) und erzählt auch, dass \ „le cul est bien recherche en Italie (LLT, 290). /

Seit dem 16. Jahrhundert hatte die Paederastie , immer mehr Anhänger in Frankreich gefunden. \ Mirabeau versichert, dass während der Kegierung I Heinrich's III. „les hommes se provoquaient mu- j tuellement sous les portiques du Louvre", und dass unter \ Ludwig XIV. die Paederastie ihre bestimmten Gesetze und Organisationen hatte. Heinrich LLT. j war selbst homosexuell gewesen. Heinrich IV. i „trat zwar wieder sehr dagegen auf, konnte es aber nicht hindern, dass später unter Ludwig XILT. der j homosexuelle Geschlechtsverkehr, den man auf Italien i glaubte zurückführen zu müssen, wieder am Hofe aus geübt wurde. Philipp von Orleans, Bruder Ludwigs XIV., wurde homosexuell, und es ist be­kannt, in wie unglücklicher Ehe durch Philipp's Vorliebe für Männer seine Frau, die deutsche Fürsten­tochter Elisabeth Charlotte von der Pfalz, oft „Lieselotte" genannt, mit ihm lebte. Was Ludwig XIV. anbetrifft, so wird berichtet, dass verderbte Männer, die in seiner Umgebung vor seiner Grossjährig-keit lebten, versuchten, seinen Trieb umzuwandeln, um ihn ohne Vermittelung einer Maitresse beherrschen zu können. Der junge König soll allerdings bald eine Ab­neigung gegen jene Männer gefasst haben, die in dieser Weise ihn zu beeinflussen suchten. Der Kammerdiener des Königs, PierredelaPorte, berichtet in seinen Memoiren sogar von einem Fall, wo der Kardinal M a -< zarin im Jahre 1652 nach einem Diner, das der da-'( mala 15jährige König bei ihm einnahm, mit ihm ge-] schlechtlieh verkehrt habe. Doch ist die Sache nicht | aufgeklärt und wird wohl auch niemals ganz aufgeklärt l werden."

In einem alten Werke „La France Galante" (1695),

welches den zweiten Teil der „Histoire amoureuse des

Gaules" des Grafen von Bussy-Rabutin bildet,

befindet sich ein Kapitel „La France devenue italienne",

in dem über einen Paederasten-Olub berichtet wird, den

| der Herzog von Grammont, der Malteserritter de

I Tilladet,Manicamp, der Marquis de Biran

f als „Grosspriore" begründet hatten. Alle Mitglieder

wurden untersucht „pour voir si toutes les parties de

leurs corps ötaient saines, afin qu'ils pussent supporter

les austeritSs". Enthaltsamkeit vom Weibe war streng vorgeschrieben. Jedes Mitglied musste sich den „rigu-eurs du Noviciat, qui durerait jusques ä ce que la barbe fut venue au menton" unterwerfen. Wenn einer der „Brüder" sich verheiratete, musste er die Erklärung abgeben, dass dies wegen der Regelung seiner Ver-mögensverhältnisse geschehe, oder weil ihn seine Eltern dazu gezwungen hätten oder weil er einen Erben hinter­lassen müsse. Zugleich musste er schwören, niemals seine Frau zu lieben, und nur so lange bei ihr zu schla­fen, bi3 er einen Sohn bekäme. Er bedurfte für dieses Beisammensein noch einer besonderen Erlaubnis, die ihm nur einmal wöchentlich gewährt wurde. Man teilte die Brüder in vier Klassen, damit jeder Grossprior einen wie den anderen besitzen konnte. Diejenigen, welche in den Orden eintreten wollten, wurden nach der Reihe von den vier Grossprioren erprobt. Strenges Stillschwei­gen über die Vorgänge in diesem Paederastenklub war geboten, nur diejenigen, die der Neigung zur griechi­schen Liebe verdächtig waren, durften mit Vorsieht ein­geweiht werden. Die paederastischen Orgien fanden in einem Landhause statt. Die Teilnehmer trugen bei denselben zwischen Rock und Hemd ein Kreuz, auf welchem in Relief ein Mann dargestellt war, der eine Frau mit Füssen trat! Der Klub bestand nicht lange, da ein königlicher Prinz sich ihm anschloss, und der König ihn auflöste, wobei der Prinz an dem Teil ge­züchtigt ward, durch den er gesündigt hatte.

"Wenn Bouchard von den Pagen des Herzoge von Orleans berichtet, dass dieser „cour etait extrement impie et debauchee, sur toutpour lesgarcons. M. d'Orleans defendait ä ses pages de se besonger ni brarder la pique; leur donfiant au reste conge de voir les femmes taut qu'ils voudraient, et quelquef ois venant de nuit heurter ä la parte de leur chambre, avec cinq ou six garces, qu'ils enfermaient avee euxune heure ä deux", ßo sind "wir geneigt, diese homosexuellen Neigungen der Knaben weniger auf ein noch „undifferenziertes Geschlechtsgefühl" zurückzuführen, wie Havelock £ 11 i e und S y m o n d ß annehmen, als auf das ihnen am Hofe dieses Herzogs von Orleans gegebene Bei­spiel und auf direkte Verführung. Und wenn Elisa­beth Charlotte von der Pfalz über eben diesen Herzog von Orleans schreibt: „Monsieur denkt an nichts, als was seiner Buben Bestes ist, fragt sonst nach nichts; das Bedientenpack ist überall Herr und Mei-i ster",) so möchten wir B o u c h a r d' s obige Angaben einigermassen bezweifeln.

{ Jedenfalls rettete sich der Oultus der Paederastie

am französischen Hofe auch ins 18. Jahrhundert hin-

über. Es wäre ein Wunder gewesen, wenn Ludwig

XV., dieser geile Lüstling, nicht auch an der Paedi-

catio und anderen homosexuellen Praktiken Gefallen

gefunden hätte. So wird berichtet, dass er amico clunes

nudatas monstravit, quas tamquam deae jussit hominem

genubus flexis deosculando adorare.) Allerdings wur-

den noch 1750 zwei Paederasten in Paris lebendig verbrannt.)

Die Bevolutionszeit brachte auch.dieses Laster zur höchsten Blüte. Der auf die Paederastie sich beziehen­den Abbildungen haben wir schon oben gedacht. Aus dem Jahre 1798 berichtet Dupin, der Regierungs-commissar des Seinedepartements: „Seit einiger Zeit verbreitet sich eine noch schändlichere Art von Unzucht. Die Berichte von Polizeiagenten über die Paederastie häufen sich in schreckenerregen­der Weise. — Die Sodomiterei und die sapphische Liebe treten mit derselben Frechheit auf, wie die Prostitution und machen beklagenswerte Fortschritte."

In seiner im Jahre 1789 erschienenen Schrift „Dom B. . . aux Etats-generaux, ou doleances du portier des Chartreux" sagt RetifdelaBretonnein der Vor­rede, dass „die Paederastie die Bestialität und andere Formen der Unzucht schon seit fünf oder sechs Gene­rationen Frankreich erniedrigen".)

R e t i f sieht in der alluzgrossen Aehnlichkeit der männlichen und weiblichen Kleidung bei den Griechen , und Römern die Ursache für die grosse Verbreitung ! homosexueller Neigungen. Er fordert deshalb, dass auch jetzt noch die Kleidung der Geschlechter möglichst diffe­renziert werde.)

Auffällig ist allerdings) dass im vorigen Jahrhun- dert die Zeit der grössten Ausbreitung der sokratischen Liebe mit dem Auftreten der Moden ä la grecque zusam­menfiel, wodurch offenbar ein Beweis für den starken Einfluss der Mode auf diese Verhältnisse geliefert wird.

19. Flagellation und Aderlass.

Die Flagellation, dieses mächtige Hilfsmittel dei-Wollust, hat der Marquis d e S a d e ausgiebig in seinen Werken verwendet. Wir erwähnen nur die grossen Flagellationsszenen in der „Justine" und „Juliette" (Justine III, 129; Juliette II, 138—150 zwi­schen Frauen; Juliette V, 335). Juliette besuchte im Auftrage der Duvergier mit drei jungen Modistinnen den Herzog Dendemar in St. Maur, dessen sexuelle Monomanie darin besteht, junge Mädchen (und zwar selten Prostituierte) bis aufs Blut zu geissein, wofür der-| selbe seinen Opfern grosse Summen bezahlte. (Juliette i I, 344 ff).

i Der Marquis de S a d e hat auch auf diesem Gebiete

\ litterarische Studien gemacht. Er verweist auf die zu

| seiner Zeit bedeutendsten Schriften über den Flagel-

I lantismus von Meibom und B p i 1 e a u (Juliette V,

\ 169). Diese Studien haben ihn belehrt, dass zu allen

I Zeiten die Männer es gewesen sind, welche bei der

I Flagellation die aktive Holle übernahmen. Er wundert

J sich deshalb, dass bei der natürlichen Grausamkeit des

j Weibes dieses der aktiven Geisselung so wenig Ge-

i schmack abgewonnen habe (?)), und er lässt durch den

I Mund des Dolmance die Hoffnung aussprechen, dass die

i Frauen auch dieser Spezialität bis zu dem „point oü je

le desire" ausbilden möchten (Phil, dans le Boud. I. 157).

Interessante Einzelheiten über die Flagellation im

18. Jahrhundert teilt Cooper mit. Voltaire erwähnt die Eute oft in seinen Schriften, namentlich, wenn er die Jesuiten dainit lächerlich machen kann. Auch in den Memoiren jener Zeit "wird die Eutenstrafe häufig erwähnt.

Die Schläge wurden schon an ganz kleine Kinder ausgeteilt, da die Bonnen behaupteten, dass dadurch Muskulatur und Haut „gestärkt" würden. In allen französischen Klosterschulen war die Eutenstrafe für junge Mädchen etwas gebräuchliches, wie dies ja auch natürlich ist bei dem Flagellantismus, der unter den Nonnen herrschte. „Die heiligen Schwestern straften mit Entzücken ihre Schülerinnen auf dieselbe Weise, wie die heiligen Väter ihre Beichtkinder zu absolvieren pflegten."

Während der Schreckenszeit lauerten die Trico-teusen den Nonnen auf, um sie schimpflich auszupeit­schen. Bekannt ist der tragische Fall der Theroigne de Mericourt, die auf der Terrasse „Des Eeuil-lants" öffentlich von einer Bande von Weibern ausge­peitscht wurde und darüber den Verstand verlor. Auch nach dem Sturze Eobespierre's wurden von den Anti-Terroristen junge Mädchen auf der Strasse ent-blösst und gegeisselt.

Es soll sogar kurz vor der Schreckensherrschaft ein „R u t e n k 1 u b" bestanden haben, dessen weibliehe Mitglieder sich „gegenseitig mit entzückender Eleganz die Eute gaben." Viele vornehme Damen gehörten zu diesem Klub, über dessen sexuelle Tendenzen wohl kein Zweifel bestehen kann.

lieber Jean Jacques Rousseau's Vorliebe für diese Art geschlechtlicher Erregung ist schon so viel geschrieben worden, dass wir darauf verzichten, die Ge­schichte seiner Züchtigung durch Mademoiselle Lam­ber cier nochmals ausführlich darzustellen und auf E. v. Kr af f t-E bin g verweisenx). Die französische : Litteratur des letzten Jahrhunderts ist nach Cooper i reich an Geschichten von Prügelstrafen, die namentlich bei dem schonen Geschlecht grossen Anklang fanden. TJeber einige causes celebres dieser Art berichtet eben­falls Oooper.

En g 1 a n d ist bekanntlich heute das klassische Land des sexuellen Flagellantismus, und seine berühm-j teste Geisslerin war TheresaBerkleyin London, i Oharlotte-Street 28, welche in den zwanziger Jahren j dieses Jahrhunderts sich grossen Ruhm und ein Ver-I mögen durch ihre Kunst erwarb. Sie besass zahllose rutenartige Instrumente mit allen möglichen Reizvor­richtungen zur Erregung und Erhöhung der Wollust. „Thus, at her shop, whoever went with plenty of money, \ could be birched, whipped, fustigated, scourged, needle-1 pricked, half-hung, holly-fbrushed, furse-brushed, but-j cher-brushed, stinging-nettled, curry-combed, phleboto-! mized and tortured tili he had a belly füll." Auch hielt | sie für die Ausübung der aktiven Flagellation Dirnen, | u. a. eine Negerin und eine Zigeunerin. Sie erfand eine f Maschine, auf der die Männer festgebunden wurden und f die eine sehr sinnreich-wollüstige Einrichtung hatte. j „There is a print in Mrs. Berkley's memoire, represen-ting a man upon it quite naked. A woman is sitting in a chair exactly under it, with her bosom, belly and bush exposed: she ismanualizing his embolon, whilst Mrs. Berkley is birching his posteriore. The female acting as frictrix, was intended f or Fisher, a fine, tall, dark haired girl, all must remember who visited Charlotte Street at that day, as well as the good humou-red blonde, Willis; the plump, tight, frisky and merry arsed Thurlow. Grenville with the enormous bubbies; Bentinc, with breadth of hip and splendour of buttock; Olive, the gipsy, whose brown skin, wicked black eye, and medicean form would melt an anchorite; the mild and amiable Palmer with luxuriant and well fledged wount, from whose tufted honora many a noble lord has fitolen a sprig; and Pryce, the pleasing and complai-sant, who, if birch was a question, could both give and take." Die Berkley starb im September 1836, nachdem sie von 1828 bis 1836 über 10 000 Pfund Ster­ling erworben hatte, Ihre Korrespondenz, die Dr. V a n c e, ihr Testamentsvollstrecker aufbewahrte, ent­hielt Briefe von Personen beiderlei Geschlechts aus den höchsten Kreisen und wurde vernichtet.

Wir geben diesen kleinen Exeurs, weil wir das In­stitut der Frau Berkley in den neueren Werken über Flagellantismus und auch sonst nicht erwähnt fanden, und dieses Curiosum um so eher für Forscher auf diesem Gebiete von Interesse sein wird, als auch in den Koma-nen des Harquis d e S a d e ganz ähnlicheMaschi-nen vorkommen, auf denen die Opfer festgebunden werden. Wir bemerken gleich an dieser Stelle, dass wir auf die höchst interessante Geschichte des englischen Flagellantismus ausführlicher in demjenigen der fol­genden Bände zurückkommen, in welchem wir das Ge­schlechtsleben in England, vorzüglich in London untersuchen, das manche aus dem englischen Wesen sich ergebenden Eigentümlichkeiten darbietet. Anhangsweise sei noch einer Rolle gedacht, welche der Aderlaes bei S a d e spielt. Im dritten Bande der „Justine" (S. 223 ff) tritt ein Graf Gernande auf, der sich nur dadurch sexuelle Befriedigung verschaffen kann, dass er die Frauen zur Ader lässt, nachdem er

dieselben hat reichlich essen lassen. S a d e verfehlt nicht, solche Szenen darzustellen. Besonders schauerlich ist die, bei welcher der Graf seine eigene Frau venae-seciert und sich an der Bewusstlosen geschlechtlich befriedigt. (Justine III, 253).

Der Aderlass war ja im 18. Jahrhundert eine auch

von Laien ausgeführte Operation. Brissaud erzählt,

das3 in den Klöstern die Hegel des Aderlasses in gewissen Perioden bestand. Bei den Karthäusern z. B.

fünfmal, bei den Praemonstratensern einmal jährlich.

Die Feste Sanct Valentin und St. Mathias wurden durch

besonderes Blutvergiessen gefeiert:

Seigneur du jour Saint Valentin Fait le Bang net soir et statin Et la saignee du jour devant Garde des fievres en tout Tan.

K a u 1 i n pflegte die so häufige Hysterie der Frauen durch Aderlässe zu heilen,) ganz wie man nach dem Vorschlage von D y e s u. A. in unseren Tagen die Chlorose1 durch Venaesectionen zu bessern glaubt. Viel­leicht kehren, auch für uns die blutsaugerischen Zei­ten eines Broussais und Bouillaud mit ihren „saignees coup sur coup" wieder. Dann können wir auch wieder „sexuelle Venaesectionen" erleben. BrierredeBoismont berichtet übeir einen Mann, der seiner Geliebten an den Genitalien und dem After Blutegel ansetzen oder einen Aderlass machen Hess, wo­bei er sich m den gemeinsten Schimpf reden erging. So­bald er Blut sah, steigerte sich seine sexuelle Erregung aufs höchste, und er befriedigte dieselbe an dieser Per­son.

Wir zweifeln nicht daran, dass dieser Mensch die „Justine" gelesen und einfach die Handlungen des Gra­fen Gernande nachgeahmt hat. Später werden wir t noch mehrere solche Beispiele offenbarer Nachahmungen einzelner Vorkommnisse in S a d e' s Romanen bringen.

20. Aphrodisiaca, Kosmetica, Abortiv- und Geheimmittel im 18. Jahrhundert.

Den „Sexualmitteln" (im weitesten Sinne) widme! Sade in seinen Werken eine besondere Aufmerksamkeit. Gerade hier lässt sich wieder recht deutlich machen, wie sehr er nach Vorbildern gearbeitet hat, und wie dadurch seinen Schilderungen ein eigentümlicher sittengeschichtlicher Wert zukommt.

Es ist kein Wunder, dass die durch häufige und unnatürliche Ausschweifungen entnervten Wüstlinge bei j Sade künstlicher Anregung und sexueller Stimulantien in hohem Masse bedürfen. So ist denn auch kein Mangel an den verschiedensten Aphrodisiaca zur Belebung der entschwundenen Kräfte dieser ausgemer­gelten Individuen. Die Delmonse reibt dem impotenten Grosskaufmann Dubourg die Hoden mit einer Flüssig­keit ein. Darauf muss dieser Unglückselige noch eine Bouillon „compose d'aromates et d'epins" einnehmen. (Justine I, 62) Cornaro lässt sich die Testes mit Brannt­wein einreiben (Juliette VI, 223). Die Durand reibt nicht die Hoden, sondern das Glied selbst mit einer „anregenden" Flüssigkeit ein. Im fünften Bande der Juliette (Seite 330) werden „stimulierende Flüssig­keiten mit Jasmingeruch" auf die Teilnehmer der Orgie gespritzt. — Neben diesen äusserlichen Aphrodisiaca kennt S a d e auch innerliche. Juliette gebraucht als solche Wein und Liqueure, Opium und andere „Aphro­disiaca, die in Italien öffentlich verkauft werden." (Juliette IV. 104). Die Durand betreibt einen Handel mit Aphrodisiacis und Antiaphrodisiacis (Juliette HI, 229).

Wir haben schon oben (S. 127 ff) mitgeteilt, dass das Bordell der Madame Gou.rd.an reichlich mit sexuellen Stimulantien versehen war. Dort wurden auch die „Pastilles ä la Richelieu" erwähnt. Da dieselben gerade in Beziehung auf den Marquis de Sade von Wichtigkeit sind und ihr Hauptbestandteil, die Oan-thariden nach Binz eine „berüchtigte Rolle im Prankreich des vorigen Jahrhunderts spielten"l), so mag vielleicht ein Wort über diese cantharidenhaltigen Beizmittel hier am Platze sein. Die schon von D i o s -corides (Materia medica Lib. EL Cap. 65) erwähn­ten Canthariden gelten seit langer Zeit als ein sexuelles Stimulans. Soll doch schon der römische Dichter Eu­ere ti u s infolge des Genusses eines cantharidenhaltigen Aphrodisiacums gestorben sein. AmbroiseParS berichtet über mehrere derartige Todesfälle. Zu / Pare'a Zeit war der Gebrauch der Pastillen oder ' Bonbons in Frankreich Mode geworden. Die Heimat i dieser aphrodisisch wirkenden Bonbons war Italien, von j wo besonders Catharina von Medici dieselben j in Frankreich einführte. Am Hofe Heinrich's EU. j und K a r 1' s IX., fanden dieselben reichliche Verwen- i düng. Im 18. Jahrhundert war es besonders der Herzog I von Richelieu, der von diesen so unschuldig aus- | sehenden Bonbons bei seinen Liebesabenteuern aus- j giebigen Gebrauch machte. Seine Propaganda für die nach ihm benannten Pastillen hatte zur Folge, dass dieselben in den letzten Regierungsjahren L u d w i g' s XV. Mode wurden. Gerade in diese Zeit fällt die Affäre des Marquis de Sade in Marseille, bei der diese Bonbons eine fatale Bolle spielten. Auch die „Tablettes secretes de Magnanimite" der Madame Du Barry, das „Poudre de joie", die „Seraglio-pastillen" waren höchst wahrscheinlich canthariden-haltig.

Die Canthariden sind ein gefährliches Mittel, da sie sehr leicht Entzündung der Niere, der Blase und der Harnröhre hervorrufen. Die durch sie erzeugten Erec-tionen kommen durch die entzündliche Reizung der Harnröhren- und Harnblasenschleimhaut auf reflec-torisehem Wege zu Stande. Eine Steigerung der Sexu­alität kann höchstens im Anfange der Wirkung beob­achtet werden.

Die Kosmetik erfreute sich ebenfalls im vori­gen Jahrhundert einer besonderen Pflege. Auf diesem Gebiete gelangte der Charlatanismus zur höchsten Blüte. Und es waren oft wunderliche Blüten. So erhielt im Jahre 1769 eine Gesellschaft das Privilegium, an bei­den Seiten des Pont-Neuf Vermietungsstände für Son­nenschirme zu errichten, damit die für den zarten Teint ihrer Haut besorgten Personen sich gegen die Sonnenstrahlen durch diese Schirme schützend, die Brücke überschreiten könnten8) Die Schönheitsmittel wurden so wahllos und in solchen Mengen angewendet, dass Casanova gewiss Recht hatte, wenn er — der von Zeit zu Zeit gern den Charlatan spielte — der Her­zogin von Chartres, die an Acne des Gesichtes litt,. die Anwendung kosmetischer Mittel verbot. Er ver­schrieb ihr milde Abführmittel — was gewiss sehr zweckmässig war — und die Waschung mit Wegebreit-wasserx), welches im vorigen Jahrhundert bei Haut-entzüundungen vielfache Verwendung fand.

Als Enthaarungsmittel erwähnt der Mar­ quis de Sade das Bnsma, das „depilatoire turc, connue sous le nom de rusma", das er in einer Anmerkung als „pierre minerale, atramentaire" bezeichnet und aus Galatien stammen lässt. (Justine HI, 120.) Das Rusma ist ein altes und sehr beliebtes orientalisches Enthaa- rungsmitel. Die „Pasta depilatöria" oder „Busma Tur- corum" (oder „Nurek Persarum") wird hergestellt aus 2 Teilen Auripigment, 15 Teilen Galcaria viva und 2% Teilen Weizenmehl. Das ist die Vorschrift von J. J. Plenck, einem berühmten Dermatologen des 18. Jahrhunderts. Zu bemerken ist noch an dieser Stelle das grosse Interesse, welches der Marquis d e S a d e allen Gegenständen der Medicin und Anthropologie entgegenbringt. Er suchte sich darüber in allen ihm zugänglichen wissenschaftlichen Werken seiner Zeit zu unterrichten. Später werden wir noch erwähnen, dass seine Frau ihn während seines Aufenthaltes im Gefängnis stets mit Büchern versorgen musste. Dieser Gefängnisaufenthalt war wohl erst die Veranlassung, dass Sa d e sich über die mannigfaltigsten Dinge zu belehren suchte.

Eine merkwürdige Eigentümlichkeit des 18. Jahrhunderts waren die sogenannten falschen Jungfrauschaften, deren grosse Häufigkeit aüsdrück lieh hervorgehoben wird. Man suchte durch adstrin-gierende Mittel die Beste des Jungfernhäutchens künst­lich wieder zusammenzubringen, überhaupt den Introi-tus vaginae zu verengern. Dieses Bestreben blickt ge­rade in Frankreich auf eine lange Geschichte zurück. In dem 13. Kapitel der Chirurgie des am Ende des 13. und Anfang des 14. Jahrhunderts lebenden französischen Arztes Heinrich de Mondeville, dessen für : die Kulturgeschichte Frankreichs eine reiche Ausbeute liefernden Schriften von J. P a g e 1 im Urtext zum ersten Male herausgegeben wurden, findet sich folgende Anweisung zur Vortäuschung der Jungfrauschaft: „Die Geschlechtsteile bedürfen einer doppelten Pflege: innen und aussen. Die innere Pflege haben Huren nötig, die in ihrem Geschäfte erprobt sind (antiquae), von ihnen insonderheit die, welche naturgemäss eine weite oder infolge des häufigen Coitus schlüpfrige und weiche Vulva haben, um denen, die mit ihnen zusammenliegen, als Jungfern oder doch wenigstens nicht als öff entliche Dirnenzuerscheinen. Zu dieser Pflege nehmen auch j Mädchen, die nicht verheiratet, aber unseliger­weise defloriert sind, ihre Zuflucht, um als un­verfälschte Jungfern dazustehen, wenn es da­zu kommt, sich mit dem von ihnen Erangelten im Ehe­bette zu vereinigen. Ihren Zweck suchen sie auf fol-f gende Weise zu erreichen. Zu Pulver gestossenes Glas bringen sie in dem Augenblicke, wo es zu dem Coitus gehen soll, in die Vulva; die Folge davon ist, dass sie selbst und die Rute dessen, der mit ihnen Je:\ Coitus vollzieht, beblutet erscheint. Sonst bringe man ü“ die Scheide Drachenblut und lege darüber Werg und Char-pie, beides befeuchtet mit Regenwasser, in dem a d -stringirende Pflanzen, wie Kosen, Anthera, Sumach Blutwegerich und dergl. abgekocht sind, oder man setze Blutegel an. Dabei aber sei man vorsichtig, dass sie nicht hineinschlüpfen. Sind diese entfernt, entstehen Schorfe an den Seitenwänden der Vulva. Diese reissen beim Coitus auf. Es fliesst Blut und man besudelt sich damit. Auch nehme man ein Stück Schwamm, benetze es mit beliebigem Blut oder fülle eine Fischblase mit Blut, bringe sie hinein und wasche noch die Vulva aussen mit dem Safte von der grossen Schwarzwurz" ). Derartige Praktiken waren im 18. Jahrhundert wieder an der Tagesordnung. Wir haben oben über das „Jungfrauenwasser" der Madame Gour-d a n berichtet. Auch S a d e kennt verschiedene Mittel zur Wiederherstellung der pucelage. Delbene rühmt ihre „pommade", mit der sie die eben deflorierte Laurette wieder reparieren will (Juliette I. 17 und giebt der demselben Schicksal verfallenen Juliette eine „Myrthenextraktpomade", mit der dieselbe sich 9 Tage lang einreiben soll, um am zehnten wieder eine Jungfrau zu sein (Juliette I. 179). Auch die Duvergier be­nutzt eine ähnliche Jungfrauensalbe. (Juliette I, 187).)

Ueberhaupt war diese ganze Zeit, ein volles Saeculum, die „goldene Zeit für alle Toilettenkünste und es ist merkwürdig, dass die Schminke und alle hierher ge hörigen Utensilien herrschen konnten, obwohl gerade damals die Frische des Teints, der „Teint de couvent" so ausserordentlich geschätzt und begehrt war" ). Es gab damals Hunderte von Pasten, von Essenzen, von Schönheitswässern und Schönheitspflästerchen. Beson­ders wichtig waren die Schminken, vor allem das Rot, „Le grand point est d'avoir un rouge, qui dise quel-que chose." Für den Wert, den die Frauen auf das Schminken legten, zeugt folgende von Mercier erzählte Anekdote aus der Schreckenszeit.

(Die Marquise klingelt)

Marton Gnädige Frau —

Marquise Marton ich stehe auf —

Marton Hier bin ich, gnädige Frau —

Marquise Mein Band, was giebt's INeues?

Marton Gnädige Frau, man spricht von einem Auf­stand der diesen Morgen losbrechen soll —

Marquise Warum nicht gar?

Marton Man spricht von Plünderung, von Zerstörung, von Weiberraufo, ja sogar —

Marquise Weiberraub ja sogar— ei, Kind, du scherzest — Himmel, wenn man — Marton Ach! ich habe überall gehört, dass die Unge­heuer die Frauen töten werden, und man sagt, dass diejenigen, die ihnen gefallen,, als unglückliche Opfer ihrer Lüste —

Marquise (sehr lebthaft). Ich zittre — Marton — kleide mich doch an — Marton — meinRot! geschwind mein Bot! Himmel! wie ich aussehe — bleich — niedergeschlagen — ich sehe scheusslich aus — sie werden mich töten! ...." —

Die Männer trieben die gleichen Toilettenkunst­stücke, schminkten sich ebenfalls, vergossen „künstliche Thronen" und enthaarten auf Verlangen der Geliebten den ganzen Körper. „C'est ainsi que M. le duc d'Orleans au temoignage de M. d. Valencay qui lui donna le chemise, se presenta dans le lit de Mme. de Montesson". Eine grosse Errungenschaft des 18. Jahrhunderts auf kosmetischem Grebiete war das Bad. Die Bade­einrichtungen bildeten in der zweiten Hälfte des Jahr­hunderts einen mit grossem Luxus ausgestatteten Be­standteil vornehmer Häuser und wurden hauptsächlich zu kosmetischen Bädern benutzt. Die Heldinnen S a d e' s steigen ebenfalls nach vollbrachtem Tages­oder Nachtwerk ins Bad.

Die Schriften des Marquis de S ade gewähren uns ein erschreckendes Bild von der Häufigkeit der auch einen gewissen Zusammenhang mit der Kosmetik aufweisenden Abortiv- und Praeventivmit-tel im 18. Jahrhunderte. Jene Zeit brachte die Ver hältnke hervor, welche zu der gegenwärtigen Abnahme der Bevölkerungsziffer in Frankreich geführt haben. Aus G-alliot's Statistik, die mit dem Jahre 1789 be­ginnt, kann man die grosse Ausdehnung der Fruchtabtreibung in Frankreich entnehmen. Er schliesst seine Resultate mit den "Worten: „On se plaint de tous cotes, en France, de la decroissanee de la population. On a fait recemment de nombreuses lois pour proteger l'enfant; nous venons ä notre tour demander une protection pour le foetus." ) Das vorige Jahrhundert kannte denn auch bereits alle Mittel, welche noch heute angewendet werden, um die Conception zu verhindern oder die Abtreibung der Frucht zu bewirken. Höchst charakteristisch ist jene Stelle in der „Philosophie dans le Bou-l doir", wo Madame de St.-Ange auf eine Frage Eugenien3 ; die anticonceptionellen Mittel aufzählt (Philosophie dans le Boudoir I, 99) und neben „eponges", die sich die I Frauen in die Vagina einführen und „Condomes", deren sich die Männer bedienen, als ein vorzügliches Mittel auch die Paedicatio empfiehlt, die am besten den maltfousia-nischen Ideen des Jahrhunderts entspreche. Ist aber das „Unglück" geschehen, so wissen die Helden und f Heldinnen S a d e' s Mittel und Wege, um die Frucht f im Mutterleibe zu töten. S a d e erwähnt die Sabina als ein vortreffliches Abortivum. (Juliette HI, 204). I Aber ein noch sicheres und gefahrloseres Mittel als j Sabina, das zudem „den Magen nicht angreift" ist das­jenige, welches die von ihrem Vater schwangere Juliette | anwendet. Sie lässt sich nämlich von einem berühmten 1 Accoucheur eine viermonatliche Frucht vermittelst einer Nadel abtreiben. (Juliette ITJ, 212). Die Durand ver kauft Emmenagoga zu diesem Zwecke (Juliette HE, 229).

Als letzter Gruppe von sexuellen Mitteln gedenken wir noch der antivenerischen Geheimmittel, mit welchen das Frankreich des vorigen Jahrhunderts in grosser Zahl überschwemmt wurde. Denn trotz aller Ausschweifungen in Venere war die Furcht vor der Syphilis sehr gross, und die Charlatane fanden ein nur zu williges Publikum für ihre Betrügereien. Wir wissen nicht, ob der Plan für ein Bordell mit der Aufschrift: „Du plaisir pour de l'or et sante garantie" ) zur Aus­führung gekommen ist. Jedenfalls war die Vorsicht in dieser Beziehung gewiss gerechtfertigt. Casanova hatte es sich zum Prinzip gemacht, niemals in einem fremden Bette zu schlafen.) Juliette untersucht ihre Kunden stets genau auf syphilitische Symptome hin. Ein Mann, der mit schwerer Syphilis behaftet ist und der daher als Spezialität seiner Wollust diejenige ge­wählt hat, die von ihm gebrauchten Weiber anzustecken, wäre beinahe der Juliette gefährlich geworden. (Juliette I, 238—240). Im „Espion anglais" (Bd. DI, S. 98) wird erzählt, wie ein Mann seinen Rivalen aus Eache syphi­litisch infizierte damit dieser die Krankheit der früheren Geliebten mitteile. Eine ganz ähnliche Idee führt S a d e am Ende der „Philosophie dans le Boudoir" aus. Dort lässt man einen syphilitischen Knecht holen, der vor den Augen der triumphierenden Scheusale die un­glückliche Madame de Mistival infizieren muss, wonach Dolmance ausruft: Parbleu, voici une inoculation, comme Tronchin n'en fit de ses jours. (Philosophie dans le Boudoir II, 183—184). Medicamentöse Schutzmittel gegen Syphilis wurden vorzüglich in den Gewölben des Palais-Royal angeprie­sen. Es gab auch Manche, die ohne Scheu dieselben in Flugschriften bekannt machten und ihre Betrügerei durch Anschläge an den Mauern, durch Verteilung von Karten oder Zetteln auf der Strasse feilboten.1)

Wir haben früher schon den Oharlatan A g i r o n y und das „Spezificum des Doktor Preval" erwähnt. Der Letztere ist wohl der berüchtigste Oharlatan des 18. Jahrhunderts gewesen, dessen Persönlichkeit um so mehr Interesse erweckt, als Guilbert de Preval derjenige war, welcher R 61 i f de la Bretonne in die Geheimnisse der Pariser Prostitution und die „Artes amandi" des Palais-Royal einweihte, ein Mensch, der nur im schmutzigsten Sumpfe sich wohl fühlte.2) Die Geschichte dieses Erzcharlatans wird im „Espion anglais" ausführlich erzählt»8)

Preval studierte seit 1746 in Caen, wo er dann eine umfangreiche Praxis ausübte, machte später noch anatomische Studien zu Paris und promovierte dort im





SEITE 225 FEHLT!!!



Seite 226:

Jahre 1750. Er beschäftigte sich nunmehr 20 Jahre mit der Therapie der Syphilis und entdeckte nach Ab­lauf dieser Zeit ein „unfehlbares Specificum" gegen diese Krankheit, mit welchem er mehr wie 8000 (!) Menschen heilte. Das Mittel besass übrigens die Kraft, auch alle übrigen „Haut- und Blutkrankheiten" zu heilen. Selbst bis „nach Indien, Amerika und — Mar­tinique" drang der Ruf dieses Mittels wo es „Pians und Scorbut" zur Heilung brachte. Gleichzeitig war dieses Mittel, eine sogenante „eau fondante" ), ein zuver­lässiges Vorbeugungsmittel der Syphilis. Endlich diente es sogar, wie das heutige Tuberkulin bei Tuberkulose, zur Diagnose der Syphilis, wozu es z. B. Madame Qourdan benutze. Die Ankündigung dieses Mittels machte ausserordentliches Aufsehen und „brachte alle Köpfe der jungen damals am alten Hofe befindlichen Wüstlinge in Aufruhr." ) Man Hess den Herrn P r e -val kommen, überhäufte ihn mit Schmeicheleien, wie sie kaum dem Entdecker einer neuen Welt zu Teil ge- < worden wären, verlangte aber, dass er selbst in Gegen- i wart von Zeugen den nötigen Versuch machen sollte, die Wirksamkeit des von ihm angegebenen Mittels zu i beweisen. Preval ging darauf ein. Im Juni 1772 geschah das Unglaubliche. In Gegenwart vornehmer Herren vollzog unser Charlatan an einer exquisit infi-cierten Dirne, die im Spital der barmherzigen Schwe­stern behandelt wurde, einen Coitus, nachdem er zuvor sein berühmtes Mittel eingenommen hatte.8) Er blieb gesund, wobei aber nicht mitgeteilt wird, ob eine frühere, doch sehr -wahrscheinliche Syphilis dieses Lebe= mannes Ursache dieser Immunität war. Parent-Duchatelet „könnte noch die Zeugen dieser merk-würdigen Szene nennen", allein der Eang, den sie im 1 Staate einnahmen, „befahl ihm Stillschweigen."

Wir befinden un3 nicht mehr in dieser Lage und nennen die Namen. Es waren der Herzog von C h a r -S tres, der Graf de la Marche, der Marschall j Kichelieu, der Herzog von Nivernois und andere „Cavaliere". Auch der Herzog von Zwei-I brücken Hess ähnliche Versuche anstellen, die i günstig ausfielen. Preval wurde vom Pariser Magi-i strat aufgefordert, die Syphilitischen im Bicetre mit i seinem Mittel zu behandeln. Es wurden ihm zu diesem \ Zweck 6 Mäner und 4 Frauen zugewiesen. Von diesen '; Dingen bekam die medizinische Fakultät Kenntnis und I trat zu einer merkwürdigen Sitzung am 8. August 1772 | zusammen, in der Preval aus der Liste ihrer Mit­glieder gestrichen wurde, mit 154 gegen 6 Stimmen. Er fing darauf mit der Fakultät einen Prozess an und verklagte dieselbe vor dem Pariser Parlament. Nach­dem dieses im Jahre 1777 den Beschluss der Fakultät aufgehoben hatte, wurde derselbe nach neuerlicher Wei­gerung der letzteren am 13. August 1777 bestätigt und Preval ausserdem noch zu einer Geldstrafe von 3000 Francs verurteilt.

Wenn man auch dem Beschlüsse der Fakultät als j solchem zustimmen kann, so ist doch die Begrün-I düng desselben sehr fragwürdiger Natur. An einer | Stelle derselben heisst es nämlich: „Es wäre Sache der | Moral, zu prüfen, bis zu welchem Punkte eine Erfindung erlaubt sein könne, welche kein anderes Ziel habe, als den natürlichen Reiz des Lasters noch durch den der Straflosigkeit zu verstärken. Wir wissen oder glauben es doch zum mindesten, dass ein Schutzmittel gegen die in Rede stehende Krankheit eine Liederlichkeit veran­lassen würde, wodurch die Bevölkerung und bürgerliche Ordnung, wir könnten auch hinzusetzen, die Reinheit der Sitten leiden müssten." Schon Girtanner, der sich in seinem Werke überall als einen rigorosen Mora­listen erweist, bemerkt dazu: „DerErfinder eines solchen Mittels, verdiente nicht Verachtung, sondern den Dank des menschlichen Geschlechts, weil dadurch, in kurzer Zeit, die Lustseuche ganz von der Erde vertilgt werden müsste. Und welcher Menschenf reund wünscht nicht, dass es möglich wäre, eine so glückliche Eevolution zu bewirkenl" x) Parent-Duchatelet, der diesem Gutachten der Pariser medizinischen Fakultät ein en­thusiastisches Lob zollt, wird von P r o k s c h mit Hecht getadelt. Denn man kann das Laster verdammen, ohne der Menschheit die Schutzmittel vor Krankheiten zu entziehen, und wenn die Furcht vor Krankheiten der einzige Beweggrund der Tugendhaftigkeit sein soll, dann dürfen wir diese Tugend nicht allzuhoch ein­schätzen.

Das Hauptschutzmittel gegen die venerischen An­steckungen war im 18. Jahrhundert wie — heute: der Condom. Wir haben bereits mehrere Male auf den weit verbreiteten Gebrauch dieses Praeservativs hinge­wiesen, von dem in jedem Bordell, ein „ganzes Arsenal" vorhanden war. Auch die alleinwohnenden Prostituir-ten betrieben den Verkauf dieser „redingotea d'Angle-terre". Als Casanova in Marseille ankam und nach seiner Gewohnheit die erste Erholung von den Reise­strapazen bei einer Dirne suchte, wobei er seine Furcht vor Ansteckung äusserte, bot ihm das Mädchen „eng­lische Hüllen" an, welche „Beruhigung gewähren". Aber er mochte sie nicht, da sie „von zu geringer Quali­tät waren." Darauf offerierte die Schöne „feinere zu drei Francs das Stück", welche „die Händlerin nur dutzendweise verkaufte" worauf Casanova sich bereit erklärte, das ganze Dutzend zu nehmen und sich zu diesem Behufe ein paar Specimina von einer kleinen 15jährigen Dienerin „anpassen" liess.

Der Condom wurde von dem unter K a r 1II. leben­den Londoner Arzt Dr. C o n t o n erfunden, ist daher eigentlich „Contom" zu nennen. Nach der Angabe dieses Arztes wurde diese zum Bedecken des männlichen Gliedes vor dem Beischlaf bestimmte Hülle aus den Blinddärmen der Lämmer bereitet. Zu diesem Behufe ward das entsprechende Darmstück in gehöriger Länge aus den geschlachteten Lämmern herausgeschnitten, ge­trocknet und dann durch Keiben mit einem feinen Oele und Kleien schlapp, weich und geschmeidig gemacht.')

P r o k s c h macht über die weitere Geschichte und Beurteilung dieser Erfindung sehr interessante Mit­teilungen und constatiert, dass in der Neuzeit „das hypermoralische Toben gegen den Condom" beinahe ganz aufgehört hat. Die Aerzte erkennen den hohen Wert der Condome als Mittel zur Verhütung der vene­rischen Krankheiten fast einstimmig an. „Die meiste Anerkennung der Schutzkraft der Condome kam, frei­lich wider Willen;, von einer Seite, von welcher man es gar nicht vermutet hätte." Im Jahre 1826 erschien nämlich ein päpstliches Breve (Leo Xn.), welches diese Erfindung verdammte, „weil sie die Anordnungen der Vorsehung hindert, welche die Geschöpfe an dem Gliede strafen woDte, mit dem es gesündigt." Proksch üht an diesem Breve eine vernichtende Kritik, auf die wir den Leser verweisen. — Die Condome aus Blinddärmen der Lämmer, aus Fischblasen und Goldschlägerhäutchen sind weniger zuverlässig, da diese tierischen Membranen sehr bald vertrocknen, brüchig und rissig werden, von kleinen Insekten an- oder durchfressen werden, und zudem fast gar keine Dehnbarkeit im trockenen Zustande besitzen, sodass sie bei einer geringen Gewaltanwendung entzwei gehen können." Proksch, dieser ernsthafte und gelehrte Forscher auf dem Gebiete der vene- \ rischen Krankheiten, hat aber durch sehr exakte Ver- i suche nachgewiesen, dass die Condome aus Kaut- ! s c h u k die sichersten Schutzmittel gegen alle durch naturgemässen Beischlaf erworbenen venerischen Krank- \ heiten sind. *) Die moralischen Einwände, welche man j gegen den Gebrauch dieser Condome erhoben hat, sind nicht stichhaltig für denjenigen, der weiss, dass Alles in der Welt gemissbraucht werden kann, und dass das gesellschaftliche Wohl höher gestellt werden muss als die Bedenken des Einzelnen. Alle diese Einwürfe hat Prokschim humansten Sinne widerlegt. Der Arzt, der die Gesundheit des einzelnen Menschen, der Familie und der ganzen Gesellschaft zu schützen be­rufen ist, kann nicht den Standpunkt eines Theologen einnehmen, der sich, wie wir zugeben, auch vertheidigen i lässt. Er muss auch einen Missbrauch seiner Kat-I schlage von sich abweisen, der ihm doch gewiss nicht | zur Last fällt. „Sollte durch den Condom einer jeden erdenklichen TTnreinlichkeit und dem triefenden \ Schmutz einerseits und andrerseits den hirnverbrannten , Einfällen eines jeden Wüstlings Rechnung getragen \ werden, dann müsste er freilich nicht nur die Ge-; schlechtsteile, sondern auch den ganzen Körper über-j ziehen." (P r o k s c h.)

Endlich kommen wir zu einer letzten Gruppe von Aphrodisiaca. Das sind die Surrogate des Mannes,| wie wir sie nennen möchten, die künstlichen Apparate,welche der Frau die Abwesenheit des Mannes ersetzen sollen, vor allem die ledernen Phalli oder God-miches, die „Consolateurs", wie sie bei der Gour-d a n heissen die „bijoux indiscrets", „bijoux de reü-gieuse" (englisch: Dildo, indiscreet toy; italienisch: Cazzo, Parapilla), deren Gebrauch aus dem Culte des Priapus entsprungen ist. Diese Schon seit dem Alter-tume in Gebrauch befindlichen künstlichen Phalli er­langten im 18. Jahrhundert wieder eine weite Verbreitung, nicht Mos in Frankreich, sondern auch in Deutschland, wo sie von den vornehmen Danien als „Samthanse" bezeichnet wurden. Sade beschreibt sogar automatisch wirkende Godmiches (JulietteV 328), sowie kunstvoll mit verschiedenen scharfen Spitzen ver­sehene Instrumente, wie sie z. B. die Tribade Zatta ge­braucht (Juliette VI 124). Wie wir auf einer Abbildüng in der „Philosophie dans le Boudoir" (Band DI, j 31) ersehen, "waren die Godmiches des vorigen Jahr­hunderts ähnlich konstruiert wie diejenigen, welche noch heute in Frankreich Verwendung finden, und welche Garnier folgendermassen heschreibt:x) „On en fabrique ici (ä Paris) en caoutchouc rouge durci, parfai-tement imites, que l'on vend secretement ä des adresses connues de toutes les intcressees. Le mecanisme en est des plus ingenieux. Ils se gonflent ä volonte et du lait S ou tout autre liquide, place ä l'interieur, s'echauffant au [ contact du vagin, s'echappe et se repand au moment psychologique, pour rendre l'illusion plus complete." Diese Dinge wurden übrigens nicht blos im Amor les-bicus gebraucht, sondern sogar auch zwischen Mann und Frau, w. z. B. Madame de St. Ange es zur Pacdicatio des Dohnance benutzt (Philosophie dans le Boudoir Garnier meint, dass die sogenannten „japanisehen Kugeln", welche in Japan, China und Indien seit ; alter Zeit von wollüstigen Frauen benutzt wurden, erst seit 1819 nach Europa gelangt und damals zuerst im „Dictionnaire des sciences medicales" beschrieben wor den seien. Das ist ganz unrichtig. Wie wir oben zeigten, waren diese „pommes d'amour" schon seit der lütte des 18. Jahrhunderts in Frankreich bekannt.


21. Gastronomie und Alkoholismus im 18. Jahrhundert.

„Sine Baccho et Cerere friget Venus". Gut Essen und gut Trinken sind auch Aphrodisiaca, die nicht zu verachten sind. Dies weiss der Marquis de Sade ganz genau. Gleich im Anfang der Juliette ruft Delbene nach einer Orgie aus: „Dejeunons, mes amies, restaurons nous lorsqu'on a beaucoup decharge il faut reparer ce qu'on a perdu." (Juliette I, 10). „Nur viel essen macht tüchtig zur physischen Liebe" sagt Noirceuil (Juliette H, 72). Die „diners enormes" sind daher recht häufig in Sade's Komanen (Juliette II, 268). Clair- wil ist ebenso „capriciös in den Ausschweifungen der Tafel wie in denen des Bettes, in beiden gleich bizarr und unmässig, nährt sich nur von Geflügel und Wild- pret, trinkt Zucker- und Eiswasser, viel Liqueur und Kaffee. Elle mangeait excessivement." (Juliette JJ,151).

„Trinken wir, sagt Eodin, ich liebe es, mich durch 1 einen tüchtigen Trunk auf die Freuden der Liebe vorzubereiten" (Justine I, 332). Ambroise sagt bezeichnend: „Die Kräfte, welche Bacchus der Venus leiht, kommen immer der letzteren zu Gute (Justine LTI, 126). Zu der fürchterlichen Orgie beim Minister Saint-Fond präparieren sich die Teilnehmer durch die ^ausgesuch­testen Weine und die opulentesten Speisen" (Juliette II, 15), und auch wahrend der Orgien lässt man sich zu den Unmässigkeiten des Comus und der Cypris durch „fremde Weine elektrisieren" (Juliette HE, 62). Juliette und die Königin Karoline von Neapel trinken zwischen den Liebeszenen zwei Flaschen Champagner (Juliette IV, 18), was die Tribade Zanetti damit be­gründet, dass man „trinken muss apres avoir f . . . ." (Juliette VI, 161). Ein entsetzlicher Vielfrass und Vielsaufer ist der Graf Gernande, der nach der kate­gorischen Erklärung: „Die Unmässigkeit ist meine Gott­heit, ihr Bild steht in meinem Tempel neben dem der Venus" und nach dem Vorbilde des von ihm zitierten „Gastmahl Trimalchio's" 12 Flaschen Wein verschie­dener Sorten, 2 Flaschen Liqueur, 1 Flasche Rum, 2 Gläser Punsch und 10 Tassen Kaffee trinkt (!!), ; bevor er sich an die Freuden der Liebe macht (Justine ILT, 231—232).

Das 18. Jahrhundert war „in Wahrheit das Jahr­hundert der grossen Küche und der grossen Köche (le ßiecle de la grande euisine et des grands cuisiniers). j Jedermann war in jener Zeit „Gourmand", vorzüglich in i der Aristokratie, wo man „so vortreffliche Mahle zu be-| reiten wusste." Die Indigestion war oft die „Strafe ; der grosser Esser". Der Feldzug des Prinzen S o u b i s e i in Deutschland wurde bekannter „durch seine opulen-; ten Diners als durch, seine Siege". Der Prinz liebte eine besonders raffiniert zubereitete Omelette, die 100 Thaler kostete.*) Voltaire sprach sich sehr scharf gegen die überhandnehmenden gastronomischen Aus Schweifungen aus, die nach seiner Ansicht den Geist ruinierten. Die alkoholischen Exzesse, welche unter der Kegentschaft fast jeden Abend im Palais-Koyal stattgefunden hatten, bürgerten sich unter der Regie­ rung Ludwigs XVI. wieder ein. Die Weine aller Länder wurden gepflegt und eingeführt und in regelmässiger Ordnung beim Mahle gegeben, so der Madeira, der „den Laufgraben eröffnete", die französischen Weine, welche die Gänge unter sich teilten und die spanischen und Kapweine, welche das Werk krönten". Nach Brillat-Savarin waren die Chevaliers und die Abbes die grössten Feinschmecker. Die „dej'euners litteraires et philosophiques" wurden Mode, die aber, wie Paul Lacroix bemerkt, ebenso sehr der Gastronomie gewidmet waren.

Präsident Henault, der intime Freund der Madame DuDeffand, war bekannt durch seine vortrefflichen Diners. Vo 11 a i r e redet ihn einmal an: Henault, fameux par vos soupers!

Retif beschreibt in den „Nuits de Paris" ein I solches „Souper celebre bei Grimod de la Key- j n i e r e f i 1 s und berichtete über mehrere „pikante" Soupers, denen er beiwohnte u. a. bei dem Oharlatan Guilbert de Preval, wo der Dichter Robe seine cynischen Poeme vorlas, bei Herrn deMorfontaine und beim Grafen de Gemonville. Ganz wie heute nahmen schon im 18. Jahrhundert die Lebe­männer mit ihren „Freundinnen" ein „vorbereitendes" Souper ein. Casanova schildert ein solches Souper in Marseille.

Wie in der Schxeckenszeit die alkoholischen Aus­schweifungen zur Verwilderung der Massen erheblich beitrugen, schildert Reichardt. „Der sehr be­sonnene und von jeder TJebertreibung entfernte Gre-schichtschreiber fügt der Darstellung von den blutigen Septembertagen, indem er von den von Wut, Blut und Branntwein trunkenen, gedungenen Mördern spricht, die mit Säbel und Beil, mit Piken, Bajonetten und Kol­ben unter Anstimmung des Marseiller Marsches ihre Landsleute und Mitbürger wie Feinde, wie wilde Tiere mordeten, folgende Note hinzu: Es ist unwiderleglich dargetan, dass die Getränke welche man den gedungenen Mördern reichte, mit einem besonderen Mittel ver-i, mischt waren, welches eine schreckliche Wut erzeugte, \ lind diejenigen, die es verschluckten, gar nicht wieder j zur vernünftigen Besinnung kommen Hess. Ein Last-j träger, der zum Morden im Kloster Saint-Eirmin ge-{ düngen war, sagte: Sie haben mir dort was Rechtes zu ; trinken gegeben. Aber ich habe dafür auch ein tüchtig i Stück Arbeit vollbracht, mehr als zwanzig Priester j hab' ich für mein Teil allein umgebracht. (Histoire | de la Revolution de France par deux amis de la liberte)".

Merkwürdig ist, dass der Marquis de Sade in seinen Romanen bereits den Typus des Vegetaria-\ nera und des Antialkoholisten gezeichnet hat. : Der erste Codex des modernen Vegetarianismus war be­kanntlich J. Newtons's Schrift „Return to nature or defence of vegetable regime", die 1811 in London erschien. S a d e führt in Bandole einen typischen Vege tarianer und Antialkoholisten vor, der allerdings diese Enthaltsamkeit aus sexuellen Gründen übte. Er isst wenig, und nur Vegetabilien, trinkt nur Wasser. Ja, dieser Bandole ist bereits ein Vorläufer von Leopold Schenk. Zwar entwickelt er keine vollständige „Theorie Schenk", aber er nimmt an, dass die Frau nur dann geschwängert wird, wenn sie eine gesunde und leichte Nahrung geniesst. Auch Zame in „Aline et Valcour" ist enragierter Vegetarianer, der sich des Fleischgenusses „par humanite et par regime" enthält. Und er weist mit Stolz darauf hin, dass die Bewohner seiner Insel, die sich nur von Früchten ernähren, sich einer kräftigen Gesundheit erfreuen. Die jungen Leute sind stark und fruchtbar, der Geist gesund und frisch. Ihr Leben verlängert sich weit über das gewöhnliche Ziel hinaus, und sie werden durchaus glücklich.

22. Diebstahl und Räuberwesen.

Die Tatsache, dass Prostitution und Verbrechen unzertrennlich mit einander verknüpft sind, tritt uns ; auch in den Romanen des Marquis de Sade deutlich ' entgegen. Fatime, die 16jährige Freundin Juliettens, übt das Bestehlen ihrer Kunden als „Spezialität" zu der einer der „berühmtesten Diebe" der Vorstadt La Vilette, Dorval, sie angeleitet hat. (Juliette U, 193). Dieser wird durch seine Spione über alle in Paris ankommen­den Fremden unterrichtet, die er dann durch seine Dir­nen verführen und berauben lässt. Er empfindet einen besonderen sexuellen Genuss, wenn er bei der Ausfüh rang solcher Diebstähle zugegen sein kann. Seine Theorie und Rechtfertigung des Diebstahls werden wir später besprechen. —- Die Hauptleidenschaft der vene­zianischen Tribade Zanetti ist ebenfalls der Diebstahl. Derartige Persönlichkeiten, für die der Diebstahl eine Wonne ist, kommen noch mehrere vor.

Ungeheuerlich war ja die Geldgierim Frank­reich des 18. Jahrhunderts, was die Zeugnisse aller Zeitgenossen beweisen. Rameau's Neffe erklärt: „Es giebt kein Vaterland mehr; von einem Pol zum andern sehe ich nur Tyrannen und Sklaven; man mag sich stellen wie man will, man entehrt sich, wenn man nicht reich ist. Gold ist Alles und das übrige ohne Gold ist nichts. Sobald ich einen Louisdor i besitze, stelle ich mich vor meinen Knaben hin, ziehe ' das Goldstück aus meiner Tasche, zeige es ihm mit Ver-\ wunderung, hebe die Augen gen Himmel und küsse das ; Geld". Graf Tilly sagt in seinen Memoiren: l „C'etait connaitre un siecle dont le devise pourrait etre: | laissons la les parchemins: nous parlerons un autre jour | de vos vertus. Montrezmoide l'or". Das Geld | ist der „universelle Motor" dieser Zeit geworden, wie i Madame duHausset sagt *). Die Räuber und Diebe, i von denen es auch in S a d e 's Romanen wimmelt, bil deten die -wirksame Staffage der Revolutionszeit and waren im engsten. Bunde mit der Prostitution in der Hauptstadt und in den Provinzen. Seit 1789 nahmen Diebstahl, Raub und Mord einen immer steigenden Aufschwung und blieben fast während der ganzen Revo­lutionszeit an der Tagesordnung. Schon in der ersten Hälfte des Jahres 1792 waren in Paris „nächtliche Dieb­stähle und Morde zahlreicher als gewöhnlich" geworden, so dass die Massnahmen der Wachsamkeit verschärft und vervielfältigt, die Gefängnisse und deren Dienst­mannschaften vermehrt werden mussten. Der 10. Aug. und die Septembertage gaben beiden Arten des Ver­brechens einen entsetzlichen Impuls. Die Schreckens-jseit war begreiflicherweise nur dazu angethan, die Ver­brechen noch häufiger und die Bestrafung noch seltener zu machen. Morde wurden ohne alle Scheu, Einbrüche und Diebstähle jeder Art mit der grössten Frechheit ausgeführt Aus der Umgegend strömten immer neue „Schwärme von Spitzbuben" nach Paris, die hier „in den zahllosen Freudenmädchen willkommene Hehlerin­nen und Helferinnen fanden!" Zugleich klagte man über den Mangel an Sicherheit auf den Landstrassen. Unter anderem wurden die Umgebungen von Mitry im Departement der Seine und Marne auf das Unver­schämteste von Räuberbanden beunruhigt, die alles plün­derten, was ihnen aufstiess und sogar durch öffent­liche Anschläge zum Eintritt in ihre Reihen ein­luden, indem sie jedem neuen Genossen 50 Livres für den Tag in Aussicht stellten! In den ersten Monaten des Jahres 1796 gestaltete sich der Zustand in Paris zu einem geradezu unerträglichen. Die Verbrechen ver­mehrten sich dermassen, dass „tagtäglich Dieb­stähle und Morde begangen wurden". Das Publikum erklärte laut, dass „die Ziffer der Spitzbuhen und Be­trüger diejenige der ehrbaren Leute überstiege". Zu Anfang dieses Jahres lagerten zahlreiche Räuberbanden um Paris. Eine Menge von Raub- und Mordthaten, nicht selten mit „unerhörter Grausamkeit ausgeführt" verbreiteten Angst und Schrecken. Ein gewisser Bourdroux war besonders berüchtigt als Führer einer solchen Bande. Die Ueberfälle von Seiten der Räuberbanden geschahen meist mit unerhörter Keckheit, die Häuser wurden förmlich erstürmt, die In­sassen sämtlich auf grässliche Weise ermordet, und dann erst die Plünderung vollzogen".

Als Gründe dieser trostlosen verbrecherischen Zustände von Paris und Umgegend bezeichnete damals ein offizieller Bericht: die Entartung der Sitten; die Fülle öffentlicher, den Lustbarkeiten und der Liederlichkeit (gewidmeter Orte; die Schlupfwinkel der Prostitution, zumal die der niedrigsten Klasse, deren Inhaberinnen meist mit den Banden der Spitzbuben und Gauner in Verbindung standen, und deren Besucher ausgeraubt und dann selbst zu Diebstahl und Raub angelernt würden; ferner die zahlreichen Volksbälle, die ebenfalls Schulen der Faulheit, der Liederlichkeit und des Gaunertums seien; die Spielhäuser.

In der Bevölkerung wurde jeder Sinn für die öffent­lichen Interessen durch die Unsicherheit der örtlichen und privaten erstickt; alle Unterhaltung drehte sich nur tun die neuesten Raub- und Mordfälle. Die Straflosig­keit der Verbrechen „reizte zur Nachahmung des bösen Beispiels oder zerstörte alle Begriffe von Kecht und Un­recht, von Sein und Haben, von Mein und Dein. In dem Meere der allgemeinen Verderbnis ging jeder Anflug von Schuldbewusstsein zu Grunde". Die Advokaten machten sich aus Eitelkeit und Schönrednerei zu Ver­fechtern des Lasters und des Verbrechens. „Der Pranger war ein Triumph". "Weiber benahmen sich am Pranger gegen „alle Zuschauenden oder. Vorübergehenden nicht nur in ihren Zurufen, sondern auch in ihren Gebärden und Handlungen so überaus schamlos, frech und gemein, dass man schliesslich anordnen musste: allen ausgestell­ten Weibern die Hände und die Röcke festzubinden!" Schmidt betont besonders die „grauenhafte That-sache", dass selbst von vielen Leitern der Revolution ein Teil der blutigen und unblutigen Formen des Ver­brechens öffentlich gelehrt und empfohlen, der andere heimlich geübt und geduldet wurde. „Gäbe es eine voll­ständige Statistik der Verbrechen in Frankreich, wäh­rend der Revolutionszeit: man würde sicher nach allen Richtungen hin zu schaudererregenden Zif­fern kommen."

Nach dieser Schilderung wird man die Häufigkeit der Diebstähle und Räubereien in S a d e s Romanen ver­stehen.

23. Der Giftmord.

Auch der Giftmord schleicht im Gefolge der Prosti­tution und sexueller Ausschweifungen. Schon im alten Rom war der Dirnenstadtteil Suburra zugleich der Aufenthaltsort der Giftmischerinnen und Gifthändle­rinnen. Und es ist kein Zufall, dass "berüchtigte Gift­mischerinnen, wie die Brinvilliers und die V oi-sin geschlechtlich ausschweifende "Weiber waren. Sade, mit seiner feinen Kenntnis aller Verhältnisse des menschlichen Geschlechtslebens, hat diesen Zusam­menhang durchaus erfasst und in der Schilderung seiner Typen zum Ausdruck gebracht. Höchst anschaulich malt er die Wonne und die Wollust der Giftmischerei aus, die eine ungeheuere sexuelle Befriedigung gewährt. (Juliette III, 214.) Auch ist der Giftmord wegen seiner Unauffälligkeit den anderen Arten der Tötung vorzu­ziehen. Verneuil sagt: „Kein gewaltsamer Akt! Der Tod überrascht unter Deinen Augen die betreffende Person, ohne Lärm, ohne Skandal, kaum dass Du es merkst. 0 Justine! Justine 1 es ist eine herrliche Sache, das Gift! wie viel Dienste hat es schon geleistet! wie viel Leute bereichert, von wie viel unnützen Wesen die Welt befreit!" (Justine III, 335). Die im Faubourg Saint-Jacques wohnende Giftmischerin Durand ist ein erotisches Scheusal par excellence. (Juliette III, 220 ff) Sade hat sie deutlich als krankhaft entartete Persön­lichkeit geschildert. Er führt uns einen hysterischen Anfall der Durand vor, die mit ihrer kalten, berechnen­den Grausamkeit, mit ihrem cynischen Atheismus, mit ihrer kolossalen sexuellen Erregbarkeit das Bild der klas­sischen Giftmörderin bietet. Sie besitzt einen ganzen Garten mit Giftpflanzen und eine grosse Zahl fertiger Gifte, Emmenagoga, Aphrodisiaca und Antiaphrodisiaca. Ihre Hauptgifte waren das „poudre du crapaud verdier", mit dem ein Mädchen in coitu vergiftet wird, damit seine krampfhaften Zuckungen dem Coitirenden den höchsten Grad der Wollust bereiten, die „chair caleinee de l'engri, espece de tigre d'Ethiopie", mit der ein junger Mann aus der Welt geschafft wird, das „Königsgift" (poison royal), durch welches nach S ade unter Lud­wig XV. viele Mitglieder der königlichen Familie ver­giftet wurden. Ferner vergiftete Nadeln und Pfeile, verschiedene Schlangengifte („Cucurucu", „Kokol", „Polpoch", „Aimorrhois"). Auch der Minister Saint-Fond betreibt Giftmord im Grossen, ebenso Noirceuil, der der Brinvilliers einen Lobhymnus singt (Ju­liette II, 31 und 85).

Juliette vergiftet ihren Mann, den Grafen Lorsange mit dem „poison royal" und mischt dem Ungeheuer und Menschenfresser Minski Strammonium in die Chokolade (Juliette HI, 285 und TV, 15). Als die Durand und Juliette in Venedig ein Bordell errichten, bildet der Handel mit Giften eine willkommene Nebeneinnahme für sie (Juliette VI, 251).

Seit dem 17. Jahrhundert, wo unter der Regierung ludwig's XIV. eine wahre „Epidemie von Gift­mischerei" besonders unter den aristokratischen Frauen auftrat, hatte sich der Giftmord gewissermassen in die­sem Lande eingebürgert. Zu jener Zeit versorgte der berüchtigte AbbS Guibourg, der Veranstalter von „Satansmessen", die ganze Aristokratie mit Giften und Liebesphiltren.*) Der Giftmord nahm so überhand, dass der König am 7. April 1679 ein besonderes Tribunal, die „Chambre royale de l'arsenale" oder „Chambre ardente" errichten musste, die ausschliesslich sich mit Giftmord-prozessen beschäftigen sollte. Am bekanntesten ist die Giftmischerin Marie Madeleine Marquise de Brinvilliers, die auch der Marquis de S a d e sehr häufig erwähnt. Es ist interessant, dass dieses teuf­lische Weib, wie sich aus einer unter ihren Papieren auf­gefundenen Autobiographie ergab, von frühester Jugend an in sexuellenAusschweifungen geradezu Exorbitantesleistete. Eine un­ersättliche Geschlechtslust erfüllte sie durch ihr ganzes Leben. Dies war offenbar das Primäre. Die eigene Wollust und Geschlechtsgier, welche eigentlich nichts weiter ist, als ein potenzierter Egoismus, macht zuerst gefühllos gegen das Geschick und die Leiden Anderer. Diese Hartherzigkeit wandelt sich bei weiterem Fort­schreiten der sexuellen Entartung in Grausamkeit und Mordlust um. So geschah es auch in diesem Falle. Erst nach längeren Ausschweifungen lernte die Brinvil­liers von ihrem Geliebten de Sainte-Croix die Giftmischerei kennen, die sie dann mit einer wahren Wollust betrieb. Sie vergiftete ihren Vater, ihre zwei Brüder, ihre Schwestern und zahlreiche andere Perso­nen. Nach Entdeckung ihrer Missethaten wurde sie am 16. Juli 1676 enthauptet, ihre Leiche nachher ver­brannt und die Asche in alle Winde zerstreut, so dass, wie Madame de Sevigne" in ihren Briefen erzählt, „ganz Paris Gefahr lief, Atome der kleinen Frau einzu­atmen und dadurch von gleichem Vergiftungstriebe in­fiziert zu werden." In der That trat diese Infektion ein. Die Giftmorde mehrten sich in erschreckender Weise und gaben zu der Errichtung der oben erwähnten Kammer Veranlassung. Die geschlechtlich ebenfalls sehr aktive V o i s i n, die Vigouroux, des Oeillets, Delagragne sind die berühmtesten Giftmischerinnen des 17. Jahr­hunderts. Im 18. Jahrhundert wurde dies Treiben, wenn auch in etwas geringerem Masse, fortgesetzt. Die bekanntesten Giftmischer sind D e s r u e s und seine Trau, die sich um jeden Preis bereichern wollten und daher zur Vergiftung der ihnen im Wege stehenden Personen griffen. S a d e, der alle ihm naheliegenden Vorbilder benutzt hat, lässt auch diesen Desrues zusammen mit dem grossen Räuber Cartouche als Henker bei einer Orgie fungieren, oder vielmehr durch Nbirceuü zwei Männern diese berüchtigten Namen bei­legen (Juliette VI, 323). Ebenso erzählt RStif de la Bretonne im vierten Bande der „ Annee des dames nationales" (S. 1166 ff) die Affaire Desrues.

24. Mord und Hinrichtungen.

Des Marquis d e S a d e Werke triefen von Blut wie sein Jahrhundert. Das ist es, was ihren unseligen Ruf begründet hat. Keiner hat vor ihm und nach ihm mit so grässlicher Wahrheit jene verhängnisvolle Kombi nation geschildert, die er unermüdlich und mit einer eisernen Konsequenz in seinen Büchern walten lässt; die Kombination des Jahrhunderts: Wollust und Blut! Er hat sein Jahrhundert aufs Papier gebracht! Deshalb wirken seine Schriften so verderblich, deshalb grinst uns aus ihnen eine Welt der Hölle an. Denn der S c h r e k -ken verging, alle wirklichen Qualen jener Zeit sind dahin und die ungeheuren Ströme von Blut in die dunkle Erde hinabgeflossen, die sie mitleidig aufnahm. Aber in S a d e ' s Werken lebt jener Schrecken noch, da wird er vielleicht für ewige Zeit bis zur Vernichtung der Welt leben: „Justine" und „ Julie tte" sind die wirk­lichen Reste einer grausen Zeit. Leichengeruch weht uns aus ihnen an, und die mordende Wollust des 18. Jahrhunderts wird wieder lebendig. Wir sind in Sodom.

Konnte dies ein Mensch ersinnen und erdenken? Nein! Auch hier ist es das Gemälde der Zeit. Wir wollen S a d e Gerechtigkeit widerfahren lassen. Und das können wir nur, indem wir ihn erkennen. Denn die Erkenntnis ist das Höchste in der Welt. Sie allein führt zur Gerechtigkeit, nicht das blosse dumpfe Gefühl, welches sich von solchem Graus mit Abscheu abwendet. Schon Jules Janin sagte, dass der Mar­quis de S a d e ein Objekt der „histoire naturelle" sei, dass man über ihn schreiben müsse, wie man die Mono­graphie des Skorpions oder der Kröte schreibt. Nur die kalte wissenschaftliche Analyse kann das Wesen dieses Mannes erleuchten und das endgiltige Urteil über ihn feststellen. Nur sie hat ein Recht zu diesem Urteil.

Sehen wir zu, ob dieses Jahrhundert der Wollust nicht auch eines der unerhörtesten Grausamkeit, der unmenschlichsten Mordlust gewesen ist!

Die Hinrichtungen waren im 18. Jahrhun­dert öffentlich. Wirkte vor der Revolution die Grau' Bamkeit derselben depravierend auf die Zuschauer, so wirkte während der Revolution die Massen-haftigkeit der Enthauptungen vielleicht noch ver­derblicher. Mit Recht erklärte der edle Beccaria in seiner1 klassischen Schrift „Ueber Verbrechen und Strafen", die jeder Menschenfreund gelesen haben sollte, dass die Hinrichtungen für den grössten Teil der Zuschauer zu einem Schauspiel werden und die Men­schen grausam machen. Das französische Volk, von Natur zur Grausamkeit geneigt, war dieser Gefahr in höherem Grade ausgesetzt als jedes andere. Die grossen Geister jener Zeit erkannten dies wohl. So verdammt Montesquieu im „Esprit des lois" die Foltern und die schrecklichen Martern bei der Hinrichtung, und Voltaire hörte niemals auf, gegen diese Unmensch­lichkeiten zu protestieren.

Bis zur Revolution waren in Frankreich als Arten der Todesstrafen hauptsächlich die Vierteilung, das Rad und der Galgen gebräuchlich. Die mildere Enthauptung wurde so selten ausgeübt, dass sie sogar von den Henkern „verlernt" wurde, wie die Hinrichtung des Grafen de Lally im Jahre 1766 bewies. Die gewöhnliche Weise der Hinrichtung war das Rad, das denn auch bei S a d e öfter vorkommt. Der unglück­liche Delinquent wurde auf „einem Wagenrade ausge­streckt." Der Henker zerbrach ihm mit einer schweren eisernen Stange die Knochen der oberen und unteren Extremitäten, und verfuhr dabei mit grosser Geschick­lichkeit, um sich den Beifall der Zuschauer (les suffrages des spectateurs) zu erwerben. Sodann wurde der De­linquent in die Speichen des Rades geflochten und ster­bend zur Schau gestellt.

Die Strafe des Galgens ist bekannt. Die Viertei­lung werden wir bei der schauerlichen Hinrichtung des D a m i e n s kennen lernen.

Eine grosse Hinrichtung war immer, besonders in Paris, „eine Art von Fest für das Volk", das sich sehr begierig zeigte, ihr beizuwohnen und genau alle Einzel­heiten derselben zu sehen. Meist fanden diese Exem­tionen auf der Place de Greve statt. Die berühmtesten waren die des Strassenräubers Cartouche und seiner Bande (27. November 1721), des Räubers IST i v e t und seiner Complicen ' (1729) durch das Rad, des Deschauffonis, der erst erdrosselt, dann ver­brannt wurde (1733), der Gattenmörderin Les com­bat durch den Galgen (1755), des D a m i e n s durch Vierteilung (1757), des Giftmörders D e s r u e s und seiner Frau durch das Rad (1777). Strassenrufer ver­kündigten Tag und Stunde der Hinrichtung und ver­kauften das gedruckte Urteil. Eine „ungeheure Men­schenmenge" versammelte sich auf dem Executions-platze". In dieser tumultuösen und oft leidenschaft­lich erregten Menge waren die Frauen und Kinder nicht die am wenigsten Ungeduldigen. Jede folgte „avec ardeur" allen Peripetien der Hinrichtung, die oft länger als eine Stunde dauerte. Der Scharfrichter, umgeben von seinen Knechten, trug die Miene eines Seigneur inmitten seiner Bedienten zur Schau, war frisiert, ge­pudert, ausgesucht vornehm in weisse Seide gekleidet und blickte stolz umher. Das Volk verlor keine seiner Bewegungen aus den Augen. Der Verurteilte bekam es zu merken ob das Volk guter oder schlechter Laune war, da man ihn je nachdem bald mit Beifalls- und Mitleids­rufen, bald mit Schimpf- und Zornesrufen überschüt­tete.

Die grässlichste Hinrichtung, die vielleicht jemals vollzogen worden ist, war die des unglücklichen Eo-bertFran§oisDamiens, der am 5. Januar 1757 einen Mordversuch auf den König Ludwig XV. machte und dafür am 28. März dieses Jahres unter ent­setzlichen Martern vom Leben zum Tode gebracht wurde. Thomas Carlyle, dieser, was den Ausdruck des Affects betrifft, ohne Zweifel grösste Geschichtschreiber der grossen Revolution, bricht angesichts der blutigen Greuel der Schreckenszeit in den Ruf aus: „Ach diese ewigen Sterne, blicken sie nicht hernieder, wie glän­zende von Thränen unsterblichen Mitleids perlende Augen, voll Mitleid über der Menschen Los!" Uns scheint, dass tausend Hinrichtungen mit der Guillo­tine nicht die eine furchtbare Exekution des armen D a m i e n s aufwiegen können, die wirklich gen Him­mel schreit und das Mitleid der Sterne anruft, dass diese Schandtat des ancien regime selbst durch die während der Revolution geflossenen Ströme von Blut kaum ge­loscht worden ist. Und wenn wir nun die Einzelheiten derselben vernehmen, dann wird uns ein Blick in die Grausamkeit der französischen Volksseele eröffnet, der mit einem Schlage die Werke eines Marquis de S a d e begreiflich macht und den wollüstigen Blutdurst der Revolution vorherahnen lässt. lieber die Hinrichtung des Damiens besitzen wir den Bericht eines Augenzeugen, dem wir in der Hauptsache folgen.

An Damiens wurde dasselbe Urteil vollstreckt wie an dem Mörder Heinrich's IV., Frangoia R a v a i 11 a c , am 27. Mai 1610. Er (Damiens) wurde zunächst am Morgen des 28. März 1757 gefoltert, wo­bei ihm mit glühenden Zangen Brüste, Arme, Schenkel und Waden aufgerissen und in die Wunden geschmol­zenes Blei, siedendes Oel, brennendes Pech mit Wachs und Schwefel vermischt, gegossen wurden. Gegen drei Uhr Nachmittags wurde der Unglückliehe dann zuerst nach Notre-Dame und darauf zum Greve-Platze geführt. Alle Strassen, die er dorthin passieren musste, waren von einer dichten Menschenmenge (moride affreux) be­setzt, die „weder Hass noch Mitleid" bezeugte. C h a r -lesMon seiet berichtet: „Wohin auch der Blick sich wendete, überall bemerkte er nur die Menge, immer wieder die Menge. Die Menge unter der Arkade Saint-Jean! Die Menge in den ersten Häusern der Rue de la Mortellerie! Die Menge in der Rue de la Vannerie! Die Menge in der Rue de la Tannerie! Die Menge an der Kreuzung der Rue de l'Epine und der Rue de Mouton! Die Menge an allen Ausgängen des Platzes. Auf dem Platze selbst eine compakte Menge, bestehend aus allen möglichen Elementen, aber vor allem aus dem Pöbel. In den Fenstern eine geschmückte, kokette Menge; vor­nehme Herren und erosse Damen, grosse Damen beson­ders, die mit dem Fächer spielten nnd ihre Riechfläsch chen im Fall einer Ohnmacht bereit hielten." tJm 4^/2 Uhr nahm dann jenes grässliche Schauspiel seinen Anfang, dessen blosse Schilderung uns — wir wollen dies nicht verschweigen — noch heute Thränen des Mit­leids und des Wehs über die unsäglichen Leiden eines längst in Staub Zerfallenen entlockt hat.

In der Mitte des Platzes war eine niedrige Platt­form errichtet, auf welcher der Unglückliche, der weder Furcht noch Erstaunen zeigte, sondern nur den Wunsch bekundete, schnell zu sterben, von den sechs Henkern mit eisernen Ringen festgebunden wurde, so dass der Rumpf vollkommen fixiert war. Darauf fesselte man ihm die rechte Hand und Hess sie in einem schwefligen Feuer verbrennen, wobei der Bejammernswerte ein ent­setzliches Geschrei erhob. Man sah (nach M o n s e 1 e t), während die Hand verbrannt wurde, die Haare des Un­glücklichen sich auf dem Kopfe steil emporrichten! Dar­auf zwickte man wieder den Körper mit glühenden Zangen und riss ihm Fleischstücke aus der Brust und an anderen Stellen aus, goss dann flüssiges Blei und kochendes Oel in die frischen Wunden, was, wie es in den „Memoires" von Richelieu heisst, die Luft auf dem ganzen Greve-Platze durch den entsetzlichen Ge­stank verpestete. Nunmehr befestigte man um Ober­arme und Oberschenkel, um Hand- und Fussgelenke grosse Taue, die mit dem Geschirr von vier Pferden ver­bunden wurden, welche an den vier Ecken der Platt­form standen. Dann trieb man diese Pferde an, die so den Delinquenten zerreissen sollten. Allein diese waren nicht gewohnt, solche Henkcrsdienste zu tun. Mehr alseineStunde hieb man auf sie ein, ohne dass es ihnen gelang, eine der Extremitäten abzureissen. Nur die gellenden Schmerzensschreie unterrichteten die „nombre prodigieux de spectateurs" von den unerhörten Qualen, die hier ein menschliches Wesen erdulden musste. Man spannte sechs Pferde vor, die alle zugleich in Bewegung gesetzt wurden. Das Geschrei des Da-miens steigerte sich zu einem wahnsinnigen Gebrüll. „So kräftig war dieser Mensch." Wieder blieb der Er­folg aus. Endlich bekamen die Henker von den Rich­tern die Erlaubnis, das grauenvolle Werk durch Ein­schneiden der Gelenke zu erleichtern. Zuerst durch* trennte man die Hüftgelenke. Der Unglückliche „hob noch den Kopf, um zu sehen was man mit ihm machte," schrie aber nicht, sondern drehte oft den Kopf nach dem ihm entgegengehaltenen Kruzifix, das er küsste, während zwei Beichtväter auf ihn einsprachen. Endlich nach IY2 Stunden dieser „Leiden ohne Beispiel", wurde der linke Schenkel zuerst abgerissen. Das Volk klatschte in die Hände! Der Delinquent hatte sich bis jetzt nur „neugierig und gleichgültig" gezeigt. Als aber der andere Schenkel weggerissen wurde, fing er wieder an zu schreien. Nachdem man die Schultergelenke durch­gehauen hatte, wurde zuerst der rechte Arm abgetrennt. Das Geschrei des Unseligen wurde schwächer, und der Kopf begann zu wackeln. Erst beim Abreissen des linken Armes fiel derselbe hintenüber. So war nur der zuckende Rumpf übrig, der noch lebte und ein Kopf, dessen Haare plötzlich weiss geworden waren. Er lebte noch! Während man die Haare abschnitt und die vier Gliedmassen sammelte, stürzten die Beichtväter zu ihm.

Aber Henri Sanson (der Scharfrichter) hielt sie zurück, indem er ihnen mitteilte, dass Damiens so­eben den letzten Seufzer ausgehaucht habe. „Die Wahrheit ist", schreibt der zuverlässige Bretonne, dass ich noch den Rumpf sich drehen und den Unterkie­fer, wie wenn er spräche, sich hin und herbewegen sah." Dieser Rumpf atmete noch! Seine Augen wandten sich noch gegen die Umstehenden. Man berichtet nicht, ob das Volk noch zum zweiten Male in die Hände klatschte. Sicher ist, dass während der Dauer der ganzen Hinrich­tung Niemand daran dachte, seinen Platz zu verlassen, weder in den Fenstern noch auf der Strasse. Die Reste des Märtyrers wurden auf einem Scheiterhaufen ver­brannt, und die Asche in die vier Winde zerstreut. „Dies war das Ende jenes Unglücklichen, der — man möge es glauben — die grössten Qualen erlitt, die jemals ein Mensch erlitten hat, was die D a u e r derselben an­betrifft." So schliesst der Herzog von Croy, ein Augenzeuge, seinen Bericht, den wir fast wörtlich über­setzt haben. Und Monseiet ruft aus: „Dass man mir nicht mehr von der Anmut und dem Leichtsinn des achtzehnten Jahrhunderts spricht 1 Dieses rosige Jahr­hundert ist für ewig befleckt mit dem Blute des Da­miens!" Noch einige andere Nachrichten von Augen­zeugen teilen wir mit, die jenem Bilde des Jammers eine infernalische Ruchlosigkeit zur Seite stellen, wie sie selbst ein S a d e kaum hat schildern können. Und man denke sich, dass das, was wir berichten, wirklich geschah! Ein ganzes Volk berauscht sich vier Stunden hindurch an den entsetzlichsten Qualen, welche die Welt jemals gesehen hat!

„Der Zusammenfluss von Menschen in Paria an die­sem Tage war unbeschreiblich. Die Bewohner der be­nachbarten Dörfer und der entfernten Provinzen, sogar Ausländer waren herbeigekommen wie zu der glänzend­sten Lustbarkeit. Nicht allein die Fenster nach dem Gerichtsplatz zu, sondern auch die Dachfenster und Bodenluken wurden mit einem rasenden Preise bezahlt. Kopf an Kopf war auf den Dächern zu sehen. Am meisten erstaunte man über die hitzige Begierde der Frauenzimmer, die sonst so gefühlvoll, so mitleidig sind, diesem grässlichen Schau­spiel nachzugehen, sich daran zu weiden, und es mit aller seiner Schrecklichkeit bis ans Ende thränen-los und ohne Rührung zu betrachten, während alle Mannspersonen schauderten und ihr Gesicht wegwandten."

Madme duHauaset erzählt in ihren Memoiren, dass man sogar während der Hinrichtung spielte. Ja, man that noch Schlimmeres. Casanova, der einer von den Ausländern war, welche der Execution beiwohn­ten, berichtet über eine Szene, welche eine schauerliche Illustration zu der Lehre Sade's ist, dass die Qualen eines Anderen die eigne Wollust aufstacheln. Casa­nova erzählt: „Am 28. März, dem Tage des Märtyrer-tums von D a m i e n s, holte ich die Damen schon früh bei der Lambertini ab, und da der Wagen uns kaum fassen konnte, nahm ich ohne Schwierigkeit meine reizende Freundin auf den Schoss und wir begaben uns so nach dem Greveplatze. Die drei Damen drängten sich zusammen, so viel sie vermochten und nahmen die erste Reihe an dem Fenster ein; sie bückten sich dabei und stützten sich auf die Arme, um uns nicht zu ver­hindern, über ihre Köpfe hinwegzusehen. Das Fenster hatte drei Stufen oder Tritte, und die Damen standen •auf dem zweiten. Um über sie wegsehen zu können, mussten wir uns auf dieselbe Stufe stellen; denn auf der ersten würden wir sie überragt haben. Nicht ohne Grund gebe ich meinen Lesern diese näheren Umstände an. Denn sonst würde es schwer sein, die Details zu erraten, die ich ihnen verschweigen muss.

„Wir besassen die Ausdauer, vier Stunden bei die­sem abscheulichen Schauspiel zu verharren. Die Hin­richtung des Damiens ist zu bekannt, als dass ich davon zu sprechen brauchte; zunächst, weil die Schilde­rung zu lang sein würde, und dann, weil solche Greuel-thaten die Natur empören. Während der Hinrichtung dieses piers ler Buiten Tnusste ich die Augenrab-wenden und mir die Ohren zuhalten, wenn ich das herz-zerreissende Geschrei hörte, als er nur noch seinen halben Körper hatte; aber die Lambertini und die dicke Alte machten nicht die geringste Bewegung; war das eine Wirkung der Grausamkeit ihres Herzens? Ich musste mich stellen, als glaubte ich ihnen, indem sie mir sagten, der Abscheu den ihnen das Attentat dieses Un­geheuers einflösste, hätte sie gehindert, das Mitleid zu fühlen, welches notwendiger Weise der Anblick der un­erhörten Qualen, denen man ihn unterwarf, erregen musste. Die Thatsache ist, dass T i r e 11 a die fromme Alte während der Zeit der Hinrichtung auf eine eigen­tümliche Weise beschäftigt hielt. Vielleicht war das luch die Ursache, dass diese tugendhafte Dame keine Bewegung machte und auch den Kopf nicht umdrehte. Da er sehr nahe hinter ihr stand, hatte er die Vorsicht gelbraucht, ihr Kleid in die Höhe zu schlagen, um nicht die Fasse darauf zu setzen. Das war ohne Zweifel in der Ordnung; allein als ich eine unwillkürliche Be­wegung nach der Seite machte, bemerkte ich, dass Tiretta die Vorsicht zu weit getrieben hatte."

Jeder Commentar zu der Erzählung O a s a n o v a's ist überflüssig. Dass es sich nicht um einen momen­tanen Anfall von Satyriasis gehandelt, sondern um eine die einzelnen Phasen der grauenvollen Hinrichtung begleitende und durch sie hervorgerufene wollüstige Ekstase, geht mit aller Evidenz daraus hervor, dass diese scheusslichen sexuellen Manöver zwei Stunden lang dauerten, wie Casanova ausdrück­lich hervorhebt. „Die Handlung wurde wiederholt und ohne einen Widerstand."

Dass Ludwig XV. den Gesandten mit grossem Behagen alle Einzelheiten dieser Exemtion mitteilte, wird nicht Wunder nehmen.8) Auch die Hinrichtung des Giftmischers D e s r u e b , der am 6. Mai 1772 ge­rädert und dann noch lebend verbrannt wurde, lockte eine grosse Zuschauermenge an, „spectateurs distingues ont desire jouir de oet epouvantable spectacle", und die Zimmer auf dem Greveplatze wurden „sehr teuer ver­mietet."

Die Revolution fand also ein auf Hinrichtungen wohl dressiertes Publikum vor. Wir betonen nochmals, dase Sade alle Greuel der Schreckenszeit mit erlebt hat, da er 1790 freigelassen wurde und nur von Dezember 1793 bis zum 10. Thermidor (28. Juli) 1794 wieder im Gefängnis sass. Gleich die ersten Vorläufer der Sep­tembermorde, die Erstürmung der Bastille (14. Juli 1789), der Zug nach Versailles (5. Oktober 1789, die blutigen Ereignisse in Avignon in den Jahren 1790 und 1791, lassen erkennen, welche Rolle die F r a u e n bei den Hinrichtungen und Morden spielen würden, und dass keineswegs den französischen Frauen des Volkes der Blutdurst und die Grausamkeit eigentümlich war. In Avignon war der Streit zwischen den päpstlichen Aristokraten und dem patriotischen Volke aufs heftigste entbrannt. Schon Anfang 1790 forderte der „päpst­liche Galgen" seine Opfer, um bald nach Ankunft des berüchtigten Jourdan von dem „patriotischen" Galgen abgelöst zu werden. Am 14. September 1791 wurde Avignon dem französischen Reich einverleibt und eine Regierung von „sechs leitenden Patrioten" einge­setzt. Am 16. Oktober 1791 begab sich einer derselben, 1' E s c u y e r in die Cordelierskirche, um dort die Päpst­lichen zusammen zu treffen und „ein Wort der Ermah­nung zu ihnen zu sprechen". Die Antwort darauf war „ein kreischendes Geheul der aristokratisch­päpstlichen Andächtigen, worunter viele Wei­ber waren. Ein tausendstimmiges drohendes Geschrei, das, da l'Escuyer nicht floh, zum tausendhändigen Drängen und Stossen wurde, zum tausendfüssigen Tre­ten, mit Niederfallen und Getretenwerden, mit dem Stechen von Nadeln, Scheren und anderen weiblichen zugespitzten Instrumenten. Grässlich zu sehen, wo rund herum die alten Toten und Petrarcas Laura schlafen, der Hochaltar und brennende Kerzen und die Jungfrau darauf herniederblicken; die Jungfrau ganz ohne Thrä nen und von der natürlichen Farbe des Steins. — l'Escuyers Freunde stürzen wie Hiobsboten zu Jourdan und der Nationalmacht. Aber der schwer­fällige J o u r d a n will sich vorerst der Stadtthore be­mächtigen, eilt nicht so dreifach schnell, als er könnte, und als man in der Cordelierskirche anlangte, ist sie still und leer; l'Escuyer, ganz allein, liegt da am Fusse des Hochaltars, in seinem Blute schwimmend, von Scheren zerstochen, unter die Füsse getreten, massak­riert. Seufzt noch einmal dumpf und haucht sein elendes Leben für immer aus." ) Nun folgte das schreckliche Strafgericht, welches unter dem Namen des „Eisturms" von Avignon für immer einen traurigen Ruhm erlangt hat. Männliche und weibliche Aristo­kraten wurden ins Schlosa geschleppt und in unter­irdische Kerker am Rhonefluss geworfen. Neben diesen Verliessen befand sich die „Glaciere"( auch „Trouillas" oder „Pressoir") genannt, der berüchtigte „Eisturm", ein „lieu de mort, lieu de supplice", die grosse Toten­kammer, in welche früher die Opfer der Inquisition lebend hinabgeworfen wurden, mitten unter Skelette, wo man sie verhungern Hess. Wieder sah dieser ent­setzliche „Eisturm" Thaten, „für die die Sprache keine Namen besitzt. — Undurchdringliches Dunkel und Schatten entsetzlicher Grausamkeit umhüllen diese Schlosskerker, diesen Glaciereturm. Nur dies ist klar, dass viele eintraten, wenige zurückgekehrt sind. AI3 am 15. Novbr. 1791 der General C h o i s i in Avignon einrückte und Jourdan absetzte, da fand man im Eis­turme „hundertdreissig Leichname von Männern und Weibern, ja selbst Kindern (denn die zit­ternde Mutter, hastig hingeschleppt, konnte ihr Kind nicht verlassen) lagen aufgehäuft in jener Glaciere, fau­lend unter Fäulnis, zum Entsetzen aller Welt."

Unverkennbar hat der Marquis de Sade diesen Eisturm von Avignon, der alten Heimat seines Ge­schlechtes, diese unterirdischen Gewölbe mit ihren Ske­letten in dem von Skeletten erfüllten unterirdischen Gewölbe des Schlosses von Roland geschildert, in wel­ches dieser seine Opfer schleppt. So wird auch Justine in diesen von Toten bewohnten unterirdischen Abgrund Mnabgestossen und ihrem Schicksal überlassen (Justine IV, 176,22.

Nach der Massakrierung der unglücklichen Schwei­zer am 10. August 1792, von der Carlyle sagt, dass „wenige Fälle in der Geschichte der Blutbäder furcht­barer" seien, und dass die alte „deutsche Biederkeit und Tapferkeit" in den für den König todesmutig kämpfen­den Schweizern sich wieder gezeigt habe, kam jene , September weit „dunkel, voll Nebel, wie eine Lappländer Hexenmitternacht"; vom Sonntag dem j 2. September 1792 nachmittags bis zum Donnerstag, I 6. September 1792 abends folgen nacheinander „hun- \ dert Stunden, die man der Bartholomäusmordnacht, den Armagnacmetzeleien, der Sicilianischen Vesper oder dem Allerschreeklichsten in den Annalen dieser Welt an die Seite stellen rnuss. Schrecklich ist die Stunde, ruft Carlyle aus, wenn die Seele des Menschen in ihrem Wahnsinn alle Schranken und Gesetze durchbricht und zeigt, welche Höhlen und Tiefen in ihr liegen! Aus ihrem unterirdischen Kerker sind nun Nacht und Orkus ausgebrochen hier in diesem Paris, wie wir sagten, wie es schon lange prophezeit war; grässlich, verworren, peinlich anzusehen, und doch kann man, ja man sollte wirklich nicht es jemals vergessen". Priester, Aristokraten, Schweizer wurden aus de Gefängnissen hervorgeholt und auf der Strasse von der wütenden Volksmenge in Stücke gehauen. Allen voran die rasenden Weiher! „Und es bildet sich ein hoher Haufen von Leichen, und die Gassen strömen von Blut." Dazu das Geheul der Mörder mit den schweiss- und bluttriefenden Gesichtern, das noch grausamere Wutgeschrei der Weiber. „Und unter diese Menschen wird nackt ein Mitmensch geschleudert!" Einer um den andern wurde niedergemacht, die Säbel müssen frisch geschliffen werden, die Mörder erfrischen sich aus Weinkrügen. Fort und fort dauert die Schlächterei, das laute Geheul wurde zum tiefen Knurren. Der Prinzessin Lamballe wird der schöne Kopf mit der Axt gespalten und vom Rumpfe getrennt. Ihr schöner Leib wird in Stücke gehauen, unter „Schändlichkeiten, obscönen Greueln von Schnurrbart — grands-levres, die die Menschheit gern für unglaublich hielte". Schweigen ; wir über alles Weitere, von Jourgniac's38stündiger Todesangst, von Matons Erlebnissen vor seiner „Eesurrection" und von dem Dritten im Bunde, dem armen Abbe Sieard. Diese drei könnten wir hören in „wunderbarer Trilogie oder dreifachem Selbstgespräch, womit sie gleichzeitig ihre Nachtgedanken, während ihrer schrecklichen Nachtwachen, für uns hörbar machten." Die drei könnten wir hören, aber „die anderen Tausendund neun und achtzig, worunter Zweihundertzwei Priester, die ebenfalls ihre Nachtgedanken hatten, bleiben unhör­bar für immer in schwarzem Tode erstickt." Nunmehr beginnt die Guillotine ihr Werk. Wie sie es gethan hat in den Jahren 93 und 94, darüber möge man das ergreifende Kapitel bei C a r 1 y 1 e nachlesen ). Aber über den Schrecken erhoben sich noch die „grands terroristes", die grossen Schreckensmän­ner, Gestalten der Hölle, die Fouche, Collot, Couthonin Lyon, dieSaint-Andrein Brest, die Maiquet in Orange, L e b o n (der Namensvetter eines modernen ebenso scheusslichen L e b o n) in Arras und Oarrier in Nantes, diese „Weltwunder" (nacb Garlyle) schwelgen in „Strömen sich ergiessenden Todes", sie schwelgen aber auch wie die Gestalten des Marquis deSadein — Wollust.

Schon B r u n e t hat den grössten der grossen Terroristen, Jean Baptiste Carrier als einen derjenigen bezeichnet, die S a d e als Vorbild für die blutigen Schilderungen in seinen Romanen gedient haben und ohne welche „letztere nicht diesen wilden Charakter gehabt haben würden". Neuere Forschungen, insbesondere die Schrift des Grafen F1 e u r yx) haben dies vollauf bestätigt. C a r r i e r war ein Schlächter und Henker aus Wollust. Er errichtete in Nantes ein „Serail", in dem er mit seiner Geliebten und Oberaufseherin 0 a r o n sich den widerlichsten Orgien hingab. Er „stürzte sich in die Wollust hinein, ohne Sättigung zu finden." II faudrait un volume, pour rappeler les orgies auxquelles presida le representant. Er Hess schöne F r a u e n, nachdem er sie genossen hatte, erträn­ken. In seinem Serail an der Barriere de Kichebourg in Nantes verbrachte er, wie es in einem Briefe Julliens an Robespierre heisst, seine Nächte mit „frechen Sultaninnen und niedrigen Schmeichlern, die ihm als Eunuchen dienten, während die Caron diese Orgien leitete." Nachdem in Nantes guillotiniert worden war, bis „der Scharfrichter todmüde hinsank", füsilierte man in der Ebene von Saint-Maure „Kinder und Weiber mit Bändern an der Brust" bei hundert­undzwanzig, und Männer bei vierhundert, bis man auch dessen müde ward und zu den „N oyade s", den Er­säufungen griff, die „berüchtigt geworden sind für alle Zeiten."

In flachen Fahrzeugen, sogenannten „gabares" fuhr man hinaus im Dunkel der Nacht. Neunzig Priester sind auf dem Schiffe, das plötzlich auf ein gegebenes Zeichen versinkt. „Das Urteil der Deportation", schreibt Carrier, „wurde senkrecht vollstreckt". (Deportation vertieale). Bald folgte eine zweite Noyade von 138 Personen. Und dann griff man zu Schiffen mit aufklappbaren Böden, die sich öffneten, und wenn in der Todesangst die Unglücklichen ihre Finger durch die Luken «steckten, Hess der scheussliche Grand-maison der Helfershelfer Carrier's, die Finger abhauen! Man warf auch die Opfer mit gebundenen Händen ins Wasser, ergoss einen beständigen Bleihagel über die Flussstelle, bis der letzte mit dem Wasser Kämpfende untergegangen war. Viele Zeugen ver­sichern, dass man oft die Frauen vollständig nackt aus­zog, dass man kleine Kinder hineinwarf, deren jammern­den Müttern erwidert wurde: „Wolflein, die zu Wölfen heranwachsen werden." Weiber und Männer werden zusammengebunden und hineingeworfen. Das sind die „republikanischen Hochzeiten" (mariages republicains), ebenso berühmt für alle Zeit. Und als der Strom die Leichen wieder zurückwälzt, als Raben und Wölfe sich gierig auf die am Flussufer liegenden Oadaver stürzen, da ruft C a r r i e r aus: „Quel torrent revolutionnaire!" Es ist Nacht. Da verlässt dieser Nero der Revolution sein Serail, begleitet von seinen Dirnen und Cumpanen „en joyeuse compagnie." Sie schauen dem grässlichen Schauspiele zu, und dann „la noyade faite, il passait les nuits en orgies bacchiques avec des femmes et ses „roues" ordinaires." So meldet die i Geschichte. Auch dass es 25 Noyaden waren, und dass im ganzen 4860 Menschen ertränkt wurden, darunter viele Kinder unter 15 Jahren. Es geschah in der Dunkelheit, aber es „wird einst am Sonnenlicht unter­sucht und nicht vergessen werden Jahrhunderte lang." (Carlyle).

Und merkwürdig! Spricht nicht auch dieser „grand terroriste" in seinem Briefe an den Convent vom 8. Frimaire 1793 ganz wie S a d e und mit ebendemselben Ausdruck, den dieser so oft gebraucht, davon, dass „nach der Auf riehtung des Apostolates der Vernunft inmitten der Eevolution alle Vorurteile, aller Aberglauben und Fanatismus verschwinden werden vor dem „f lam-beau de la philosophie." Ist das ein Zufal|?) In Lyon, wo Oollot-d'Herbois haust, „fliessen die Gossen auf der Place des Terreaux rot, äs trägt die Rhone zerstückelte Körper auf ihren Wellen dahin. Zweihundertundneun Verurteilte werden über den Fluss geführt, um auf der Brotteaux-Promenäde mit Musketen und Kanonen in Masse erschossen zu werden. Es wird „eine Schlächterei, zu grässlich, um sie in Worten zu schildern, so grässlich, dass sogar die Nationalgarden beim Feuern das Gesicht abwenden."

Man darf sagen, dass es keine Zeit gegeben hat, in der das Morden so zur Gewohnheit geworden wäre, wie in diesen Jahren von 1792 bis 1794. Es bildeten ; sich, gleichsam als Konkurrenten der Guillotine, M o r d-; banden wie die berüchtigten „Jehus" und die Son-j nenbanden, welche im Süden Frankreichs den „weissen j Schrecken" verbreiteten. Die Zahl der Menschen, die gemordet wurden in jener Zeit, sei es durch die Guillo­tine, sei es auf andere Weise, war Legion. Vom j Könige und der Königin bis hinab zum Schuster Simon mussten sie alle dahin. Und wahr wurde auch das Wort des düsteren Saint-Just, dass „für Revolutionäre j es keine Ruhe gäbe als im Grabe." Die Revolution ! verschlang, wie Saturn, ihre eigenen Kinder (V e r - gniaud). In den Gefängnissen wurden gefangene Frauen von den Kerkermeistern vergewaltigt (Madame Eoland in ihren Memoiren); aus den Haaren guillotinierter Frauen wurden blonde Perrücken verfertigt, und in Meudon war nach Montgaillard eine „Gerberei von menschlichen Häuten, solcher Häute der Guilloti­nierten, die des Schindens wert schienen, und woraus ein ganz gutes Waschleder gemacht wurde, zu Hosen und anderem Gebrauch. Die Haut der Männer übertraf das Gemsleder an Zähigkeit, die Haut der Weiber war fast zu gar nichts gut, da sie zu weich war im Gewebe."

Doch bald ist das Ende des Schreckens nahe. Noch einmal erhebt er sich im Prairial des Jahres 1794 und in den ersten neun Tagen des Thermidor zu furchtbarer Grösse. 1400 Personen wurden in einem Monat guillo­tiniert. Wer kann ohne Zittern das Verzeichnis der zahllosen Namen, der unglücklichen Opfer der Thermi-dortage lesen, wie es Houssaye in erschütternd dramatischer Darstellung mitteilt. Unter ihnen glänzt ein Name (7. Thermidor) ganz besonders: Andre' C h e n i e r.

La sainte guillotine va tous les jours!

Und endlich kommt jener n e n n t e Thermi­dor, der das Ende der Schreckensherrschaft bringt mit dem Sturze des gewaltigen Kobespierre, jener Tag, dem Marie-Joseph Ohenier in der wunder­baren „Hymne du 9 thermidor" begeistert zujauchzt:

Salut, neuf thermidor, jour de la delivrance: Tu vins purifier un sol ensanglantß: Pour la seconde fois tu fis luire ä la France Les rayons de la Liberte!

25. Ethnologische und historische Vorbilder.

Der Marquis de Sade war ein scharfer Beob­achter. Ausserdem hatte er während seines Gefängnis­lebens die Kenntnis der zeitgenössischen Litteratur sich in einem grossen Umfange zu eigen gemacht. Es ist daher kein Wunder, dass wir die Spuren beider Eigen­schaften in seinen Werken antreffen. Was uns am charakteristischsten erscheint, ist die grose Rolle, welche bei Sade die Ethnologie spielt. Auch das ist kein Zufall. Die ersten Anfänge der Völkerkunde ge­hören dem 18. Jahrhundert und speziell Frankreich an, wo J. F. Lafitau im Jahre 1724 das erste be­deutende Werk dieser Art in seinen „Mœurs des sauvages américains comparées aux mœurs des premiers temps" veröffentlichte, über das sich Voltaire in einer Schrift von ähnlicher Art sehr anerkennend äussert. („Essai sur les mœurs et l'esprit des nations" 1756). Weiter förderten dieses grosse Interesse an der Kenntnis wilder Völker die zahlreichen Eeiseexpeditionen hervorragender französischer Gelehrter im 18. Jahr-I hundert. Wir nennen nur die bekannten Namen eine3 Bouguer, La Condamine, Bougainville, La Perouse, Marchand, d'Auteroche, Duhalde, Charlevoix, Savary, Le Vaillant, Volney, Dumont. Man fing an — zwar noch in roher und primitiver Weise — die Sitten und Gewohnheiten der einzelnen Völker zu vergleichen und die Entwicklungsgeschichte der Menschheit zu studieren. Dabei gefiel man sich in einer gewissen Verherrlichung der europäischen Civilisation. Die Wilden waren noch nicht die „besseren Menschen" unseres Seume. Lafitau schreibt: „Ich habe mit grosser Betrübnis in den meisten Berichten gelesen, dass diejenigen, welche über die Sitten wilder Völker geschrieben haben, sie uns geschildert haben als Menschen, welche kein irgend­wie religiöses Gefühl besitzen, keine Kenntnis einer Gottheit, keine Persönlichkeit, der sie irgend welchen Kultus widmen, wie Menschen, welche weder Gesetze,. noch eine Obrigkeit, noch irgend eine Eorm der Regie­rung haben, mit einem Worte als Menschen, welche von Menschen ungefähr nichts haben als nur die Gestalt. Man hat sich gewöhnt, eine Vorstellung von den Wilden zu entwerfen, welche sie nicht von den Tieren unter­scheidet." „)

Diese Beurteilungsweise wilder Völker findet man auch bei Sade. Er rechtfertigt durch die Laster und Grausamkeiten, welche man bei ihnen findet, diejenigen seiner Zeit. So zählt er alle die Völker auf, welche sich durch grosse Schamlosigkeit auszeichnen, um ; dadurch der von ihm gepredigten Unzucht eine feste ; Unterlage zu geben. (Juliette I, 122—28). James ; Cook hat in der Südsee überall die Paederastie verbreitet gefunden. Folglich ist dieselbe gut. („Philo­sophie dans le Boudoir" I, 20. Ja, wenn man mit einem Ballon den Mond erreichen könnte, würde man sie dort ebenfalls finden, da sie allenMensohen imNatur-zustande eigentümlich ist. Die Grausamkeit de: V Frauen ist in der ganzen Welt eine und dieselbe. ' Zingua, Königin von Angola (ein mit Vorliebe von S a d e immer und immer wieder genanntes Scheusal), die „grausamste aller Frauen" opferte ihre Geliebten nach dem Genüsse, Hess Krieger mit einander kämpfen und gab sich dem Sieger hin, und liess in einem grossen Mörser alle vor dem dreisaigsten Jahre geschwängerten Frauen zerstampfen. (Phil, dans le Boud. I, 156). Zoe, die Gemahlin eines chinesischen Kaisers, fand das grösste Vergnügen daran, Verbrecher vor ihren Augen hinrich­ten zu lassen, und liess Sklaven opfern, während sie da­bei mit ihrem Gatten der Liebe pflegte. Je grösser die Grausamkeiten waren, um so grösser war ihre Wollust. Sie erfand jene hohe Erzsäule, in der man den Delin­quenten lebendig röstete (ibidem). Theodora amüsierte sich bei der Castration von Männern. (Ib. S. 157.) Auch erzählt S a d e öfter die bekannte Geschichte des Amerigo Vespucci (den er freilich nicht nennt), dase die Frauen von Florida ihren Männern kleine gif­tige Insekten ans Glied setzten, die durch ihren Stich dasselbe anschwellen Hessen, und neben heftigem Schmerz und Geschwürsbildung auch eine unersättliche Libido verursachten. (Phil, dans le Boud. I, 157). So bringt S a d e für alle Laster ethnologische Beispiele in Fülle bei, für Giftmord, Prostitution, Anthropophagie, sexuelle Entartungen, Malthusianismus Atheismus u. s. w. Die Bibel liefert ihm viel Material. Dann kommen die Lappen, die Afrikaner, die Asiaten, die Türken, die Chinesen, Angola, die Neger der Pfefferküste. Er kennt alles. Er citiert Oook's Reisen, P a w' s „Recher-ches sur les Indiens, Egyptiens, Armeniens" (Anthro­pophagie), die „Coutumes de tous les peuples". Er weiss, dass es in Lappland, in der Tartarei, in Amerika eine „Ehre ist, seine Frau zu prostituieren", dass die Ulyrier besondere Wollustorgien feiern, in grosser Versamm­lung, dass der Ehebruch bei den Griechen florierte, und die Römer sich ihre eignen Frauen unter einander liehen; dass seine geliebte Zingua ein Gesetz erliess, das die „vulgivaguibilite" der Weiber vorschrieb. Sparta,. Formosa, Otaheiti, Cambodja, China, Japan, Pegu, Cucuana, Riogabar, Schottland, die Balearen, die Massageten liefern ihm eine Menge von überzeugenden Bei­ spielen für die Richtigkeit seiner Lehren. Aus Pelloutier' s berühmter „Geschichte der Celten" (Berlin 1754) beweist er, dass das von Roland geübte „jeu de coupe-corde", das Hängen aus Wollust, schon von den Celten geübt wurde (Justine IV, 20 und versteigt sich sogar an dieser Stelle zu folgendem charakteristischen halb wahren Ausspruch: „Fast alle Ausschweifungen, die in der „Justine" beschrieben wurden, waren früher ein Teil religiöser Ceremonien und wurden von unseren Vorfahren geübt wie z. B. die Flagellation." Für die Geisselung beruft er sich auch noch auf das seither oft citierte Werk von Brantome, wobei er ausnahms­ weise aufs genaueste die von ihm benutzte Ausgabe an- j giebt: Brantome „Vies des Dames galantes" Tome L Edition de Londres 1666. (Juliette LT, 133). j

Alle bizarren Ideen, alle merkwürdigen Einfälle berüchtigter erotischer Scheusale verwertet S a d e. So-erklärt Noirccuil, dass er zweimal an einem Tage heira­ten will, und zwar um 10 Uhr früh als Frau verkleidet einen Mann, um 12 Uhr als Mann einen Knaben, der j als Frau verkleidet ist. Juliette dagegen will in der­selben Kirche zu derselben Zeit als Mann verkleidet { eine Tribade heiraten, die als Frau verkleidet ist und eine andere Tribade, die als Mann verkleidet ist. So übertrifft er durch diese vierfache Verbindung Nero, der den Tigellinus als Frau und den Sporus als Mann heiratete. (Juliette VI, 319). Juliette, die im Nach-ahmungstalent nicht hinter Noirceuil zurückbleiben will, macht ein Stückchen der Kaiserin Theodora nach. Sie streut sich Gerstenkörner auf die Geschlechtsteile und lässt sich dieselben von Gänsen aufpicken, was ihr eine unendliche Wonne bereitet (Juliette IV, 34.

Ueberaus häufig citirt S a d e den berüchtigten Marschall Gilles Laval de Retz(Rais) — z. B. Justine II, 17; Philosophie dans le Boudoir I, 153 — über den Bo ssar d und de Maulle eine ausgezeich­nete Monographie geliefert haben. Dieser „Ritter Blaubart", ein Mann von schöner, eleganter Erscheinung und grosser Gelehrsamkeit, verlässt im 27. Jahre „den Hof, die bisherige, erfolggekrönte militärische Lauf­hahn, verstösst Weib und Kind, versehwindet auf seinem einsamen Schlosse, treibt unsinnige Verschwendung, ergiebt sich mystischen Studien, Teufelsbeschwörungen und Aehnlichem, verfällt dann sexuellen Ausschwei­fungen, wird Paederast, Kinderräuber, Mörder, Sadist, Leiehenschänder u. s. w." . Dieses Ungeheuer lockte nach und nach 140 Kinder in sein Schloss, wo sie in scheusslicher Weise ermordet wurden. Das Opfer wurde niedergeworfen, entweder durch einen Knecht oder durch Gilles de R e t z selber, der Hals ab­geschnitten, wobei Gilles den Anblick des zuckenden Körpers wollüstig genoss. Dann schnitt er die Extre­mitäten ab, öffnete Brust oder Bauch und riss die Ein­geweide, heraus. Bisweilen setzte er sich auf den Körper des Opfers, um den Todeskampf zu fühlen, „plus content de jouir des tortures, des larmes, de l'effroi et du sang que de tout autre plaisir". Auch köpfte er den Leich­nam, nahm den Kopf in die Hände, betrachtete ihn mit wollüstigen Blicken und küsste ihn leidenschaftlich. Der vom Beichtvater des Marschalls aufgezeichneten Beichte entnehmen wir noch die folgenden Details: „Egidius de Rays, sponte dbrit, quamplurea pueros in magno numero, cujus amplius non est certus, cepisse et capi fecisse, ipsosque pueros occidisse et occidi fecisse, seque cum ipsis vicium etpeccatum sodomi-t i cum commisiisse,.. tarn ante quam post mortem ipeo-rum et in ipsa morte damnabiliter . . . cum quibus etiäm languentfbus vicium sodomiticum committebat et exercebat modo supra dicto." Gilles pflegte oft zu seinen Komplizen zu sagen: „Niemand auf der Welt versteht oder konnte auch nur verstehen, was ich in meinem Leben gethan habe. Es giebt Niemanden, der es thun könnte." Mit ähnlichem Stolze sprechen die Helden S a d e ' s über ihre Unthaten. Schon E u 1 e n b u r g hat hervorgehoben, dass der Marquis de Sade nicht nur dem Marschall R e t z an „verschiedenen Stellen von „Justine et Juliette" begeisterte Nachrufe widmet", sondern dass er ihm auch „würdige Genossen" giebt, u, a. in jenem Jerome (Bd. 3 der Justine), der als Schlossherr in Sicilien durch seine Agentin dementia überall Kinder aufgreifen und ankaufen lässt, um sie ganz im Stile des Gilles de Rais zu Tode zu mar­tern".

Das eigene Zeitalter des Marquis de Sa de war aber überreich an einer Eülle ahnlicher Gestalten! Sade schildert, wenn er wich auf ethnologische Vorbilder und Persönlichkeiteil ainer fernen Vergangenheit zur Ergänzung des von ihm gezeichneten Sittenbildes zurückgreift, immer doch noch mehr seine eigene Zeit mit all ihren wilden Trieben, ihrer Wollust und ihrem Blutdurst. „Wie viele geheime, privilegierte Verbrecher, sagt J. Michelet, gab es, die man nicht zu verfolgen wagte! Die Mächtigen oder die durch Mächtige Geschützten überliessen sich entsetz­lichen Phantasien, die sie oft zum Morde führten. Mi c h e 1 e t erzählt, dass ein Parlamentsrat ein junges Mädchen grausam misshandelte und darauf vergewal­tigte. Er tötete seinen Kutscher, der sein Komplize war. Später, als die Sache doch ruchbar wurde, sich selbst.

S a d e erwähnt sehr häufig den Grafen Charolais (z. B. Philosophie dans le Boudoir I, 153, II, 13, der „Morde aus Wollust begangen habe". Dieser Graf von Charolais (1700—1760) „düsteren Angeden­kens" verband nach M o r e a u den empörendsten Cynis-mus mit einer kaum fassbaren Wildheit. Er liebte, Blut bei seinen Orgien fliessen zu sehen und richtete die ihm zugeführten Courtisanen in grausamer Weise zu. „Inmitten seiner Ausschweifungen mit seinen Maitressen war ihm nichts angenehmer, als mit seiner Elinte Dachdecker oder Passanten zu erschiessen". Das Herabrollen der Leichen vom Dache bereitete ihm ein unendliches Vergnügen.8) Auch der Abbe de Beauffremont soll die Menschen von den Dächern heruntergeschossen haben. S a d e hat ebenfalls diese eigenartige Monomanie in das Register seiner sexuellen Perversionen aufgenommen. Juliette erschiesst ihren Vater, während sie sieh mit einem anderen Manne ge­schlechtlich befriedigt, um den Genuss zu erhöhen (Juliette KL, 115).

Nach Michelet liebte dieser Charolais das schöne Geschlecht nur „im blutigen Zustande“. Sein Vater, der Prinz von Condé, hatte schon ein Vergnügen daran gefunden, Menschen zu vergiften, so z.B. den Dichter Santeul, und hatte auf seine beiden Söhne, den Herzog von Bourgogne und den Grafen Charolais diese perversen Neigungen vererbt. Beide bedienten sich als einer Helfershelferin bei ihren Orgien der Madame de Prie. Eines Tages erschien wie Michelet erzählt, bei derselben eine Madame de Saint-S., die alsbald von den sauberen Herren Prinzen nackt ausgezogen wurde, et Charolais la roula dans une serviette [rollte sie ihn ein Tuch] . Trotz dieses Erlebnisses liess sich die Unglückliche noch einmal in das Haus der Prie locken und wurde diesmal „wie ein Hühnchen gebraten“. Von ihren schweren äusseren und inneren Brandwunden erholte sie sich erst nach mehreren Jahren. Ausdrücklich erwähnt Michelet, dass der Herzog von Bourgogne diese grausame Idee hatte. Sollte dieses Scheusal nicht in dem Herzog Dendemar in der „Juliette" geschildert sein, der die nackten Leiber von vier Freudenmädchen mit brennen­dem Oel begiesst (Juliette I, 352)? Es ist doch sehr wahrscheinlich.

Ganz unverkennbar ist dagegen die folgende Ueber-einstimmung und Entlehnung. Die GoncourtB er zählen von dem Herzog von Kichelieu, dem Helden der berüchtigten Fastillen, dass es ihm ein besonderes Vergnügen bereitete, die von ihm gequälten Menschen weineozu sehen. Bei Sade (Justine I, 14) kommt ein Grosskaufmann Dubourg vor, dessen grösster ge­schlechtlicher Genuas darin besteht, Kinder und Mäd­chen weinen zu machen.

Der berüchtigte Anthropophage Blaize Fer­ra g e, genannt Seye, scheint ebenfalls dem Marquis d e S a d e als Vorbild gedient zu haben. Dieser Mensch „hauste 1779 und 1780 in den französischen Gebirgs-abhängen der Pyrenäen,, tötete Männer, Frauen und besonders junge Mädchen; Männer ass er nur aus Hunger, hingegen benutzte er die Frauen vor dem Morde zu sexuellen Genüssen, und es wurde berichtet, dass er besonders an Kindern seine Wollust auf die brutalste Weise befriedigte. Am 12. Dezember 1782 zum Tode durch das Rad verurteilt, wurde er, erst 25 Jahre alt, schon am folgenden Tage hingerichtet." ) S a d e schildert ebenfalls einen solchen Anthropophagen, der wie Ferrage im Gebirge sein Wesen treibt. Das ist Minski, der „Eremit der Apenninen" (Juliette III, 313).

B r u n e t erwähnt noch mehrere sadistische Typen des 18. Jahrhunderts.8) Ein vornehmer Pole, Verfasser verschiedener historischer Werke, der Graf von Po-t o c k i, soll Missethaten „dans le genre de ceux du marquis de S a d e" begangen haben und infolgedessen aus seinem Vaterlande verbannt worden sein. In Lyon waren vor der Revolution die Sitten so verderbt, dass zahlreiche sadistische Attentate sich ereigneten, und Michelet mit Recht in seiner „Geschichte der fran­zösischen Revolution" behauptet, dass „nicht ohne Grund ein nur zu berühmter Schriftsteller mehrere Episoden eines verabscheuungswürdigen Romans in Lyon sich abspielen lasse".

Wir können diese Bemerkung Brunet's noch durch eine merkwürdige Stelle bei S a d e bekräftigen. Im vierten Bande der „Justine" entflieht die Titelheldin nach Lyon, wo sie einen gewissen Säint-Florent wieder­trifft, der die von ihm deflorierten jungen Mädchen so­fort durch einen Mädchenhändler verkaufen lässt. An dieser Stelle sagt Sa de ausdrücklich, dass dieser Mäd«henhändler von Lyon eine histo­rische Persönlichkeit sei. Es sei keine Fabel (Justine IV, 64—7.

Jean Paul Marat, auf den der Marquis de S a d e am 29. September 1793 eine noch erhaltene emphatische Gedenkrede hielt, dieser ohne Zweifel Blut­dürstigste unter den grossen Revolutionären, wird dem Marquis manche Ideen, die wir in dessen Romanen finden, eingegeben haben. Er „geberdete sich wie ein Trunkener, der sich im Blute berauscht hat und von dem Dunst des vergossenen Blutes zu immer rasenderer Gier gereizt wird." Vor allem riet er in seinem „Ami du peuple" die grossen Massenmorde an und for­derte immer wieder zu deren Wiederholung auf. Wir werden die Pläne derartiger Massenmorde mehr als ein­mal in den Romanen des Marquis de S ade antreffen.

Sonderbar ist die Behauptung des oben erwähnten phantasievollen deutschen Autors, dass „Justine" und „Juliette" „eigentlich nichts als eine Autobiographie des Marquis de S a d e" seien, dass Justine identisch sei mit der Mademoiselle A r o ü t, Juliette mit der Gräfin d e B r a y.

Ebenso merkwürdig ist, dass der Geschmack an menschlichen Excrementen, der in Sade's Romanen eine so grosse Holle spielt und der ja auch heute noch als besonderes psychopathologisches Phäenomen vor­kommt, auch historisch in einer eigentümlichen Weise belegt werden kann. Unter Ludwig XIV. trug der Intendant B u 11 i o n immer eine goldene Dose bei sich, die, statt mit Tabak, mit menschlichen Faeces gefüllt war! In einer obseönen Schrift „Merdiana, ou Manuel des chieurs" •) ist ein Mann dargestellt, wie er „tabak ä la rose" f abriciert.

26. Italienische Zustände im 18. Jahrhundert.

Im Jahre 1772, nach der Marseiller Skandalaffäre, entfloh der Marquis de Sa de mit seiner Schwägerin nach Italien, wo er sich 5 bis 6 Jahre aufhielt. Die Frucht dieses Aufenthaltes war die Schilderung der italienischen Zustände, die mehr als drei Bände der „Juliette" in Anspruch nimmt. (Vom Ende des dritten Bandes bis zum Ende des sechsten Bandes.) Er selbst macht ausdrücklich darauf aufmerksam, dass er Italien aus eigener Anschauung kenne, indem er sagt (Juliette III, 290): „Diejenigen, welche mich kennen, wissen, dass ich Italien mit einer sehr hübschen Frau durchreist habe, dass ich „par unique principe de philo-sophie lubrique, diese Frau dem Grossherzog von Tos­kana, dem Papste, der Prinzessin Borghese, dem König und der Königin von Neapel vorgestellt habe. Sie dür­fen also überzeugt sein, dass alles, was die „partie volup-tueuse" betrifft, exakt ist, das3 ich thatsächlich die wirk­lichen Sitten der erwähnten Persönlichkeiten geschildert habe. Wären die Leser Augenzeugen der Szenen ge­wesen, sie hätten sie auch nicht aufrichtiger und ge­treuer beschreiben können. Auch in Betreff der Beise-schilderungen darf der Leser versichert sein, dass ich mich der grössten Genauigkeit befleissigt habe" Trotz dieser Versicherung kommen in S a d e' s Erzählung sehr viele Ungeheuerlichkeiten und Ueber treibungen vor, wie wir bei der späteren Analyse der „Juliette" sehen wer­den. Aber ein Kern von Wahrheit ist auch hier nach­weisbar, bestimmte von Sa d e geschilderte Verhältnisse sind wieder auffindbar, so dass wir auf die italienischen Zustände im 18. Jahrhundert einen kurzen Blick werfen wollen.

It'al ien ist ja ohne Zweifel die Pfianzschule der echt modernen, raffinierten Unzucht, die, nebenbei be­merkt, stets am besten in den spezifisch katholi­sch e n Ländern, an den Stätten der Askese und des Coelibats gediehen ist. Brauchen wir an Pietro Aretino, an Papst AI exander VI., an Lucre-cia und Cesare Bo rgia, an Giulio Romano und Augusto und Annibale Carracci, diese grossen Praktiker und Künstler der Wollust zu erin­nern? Wie unschuldig und naiv muten uns dagegen die Liebesabenteuer inBoccaccio's „Decamerone" an! Freilich, damals gab es auch noch keine Jesuiten. Die Eenaissance und der Jesuitismus bezeichnen eine neue Epoche in dem Geschlechtsleben Italiens, die vielleicht die reichsten kulturhistorischen Beziehungen aller Art aufweist und von uns in einer der folgenden Studien einer genauen Untersuchung unterzogen werden wird. Hier berühren wir kurz die Verhältnisse des 18. Jahrhunderts.

Der Marquis de Sad e schildert die Verbreitung der Prostitution in Italien als eine geradezu un­geheuerliche. Alle Städte, die Juliette besucht, wim­meln von Dirnen aus hohem und niederem Stande, die besonders bei den grossen mit Ausschweifungen ver­bundenen Festen in den Häusern des Adels ihre Reize glänzen Hessen und sich im allgemeinen eines hohen An­sehens erfreuten. S a d e berichtet denn auch häufig über solche Dirnentriumphe. Nach den Glossatoren des Papstrechtes war ja der Begriff einer „Hure" sehr weit gefasst. Nur diejenige könne man eine wahre Hure nennen, die 23 000 Mal — gesündigt habe ! ) Casa­nova fand die Gärten des Grafen Friedrich Bor­romeo auf den „borromeischen Inseln" angefüllt mit „einem Schwärm junger Schönheiten". Der venetia-nische Gesandte in Turin hielt bei sich offene Tafel, und man „betete hier öffentlich das schöne Geschlecht an". — Bologna dessen sittliche Corruption auch von S a d e geschildert wird (Juliette III, 306), wimmelte von „singenden und tanzenden Nymphen". Beson ders ausgeartet war das Geschlechtsleben in Venedig, von dem der Marquis de S a d e schreckliche Dinge er­zählt (Juliete IV, S. 144 ff). Die Courtisane, schon seit Jahrhunderten „die Pest welscher Städte", wurde in Venedig vergöttert. „Wo bot aber auch ein Ort in der Welt, „so reizende Verlockung und Sinnengenuss jeder Art? Wo war die Ehe der Intrigue zugänglicher als in der Stadt, wo die Sitte des Cicisbeats die Strenge der Pflicht längst zu einem lächerlichen Vorurteil gestem­pelt? Wo waren die Courtisanen schönere, gebildetere und vollkommenere Priesterinnen Cythorens? Wo bot die Licenz adliger Jungfrauenklöster, die Prostitution der Vestalinnen, einen feineren Reiz für sinnliche Ro­mantik, erhöht durch Gefahr, als zu Marano und San Giorgio? Wo gewährte der Carneval und die Masken­freiheit, mitten in lauen, schmeichelnden Sommernäch­ten, so mühelos die entzückendsten Abenteuer? Wo gab es ausgesuchtere Tafelfreuden und köstlicheren heisseren Wein bei Orgien im Geschmacke des klassischen Alter­tums? Wo prachtvollere Opern, entzückendere Stimmen, ; nacktere Terpsichoren, pikantere Festlichkeiten? Wo : konnte der adlige Hang zum Glücksspiele in volleren j Goldhaufen sich sättigen? Nach Venedig ging daher ' der erste Zug aller vornehmen Lüstlinge; verdorben, ärmer an Glücksgütern und an Lebenskraft, selten mit Reue, kehrten sie heim, nachdem jedes Einzelnen Sünde die Sündhaftigkeit der Stadt gesteigert hatte. Diese Bedeutung Venedigs, als der Metropole der raffinierten Freiheit des Sinnengenusses, geht aus der geheimen Ge­schichte und den Memoiren 4er Fürsten und Vornehmen hervor. Nur e i n bestimmt ausgesprochener Zweck führte alle nach der Stadt der Lagunen." Infolge dessen erfreuten sich in der Republik Venedig die Prostituierten des ganz besonderen Schutzes der Regie­rung und waren sogar der einzige erlaubte Gegenstand des sonst durch die Gesetze streng verpönten Luxus der Nobili. Montesquieu schreibt: „In Venedig zwingen die Gesetze die Adeligen zu einer bescheidenen Lebensweise. Sie sind so an Sparsamkeit gewöhnt, dass nur die Buhlerinnen sie dazu vermögen können, Geld auszugeben. Man bedient sich dieses Wegs, um die Be­triebsamkeit zu befördern: die verächtlichsten "Weibes­personen verschwenden dort ohne Gefahr, während ihre Liebhaber das armseligste Leben von der Welt füh­ren." CasanoTa berichtet interessante Einzel­heiten über das Leben und Treiben der Venetianischen Dirnen um 1750, speziell der berühmten Courtisane Juliette. S a d e erzählt (Juliette VI, 147) von den Be­suchen eines alten Prokurators im Bordell der Durand. Bei Casanova kommen ebenfalls die galanten Aben­teuer des Prokurators Bragadin vor.8)

Italien ist das gelobte Land der Paederastie, noch heute. Drastisch sagt der Marquis de S a d e, in diesem Punkte gewiss ein richtiger Beobachter: „Le cul est bien recherche en Italie". (Juliette HI, 290.) Das ist ein Erbteil aus Griechenland und Rom. Und jeder, der von Liebe zu den Hassischen Studien und antiker Kunst leidenschaftlich ergriffen, den Boden Italiens be­trat, war dieser Gefahr ausgesetzt, wie das Beispiel unse res J. J. "Win ekel mann beweist. Schon Dante erwähnt im 15. und 16. Gesänge des „Inferno", die grosse Verbreitung der Männerliebe in Italien. Papst

5 i x t u s IV. (1471 bis 1484) huldigte in ausgedehntem Masse der Paederastie und soll seine Ganymede zu Kar­ dinälen erhoben haben. Einige Kardinäle baten den Papst, in der heissen Jahreszeit Paederastie treiben zu dürfen, worauf der Papst die Erlaubnis hierzu erteilt haben soll. Auf S i x t u s IV. fand der folgende obseöne

Vers Anwendung:

Roma quod inverso delectaretur amore Nomen ab inverso nomine fecit Amor.

S i x t u s war grausam und fand Gefallen am An­sehen blutiger Schauspiele. Sein angeblicher Neffe Pietro Riario, wahrscheinlich aber sein Sohn, lebte inter scorta atque exoletos adolescentes, und waij ebenfalls Paederast. Michel Angelo soll der Kna­benliebe gefröhnt haben. Der Maler Giovanni Antonio Bazzi (1479—1564) bekam wegen dieser Neigungen den Beinamen il Sodoma.) Papst Julius IDI. (1550—1555) ist ebenfalls hier zu nennen. ; „Dans le conclave meme, il pratiquait l'acte de Sodomie avec les jeunes pages attaches ä son Service, et loin d'en faire un mystere, il affeetait de se laisser surprendre en flagrant delit par ses collegues."

Im 18. Jahrhundert war die Paederastie in Italien an deT Tagesordnung. Man konnte sogar Gefahr laufen, von Paederasten vergewaltigt zu werden. Casanova erzählt einen solchen Ueberfall, den ein Mann auf ihn machte. Ebenso von einem Knaben Petronius, der als ein gewerbsmässiger Prostituierter in Ancona thätig war. Der Kardinal Brancaforte, einer der gröss-ten Wüstlinge der Welt, der nach Casanova „nicht aus den Bordellen herauskam", war der PaedeTastie sehr verdächtig. Als bei Gelegenheit seines Aufenthaltes in Paris eine junge Paduanerin ihm in der Beichte gestand, dass ihr Mann sich bei ihr gewisse Freiheiten herausge­nommen hätte, die durch den Ehecodex streng verboten würden, fesselte der üppige Kardinal sein Beichtkind sehr lange an diesen kitzlichen Gegenstand. Ehe er ihr die Absolution erteilte, wollte er,die genauesten Um­stände erfahren. Bei jeder Mitteilung wurde er von Begierde verzehrt und rief aus: „Es ist ungeheuer! — Es ist monströs! — Ach, meine Teure, Sie haben eine abscheuliche Sünde begangen, aber es ist eine sehr hübsche Sache." Noch eine andere ähnliche Anekdote wird von Casanova mitgeteilt.

Noch heute ist die männliche Prostitution in Italien so öffentlich wie in keinem anderen Lande. In N e a p e 1 „bieten sich abends auf der Via Toledo junge Männer dem Vorübergehenden an, und die Zwischenhändler preisen dort nicht nur ihre weibliche, sondern auch die männliche Ware an." Moll, der dies mitteilt, meint auch, dass in Italien die Homosexualität stets etwas mehr hervortrat als in andern Ländern Europas. J. L. C a s -pe r berichtet 1854, dass in Neapel und Sicilien dem Reisenden am hellen Tage von auf den Strassen lungern­den Kupplern un bellissimo ragazza schamlos angeboten wurde, wenn man ihre Anträge, Weiber betreffend, zu-TÜckwies. Dass der italienische Klerus des 18. Jahrhunderts einengrossen Anteil an diesen sexuellen Ausschweifungen hatte, brauchen wir wohl nicht weiter anzuführen. Da­für spricht schon die geradezu ungeheuerliche Zahl der Geistlichen jeder Art, die im ganzen Lande verbreitet waren. Gorani, dessen mit Recht berühmte Memoi­ren wir mit grossem Vergnügen gelesen haben und dessen Glaubwürdigkeit durch neuere Forschungen noch mehr bekräftigt worden ist, berichtet, dass das König­reich Neapel ohne Sicilien unter 480 000 Einwohnern etwa 60 000 Mönche, 3000 Laienbrüder und 22 000 Nonnen zählte. Dieser Klerus war von einer „unglaub­lichen Ignoranz", von einer ungeheuerlichen „debauche crapuleuse". Seine Sitten seien noch verderbter als die der Mönche aller übrigen katholischen Länder. „Mord, Schändung und Gift sind ihnen vertraut." Gorani berichtet über verschiedene haarsträubende Verbrechen von Priestern. Die Nonnenklöster seien Schauplätze der wüstesten Orgien. Dabei war der Klerus so reich, dass er fast ein Drittel aller Güter im Lande besass. Die Geistlichen gaben denn auch in der Liebe den Ton an. Das war seit Boccaccio's Zeiten nicht anders ge­worden. Casanova berichtet darüber aus dem 18. Jahrhundert allerlei Ergötzliches. So z. B. führt ihn ein Mönch in Chiozza in ein Bordell, wo er freilich das Unglück hat, sich zu inficieren. Als Casanova noch selbst als Geistlicher mit einem Franziskaner auf der Wanderschaft war, wurden sie von zwei nymphoma­nischen Megären überfallsn. Man muss also damals gerade den Geistlichen allerlei zugetraut haben. Das scheussliche Unwesen der Castraten für geistliche Zwecke ist ein weiterer Beweis für die tiefe Depravation des italienischen Klerus.

Zoophilie und Sodomie waren ebenfalls seit jeher in Italien mehr verbreitet als in einem andern Lande. Der Marquis de Sade lässt denn auch bei einer Orgie im Hause der Prinzessin Borghese einen Truthahn, eine grosse Dogge, einen Affen und eine Ziege als maitres de plaisir aufmarschieren! JuliettelV, 262). Noch heutzutage sollen nach Metzger die Zie­genhirten in Sicilien im allgemeinen Ruf stehen, dass sie sich mit ihren Ziegen abgeben. Der Kardinal Bellarmin trieb seit 1624 mit Weibern verbotenen Umgang und hatte noch nebenher „vier schöne Ziegen auf der Streu."

Einzelne von Sade erwähnte italienische Persön­lichkeiten des 18. Jahrhunderts bedürfen noch beson­derer Erwähnung. Im fünften Bande der „Juliette" wird ein üppiges Gartenfest beim Fürsten von Erancavilla geschildert (S. 326 ff). Diese Garten­feste bei den neapolitanischen Granden sind historisch. Casanova berichtet ebenfalls, dass Erancavilla, „ein entschiedener Epikuräer, voll Geist, Anmut und Unverschämtheit", im Jahre 1770 ein glänzendes Pest für alle Fremden gab. Er Hess seine jungen und schönen Pagen beim Schwimmkampfe im Wasser „erotische Ver­schlingungen" ausführen, bei denen sich „die Damen sehr gut unterhielten" s). Der bei Sade (Juliette IV, 156 u. ö.) erwähnte Kardinal B e r n i s wird auch von Casanova als sehr unheilig geschildert. Leopold L von Toskana, der „grand suecesseur de la premiere putain de France" (Juliette IV, 36) soll nach S a d e ebenfalls ein erotisches Scheusal gewesen sein. Hierbei hat wohl der Hass gegen das Haus Oester-reich ein Wort mitgeredet. Casanova, der ein fesselndes Bild von dem Abenteurerleben in Florenz ent­wirft, sagt über Leopold aus, dass er „eine entschie­dene Leidenschaft für das Geld und die Weiber hegte." Besonderes Interesse beanspruchen die Schilderungen des Papstes P i u s VI. und der Königin Karoline von Neapel bei S a d e.

1. Papst Plus VI.

Dieser Papst war nach S a d e (Juliette IV, 268) ein grosser Lüstling, dem Juliette eine lange Bede über die Zuchtlosigfceit der Päpste aller Zeiten hält (IV, 270 ff), wobei sie ihn mit „alter Affe" anredet (IV, 285). Nachher muss dann auch Seine Heiligkeit eine ebenso lange Rede halten an deren Schlüsse dieser Wahrheits-apostel den Mord für die „einfachste und legitimste Handlung auf der Welt" erklärt (IV, 370) und in seinen nunmehr geschilderten Orgien hinter dieser Ver­sicherung nicht zurückbleibt (V, 1 ff).

War P iu s VI. ein solcher Mensch? Dies kann nur zum Teil bejaht werden.

Pius VL (1775—1798), vorher Giovanni Angelo,Graf Braschi, war einer der schönsten Männer seiner Zeit, „hochgewachsen, von edlem Aus­sehen, blühender Gesichtsfarbe". Er trug sein päpst­liches Gewand mit einer Art von Koketterie und trug vor allem seine schönen — Beine zur Schau, indem er stets sein langes Gewand an der einen Seite etwas auf­hob, so dass wenigstens ein Bein sichtbar war, auch legte er grosses Gewicht auf eine schöne Frisur. Diese Eitelkeit geisselte das folgende Distichon:

Aspice, Koma, Pium. Piusl haud est: aspice mimum. Xjuxuriante coma, luxuriante pede.

Er liess sich denn auch von der Geistlichkeit und den Gläubigen gehörig anbeten, mit einer „veneration stupide", der aber manchmal ein ironischer Beigeschmack nicht fehlte. Seine Ausfahrten geschahen mit unge­heuerem Gepränge. Draussen war P i u s ein Gott, im Vatican ein vielfach verspotteter Mensch. Zeigte er sich auf der Strasse, so riefen die Frauen: Quanto e hello, quanto e hello! Und man behauptete, dass P i u s sich dadurch mehr geschmeichelt gefühlt habe als durch die Huldigung der Kardinäle. Der Kardinal B e r n i s nannte ihn ein lebhaftes Kind, das man immer bewachen müsse. Auch C o 1 e 11 a schildert diesen Papst als einen „bildschönen Mann", von grosser Liebe zum Putze und weibischen Eigenschaften. Er war im Gegensatz zu seinem Vorgänger Clemens XIV. den Jesuiten zugeneigt.") "Was sein Verhalten in geschlechtlicher Beziehung betrifft, so begünstigte er nach Casanova (Bd. XVII, S. 169) die Prostitution, hielt nach Go-r a n i selbst viele Maitressen und trieb sogar Incest mit einer natürlichen Tochter. Bourgoing dagegen findet ihn in sexueller Hinsicht ganz rein und sagt, das P i u s VI. seine Zeit zwischen den religiösen Pflichten, seinem Cabinet, Museum und der vatikanischen Bibliothek teilte.

2. Die Königin Karoline tob Neapel.

Die Königin Karoline von Neapel schildert der Marquis d e S a d e als vollendete Tribade (Juliette V, 258), und beschreibt ihre Eeize „nach der Natur". Sie sowohl, wie ihr Gemahl, der König Ferdinand IV., zeichnen sich durch einen hohen Grad von wollüsti­ger Grausamkeit aus, die sich in verschiedenen von Sade geschilderten wilden Ausbrüchen äussert, so z. B. bei dem grossen neapolitanischen Volksfeste, bei dem 400 Personen getötet werden. (Juliette VI, l.)

Hier hat der Marquis de Sade wirklich durchaus „nach der Natur" geschildert. Man darf sagen, dass j von Helfert's Aufsehen erregender Versuch einer i Ehrenrettung der Königin Karoline von Neapel j vollständig misslungen ist, wie die bündige Widerlegung ( der Helfert'schen Ausführungen durch Moritz j B r o s c h wohl definitiv dargethan hat.) Danach be- j stehen die von Gorani,Coletta und vielen anderen j dargebotenen Enthüllungen über die Sittenlosigkeit der j Königin Karoline zu Eecht.

C o 1 e 11 a sagt von ihr, dass sie „mehr als eine Leidenschaft besase, rachsüchtig und hochfahrend war

und durch eine glühende Wollust verblendet wurde".

Gorani, der den Stoff zu seinem berühmten

Werke in den Jahren 1779 bis 1780 und 1789 bis 1790

sammelte, richtete seine Angriffe besonders gegen die

neapolitanischen Zustände, denen wohl das bekannte

Motto seiner Memoiren gilt:

Des tyrans trop longtemps nous fttmes lea yictimes, Trop longtemps on a mis un voile sur leurs crime“. Je vais le dechirer ....

Karoline ist die „österreichische Megäre", die die ganze Wollust einer Messalina mit den unnatürlichen Gelüsten einer Sappho verbinde. Sie gab sich ohne Wahl und ohne Scham den verächtlichsten und verwor­fensten Männern hin und unterhielt mit ihrem Minister Acton eine Liaison. Dieses „unique monstre de cette espece" tötete alle ihre Kinder oder machte sie krank. Einmal schrie ihr Gemahl Ferdinand ihr durch's Schlüsselloch zu: „Ce n'est point une reine, une epouse, une mere, que l'Autriche nous a donnee, c'est une furie, une megere, une Messaline qu'elle a vomie dans sa colere et lancee parmi nous".

Besonders berüchtigt wurde Karolinen's Ver­hältnis zu der berühmten Lady Emma Hamilton, der Geliebten Nelson's. Coletta's Urteil über diese tribadische Liaison der Beiden ist von allen gewis­senhaften Forschern bestätigt worden: „Nella reggia, nei teatri, al publico passeggio Emma sedeva al fianco della regina; e spesso, ne' penetrali della casa, la mensa, il bagno il letto si godevan communi. Emma era bellezza per tutte le lasci-vie".

Die von Sa de beschriebene Orgie in den Ruinen von Herculanum und Pompeji (Juliette V, 340 ff) ist wohl in Wirklichkeit öfter gefeiert worden. Denn im Jahre 1798 wurde zu Ehren Nelson'san diesen Stätten ein solches üppiges Fest veranstaltet.

Auch der grosse Massenmord, von dem S a d e spricht, ist historisch. Am 18. Oktober 1794 gab es einen grossen, mutwillig hervorgerufenen Strassenkampf in Neapel, bei dem 30 Menschen getötet und viele ver­wundet wurden.

Alle übrigen neapolitanischen Zustände erscheinen in der Wirklichkeit ebenso schlimm, wie sie in der „Juliette" dargestellt werden. Nach G o r a n i soll die römische Elaiserzeit keine solche Sittenverderbnis ge­sehen haben, wie diejenige am Hofe von Neapel, keine ; solche Messalina, wie die Königin Karoline. Nel- j s on sagte von Neapel: „Von den Frauen ist nicht eine I tugendhaft, von den Männern ist nicht ein einziger, der nicht an den Galgen oder auf die Galeere gehörte." > Ja, nach G o r a n i muss Neapel lauter Gestalten aus den Romanen des Marquis d e S a d e enthalten haben. Der Neapolitaner sei von Natur böse, überlege sich mit kaltem Blute die Verbrechen, die er begehen wolle, und füge denselben noch tausend Grausamkeiten hinzu. 30 000 Menschen trieben sich obdachlos umher. Die Zahl der Gefangenen sei ausserordentlich gross. Die Frauen Hessen ihre Geliebten durch Spione "bewachen, während sie selbst treulos seien. Die öffentlichen Mäd­chen seien sehr schön, wohnten aber schlecht. Die schönsten seien Ausländerinnen, die eingeborenen Frauen seien hässlich und unreinlich, aber „tres ardentes pour le plaisir". Der ungeheuer grosse Mund derselben komme von dem vielen Reden und Gesticulieren, so dass ein hübscher kleiner Mund eine Rarität sei.

König Ferdinand IV. von Neapel war nach Gr 6 r a n i ein Lüstling von grausamem Herzen, dessen Passion es war, Kaninchen, Hunde, Katzen und zuletzt Menschen zu quälen und zu töten, daneben zahlreiche 3-iebesverhältnisse zu unterhalten, während A c t o n und die Köngin Karoline ohne ihn ihre nächtlichen Orgien veranstalteten.

Wir sehen, dass auch hier der Marquis de S a de wiederum die Wirklichkeit ziemlich getreu abkonterfeit hat, und dass seine Werke daher einen hohen kultur­historischen Wert besitzen, den wir in diesem ersten Abschnitt zur Genüge nachgewiesen zu haben glauben.

II. Das Leben des Marquis de Sade.

Die Vorfahren.

1. Petrarca's Laura.

Era '1 giorno ch'al aol si acoloraro Per la pieta del suo Fättore i rai, Quand' i' fui preso, e non me ne guardai, Che i be' vostr' occhi, Donna, mi legaro.

Bs war der Tag, da um des Heilands Wunden Die Sonne einen Trauerflor getragen, Als ich in Amort Fesseln ward geschlagen, Von Deinen schönen Augen überwunden.

Wer kennt sie nicht, die berühmten Verse des be­rühmtesten Sonettes von Francesco Petrarca, zum Preise der ersten Begegnung mit seiner Laura, der Madonna Laura, der Vielgeliebten? Jener Laura, der wir die duftigsten Blüten der Liebespoesie in der schönsten Sprache der Welt verdanken. Wie kommt sie, diese Himmelserscheimuag, dieses Symbol der zartesten Gefühle in ein Buch über den Marquis de S a d e? Jene Laura, die Petrarca an dem denkwür­digen Montag der heiligen Woche des Jahres 1327 (6. April) in der Kirche Santa Chiara zu Avignon zum ersten Male erblickte, eine Tochter des Syndikus von Avignon, Kitter Audibert de Noves, war die Gemahlin eines Hugo de Sade, des Stammvaters der Familie d e S a d e. So hat ein „grausamer Witz der Literaturgeschichte die Objektivation selbstlosester, fast unirdischer Liebessehnsucht und den litterarischen Ilauptvertreter unerhörtester erotischer Ausschweifung und Verirrung in derselben Familie zu greller Kontrast­wirkung vereinigt." Am Anfange Himmelglanz, am Ende Finsternis der Hölle. Voilä, voilä, en effet, de tristes et ameres le§ons d'egalitß 1 ) In allen guten und bösen Stunden des Hauses derer de Sade blieb Laura der Schutzengel derselben und vereint mit Petrarca, dem göttlichen Sänger, Gegenstand einer hingebenden Verehrung. Sie war nach Janin die „weisse Dame" des Hauses de Sade, der Ruhm und Stolz desselben. Sehnsüchtig blickten alle Sprösslinge dieser edlen provencalischen Familie immerdar nach dem stillen und sonnigen Thal von Vaucluse, einst ver­herrlicht durch die goldenen Lieder eines Dichters von Gottes Gnaden. Ihm, Petrarca, ewig Ruhm und Dank! Selbst der Marquis de Sade, dem nichts mehr heilig ist, neigt sich vor ihm, von dem der Glanz seines Hauses ausging, dem „aimable chanteur de Vaucluse." (Juliette IV, 131.) 2. Die übrigen Vorfahren.

Hugo de Sade, der Gatte Lauia's, der Stammvater der Familie, genannt „der Alte", hinter-liess mehrere Söhne, von denen Paul de Sade Erz­bischof von Marseille wurde und der Vertraute der Königin J o 1 a n d e von Aragonien. Er starb 1433 und vermachte seine Güter der Kathedrale von Mar­seille.

Hugo oder Hugonin de Sade, der dritte Sohn des ersten Hugo de Sade und der schönen Laura war der Stammvater der drei Zweige des Hauses, der von Mazan, Eiguieres und Tarascon.

Sein ältester Sohn JeandeSade war ein gelehr­ter Jurist, der von Ludwig LT., König von Anjou, zum ersten Präsidenten des ersten Parlaments der Provence ernannt wurde, während sein Bruder Elz6ar de Sade, Grosskanzler des Gegenpapstes Benedikt , XILT., dem Kaiser Sigismund so grosse Dienste erwies, dass es ihm gestattet wurde, in sein Wappen den i kaiserlichen Adler aufzunehmen, der noch heute das­selbe schmückt.

Pierre de Sade, vom Zweige d'Eiguieres oder Tarascon, war der erste Landvogt von Marseille (1565 bis 1568). Er reinigte die Stadt von allen schlechten Elementen.

JeanBaptiste de Sade, Bischof von Oavail-lon seit 1665, schrieb „Reflexions chretiennes sur les psaumes penitentiaux" (Avignon 1698). Er starb am 21. Dezember 1707.

Joseph deSade, Seigneur d'Eiguieres, geboren 1684, focht 1713 bei Landau und Friedberg, wurde im Jahre 1716 Bitter des Malteserordens, nahm als Oberst 1736 bis 1745 an den Feldzügen in. Böhmen, am Rhein und in Flandern teil. 1746 zum Gouverneur von Anti-bes ernannt, wurde er liier von den Oesterreichern, Sardiniern und der englischen Flotte belagert. Im Jahre 1747 Feldmarschall, starb er den 29. Januar 1761.

Hippolyte de S ade, dem Volt, Ire zu seiner Hochzeit am 12 November 1733 ein Gedicht schickte, das der Empfänger sofort in demselben Vers-mass erwiderte, war Marineoffizier, wurde Geschwa-derehef (1776) und zeichnete sich in der Seeschlacht bei Onessant (1778) aus. Er starb vor Cadix im Jahre 1788.

Jacques Frangois Paul Alphonse de S a d e, der Onkel unseres Marquis d e S a d e, hat auf diesen den grössten Einftuss ausgeübt und muss deshalb ausführlicher behandelt werden. Er wurde im Jahre 1705 geboren als der dritte Sohn von GasparFran§ois deSade und widmete sich dem Studium der Theologie, wurde Generalvikar der Erzbischöfe von Toulouse und Narbonne (1735), hielt sich lange Jahre in Paris auf, wo er „sehr profane und glückliche Tage" an der Seite der schönen Madame delaPopeliniere, der Ge­liebten des Marschalls von Sachsen verlebte. Er war ein eleganter Schriftsteller, ein geistvoller Mann, der sich „allen frivolen Genüssen des 18. Jahrhunderts" hingab, um zur reehten Zeit dem „Skepticismus, den wenig verhüllten Grazien, dem guten Geschmack und Luxus von Paris" Valet zu sagen und sich in die länd­liche Einsamkeit im Thale von Vaucluse zurückzuziehen, wo er sein Leben fortan verbrachte, nicht in strenger Askese und unfruchtbarer Reue über die bewegte Ver gangenheit, sondern in dem Cultus, den er dem guten Genius seines Hauses weihte. Die schöne Laura wurde für Frangois de Sade der ganze Inhalt seines Lebens. Hier in Saumane schrieb er jenes Werk über Petrarca und seine Laura, welches noch heilte durch die Sorgfalt der Untersuchungen und die Mitteilung zahlreicher merkwürdiger Details aus dem Leben der Beiden jedem Petrarca-Forscher unentbehr­lich ist: die „Memoires sur la vie de Fran§ois Petrarque" (Amsterdam 1764, 3 Bände). Ferner gab er eine vor­zügliche Uebersetzung der Werke des Dichters heraus, und endlich die nicht minder inhaltreichen und für die Geschiente des 14. Jahrhunderts wichtigen „Remar­ques sur les premiers poetes f rancais et les troubadours". Er starb den 31. Dezember 1778.

Wenn man von einer „hereditären Belastung" des Marquis de Sade sprechen will, so kann man nur an diesen Oheim denken. Denn es ist häufig, dass der Neffe die Eigenschaften des Onkels und nicht die des i Vaters erbt. Hierzu kommt, dass der Oheim eine Zeit j lang die Erziehung des Neffen leitete. Jedenfalls teilte der Letztere, allerdings in potenziertem Masse, die Nei­gungen des Oheims einerseits zu Frivolität und zu einem galanten Leben, andererseits zur Schriftstellerei. Auch der Marquis d e S a d e war ein Bibliophile. Und wenn der Oheim nur in der Jugend der Liebe huldigte, so machte der Neffe die Wollust in Theorie und Praxis zu seiner Lebensaufgabe.

Der Vater des Marquis de Sade, der Graf Jean Baptiste Frangois Joseph de Sade wurde im Jahre 1700 geboren, schlug die militärische Laufbahn ein, um dann im Jahre 1730 als Gesandter nach Kussland und 1733 nach London zu gehen. Er verschwägerte sich mit den Bourbonen durch seine Ver leiratung mit Marie Eleonore de Maille, .er Nichte des Kardinals Richelieu, Hofdame der 'rinzessin Conde. Auch der grosse Conde hatte iine Maille geheiratet. Der Comte de Sade wurde 1.738 zum Generallieutenant für Bresse, Bugey und Valromey ernannt, kaufte das Landgut Montreuil bei Versailles, wo er als Privatmann lebte und eifrig die A.btei Saint-Victor besuchte, die auch in den Romanen seines Sohnes vorkommt. Er starb am 24. Januar 1767 jnd hinterliess mehrere Manuscripte von Anekdoten, moralischen und philosophischen Gedanken, sowie eine grosse Korrespondenz über den Krieg in den Jahren 1741—1746.

Gleich hier gedenken wir eines Sohnes des Marquis de S a d e , der sich als Schriftsteller und Mensch einen geachteten Namen erworben hat. Das ist Louis-Marie de Sade, der älteste Sohn, geboren 1764 zu Paris. Er hatte zu Pathen den Prinzen Conde und die Prinzessin Conti, wurde Offizier, als welcher er einem Menschen mit eigner Gefahr das Leben rettete, wanderte beim Beginne der Revolution aus und kam Ende 1794 nach Paris zurück, wo er Anfangs als Gra­veur thätig war. Er schrieb dann eine auf gründlichen Forschungen beruhende „Histoire de la nation fran-gaise" (Paris 1805) und wurde Mitglied der „Academie celtique", trat später wieder ins Heer ein, kämpfte bei Jena, wurde in der Schlacht bei Friedland verwundet und am 9 Juni 1809 von Briganten in Otranto ermor­det. 3. Die Kindheit des Marquis de Sade.

Der zweite Juni des Jahres 1740 war der Tag, an welchem einer der merkwürdigsten. Menschen des 18. Jahrhunderts, ja der modernen Menschheit überhaupt, das Licht der "Welt erblickte. Es war im Hause des grossen Conde, wo Donatien Alphonse Frangois, Marquis de Sade geboren wurde: der Philosoph des Lasters, der „professeur de crime", wie ihn Michelet und nach ihm T a i n e genannt haben. Als 4j ähriges Kind kam er zu seiner Gross­mutter nach Avignon, in die sonnige Provence, einige Jahre darauf in die Abtei Ebreuil zu seinem Oheim, der ihn mit Sorgfalt erzog und ihm den ersten Unterricht erteilte, bis er im Jahre 1750 im College Louis-le-Grand in der Eue Saint-Jacques in Paris untergebracht wurde. Dieses Unterrichtsinstitut galt für das beste in Prank­reich und gewährte seinen Schülern die Möglichkeit einer gründlichen und vielseitigen Ausbildung. Sie mussten öffentliche Vorträge halten, Theaterstücke auf­führen, Disputationen veranstalten u. s. w. Man nahm mehr Rücksicht auf den Geist als auf den Körper, der sich zudem bei der sehr häufigen Anwendung der Prü­gelstrafe nicht besonders wohl fühlen konnte.

Auf jene Periode beziehen sich verschiedene Schil­derungen der Persönlichkeit des Knaben Sade, die alle wenig verbürgt sind. Nach U z a n n e war er ;u dieser Zeit ein „anbetungswürdiger Jüngling, mit zar-;em, blassem Gesicht, aus dem zwei grosse schwarze Ä.ugen hervorleuchteten." Aber schon war um sein „anzes Wesen eine Atmosphäre des Lasters verbreitet, lie seine Umgebung mit ihrem giftigen Hauche ver­pestete und um so gefährlicher war, als das Kind eine unwillkürliche Sympathie durch eine fast „weibliche Anmut" einflösste. Lacroix verleiht ihm eine „zier­liche Figur, blaue Augen und blonde, schön frisierte Haare." Ein deutscher Autor ergeht sich in folgen­den Phantasien: „Der junge Vicomte war von so ausser-gewöhnlicher Schönheit, dass alle Damen, die ihn er­blickten, selbst als er noch ein Knabe war, stellen blie­ben, um ihn zu bewundern. Mit seinem reizenden Aeussern verband er eine natürliche Anmut in allen seinen Bewegungen und sein Organ war so wohl­klingend dass schon seine Stimme allen Frauen ins Innerste ihres Herzens dringen musste. Sein Vater liess ihn stets nach der neueten Mode gekleidet einher­gehen, und die damalige Rococotracht hob die glänzende Erscheinung des jungen Mannes noch mehr hervor. "Wer weiss, ob der Verfasser der Justine und Juliette unter anderen Verhältnissen ein solcher Ausbund von Verruchtheit geworden und ob er den Damen so sehr aufgefallen wäre in der geschmacklosen Tracht unseres Zeitalters."

Richtig ist wohl nur, dass der Marquis de S ade wenigstens als Jüngling eine angenehme Erscheinung war. Leider existieit kein authentisches Porträt von ihm. Tn einem um 1840 veröffentlichten kleinen Werke „Les fous celebres" findet sich eine sehr schlechte Litho graphie, die den Marquis de Sade darstellen soll, aber ein blosses Phantasieprodukt ist. Zwei weitere Por­träts wurden in Brüssel zu Tage gefördert. Das eine, sehr schlecht ausgeführte, befindet sich in einem ovalen Rahmen und soll aus der Sammlung des Herrn d e 1 a Porte stammen. Das andere, sehr gute Bild, stellt den Marquis von Dämonen umgeben dar, die ihm ins Ohr blasen, trägt die Bezeichnung „H. Biberstein sc." und soll aus der Sammlung eines Herrn H in Paris stammen. Es existieren auch lithographische Nach­bildungen desselben, von denen der Verfasser der Recension der ersten Auflage des vorliegenden Werkes in der „Zeitschrift für Bücherfreunde" (1900 Nr. 2/3 S. 122) eine sah.

Nach ihm ist dies Bild ein Phantasieprodukt aus viel späterer Zeit-

In welcher geistigen Verfassung der Marquis de S a d e das College Louis-le-Grand verlassen hat, wissen wir ebenfalls nicht. Nach jenem deutschen Autor, der das Leben Sade'e mit kühner Phantasie aus seinen ' Büchern construiert, war „der junge Mann seit frühe- j ster Kindheit ein Bücherwurm und gründete sich so zu | sagen ein eigenes philosophisches System auf ausgebrei­test epikuräischer Basis. Neben seinen Schulstudien lag er den schönen Künsten ob; er war ein tüchtiger Musiker, gewandter Tänzer, Fechter und versuchte sich auch in Bildhauerei. Er brachte ganze Tage in den Gemäldegallerien, namentlich in jenen des Louvre, von Fontainebleau und Versailles zu, wodurch sein künst­lerischer Geschmack immer mehr ausgebildet wurde." Dass Sade die Musik sehr liebte, bestätigt Paul Lacroix, und dass er die Gemäldegallerien be­suchte, bestätigt die Beschreibung der Gemäldesamm­lung in Florenz (Juliette IV, 19 ff).

Janin meint, dass Sade schon als ein „Fana­tiker des Lasters" die Schule verlassen habe, in dem­selben Jahre (1754) als Maximilian de Kobes-p i e r r e in dieselbe eintrat.8)

4. Die Jugendzeit.

Nach dem Austritt aus dem Gymnasium trat der Marquis de Sade in das Regiment der Chevaux-C Legers ein, wurde dann Unterlieutenant beim Königs-regiment, Lieutenant bei den Carabiniers und zuletzt Capitän in einem Kavallerieregiment, bei welchem er den siebenjährigen Krieg in Deutschland mitmachte. Er soll nach Lacroix erst im Jahre 1766 nach Paris zurückgekehrt sein, wo sein Vater, der ihm „mehrere Jugendthorheiten" zum Vorwurf machte, ihn zu verheiraten suchte. Marciat) hat nachgewiesen, dass Sade bereits im Jahre 1763 wieder in Paris war. In der im Mai 1880 in Paris verkauften Autographensammlung von Michelet aus Bordeaux, befand sich ein Brief des Marquis de Sade, datiert Vincennes den 2. November 1763, in dem als der Tag seiner Heirat der 17. Mai 1763 angegeben wird. Auch spricht nach Marciat für dieses Jahr der Umstand, dass der älteste Sohn des Marquis, Louis-Marie de S a de im Jahre 1783 Lieutenant im Regiment Soubise wurde. Wenn dieser erst 1767 geboren wäre, so würde er mit 16 Jahren Lieutenant gewesen sein. Die Rückkehr des Marquis de Sade und seine Heirat fand also im Jahre 1763 statt.

Die Geschichte dieser Heirat ist von dem Biblio­philen Jacob nach den Mitteilungen eines Zeitge­nossen, des Herrn Lefebure sehr ausführlich er­zählt worden. M a r c i a t ist geneigt, derselben vom psychologischen Standpunkte aus einen grossen Wert beizumessen, da sie die Erklärung für die moralische Entartung (deviation) des Marquis de Sade liefere. Wir können dem nicht beistimmen. Mag auch jenes Ereignis, das wir gleich darstellen werden, irgend einen Einfluss in dieser Beziehung auf Sade ausgeübt haben: seine sittliche Depravation war schon vorher da. Als er nach Paris zurückkehrte, warf der Vater ihm bereits einige „Jugendthorheiten" vor. Niemand hat bisher daran gedacht, dass der Marquis de Sade den ganzen 7jährigen Krieg mitgemacht hat und ganz sicher teil­nahm an jener „schrecklichen Entsittlichung, welche durch die Anwesenheit des französischen Heeres" in Deutschland gepflanzt und genährt wurde und deren auch Casanova in seinen Memoiren gedenkt. Der Vater wollte ferner den Sohn verheiraten, um ihn aus seinem lasterhaften Leben herauszureissen, wie doch deutlich aus allen Berichten hervorgeht. Wenn E u 1 e n b u r g meint, dass sich bei de Sade die „krankhafte Veränderung" im Alter von 26 Jahren äusserte, so ist das auch nicht ganz zutreffend, da er schon, wie wir sehen werden, im Jahre 1763, wegen mehrerer „debauchea", die also nicht so ganz harmlos gewesen sein müssen, ins Gefängnis kam. Wir dürfen annehmen, dass die Neigung zu sexuellen Ausschwei­fungen bei S a d e durch das Kriegsleben erweckt worden ist und durch das tausendfältig gegebenen Bei­spiel gefördert wurde, ohne dass wir nötig haben, an das plötzliche Auftreten eines krankhaften Geisteszustan­des zu denken.

Herr von Montreuil, Präsident der „Cour des aides", der durch eine langjährige Freundschaft mit dem Vater des Marquis d e S a d e verbunden war, hatte zwei Töchter im Alter von 20 und 13 Jahren, beide gleich hübsch und wohl erzogen, aber in Hinsicht auf Charakter und äussere Figur verschieden. Die Aeltere, eine Brünette mit schwarzem Haar und dunklen Augen, war eine grosse majestätische Erscheinung, sehr fromm, ohne „Herzenswärme" (?). Die Jüngere, eine blau­äugige Blondine, trotz ihrer Jugend schon von gereif­tem Aussehen, war sehr intelligent, von „himmlischer Milde und Anmut" dabei aber eine leidenschaftliche Natur.

Es war zwischen den Vätern vereinbart worden, dass der Marquis de Sade die ältere Tochter hei­raten sollte. Ein merkwürdiges Geschick fügte es, dass dieser bei seinem ersten Besuche im Hause des Präsi­denten Montreuil nur die jüngere Tochter antraf, da die ältere krank war. Er verliebte sich sofort leiden­schaftlich in die erstere, die den Musikenthusiasten be­sonders durch ihren, schönen Gesang und ihr wunder­bares Harfenspiel für sich einnahm. Als S a d e bei einem zweiten Besuche die ältere Schwester kennen lernte, fühlte er gegen dieselbe nur Abneigung und erklärte, dass er die jüngere heiraten wolle. Hierzu verweigerte der Präsident seine Zustimmung, und so Hess der Comte deSade seinen Sohn wählen zwischen Unterwerfung unter seinen Willen und einer sofortigen Abreise zur Armee mit der Aussicht auf Enterbung und Verstossung. So wurde der Marquis, dessen Appell an das Herz der Mutter der beiden Mädchen nur eine „kalte und heroische Erwiderung" fand, gezwungen, die ältere Tochter zu heiraten. Schon damals erwiderte die Jüngere die Liebe de Sade's und hatte vergeb­lich durch Bitten und Thränen das Herz ihrer Eltern zu erweichen gesucht. L a c r o i x legt ausführlich dar, wie S a d e nur mit dem Gedanken des sofortigen Ehe­bruchs mit der Jüngeren die ihm unsympathische ältere Schwester geheiratet habe und vielleicht schon damals mit der zweiten Schwester im Einverständnis war. Erau von Montreuil, die vom Anfang an die Natur ihres Schwiegersohnes durchschaute, brachte ihre jüngere Tochter in ein Kloster, um einem drohenden Skandal vorzubeugen.

Es bleibe dahingestellt, ob diese Geschichte die Hauptursache der Demoralisation des Marquis de S a d e gewesen ist, wie M a r c i a t annimmt. Sicher erklärt sie die Ehefeindlichkeit, welche uns in allen Schriften Sade's entgegentritt. Dass aller­dings seine Frau, der Lacroix die Wärme des Her­zens fehlen lässt, ihm dazu keinerlei Veranlassung gab, haben die soeben von PaulGinisty veröffentlichten „Lettres inedites de la Marquise de Sade" gezeigt, die für die Geschichte dieser Ehe und für das Verständnis des Charakters des Marquis de S ade sehr lehrreich sind. Sie offenbart sich in diesen Briefen als eine selbstlose, treue, ihrem G-atten mit leidenschaftlicher Liebe zugethane Seele, die selbst dann nicht aufhört mit heisser Sehnsucht an ihn zu denken, für ihn zu sorgen und zu beten, wenn er — wie dies gewöhnlich geschah — diese Liebe mit rohen, unedlen Worten und gemeinen Verdächtigungen erwiderte. Diese Frau, die Zeugin des lasterhaften Lebens ihres Gatten, der da­durch hervorgerufenen grossen Skandale, hörte niemals auf, ihn zärtlich zu lieben, war ihm bei der Flucht aus dem Gefängnisse behilflich und erwies ihm in seinem Gefängnisleben tausend Dienste, die nur eine hingebende Liebe erweisen kann. Das deutet wirklich darauf hin, dass der Marquis d e S a d e etwas von dem an sich hatte, was er selbst als die „Wonne des Lasters" bezeichnet und was alle Frauen unwiderstehlich anzog. Wie er selbst diese Liebe lohnte, hat Gr i n i s t y ausführlich dargestellt. Wir teilen nur eine Probe mit. Einmal schreibt ihm seine Frau: „Du musst die Welt besser kennen als ich. Thue, was Du willst. Ich will nur das Hörrohr für Deine Befehle sein. Du weisst dass Du auf mich als Deine beste und zärtlichste Freundin rechnen kannst." S a d e schrieb an den Hand dieses Briefes: „Kann man so unverschämt lügen?" )

Bei dem Verhältnisse zwischen den beiden Ehe­gatten darf es nicht Wunder nehmen, dass der Marquis de S a de nachdem er vergeblich den Aufenthaltsort des jüngeren Fräulein von Montreuil zu erkunden gesucht hatte, sich nach Lacroix schon im ersten Jahre seineT Ehe in den Strudel wilder Ausschweifungen stürzte, seine Gesundheit und seine Reichtümer mit Hilfe der berüchtigsten Eoues seiner Zeit vergeudete, und die „Koryphäe der parfümierten Orgien" des Her­zogs von Fronsac und des Prinzen Lamba 11 e wurde, aber es auch nicht verschmähte, sich mit Lakaien zu widerlichen Saturnalien zu vereinigen. Eingeweiht in die „Geheimnisse der petites maisons und der Bor­delle" suchte er seine Gefährten in dem Ersinnen neuer raffinierter Lüste zu übertreffen. Das war jene Zeit, in welcher ein deutscher Autor den Marquis de Sade zum Arrangeur der Orgien des Hirschparks macht, was historisch nicht festgestellt, aber glaubwürdig sein kann. Schon wenige Monate nach seiner Heirat wurde S a d e, der erst 23 Jahre zählte, in Vincennes einge­kerkert, weil er in einer „petite maison" grosse Excesse begangen hatte. Hier benahm er sich sehr zurückhal­tend und ruhig und fügte sich ohne Murren in die Tagesordnung des Gefängnisses, bat nur, ihm seinen Kammerdiener zu lassen und bisweilen den Genuss frischer Luft zu vergönnen. In einem Briefe vom 2. , November bittet er, dass man seiner Frau von seiner < Verhaftung Nachricht gebe, aber den Grund derselben i verschweige, und wünscht einen Priester zu sehen. Er I schliesst mit den Worten: „So unglücklich ich bin, be- j klage ich mich nicht über mein Schicksal; denn ich j verdiene die göttliche Strafe; meine Fehler bereuen, meine Irrtümer verabscheuen, soll meine einzige Be­schäftigung sein." Schon damalsmuss erein obscönes Buch geschrieben haben. Denn in diesem Briefe spricht er von dem Datum des „un­glückseligen Buches", das erst aus dem Juni stamme, während er sich am 17. Mai verheiratet habe. Auch habe er erst im Juni jenes genannte Haus aufgesucht. Darauf habe er sich drei Monate auf dem Lande auf ge­balten und sei acht Tage nach seiner Bückkehr ver­haftet worden. Welche seiner Schriften de S a d e hier im Auge hat, ist vorläufig noch nicht fest­zustellen. Wenn 0 a b a n & s (a. a. O. Seite 262) meint, dass die „Justine" gemeint sei, so ist das eben mit dem bis heute vorliegenden litterarischen und archivalischen Material nicht zu beweisen. Indessen geht doch aus dem vorliegenden wichtigen Briefe mit aller Sicherheit hervor, dass S a d e frühzeitig, schon mit 23 Jahren, anfing, pornographische Schriften zu verfassen.

Vielleicht hat M a r c i a t Recht mit der Annahme, dass dieser an den Gouverneur des Gefängnisses ge­richtete Brief von einer heuchlerischen Gesinnung ein­gegeben worden sei, vielleicht aber auch liegt hier eine der bei sexuell ausschweifenden Menschen so häufig vorkommenden religiösen Anwandlungen vor. Es hat sich noch ein kleines Billet an den Gefängnispriester Griffet vom 4. November 1763 erhalten (veröffent­licht im „AmateuT d'Autographes" 1866 und bei 0 a b a n e s). Es heisst in demselben: ,Wir haben einen neuen Gefangenen in Vincennes, welcher einen Beicht­vater zu sprechen wünscht und sicherlich Ihre Dienste nöthig hat, obgleich er nicht kränk ist. Es ist der Marquis de Sade, ein junger Mann von 22 Jahren. Ich bitte Sie, ihn sobald wie möglich zu besuchen, und wenn Sie mit ihm gesprochen haben, so werden Sie mir einen Gefallen thun, wenn Sie bei mir vorsprechen." x)

5. Das Gefängnisleben des Mannes.

Aehnlich einem neueren französischen Dichter, PaulVerlaine, hat der Marquis d e S a d e, nach dem er ins Mannesalter eingetreten war, einen grossen Teil seines Lebens in Gefängnissen zugebracht. Wenn man den letzten Aufenthalt in Charenton hinzurechnet, hat er im ganzen 27 Jahre in 11 Gefängnissen ver­bracht: von diesen 27 Jahren fallen 14 Jahre in sein Hannes-, 13 Jahre in sein Greisenalter. In der Ein­samkeit des Kerkers verarbeitete er den Stoff zu seinen Werken, was bei deren späterer Beurteilung berücksich­tigt werden muss. Das ganze Mannesalter des Marquis de S a d e können wir als ein Gefängnisleben mit Unterbrechungen bezeichnen, das reich ist an drama­tischen Vorgängen, die seinen Namen schnell berühmt machten, wenn auch dieser Ruhm ein sehr trauriger war. Gleich die Veranlassung zu seiner zweiten Ein­kerkerung war ein von den Zeitgenossen vielfach be­sprochener Vorgang. Es war 1. Die Affäre Keller (3. April 1768).

Wir besitzen über diese Affäre verschiedene Nach­richten. Die wichtigste ist die der Madame du Deffand in einem nur lOTage nach dem Ereignis geschriebenen Briefe an Horace Walpole, den englischen Dichter und Staatsmann.8) Sie schreibt in demselben: „Hier haben Sie eine tragische und sehr sonderbare Geschichte! — Ein gewisser Comte de Sade, Neffe des Abbe und Petrarcaforschers, begegnete am Osterdienstag einer grossen, wohlgewachsenen Frau von 30 Jahren, die ihn um ein Almosen bat. Er fragte sie lange aus, bezeigte ihr viel Interesse, schlug ihr vor, sie ms ihrem Elend zu befreien und zur Aufseherin seiner „petite maison" in der Nähe von Paris zu machen. Die Frau nahm dies an, wurde auf den folgenden Tag hin­bestellt. Als sie erschien, zeigte ihr der Marquis alle Zimmer und Winkel des Hauses und führte sie zuletzt in eine Dachkammer, wo er sich mit ihr einschloss und ihr befahl, sich vollständig zu entkleiden. Sie warf sich ihm zu Füssen und bat ihn, sie zu schonen, da sie eine anständige Frau sei. Er bedrohte sie mit einer Pistole, die er aus der Tasche zog, und befahl ihr zu gehorchen, was sie sofort that. Dann band er ihr die Hände zu­sammen und peitschte sie grausam. Als sie über und über mit Blut bedeckt war, zog er einen Topf mit Salbe aus seinem Rocke hervor, bestrich die "Wunden damit und Hess sie liegen. Ich weiss nicht, ob er ihr zu trinken und zu essen gab. Jedenfalls sah er sie erst am folgen­den Morgen wieder, untersuchte ihre Wunden und sah, dass die Salbe die erwartete Wirkung gehabt hatte. Dann nahm er ein Messer und machte ihr am ganzen Körper Einschnitte damit, bestrich wiederum mit der Salbe die blutenden Stellen und ging fort. Es gelang der Unglücklichen, ihre Bande zu zerreissen und sich durchs Fenster auf die Strasse zu retten. Man weiss nicht, ob sie sich beim Hinunterspringen verletzt hat. Es entstand ein grosser Auflauf. Der Pölizeileutnant wurde von dem Falle benachrichtigt. Man verhaftete Herrn d e S a d e. Er ist, wie man sagt, im Schlosse von Saumur untergebracht. Man weiss nicht, was aus der Sache werden wird, und ob man sich mit dieser Strafe begnügen wird, was wohl der Fall sein könnte, da er zu den Leuten von Stand und Ansehen gehört. Man sagt, dass das Motiv dieser abscheulichen Hand­lung der Wunsch gewesen sei, die Brauchbarkeit der Salbe festzustellen. — Das ist die Tragödie, die Sie etwas unterhalten mag." Am folgenden Tage (13. April) schreibt Madame Du Deffand: „Seit gestern kenne ich die weiteren Folgen der Affäre des Herrn d e S a d e. Das Dorf, in dem sein „kleines Haus" sich befindet, ist Arcueil. Er peitschte und zerschnitt die Unglückliche am s e 1 b e n Tage und goss ihr „Balsam" auf die Wun­den und Striemen. Dann band er ihr die Hände loa, hüllte sie ein und legte sie in ein gutes Bett. Kaum war sie allein, so bediente sie sich ihrer Arme und ihrer Decken, um sich durchs Fenster zu retten. Der Richter von Arcueil riet ihr, ihre Klagen beim Generalproku­rator und dem Polizeilieutenant vorzubringen. Letzte­rer Hess S a d e verhaften, der sich mit grosser Frech­heit seines Verbrechens als einer sehr edlen Handlung rühmte, da er dem Publikum die wunderbare Wirkung einer Salbe offenbart habe, die auf der Stelle alle Wun­den heile. Sie hat von der weiteren Verfolgung des Attentäters Abstand genommen, wahrscheinlich nach Zahlung einer Geldsumme an sie. So wird er wohl nicht ins Gefängnis kommen." Diesen Bericht müssen wir, weil er unmittelbar nach dem Ereignis niederge­schrieben wurde und die Marquise Du Deffand, wie der zweite Brief beweist, genau informiert war, als den glaubwürdigsten bezeichnen. Die anderen Erzählungen dieses merkwürdigen Vorfalles weichen so sehr von einander ab, dass M a r c i a t mit Recht daraus schliesst, dass das eigentliche Attentat auf die Keller eher dadurch verdunkelt als aufgeklärt wird. — Jules J a n i n *) erzählt, dass der Marquis de Sade in Arcueil eine in einem grossen Garten, zwischen Bäumen sehr versteckt gelegene petite maison besessen habe, iro er oft seine Orgien feierte. Das Hans war mit dop­pelten Fensterladen versehen und innen ausgepolstert [matellassee), so dass man von draussen nichts hören konnte. An einem Osterabend, den 3. April 1768, hatte ihm sein Kammerdiener und Vertrauter zwei gemeine Freudenmädchen zugeführt, und der Marquis selbst, als er sich zu dem nächtlichen Feste nach Arcueil begab, war einer armen Frau, Rosa Keller, Witwe eines gewissen Valentin begegnet, die wohl als Prosti­tuierte ihr Brot suchte. S a d e redete sie an, versprach ihr ein Souper und ein Nachtlager, that sehr sanft und zärtlich, so dass sie mit ihm in einen Fiaker stieg und nach Arcueil fuhr. Der Marquis führte sie in den zwei­ten Stock seines abgelegenen, spärlich erleuchteten Hauses, wo die beiden mit Blumen bekränzten Dirnen halb trunken an reichbesetzter Tafel sassen. Hier wurde sie geknebelt, vollständig entkleidet, von den beiden Männern bis aufs Blut gepeitscht, bis die Un­glückliche „nur noch eine einzige Wunde war", worauf die Orgie mit den beiden Freudenmädchen begann. — Dann folgt die Schilderung der Flucht der Keller, des Auflaufs, der Verhaftung der Uebelthäter, welche man sinnlos betrunken inmitten von „Wein und Blut" auffand.

Diese Darstellung giebt auch Eulenburg und findet darin jene „eigentümliche Form der Kombination von Wollust und Grausamkeit, die freilich nicht völlig demjenigen entspricht, wofür man den Ausdruck „Sadis­mus" im engeren Sinne geprägt hat, insofern die Vor nähme grausamer Handlungen dabei nicht als Selbst­zweck, sondern wesentlich als präparatorischer Akt, als Stimulans der Wollustbefriedigung au dienen bestimmt ist: denn die Peitschung der Eosa Keller hatte allem Anschein nach den Zweck, de Sade zum Verkehr mit den beiden Mädchen in „Stimmung" zu bringen".

L a c r o i x berichtet in seiner Abhandlung vom Jahre 1837 nur1), dass die Keller gepeitscht wurde unter obscönen Umständen, welche Madame Du Deffand in ihren Briefen an Horace Walpole nicht zu schildern wagte, welche aber die „prüdesten Frauen sich erzählen Hessen, ohne zu erröten, zu der Zeit als diese Affäre so viel Staub aufwirbelte". Später, im Jahre 1845, fügte er hinzu, dass man der Keller mit einem Messer Ein­schnitte in die Haut machte und die Hautlappen mit ßpanischem Wachs wieder zusammenklebte.2)

Ketif de la Bretonne, der den Marquis de Sade seit 1768 kannte, giebt in den „Nuits de Paris" (194ste Nacht S. 2569) wiederum eine ganz andere Darstellung der Geschichte der „femme vivante dissä-quee." Nachdem der Marquis de Sade die Keller auf der Place des Victoires getroffen hatte, führte er sie mit sich in sein Haus, Hess sie dort in einen „Anatomie­saal" eintreten, in dem eine grosse Zahl von Menschen versammelt war, um der Vivisection der Keller zuzu­schauen. „Was will diese UnglückHche auf der Erde?", sagte der Marquis mit ernstem Tone. „Sie taugt zu nichts, und soll uns daher dazu dienen, in die Geheim­nisse der menschlichen Structur einzudringen". Man band sie auf dem Sectionstische fest; der Marquis als Prosector untersuchte alle Teile ihres Körpers und ver­kündete mit lauter Stimme die Eesultate vorher, welche üie Section ergeben würde. Als die Frau laut schrie, zog die Gesellschaft sich zurück, um vor dem Beginne der Section die Bedienten zu entfernen. Es gelang in­zwischen der allein Gelassenen, sich aus ihren Fesseln zu befreien und durchs Fenster zu entfliehen. 3>raussen erzählte sie, dass in dem Saale drei Leichen gelegen hätten, eine nur noch aus Knochen bestehend, eine zweite geöffnet und in einem grossen Fasse versteckt, und die letzte (eines Mannes) ganz frisch.

Nach dieser Erzählung scheint Rosa Keller das Opfer einer indecenten und abscheulichen Mysti-fication geworden zu sein. 0 a b a n e s hat von Jeman­dem, der „über den Marquis einen ganzen Dossier von Originalakten in den Händen hat", die Mitteilung er­halten, dass in dieser Affäre die Dinge sich viel ein­facher abgespielt hätten. Rosa Keller sei, er­schreckt durch den Anblick der sie umgebenden Gegen­stände, ohne weiteres in adamitischem Oostüme zum Fenster hinausgesprungen, und auf der Strasse von Polizisten zur nächsten Wache gebracht worden.

Endlich existiert noch eine Erzählung von Brierrede Boismont, die Marciat auf die Affäre Keller bezieht, die wir aber für einen beson­deren Fall halten. Brierre deBoismont erfuhr den Inhalt dieser Geschichte von einem Freunde, der denMarquisdeSadepersönlichgekannt hatte und von diesem erzählte, dass bei einem Ge­spräche über galante Abenteuer „seine Augen blutig unterliefen und einen finsteren und grausamen Aus­druck angenommen hätten". Dieser zweite Fall wird folgende: Wenige Jahre vor der Revolution hört einer einsamen Strasse von Paris au eines Hauses ein schwaches Wimmern h drangen durch eine kleine Thür ins Hs den in einer Kammer eine splitternac weiss wie Wachs, auf einem Tische fes Blut strömte aus zwei Aderlasseinsc Armen; die Brüste waren leicht auf entleerten Flüssigkeit. Die Geschlechl man mehrere Incisionen gemacht hatte, gebadet'. Nachdem sich die Unglüc grossen Erschöpfung erholt hatte, erzä durch den berüchtigten Marquis de Haus gelockt worden sei. Nach bee habe er sie durch seine Leute ergreifen auf dem Tische festbinden lassen. E ihr die Adern mit einer Lancette und reiche Incisionen am Körper bei. Darat TJebrigen zurück, und der Marquis b« seine geschlechtliche Lust. Er wollte i nichts übles anthun; aber als sie una erhob er sich brüsk und ging zu seinen Brierre de Boismont wurde di< drückt, nachdem die Betreffende ein« gung bekommen hatte.

Auch die Affäre Keller verlief de Sade sehr glimpflich. Er wurd Schlosse von Saumur, dann in der Fei in Lyon eingesperrt, aber nach 6 Woc lachdem KosaK eller ein Schmerzensgeld von 100 Louisdors bekommen hatte.

Er setzte darauf sein ausschweifendes Lehen in den niederen Sphären der Schauspieler- und Schriftsteller-wrelt fort, verkehrte mit Leuten von allerschlechtestem Rufe, umgab sich mit Dirnen und liess allen perversen Neigungen freien Lauf. Herr von Montreuil er­wirkte schliesslich eine polizeiliche Verbannung des Marquis de Sade auf sein Schloss La Coste in der Provence, wo er an der Seite einer Schauspielerin (wahr­scheinlich der Beauvoisin vom Theatre-Frangais) den dort ansässigen Adel mit seinen Lastern bekannt machte. Seine Frau, die ihn um die Erlaubnis gebeten hatte, auf das Schloss Saumane zu kommen, um in seiner Nähe zu sein, beging die Unklugheit, ihm die Mitankunft ihrer eben aus dem Kloster entlassenen Schwester anzukündigen. Sade, den die Begierde nach dem Besitze dieser Schwester nicht verlassen hatte, heuchelte dennoch vor seiner Frau Gleichgültigkeit gegen dieselbe. Aber beim ersten Alleinsein mit der Geliebten fiel er ihr zu Füssen, schwur, nur sie geliebt zu haben, und dass alle seine Vergehen die Folgen dieser unglücklichen Liebe gewesen seien. Er drohte, sich das Leben zu nehmen, wenn er nicht erhört werde, und erriet aus den Blicken des schweigenden jungen Mädchens, dass er Erhörung finden werd<\ So f asste er nach L a c r o i x den Plan, eine besondere Missethat zu begehen, seiner Schwägerin einen Selbstmord vorzu­spiegeln, und sie dadurch zur Flucht mit ihm zu be­stimmen. Die Ausführung dieses Planes ist in der Geschichte berühmt geworden als Der Skandal zu Marseille (Cantharidenbonbons-Orgie).

Bachaumont's geheime Memoiren bringen junter dem 25. Juli 1772 den folgenden Bericht: „Man jächreibt aus Marseille, dass der Graf de Sade, der im jTahre 1768 soviel Aufsehen durch seine Verbrechen an einer Dirne machte, an der er angeblich ein neues ört­liches Heilmittel erproben wollte, soeben hier ein zuerst jamüsantes, später aber durch seine Eolgen schreckliches (Schauspiel veranstaltet hat. Er gab einen Ball, zu dem jer viele Leute eingeladen hatte, und beim Dessert ver

E'lte er sehr schöne Chocoladepastillen, von denen viele ute assen. Denselben waren gepulverte spanische Fliegen beigemischt. Man kennt die Wirkung dieses Mittels. Alle, die davon gegessen hatten, wurden von einer schamlosen Brunst ergriffen und begingen die tollsten Liebesexcesse. Das Fest artete zu einer wilden I altrömischen Orgie aus. Die keuschesten Frauen konn­ten der Mutterwut nicht widerstehen, welche sie ver­zehrte. Der Marquis de Sade missbrauchte Beine Schwägerin, mit der er dann entfloh, um der ihm drohen­den Todesstrafe zu entgehen. Mehrere Personen star­ben an den Folgen der Exzesse, andere sind noch sehr krank/'x)

Diese Darstellung ist offenbar übertrieben. Nach L a c r o i x , der die Mitteilung von einem glaubwür­digen Augenzeugen hat, begab sich der Marquis de Sade mit seinem Diener nach Marseille. Er hatte sich pit Cantharidenbonbons versehen, die er in einem öffentlichen Hause verteilte. Eine Dirne sprang aus lern Fenster und verletzte sich tötlich. Die anderen gaben sich, halbnackt den infamsten Ausschweifungen hin, selbst vor dem alsbald in Menge herbeieilenden Volke. Zwei Mädchen starben an den Folgen der Ver­giftung und der im, Tumult erlittenen Verletzungen. S a d e lies sich von einem Parlamentsrat einen Brief mit der Ankündigung des ihm bevorstehenden Urteils schicken, zeigte diesen Brief seiner Schwägerin, nannte sich ein Ungeheuer und drohte, sich zu töten. Fräulein von Montreuil beschwor ihn, zu fliehen, und er bewog sie, ihn zu begleiten. So fuhren sie nach einer Stunde davon.

Nach der „Biographie universelle" ist auch diese Erzählung unrichtig, da überhaupt Niemand gestorben sei, sondern einige Personen nur „leicht belästigt" wur­den.

K6tif de la Bretonne verlegt den Ort der Handlung nach Paris in den Faübourg Saint-Honore. Hier sind es Bauern und Bäuerinnen, welche die ver­hängnisvollen Bonbons essen. "Wichtig ist, dass R e t i f , der stets einen glühenden Hass gegen den Marquis d e Sade gehegt hat, Niemanden an den Folgen dieser Orgie sterben lässt.

Danach ist mit Sicherheit anzunehmen, dass dieser Skandal nicht zu Todesfällen geführt hat. Marseille sah auch gewiss öfter derartige Scenen, da das extra­vagante Leben in dieser Stadt unter dem ancien regime öfter hervorgehoben wird.

Vor einigen Monaten hat Dr. Oabanes in seiner Studie über den Marquis de Sa de ein neues, hoch­wichtiges Dokument über die Marseiller Affäre ans Licht gezogen. Es ist ein in dem Archiv der Auswär­tigen Angelegenheiten aufbewahrtes Memoire, welches den Titel trägt: „Darstellung der That-eachen und kurzer Bericht über den Process, gegen welchen der Marquis de Sade und seine Familie Einspruch erhebe n." Nach diesem Bericht weilte der Marquis de Sade im Juni 1772 mit seiner Frau und seinen drei kleinen Kindern auf seinem Gute in der Provence und unternahm Ende des Monats eine Eeise nach Mar­seille, um dort von Paris angekommenes Gepäck in Empfang zu nehmen. Er besuchte während seines Aufenthaltes am 21. Juni 1772 mehrere öffentliche Mädchen und kehrte darauf in vollster Seelenruhe auf sein Gut zurück, ohne zu ahnen, dass man eine straf­rechtliche Verfolgung gegen ihn einleitete. Drei Tage nach seiner Abreise wurde er vor dem Landgerichte in Marseille als des versuchten Giftmordes verdächtig an­geklagt. Das Dienstmädchen einer Prostituierten, zu­gleich Teilnehmerin an deren Ausschweifungen, sagte aus, dass ihre Herrin seit einigen Tagen von heftigen inneren Schmerzen und Erbrechen heimgesucht würde, welcher Zustand nach dem Genuss einiger ihr von einem fremden Besucher angebotenen Pastillen eingetreten sei. Der Richter begab sich in die "Wohnung der Dirne. Ein zweites Freudenmädchen berichtete, dass ein Mann, von demman ihr gesagt habe, dass es der Marquis de Sade sei, sie besucht habe und ihr gleich den übrigen im Zimmer versammelten Mädchen ver­zuckerten Anis angeboten habe. Eine von ihnen habe nicht davon gegessen. Die übrigen seien davon „be­lästigt" worden. Man fand bei gerichtlicher Haus Buchung in dem erwähnten Zimmer noch zwei solche Anis-Bonbons, deren chemische Untersuchung durch zwei Gerichtschemiker die Abwesenheit jeder Art von Gift oder reizender Substanz ergab. Im Verlaufe der weiteren Untersuchung beschuldigte eine von den Prostituierten, welche alle in demselben Zimmer ge­wesen waren, den Marquis und seinen Bedienten eines widernatürlichen Verbrechens. Alle diese Zeugenaus­sagen wurden während der Abwesenheit des Angeklag­ten entgegengenommen. LHe Familie desselben führt in dem Memoire Klage darüber, dass in diesem Pro­zesse so viele offenbare Verletzungen des Rechts vor­gekommen seien, weist auf das Gutachten der Chemiker hin, sowie auf die Unschuldserklärung, welche zwei der angeblich vergifteten Mädchen dem Marquis in einer Aussage vom 8. August 1772 hätten zu Teil werden lassen. Trotzdem habe sowohl der Gerichtshof in Mar­seille, wie derjenige in Aix in gesetzwidrig beschleunig­tem Verfahren den Marquis zu einer so schweren und schimpflichen Strafe verurteilt, nur infolge der Aus­sage von Prostituierten, einer Menschenklasse, deren Lügenhaftigkeit so bekannt sei. Gegen diese Rechts­verletzung erhebe die Familie energischen Protest. (C a b a n e s a. a. O. S. 266—272.) Jedenfalls besitzen wir in diesem wichtigen Dokumente die ersten authen­tischen Nachrichten über die geheimnisvolle Bonbons-Affäre, deren Harmlosigkeit dadurch wohl aufs eviden­teste bewiesen wird. Auch die übrigen Aussagen der Prostituierten müssen mit der grössten Vorsicht auf­genommen werden. So bleibt das einzig wirklich That-sächliche in der so berühmten Affäre der Besuch eines oder mehrerer Marseiller Bor­delle durch den Marquis de Sade und die Verteilung unschuldiger Bonbons an die Freudenmädchen.

Der Marquis de Sade wurde vom Parlament in Aix am 11. September 1772, ebenso wie sein Kammer­diener, wegen Sodomie und Vergiftung in contumaciam zum Tode verurteilt. Die Härte dieses Urteils wird auf den Kanzler Manpeou zurückgeführt, der ein Exempel statuieren wollte. TJebrigens wurde dasselbe nach sechs Jahren, am 30. Juni 1778, aufgehoben und der Marquis nur zu einer Geldstrafe von 50 Francs verurteilt, oder sogar nach der „Biographie des Con-temporains" zu einer Ermahnung durch den ersten Präsidenten des Gerichtshofes.

Er war inzwischen mit seiner Schwägerin nach Italien geflohen, wo er mit ihr ein stilles und züchtiges Leben führte, bis sie ihm nach kurzer, heftiger Krank­heit durch einen plötzlichen Tod entrissen wurde, und er nach dem Hinscheiden seines guten Engels wieder in die alten Ausschweifungen zurückfiel. Er wurde dann in Piemont verhaftet und am 8. Dezember 1772 im Fort Miolans festgesetzt. Seine Familie wandte sich durch Vermittelung des Grafen M a r m o r a, Gesand­ten des Königs von Sardinien in Paris, an den Grafen de la Tour, Generalkommandanten von Savoyen, und Hess ihn bitten, den Namen des Gefangenen geheim zu halten, ihn als Graf deMazanzu bezeichnen, ihm seine Effekten zu lassen, da ein so lebhafter Geist nicht ohne Beschäftigung existieren könne. Nur seine Papiere, Manuscripte und Briefe möge man seiner Familie zustellen. Man entsprach diesen "Wünschen, de la Tour berichtet, dass Sade zwei Zimmer be­kam, welche von einem Tapezierer aus Chamberjr vor trefflich möbliert -worden waren, d e S a d e hatte durch j ein Schriftstück vom 9. Dezember 1772 versprochen, [ keinen Fluchtversuch zu machen. Am 8. Januar 1773 erkrankte er, man liess einen Arzt rufen, seine Gattin beschwor in zahlreichen Briefen den Festungskomman-| danten de Launay, ihrem Gatten doch alle mögliche I Pflege angedeihen zu lassen, und bereitete damals schon ' die Flucht des Marquis vor, sodass Marmora in I einem Briefe vom 1. März 1773 de la Tour bitten | musste, für strengere Bewachung de Sade's Sorge ! zu tragen und seine Frau von ihm fernzuhalten. Trotz­dem gelang es dem Marquis, die Wachsamkeit d e Lannay's einzuschläfern, der über die angebliche Reue und Harmlosigkeit desselben ande la Tourin i mehreren Briefen berichtet, und so wurde es der Mar-, quise leicht, mit Hülfe von 15 entschlossenen Männern : in der Nacht vom 1. zum 2. Mai 1773 die Flucht ihres Gatten zu bewerkstelligen. Der bekannte de S o ugy („Baron de 1' A 11 ee") war sein Fluchtgenosse. Sie | gingen nach Genf, von dort nach Italien. de S a d e !liess dem Gouverneur, Herrn de Launay, einen i ironischen Brief zurück, traf in Italien seine Frau, : deren Gesellschaft er indessen bald mit der einer I Maitresse vertauschte. Letztere, nicht seine i Schwägerin, wie Eulenburg annimmt ), ist das Vor­bild der Juliette. Im Jahre 1777 kehrte er nach Frank­reich zurück ), wo seine Frau und Schwiegermutter sich bemühten, seine Rehabilitation durchzusetzen, wie aus den unter No. 1741 und 147 im auswärtigen Archiv aufbewahrten und von Oabanes veröffentlichten Gesuchen hervorgeht (Ca bau es a. a. O. S. 282 biß 284). Doch war dies vergeblich.

3. Einkerkerung in Vincennes und in der Bastille.

Nach kurzem Aufenthalt in der Provence, wo er wieder ein wüstes Leben führte, wurde S a d e verhaftet, nach Paris geführt und im Hauptturm der Festung Vincennes eingekerkert. In einem Briefe an den Gou­verneur von Vincennes fleht er diesen an, ihm das Wiedersehen mit seiner Frau zu gestatten. Jeden­falls setzte er sich wieder mit ihr in Verbindung, wie aus der von Ginisty mitgeteilten Korrespondenz hervorgehts), und es gelang ihren Bemühungen, eine Revision des Urteils durchzusetzen. S a d e wurde nach Aix gebracht, wo ihn der Advokat S i m 6 o n glänzend verteidigte und unter dem 30. Juni 1778 die Annulli-rung des Urteils erwirkte. Aber durch den Einfluss der Präsidentin Montreuil, die mit Recht Sa de's Freiheit mehr fürchtete als seine Gefangenschaft, wurde der Beschluss rückgängig gemacht und er nach Vincen­nes überführt. Den Transport leitete der uns wohl be­kannte Polizeiinspektor Marais. Es gelang dem Marquis, bei einem Aufenthalt in Lambesc, am 5. Juli 1778, wieder mit Hülfe seiner Frau zu entfliehen. Ginisty teilt den interessanten Polizeibericht über diese sehr romantische Flucht ausführlich mit.8) Er wurde aber bald darauf (7. September) von Marais auf seinem Schlosse Lacoste entdeckt und diesmal ohne Zwischenfall nach Vincennes zurückgebracht, von wo er im Jiahre 1784 in die Bastille überführt wurde. Am Vorabend des 14. Juli 1789 nach Charenton gebracht, soll er nach lacroix am Tage der Erstürmung der Bastille, und der wohl richtigeren Angabe der „Bio­graphie universelle" aber erst am 29. März 1790 durch Dekret der constituierenden Versammlung befreit wor­den sein.

Von 1777 bis 1790, in der Blüte des Mannesaltera,

sass also der Marquis d e S a d e im Gefängnis. Es ist

j kein Zweifel, dass hier die ersten Entwürfe zu seinen

! berüchtigten Werken entstanden, und es dürfte daher

eine etwas eingehendere Schilderung jener Zeit von

Nutzen sein.

In Vincennes wurde er während der ersten Jahre in eine feuchte, kalte Kammer eingesperrt, die keiner­lei Möbel enthielt ausser einem Bette, das er selbst in Ordnung zu bringen hatte. Sein Essen bekam er durch ein Guckloch. Schreibzeug und Bücher wurden ihm vorenthalten. Dies empfand er besonders schmerzlich, :wie drei kleine auf der Auktion Fosse d'Arcosse im Jahre 1861 unter ISo. 1003 verkaufte Autographen .beweisen, wo er einmal sagt: sans air, ni lettre, ni lencre, ni quoi que ce soit au monde", ein anderes Mal: j„une heure de promenade et permission d'ecrire, une \ seule fois par semaine." )

Seine Frau, die mit unerschütterlicher Liebe an ! ihm hing, schickte ihm Bücher, Schreibutensilien und andere von ihm verlangte Dinge, sogar Kölnisches Wasser. Sie erhielt auch später die Erlaubnis, ihn zu besuchen. Aber jeder Besuch gestaltete sich zu einem Skandale. Man musste die Marquise vor der Wut und den Zornesausbrüchen ihres Gatten schützen. Am 25. September 1782 untersagte infolgedessen der Polizei­leutnant Le Noir diese Besuche. Erst am 13. Juli 1786 durfte sie den persönlichen Verkehr mit dem Marquis wieder aufnehmen. Indessen waren stets andere Personen dabei anwesend, um die Marquise gegen die Gewalttätigkeiten ihres cynischen und rohen Gatten zu schützen. S a d e heuchelte dann Liebe, um in seinen Briefen die treue Gattin wieder mit unge­rechtfertigten Vorwürfen und schändlichen Belei­digungen zu überschütten.

M a r c i a t findet in dem Leben des Marquis d e S a d e vor seiner Einkerkerung einen Hang zur Grau­samkeit, eine Verachtung der Frau, eine unzähmbare Geschlechtslust und schliesst mit Recht, dass auf einen solchen Menschen, der zudem sich seinen Wollustkum­panen an Intelligenz überlegen zeigt, eine 13jährige Einkerkerung vom 28. bis zum 51. Lebensjahre, die ihm jede B ef riedigung seines heftigen Geschlechtstriebes unmöglich machte, eine schwere psychische Schädigung ausüben müsse. Dafür spricht auch die krankhaft gesteigerte Reizbarkeit, das unendliche Misstrauen, welches sich in den von G i n i s t y veröffentlichten Briefen an seine Gattin ausspricht. Interessant ist, dass er zu den Briefen seiner Frau die unflätigsten Randbemerkungen machte, und hinter allen Handlungen der Gattin sexuelle Motive wittert. Ebenso sind die rohen Zornesausbrüche bei Besuchen derselben charakteristisch. Den Einfluss der Gefangenschaft als eines „mächtigen Factors zur Erzeugung von Seelenstörungen" schildert Schule in ausgezeichneter Weise. ) „Ungleich rascher, als unter den Bedingungen des freien Lebens, vollzieht sieb durch die Schändlichkeiten der Einzelhaft der Ueber-gang in geistige Schwäche." In der Einsamkeit der Zelle konnte die Phantasie Sade's sich ungezügelt in Bildern der Wollust und Grausamkeit ergehen. Er­satz für die ihm mit einem Male für lange Jahre abge­schnittene reale Befriedigung übermässigen Ge­schlechtstriebes konnte er nur in ungeheuerlichen, die Wirklichkeit überbietenden Phantasien finden. Und sobald er die Erlaubnis zur Leetüre von Büchern bekam, suchte er nach dem treffenden Ausspruch der „Bio­graphie universelle" in der Vergangenheit und Gegen­wart die Beispiele und Vorbilder für seine lasterhaften Anschauungen, die er dann in Gestalt von zahllosen Manuscripten niederlegte. Auch diese Graphomanie scheint uns das Bild einer gewissen geistigen I Schwäche, die in dieser Zeit sich bei S a d e aus-1 prägte, zu vervollständigen. Er wurde im Gefängnis j der sehr fruchtbare Schriftsteller, als welchen wir ihn i später kennen lernen werden. Er las unendlich viele j Bücher, ohne deren Inhalt gehörig zu verdauen; er l lernte aus ihnen nur ein oberflächliches Eaisonnement, [ während zahlreiche einzelne Beobachtungen einen mehr I als gewöhnlichen Scharfblick erkennen lassen. Er war j wie so viele sexuell sehr veranlagte Naturen gross in der Analyse aller Dinge, die mit dem Geschlechts­leben zusammenhängen, aber klein in der allgemeinen Synthese, dem wahrhaft philosophischen Denken. Leider sind die während der Gefangenschaft verfassten Tagebücher Sade's von 1777 bis 1798 in 13 Heften, von denen sich 11 noch vorfanden, verbrannt worden, so dass uns dadurch ein wichtiges Hülfsmittel zur Erkenntnis seines geistigen Znstandes verloren ge­gangen ist. Er hatte in den Tagebüchern alles vermerkt, was er während dieser 13 Jahre „gesagt, gethan, gehört, gelesen, geschrieben, gefühlt oder gedacht hatte." (Bio­graphie universelle.) ) So sind nur noch seine Werke zur Beurteilung seiner psychischen Persönlichkeit übrig geblieben.

Von Interesse ist, dass der Marquis d e S a d e, wie es scheint, im Gefängnis auch eine Correspondenz mit seinen Maitressen unterhielt. Im April 1864 wurde bei der von Charavay veranstalteten Auktion der litte­rarischen Schätze des Grafen H. d e M. ein Brief von 2 Seiten gezeigt, den eine Maitresae am 18. September 1778 an den Marquis de S a d e geschrieben hatte, und der von diesem mit Randbemerkungen versehen war.

Dass die Gefangenschaft das Geistesleben oft nach der sexuellen Richtung hin ablenkt, beweist auch das Beispiel des grossen Mirabeau, der zu gleicher Zeit wie S a d e in Vincennes interniert war und hier seine obscönen Bücher schrieb.

Ein merkwürdiger Brief Mirabeau's über die­ses Zusammensein mit dem Marquis de S ade hat sich erhalten, der gerade nicht für freundschaftliche Be­ziehungen der Beiden spricht.8) „Herr d e S a d e", so heisst es in diesem Briefe, „hat gestern die Festung in Aufruhr versetzt und mir ohne die geringste Provo kation meinerseits die infamsten Gemeinheiten gesagt. Ich würde von Herrn deSongemont (dem Gouver­neur) begünstigt, und damit ich spazieren gehen könne, verweigere man ihm die Erlaubnis dazu. Er bat mich um Angabe meines Hamens, damit er mir nach seiner Freilassung die Ohren abschneiden könne. Ich verlor die Geduld und sagte ihm: Mein Name ist jr eines Ehrenmannes, der niemals Frauen zerstückelt und ein­gesperrt hat, der Ihnen diesen Namen mit dem Stocke auf den Kücken schreiben wird. — Er schwieg und wagte seitdem nicht mehr, den Mund zu öffnen. Es ist schlimm in demselben Hause mit einem solchen Mon­strum zu wohnen".

6. Teilnahme an der Revolution und litterarische Tätigkeit

Die ersten Szenen der Bevolution spielten sich vor ! dem Gefängnis des Marquis de Sade ab, der ihr von j vornherein viele Sympathien entgegenbrachte. Im Juni 1789 verzeichnet das Register der Bastille, dass er die Wachen vor seiner Thür und am Fuss des Thunnea über-, ' wältigen wollte", dass man ihn aber in sein Zimmer zurücktrieb, „indem man ihm einen Flintenlauf ein wenig nahe zeigte." Er setzte sich am 2. Juli 1789 vor der Erstürmung der Bastille mit Hilfe eines Sprach­rohres mit den Passanten der nie Saint-Antoine in Ver­bindung und lockte durch sein fürchterliches Schimpfen auf den Gouverneur der Bastille, de Launay, eine grosse Menschenmenge an, die mit ihren Beifallsäusse-rungen nicht zurückhielt. Dieser Vorfall hatte zur Folge, dass der Marquis d e S a d e am 4. Juli nach Charenton gebracht wurde und also den am 14. Juli 1789 unternommenen Sturm auf die Bastille nicht mit erlebte. Aus Charenton wurde er am 29. März 1790 durch den Beschluss der constituierenden Versammlung entlassen.8) Seine erste Handlung war das Betreiben der Scheidung von seiner Frau. Auch sonst wurde er seiner Familie entfremdet, da seine Söhne beim Beginne der Revolution auswanderten. Nach L a c r o i x nahm er sich eine Maitresse, die in seinem Hause die Hon­neurs machte. Er wohnte zuerst in der Rue Pot-de-Fer, nahe bei Saint-Sulpice, später in der Rue Neuve-des-Mathurins, Chaussee d'Antin NTo. 20.) Er soll dort den Politikern ausgezeichnete Diners und Soupers ge­geben und besonders den Grafen Clermont-Ton-n e r r e als gleichgesinnten Lebemann ins Herz ge­schlossen haben. Dies ist insofern wenig wahrschein­lich, als der Marquis de S a d e durch die Revolution alle seine Güter verlor und in eine traurige materielle Lage geriet. Cabanes bemerkt noch nach einer Notiz im „Amateur d'Autographes" (1864 S. 105 bis 106): „n avait pris, pour sa maison, une jeune femme, plus gracieuse que belle qu'il nommait sa Justine tout bas et son amie tout haut. Cette femme se distin-guait par la decence de sa tenue et l'elegance de ses manieres aristocratiques. On disait en effet, que c'etait la fille d'un noble exile; mais une tristesse indelebile se peignait sur son visage pale, lorsqu'elle faisait les hon neurs de ces reunions, oü l'on parlait de tout, excepte de politique, et toujours avee convenance et reserve. On jouait quelquefois la comedie, et le marquis excellait dans les röles d'amoureux, qu'il choisissait d'habitude; il etait plein de noblesse dans son maintien et de sen-sibilite dans son jeu; Mole avait etß son maitre." Auf der oben erwähnten durch Charavay veranstalteten Auction im Jahre 1864 figurierte ein an den Repräsen­tanten ßabaut Saint-Etienne gerichteter, mit einer Empfehlung von Ant. de Bernard-Saint-Afriques versehener Brief vom 8, Ventöse des Jahres HI, in welchem der Marquis d e S ad e um eine Stelle als Bibliothekar oder als Museumsconservator bittet, da er vollständig mittellos geworden sei, nach­dem sein litterarischer Besitz bei dem Sturm auf die Bastille verloren gegangen, und seine Güter durch die j Briganten von Marseille konfisziert worden seien. I Die „Isographie des hommes celebres ou Collection de fac-simile" (1823—1824, 4 Bde.) enthält einen Brief S a d e' s vom 10. Pluviose des Jahres VT, der sich im Besitz des Herrn de laPorte befindet, und in dem er um baldmöglichste Einsendung des Honorars für ein Gedicht bittet und die Uebersendung einer von ihm ver-fassten Komödie ankündigt, in der er selbst die Bolle des Fabricius gespielt habe und wieder spielen wolle.) [ Bald nach seiner Entlassung aus Charenton fing er an, zahlreiche Komödien zu schreiben, diese an die ver­schiedenen, damals zahlreich wie Pilze hervorschiessen-den Theater zu verkaufen und selbst für einige Louis dors eine Bolle darin zu spielen. In den Archiven des Theätre-Frangais befinden sich mehrere Briefe des Marquis d e S a d e an die Direktion der Comedie Fran­chise aus den Jahren 1790 bis 1793, auf die O. U z a n n e durch Francois Coppee und Georges Mon-v a 1 aufmerksam gemacht wurde, und die er in seiner Schrift über Sade veröffentlicht hat. Der Marquis bittet darin um die Annahme verschiedener von ihm verfasster Theaterstücke zur Aufführung. Nur ein ein­ziges von S a d e ' s zahlreichen dramatischen Produkten fand Beifall. Es war dies „Oxtiern ou les Malheurs du libertinage", das in den ersten Tagen des November 1791 mit Erfolg im Moliere-Theater gespielt wurde.8) Jedenfalls gehörte auch Sade nach U z a n n e zu den zahlreichen „auteurs dramatiques monomanes" der Re­volutionszeit.

Während der Revolutionszeit erschienen nun nach­einander die berüchtigten Hauptwerke des Marquis de Sade, seine obscönen Romane, die seinen herostra-tischen Ruhm begründet haben. Ein Jahr nach seiner Freilassung, im Jahre 1791 erschien die „Justine", die offenbar zum grössten Teile noch im Gefängnis abgefasst worden ist und in dieser ersten Auflage nur obscön ist, ohne die blutigen Details der späteren, und besonders der letzten Auflage des Jahres 1797. Mit Recht ver­mutet M a r c i a t, dass der Einfluss des Milieu, der ge­waltigen Ereignisse der Revolutionszeit, diese späteren Veränderungen hervorgerufen habe.) Ein ebenfalls noch in der Bastille entworfener Roman, auf dessen Titel es ausdrücklich heisst: ecrit ä la Bastille un an avant la Revolution, ist „Aline et Valcour", der im Jahre 1793 erschien. Dann folgten 1795 die Philosophie dans le Boudoir" und 1797 als Gipfel und Krönung die gemeinschaftliche Ausgabe der „Justine" und der „Juliette". Bis 1801, dem Jahre seiner neuen Verhaf­tung- dauerte die sehr fruchtbare Schriftstellerei des Marquis d e S a d e, die wir später zu würdigen haben. Man kann sagen, dass seine Werke im Gefängnis con-c i p i e r t, in der Revolution ausgeführ t und nach den äusseren Eindrücken derselben verändert wur­den.

Man hat viel Aufhebens davon gemacht, dass der Marquis de Sade zeitweise die Urheberschaft seiner Werke geleugnet hat. So schreibt er in einem Briefe vom 24. Fructidor 1795 (Auction Font . . . 186: „Es wird in Paris ein scheussliches Werk verbreitet mit dem Titel „Justine ou lea Malheurs de la vertu". Vor mehr als 2 Jahren habe ich einen Roman „Aline et Valcour ou le Roman philosophique" veröffentlicht. Zum Un­glück für mich hat der schändliche Autor der „Justine" mir eine Situation gestohlen, die er aber auf die ge­meinste Weise durch Obscönitäten verunstaltet hat.") Auch in seiner „Idee sur les romans" protestiert er gegen seine angebliche Urheberschaft von „Justine" und „Juliette" •) Ebenso in einer Streitschrift gegen einen gewissen Villeterque.) Marciat macht darauf aufmerksam dass die letztere Schrift in das Jahr 1800 fällt, in welchem S a d e schon von der Gefahr der Ver­haftung bedroht wurde und dass daher seine Versiche rungen, nicht der Verfasser solcher "Werke zu sein, wohl angebracht waren. Uebrigens waren derartige Ab­leugnungen nach M a r c i a t bei den Schriftstellern des 18. Jahrhunderts etwas sehr Gewöhnliches, z. B. bei Voltaire und Mirabeau. Und man kann S a d e daraus keinen besonderen Vorwurf machen. Jedenfalls scheint er in Privatunterhaltungen die Wahrheit nicht verschwiegen zu haben, und es ist ganz sicher, dass er jedem der fünf Direktoren eine Luxusausgabe der 10-bändigen „Justine" und „Juliette" überreicht hat, die man nach dem „Intermediaire des Chercheurs et des Curieux" in einzelnen Exemplaren wieder entdeckt hat. Ueber das Privatleben dea Marquis de S a d e während der Revolutionszeit sind wir im ganzen nur dürftig unterrichtet. Man kann eigentlich nur aus seinem früheren Verhalten schliessen, dass er sein ehe­maliges lasterhaftes Leben wieder aufgenommen hat. Als der Marquis de Sade im Jahre 1801 aufs Neue verhaftet wurde, fand man sein Schlafzimmer mit grossen Bildern ausgeschmückt, welche die „haupt­sächlichen Obscönitäten des Romans „Justine" dar­stellen." Oabanes berichtet — freilich ohne Quellenangabe — dass, als die aufrührerischen Bauern 1790 de S ade's Schloss Lacoste zerstörten, man in diesem Schlosse Marterinstrumente gefunden habe, die von ihm bei seinen Orgien benutzt worden seien. Auch existierte in diesem Schlosse der berühmte „Klystier-Saal" (Salle des Clysteres), in dem ein Maler von Talent die Wände mit Klystierspritzen und mensch­lichen Figuren bedeckt hatte, welche letzteren eine Menge von ebenfalls gemalten menschlichen Rückseiten durch Klystiere erfrischten! (??)) Ketifdela Bretonne, der die Affäre Keller und den Mar-seiller Skandal nach Paris in die [Revolutionszeit ver­legt, erzählt noch mehrere derartige Geschichten, deren Glaubwürdigkeit in keiner Weise feststeht, wenn ihnen auch etwas Wahres zu Grunde liegen mag. So erzählt er in den „Nuits de Paris" (155te Nacht „Nef anda"): „Am selben Abend sah ich eine andere Hochzeit. Der Graf de S . . ., ein grausamer Wüstling, wollte sich an der Tochter eines Sattlers rächen, die er nicht hatte ver­führen können. Er hatte alles so hergerichtet, dass er sich nicht kompromittieren konnte. Als es ihm gelungen war . . . Virum trium luparum connubio adjungere coegit, coram alligata uxore, quae quandoque virgis cae-debatur . . .)

Eine andere Geschichte R e t i f s, in der S a d e unter dem Namen Benavent vorkommt, erzählt von drei Schwestern, die die Marquis zur Befriedigung seiner Lüste benutzte, indem er zwei in einen Käfig sperrte und singen liess, die dritte in einem Zimmer, dessen Wände Spiegel waren, nackt in ein Bad steigen liess, während er selbst sich mit seiner Maitresse der Wollust hingab. Der Bibliophile Jacob hält es für zweifellos, dass Re tif den Marquis de S a d e persönlich gekannt und wahrscheinlich einen Zwist mit ihm gehabt hat, der seinen Hass erklärt.

Besonders bemerkenswert ist die politische Thätigkeit des Marquis de Sa de während der fran­zösischen Revolution. Er hatte mit dem ihm eigenen Scharfblick das Kommen dieser Revolution vorausge­sehen. So sagt er in „AIine et Valcour" (II, S. 448), welcher Roman 1788 in der Bastille geschrieben wurde: „Eine grosse Revolution wird im Vaterlande vorbereitet} die Verbrechen unserer Herrscher, ihre Grausamkeiten, Ausschweifungen und Narrheiten sind Frankreich zum TTeberdruss geworden; es hat den Despotismus satt und ist im Begriff, seine Fesseln zu zerbrechen." In der Einsamkeit der Zelle war er dahin gelangt, seinerseits die revolutionären Grundsätze, vor allem den Kampf gegen Gott, Königtum und Priestertum systematisch in seinen Schriften zu entwickeln. Das „Opfer der Bastille" nahm denn auch lebhaften Anteil an den Er­eignissen der Revolution und gerirte sich als einen be­geisterten Anhänger der Schreckensmänner. Seiner Freundschaft mit Clermont-Tonnerre haben wir schon gedacht. Er wurde Sekretär der Sektion der „Pikenmänner" (Section des Piques), auch genannt die Sektion der Place Vendome oder die Sektion des Robespierre. „In den Unruhen des 2. September, wo jedermann zu Hause blieb, glaubte er sich am sicher­sten im Schosse seiner Sektion aufgehoben. So verliess er seine Wohnung in der Rue Neuve-des-Mathurins und begab sich am Abend zu den Kapuzinern am Vendome-platze. Die Freunde Robespierre's waren nicht dort, sondern im Jakobinerklub. S a d e war nur als ein Mann bekannt, der unter dem ancien regime im Gefäng­nis gewesen war. Er hatte ein feines und sanftes Ge­sicht, war blond, schon ein wenig kahlköpfig und grau­haarig. „Wollen Sie unser Sekretär sein? — Gern?" Er nahm die Feder." ) — Er hielt sich aber, eingedenk seiner Vergangenheit, in bescheidener Zurückhaltung und spielte in seiner Sektion die Rolle des Philanthropen, verwendete seine ganze Zeit auf das Studium der Ver hältnisse in den Hospitälern, über welche er gute Be­richte lieferte.

Sa de war ein begeisterter Bewunderer des blut­dürstigen Marat, auf den er nach dessen Ermordung

] durch Charlotte Corday die noch erhaltene Ge­dächtnisrede hielt, die von revolutionären Phrasen er­füllt ist, und in der er die „heilige und göttliche Freiheit" als einzige Göttin der Franzosen feiert (29. Sep.i 1793). Unter ein Bild Marat's schrieb er die Verse:

Du vrai republicain unique et chere idole, De ta perte, Marat, ton image console. Qui cherit un grand homme adopte ses verhis, Les cendres de Scevole ont fait naltre Brutus.s)

TTebereinstimmend wird aber berichtet, dass insge­heim der Marquis de Sade von den Mitgliedern der Sektion, sowie von den übrigen Revolutionären ver­achtet und gehasst wurde. In der berühmten „Liste des ci-devant nobles" von Jacques Dnlaure, die im ' Jahre 1791 erschien, findet sich ein heftiger Artikel gegen unsern Marquis de Sa de (Biographie univer­selle) ). Nach Cabanes behielt er den Titel „Mar­quis" sogar bei, und „man kann sagen, dass das der I einzige Marquis war, den man unter der Herrschaft von { Robespierre und Fouquier-Tinville be-f stehen liess." (CabanSs a. a. O. S 289) Er war vielleicht gar nicht Republikaner aus politischer Ueber zeugung, sondern kämpfte gegen Hecht und Gesetz über­haupt nur unter dem Einflüsse der von ihm gebildeten „theorie du libertinage." Er war der Philosoph des Lasters, aber kein leidenschaftlicher Politiker. In der Theorie absoluter Bösewicht, war er in Wirklichkeit recht sanftmütig, vorsichtig und voll von Tugendphra­sen. Das konnte den grossen Terroristen wenig passen. Eine schöne Handlung, die uns den Marquis de Sade menschlich näher bringt, gab ihnen den Vorwand, gegen ihn vorzugehen. Er hatte durch seine Fürsprache seine Schwiegereltern, obgleich sie ihm stets feindlich gesinnt gewesen waren, vom Schaffot gerettet, und wurde da­her als ein „Gemässigter" verdächtigt und am 6. Dez. 1793 auf Befehl des „Comite de la Surete generale" verhaftet und nacheinander in die Gefängnisse des Made-lonnettes, des Cannes und Picpus gebracht, erlangte aber am 9. Thermidor 1794 durch K o v e r e seine Frei­heit wieder, dem er sein Landgut La Coste verkaufte und so in den Besitz einiger Geldmittel gelangte.

Sade lebte nunmehr zurückgezogen ganz seiner schriftstellerischen Thätigkeit, der unter dem Direk­torium weniger Hindernisse in den Weg gelegt wur­den. Wir erwähnten schon, dass er jedem der fünf Direktoren ein Exemplar der Prachtausgabe seiner „Justine" überreichte, über deren Verbleib, besonders was das Exemplar des Barras anbetrifft, man genaue Nachrichten hat. Ueberhaupt wurden damals die be­rüchtigten Hauptwerke des Marquis de Sade ganz öffentlich verkauft. Sie waren bei allen Buchhändlern zu haben und waren in den Katalogen angeführt. Ein grosser Kapitalist unterstützte den Vertrieb, der sieb über das In- und Ausland erstreckte, und hatte Anteil am Gewinne. Dies dauerte bis zum Jahre 1801. (Bio­graphie universelle). Im Thermidor des vorhergehen­den Jahres (Jahr VTH) hatte der Marquis de Sa de einen Eoman „Zoloe et ses deux acolytes" veröffent­licht, der nichts anderes war als ein heftiges Pamphlet gegen Josephine de Beauharnais (Zoloe), die Damen Ta 11 i en (Laurenda) und Visconti (Volsange), gegen Bonaparte (Baron d'Orsec), Barras (Vicomte de Sabar), einen Senator (Fessinot) u. s. w., welche Persönlichkeiten in einer „petite mai-son" sich der schändlichsten Unzucht hingeben.

Wegen dieses Pasquills wurde S a d e am 15. Ven-tose des Jahres IX (5. März 180 verhaftet. Ein Be­richt des Polizeipräfekten an den Polizeiminister vom i 21. Fructidor des Jahres XTT giebt Auskunft über diese I Verhaftung. Er enthält viele Unrichtigkeiten, z. B. gleich im Anfang die, dass der Marquis im Begriff ge­wesen wäre, die „Juliette" zu publizieren, die doch be­reits mehrere Jahre vorher erschienen war. S a d e [ wurde nach diesem Bericht ohne rechtsgiltiges Urteil t zunächst ins Gefängnis Sainte-Pelagie gebracht, da eine j Gerichtsverhandlung „einen zu grossen Skandal erregt ; haben würde" und auch die gerichtlichen Strafen „un­genügend und keineswegs den Delikten angemessen ge­wesen sein würden". Der Präfekt erzählt dann weiter, dass Sade in Sainte-Pelagie die jungen Leute zu un­sittlichen Handlungen verführt habe und er infolge­dessen nach Bicetre überführt worden sei. „Dieser unverbesserliche Mensch war in einem Zustande „be­ständigen wollüstigen Wahnsinns" (demence libertine)." Auf Betreiben seiner Familie wurde er dann am 26. jipru jlöuö nacn unarenton gebracht. (Uabanes, S. 301.) Alle seine Manuscripte und Bücher waren wiederholt confisciert worden.

A u 1 a r d hat in einem. Artikel „La Liberte indivi­duelle soua Napoleon Ier" (Eevue du Palais, August 1897) auf die Häufigkeit der willkürlichen Verhaf­tungen und Einsperrungen ohne rechtsgiltiges Urteil tinter dem Konsulat und ersten Kaiserreich aufmerksam gemacht. Es scheint, dass man öfter unliebsame Per­sönlichkeiten für irrsinnig erklärte und in Charenton unterbrachte. So wurde der Dichter Th. Desor-gues, der ein Chanson gegen Napoleon mit dem

Befrain:

Oui, le grand Napoleon Est un grand cameleon

verfasst hatte, in Charenton interniert, wo er 1808 starb. Das gleiche Schicksal traf den Forstmeister d e Laage, sowie den Abbe Fournier. Beide wurden in Bicetre eingesperrt. (Oabanes S. 294—295). Bei Sade hatte man ausserdem noch den bequemen Vorwand, dass man den Verfasser so vieler obscöner Bücher unschädlich machen müsse, obgleich Marciat mit Recht bemerkt, dass ohne das Pamphlet gegen Bonaparte diese Bücher wohl nicht den Anstoss zu seiner Verhaftung gegeben haben würden. Sade, der wiederholt gegen dieselbe protestierte, hielt es deshalb für geraten, in seinen verschiedenen Briefen aus Sainte-Pelagie die Urheberschaft der „Justine" u. a. abzu­leugnen.

Ueber den Aufenthalt des Marquis de Sade im Irrenhaus zu Charenton besitzen wir mancherlei interessante Nachrichten. Vor allem ist merkwürdig ein Gutachten des berühmten Irrenarztes Boyer-(Dollard über den Marquis aus dem Jahre 1808, [ das wir vollständig mitteilen.

Paris, den 2. August 1808. Der Chefarzt des Hospizes zu Charenton an Seine Excellenz den Senator und Polizeiminister. Gnädiger Herr,

Ich habe die Ehre, an die Autorität Eurer Exzellenz zu appellieren, in einer Angelegenheit, die ebenso meine amtliche Thätigkeit angeht, wie die gute Ordnung in dem Hause, dessen ärztlicher Dienst mir anvertraut ist.

In Charenton befindet sich ein Mann, den seine kühne Immoralität unglücklicherweise zu berühmt gemacht .hat, und dessen Anwesenheit die schwer­sten Unzuträglichkeiten nach sich zieht. Ich spreche von dem Autor des schändlichen Romans „Justine". Dieser Mann ist nicht geisteskrank. i Sein einziges Delirium ist das des I Lasters, und dieses kann nicht in einer Irren-| anstalt beseitgt werden. Er muss der strengsten Isolierung unterworfen werden, um andere vor sei­nen Ausbrüchen zu schützen und um ihn selbst von 1 allen Gegenständen zu trennen, die seine hässliche Leidenschaft mehren könnten. Nun erfüllt das Haus Charenton keine dieser Bedingungen. Herr de S a d e geniösst hier eine zu grosse Freiheit. Er kann mit einer grossen Zahl von Kranken und Rekon-valescenten beiderlei Geschlechts verkehren, sie bei sich empfangen oder sie in ihren Zimmern besuchen. Er hat die Erlaubnis, im Park spazieren zu gehen und trifft dort ebenfalls oft Kranke. Er predigt einigen seine schreckliche Lehre und leiht ihnen Bücher. Endlich geht, das Gerücht im Hause, dass er mit einer Frau zusammen. lebt, die für seine Tochter gilt.

Das Ist noch nicht alles. Man ist so unvorsichtig gewesen, in der Anstalt ein Theater einzurichten, um die Irren Komödie spielen zu lassen, und hat nicht die unheilvolle Wirkung einer solchen tumul-tuösen Veranstaltung auf die Phantasie bedacht. Herr de Sade ist der Direktor dieses Theaters. Er giebt die Stücke an, ver­teilt die Hollen und leitet die Wie­derholungen. Er unterrichtet die Schauspieler und Schauspielerinnen in der Deklamation und bildet sie in der grossen Bühnenkunst aus. Am Tage deröffentlichen Vorstellungen verfügt er stets über eine gewisse Zahl von Eintrittsbillets und macht inmitten seiner Gehilfendie Hon­neurs im Saale.

Zugleich ist er der Gelegenheits­dichter. Beim Feste des Direktors «um Beispiel, verfasst er entweder ein allegorisches Stück zu dessen Ehren oder wenigstens einige Cou-pletszuseinemLobe.

Ich brauche Eurer Excellenz das Skandalöse eines derartigen Vorkommnisses nicht näher zu be­gründen, sowie die Gefahren aller Art, welche sich daraus ergeben. Wenn die Oeffentlichkeit diese Dinge erführe, welche Ansichten würde man übei eine Anstalt bekommen, in welcher so seltsame Miss­bräuche geduldet werden? Wie verträgt sich eine sittliche Behandlung der Geisteskranken mit dem selben? Werden die Kranken, welche täglich mit diesem schrecklichen Manne in Berührung kommen, nicht unaufhörlich durch seine Verderbtheit infiV ziert, und genügt die blosse Idee seiner Gegenwart in diesem Hause nicht, um die Phantasie selbst der­jenigen aufzuregen, die ihn nicht sehen?

Ich hoffe, dass Eure Excellenz diese Gründe gewichtig genug finden wird, um einen anderen Internirungsort als Charenton für Herrn de Sa de anzuordnen. Ein Verbot, dass er nicht mehr mit den Irren verkehren soll, würde nichts fruchten und nur vorübergehend Besserung herbeiführen. leb verlange nicht, dass man ihn nach Bicetre zurück­ schicke, wo er früher war, aber ich kann nicht um­ hin, Eurer Excellenz vorzustellen, dass eine „maison de sante" oder ein festes Schloss für ihn besser passen würde als eine Anstalt, in der zahlreiche Kranke 1 behandelt werden, und wo eine beständige Ueber- wachung und die hingebendste moralische Aufsicht nötig ist. Royer-Collard, D. M.

Dieser Bericht hatte keinen Erfolg. Der Mar­quis de Sade blieb in Charenton. Es ist sogar die Vermutung gerechtfertigt, dass er den dortigen Aufenthalt dem Gefängnisse, vielleicht auch der Frei­heit vorzog. Nach der „Biographie universelle" war er der besondere Günstling des Direktors von Charen-I ton, des Abbe C o u 1 m i e r. Dadurch würden die ! grossen Freiheiten, die er sich gestatten durfte, die Rolle als Theaterdirektor u. s. w. verständlich werden. Er hatte also Ursache, die Bemühungen des Dr. Royer-Collard, ihn aus der Anstalt zu ent­fernen, zu hintertreiben, wovon die folgende merk­würdige Adresse zeugt: „Frau Delphine de T . . . beehrt Bieh Seiner Ex­cellenz Herrn Fouche (dem Polizeiminister) die Petitio­nen zu schicken, von denen sie heute morgen mit ihm sprach. Die erste ist für Herrn de Sade und bittet darum, dass man möglichst baldige Anordnungen für das definitive Bleiben des Herrn de Sade in Charen-ton treffe, wo er sich seit 8 Jahren befindet und die Pflege hat, die sein Befinden erfordert. Seine Vor­gesetzten sind mit seinem Betragen durchaus zufrieden.

Frau von T . . . fügt ihrer Petition ein ärztliches Zeugnis bei, welches bestätigt, dass der Zustand des Herrn de S a d e sein Verbleiben in Charenton not­wendig macht.

Sie dankt von neuem Seiner Excellenz für den gütigen Empfang von heute Morgen."

Vielleicht ist S a d e selbst, wie M a r c i a t ver­mutet, der Anstifter dieser Petition gewesen, und vielleicht erklärt sich ein Teil der Anklagen von Royer-Collard aus einer Meinungsverschieden­heit, wenn nicht Rivalität zwischen dem Arzte und dem Direktor der Anstalt. Dieser, der Abbe Co u 1 -mier, war nach der „Biographie universelle" ein Mann von sehr leichtfertigen Sitten. Eoyer-Collard's wiederholte Klagen über das Theater­spielen in Charenton hatten endlich das Verbot des­selben zur Folge. Aber an seine Stelle traten Konzerte und Bälle! Royer-Collard erlangte endlich am 6. Mai 1813 auch das Verbot dieser einer Irrenanstalt wenig angemessenen Unterhaltungen.)

Die „Revue anecdotique" hat zwei auf die Thätig keit des Marquis d© Sade als Theaterregisseur sich beziehende Dokumente veröffentlicht.

Seine Graphomanie trieb Sade bei jeder Gelegen­heit zu dichterischen Ergüssen. Besonders liebte er das „couplet laudatif". So verfasste er zahlreiche anonyme Couplets zu Ehren des Cardinais Maury, Erzbischofs von Paris, die am 6. Oktober 1812 in der „maison de santö" bei Charenton gesungen -wurden, von deren Geringwertigkeit eins Zeugnis ablegen möge:

Semblable au fils de l'Eternel Par une bonte peu commune, Sous l'apparenee d'un mortel Venant consoler l'infortune, Votre äme, pleine de grandeur, Toujours ferme, toujours egale, Sous la pourpre pontificale Ne dgdaigne point le malheur.)

lieber den Eindruck der Persönlich­keit des Marquis de Sade während seines Aufent­haltes in Charenton liegen mehrere, aber wenig be­glaubigte Kachrichten vor. J a n i n schildert recht lebhaft den corrumpierenden Einfluss, den Sade in der Irrenanstalt ausübte, sowie die zärtliche Sympathie, die er „jungen und hübschen Frauen" einflösste.8) L a c r o i x erzählt: „Ich habe oft achtungswerte Personen gefragt, von denen einige noch, mehr als 80jährig, leben, und von ihnen mit einer indiscreten Neugierde merkwürdige Enthüllungen über den Mar­quis de Sade verlangt, und war nicht wenig erstaunt, dass diese Personen, die durch ihre Moral, ihre Stellung und ehrenwerten Antecedentien vor jedem Verdacht geschützt sind, keinerlei Widerwillen da­gegen empfanden, sich an den Autor der „Justine" zu erinnern und von ihm als einem „aimable mauvais sujet" zu sprechen." Ch arles Nodier, der den Marquis d e S a d e einmal flüchtig sah, erinnert sich nur, dass er „höflich war bis zur Unterwürfigkeit, feierlich bis zur Salbung (onction) und dass er respect-voll von allem sprach, was Respect verdient." Dabei war er „enorm fett", so dass seine Bewegungen durch diese Körperfülle gehindert wurden und ein Rest von „Grazie und Eleganz" der sich in seinem ganzen Wesen aussprach, nicht recht zur Geltung kam. Seine müden Augen leuchteten plötzlich auf. Nach der „Bio­graphie universelle" bewahrte Sade bis zu seinem Tode seine schmutzigen Gewohnheiten. Wenn er im Hofe promenierte, zeichnete er obscöne Figuren in den Sand, besuchte man ihn, so war sein erstes Wort eine Zote; dabei war seine Stimme sanft. Er hatte schöne weisse Haare, eine liebenswürdige Miene und war von ausge­suchter Höflichkeit. Er war ein robuster Greis ohne jede Schwäche.

7. Der Tod.

Der Marquis de Sade starb 74 Jahre alt, am 2. Dezember des Jahres 1814, 10 Uhr abends, sanft, ruhig, an den Folgen einer längeren Krankheit, die in­dessen seine Rüstigkeit nicht beeinträchtigt hatte. Ueber diese Krankheit berichtet de Sade schon in einem Briefe vom. 11. Juni 1808 an den Kaiser Napo­leon. Der Brief ist gegenwärtig im Besitze des Herrn Noel Ohara Tay, der Cabanes die Einsicht und den Abdruck (Cabanes a. a. O. S. 312) gestattete, de Sa d e beklagt sich in demselben bitterlich darüber, dass er seit 20 Jahren in drei verschiedenen Gefäng-] nissen das unglücklichste Leben führe. Er sei 70 Jahre I alt, fast blind, von der Gicht heimgesucht (der Krankheit aller Lebemänner) und von heftigen Brust-und Magenschmerzen, die ihn schrecklich peinigten. Das könne durch die Zeugnisse der Aerzte von Charen-ton bestätigt werden. Er flehe daher Seine Majestät an, ihm endlich die Freiheit zu geben. — Eine von Dr. Eamon, dem Arzte de Sade's, aufgezeichnete | Notiz besagt, dass der Marquis an „Lungenansehop-| pung infolge von Asthma" gestorben sei. In den Archiven von Charenton findet sich ein Bericht über | den Tod des Marquis d e S a d e an den Generaldirektor j der Polizei, in dem es heisst, dass seine Gesundheit seit einiger Zeit sich zusehends verschlechtert habe. Er sei aber noch zwei Tage vor seinem Tode umhergegangen. Das Ende selbst sei schnell eingetreten, im Beginne eines „adynamischen und ganggränösen riebers". Interessant ist die weitere Mitteilung, dass, da der Sohn Armand de Sade anwesend sei, die Behörde es wohl nicht nötig haben werde, Vorsichtsmassregeln zu ergreifen, da der Sohn selbst gewiss etwaige „gefähr­liche Papiere" seines Vaters vernichten würde. (C a b a n e s a. a. 0. S. 311—312). Am Abend vorher hatte er noch diese Papiere in Ordnung gebracht. Kaum war er tot, als sich „die Schüler G a 11' s auf seinen Schädel stürzten, als auf eine unschätzbare Beute, die ihnen mit einem Schlage das Geheimnis der seltsamsten menschlichen Organisation enthüllen würde, von der

man jemals hatte sprechen hören. Dieser Schädel glich allen Greisenschädeln. Es war eine merkwürdige Mischung von Lastern und Tugenden, von Wohlthun und Verbrechen, von Hass und Liebe. Er war klein, wohl geformt. Man könnte ihn für den Schädel einer Frau halten, an dem die Organe der mütterlichen Zärt­lichkeit (!) ebenso entwickelt sind, wie an dem Kopfe der Heloi'se „ce modele de tendresse et d'amour." )

Nach seinem Tode fand man das folgende Testa­ment, das Jules Janin zuerst veröffentlicht hat:

Ich verbiete, dass mein Körper unter irgend einem Vorwande geöffnet werde, ich verlange aufs dringendste, dass er 48 Stunden in dem Zimmer, in dem ich sterben werde, liegen bleibe, in einem Holzsarge, der erst nach Ablauf dieser Zeit zugemacht werden soll. Dann soll ein Bote zu dem Holzhändler Lenormand in Versailles, Boulevard de l'Egalite No. 101, geschickt werden, da­mit er selbst mit einem Wagen komme und meine Leiche unter seiner Begleitung auf diesem Wagen in das Gehölz auf meinem Landgute Malmaison, Gemeinde Mauce nahe bei Epernon, gebracht werde, wo sie ohne jede Ceremonie in dem ersten Gebüsche bestattet wer­den soll, das sich rechts in dem Gehölze findet, wenn man durch die grosse Allee von der Seite des alten Schlosses hineintritt. Die Grube soll durch den Päch­ter von Malmaison unter der Aufsicht des Herrn Lenor­mand geschaufelt werden, der nicht vor vollendeter Be­stattung fortgehen soll. Bei dieser Ceremonie können diejenigen meiner Verwandten oder Freunde zugegen sein, die mir dieses letzte Zeichen ihrer Liebe geben wollen. Das Terrain soll bepflanzt werden, damit die

Spuren meines Grabes von der Erdoberfläche ver­schwinden, wie ich hoffe, dass mein An­denken in der Erinnerung der Men­schen ausgelöscht werden wird.

Geschrieben zu. Charenton-Saint-Maurice, im Zu­stand der Vernunft und Gesundheit, am 30. Januar 1806.

D.-A.-F. Sa de."

M a r c i a t meint, dass dieses Testament den Marquis de Sa de am Ende seines Lebens noch als denjenigen zeige, der er während seines ganzen Lebens war: als einen vollkommenen Atheisten.

III. Die Werke des Marquis de Sade.

Justine" und Juliette".

1. Geschichte der Entstehung.

Die Hauptwerke des Marquis de Sade, denen er seine „herostratische Unsterblichkeit" dankt, wie Eulenburg sagt, und denen wir eine besondere Auf­merksamkeit zu widmen haben, sind die „Justine" und „Juliette", anfangs getrennt veröffentlicht, später ver­einigt unter dem Titel „La nouvelle Justine ou les Mal­heurs de la vertu s u i v i de l'Histoire de Juliette, sa soeur, ou les Prosperites du vice, Hollande (Paris, Bertrandet?) 1797 10 Bände in 18°, davon 4 der „Justine", 6 der „Juliette" angehörend. Selbst die Titel sind, wie N o d i e r (a. a. O.) sagt „obscön ge­worden".

Der Entwurf der „Justine" reicht in die Gefäng­niszeit des Marquis de S a d e zurück. Nach der „Bio­graphie universelle" verfasste er „Aline et Valcour" und die „Justine" in der Bastille. Nachdem er 1700

seine Freiheit erlangt hatte, erschienen im Jahre 1791 zwei Ausgaben der „Justine", die eine mit einem Titel­bild von 0 h e r y, die zweite schon vergrößerte mit einem solchen von T e x i e r und 12 obscönen Bildern. Die dritte Auflage im Jahre 1792 wurde von 0 a z i n gedruckt') und ist noch cynischer als die beiden ersten, da z. B. Bressac seine Greuelthaten an der Mutter statt wie früher an der Tante verübt. Eine vierte Ausgabe erschien 1794.

Die „Juliette" erschien zum ersten Male im Jahre 1796. Alle diese Angaben sind für das Studium des Marquis de S a d e entbehrlich, da die grosse vereinigte Ausgabe der „Justine" und „Juliette" im Jahre 1797 nicht nur die verbreitetste geworden ist, sondern auch diejenige ist, in welcher die Ideen des Verfassers bis zu den äussersten Konsequenzen entwickelt werden, diejenige also, auf welche allein man sich beziehen kann. In dieser Gesamtausgabe umfasst die „Histoire de Justine ou les malheurs de la Vertu par le Marquis de Sade" (En Hollande 1797) vier Bände, die „Histoire de Juliette ou les prosperites du vice par le Marquis de Sade" (En Hollande 1797), sechs Bände. Die „Justine" enthält 40, die „Juliette" 60 obscöne Abbil­dungen, zu denen noch 4 Titelbilder kommen, so dass es im Ganzen 104 Abbildungen sind. Als Motto für beide Werke ist der den Inhalt richtig bezeichnende Spruch gewählt:

On n'est point criminel pour faire 1“ peinture Des bizarres pencbants qu'inspire la nature.

Es wird berichtet, dass diese Ausgabe in einem Keller gedruckt wurde. 2. Die Vorrede.

Sie befindet sich im ersten Bande der „Justine." Sie führt aus, dass die Conception des Werkes ins Jahr 1788 fällt, dass der Autor verstorben sei und ein unge­treuer Freund, dem das Mamiscript schon zu Leb­zeiten desselben anvertraut war, mehrere schlechte Ausgaben des "Werkes veranstaltet habe. Die vorlie­gende sei ein getreuer Abdruck des Originals. Die kühnen Gedanken in demselben würden ja in einem „philosophischen Jahrhundert" keinen Anstoss erregen, und der Schriftsteller, dem alle „Zustände der Seele" zur Verfügung ständen, dürfe von allen möglichen Situationen und cynischen Gemälden Gebrauch machen. „Nur die Dummen nehmen daran Anstoss. Die wahre Tugend erschrickt nicht über die Gemälde des Lasters. Sie findet in ihnen nur eine weitere Förderung. Man wird vielleicht gegen dieses Werk schreien. Aber wer wird schreien? Die Wüstlinge, wie ehemals die Heuch­ler gegen den „Tartuffe" schrieen. Kein Buch wird eine lebhaftere Erwartung erwecken und das Interesse so anhaltend fesseln. In keinem, sind die Herzens­regungen der Lüstlinge geschickter dargestellt und die Einfälle ihrer Phantasie so lebenswahr ausgeführt. Nirgendwo ist geschrieben, was man hier lesen wird. Haben wir daher nicht Grund zu glauben, dass dies Werk bis in die fernste Zukunft dauern wird? Die Tugend selbst, müsste sie auch einen Augenblick zittern, muss vielleicht einmal ihre Thränen. vergessen, aus Stolz, in Frankreich ein so pikantes Werk zu besitzen, in dem die cynischste Sprache mit dem stärksten und kühnsten System, den unsittlichsten und gottlosesten Ideen verbunden ist."

Man sieht, dass der Marquis de Sade selbst von der Einzigartigkeit seines Werkes überzeugt war und ausspricht, dass er mit Bewusstsein alle ähnlichen "Werke an Cynismus überbieten wollte. Gehen wir nun dazu über, uns mit dem Inhalt der „Justine" und „Juliette bekannt zu machen. Wir sind dabei um so ausführlicher, als in deutscher Sprache keine zuver­lässige Analyse des S a d e' sehen Hauptwerkes existiert, dass vielmehr, trotzdem so viel davon gesprochen wird, zu den bestunbekannten Dingen gehört. 3. Analyse der „Justine".

Es sind, die „Malheurs de la vertu", die in der „Justine" geschildert werden. Die Tugend, ver­körpert durch die Titelheldin Justine, gerät immer ins Unglück und wird vom Laster und vom Bösen erwürgt. Das ist die Fabel des Romans. —

Justine und Juliette sind die Töchter eines sehr reichen Pariser Bankiers, die bis zum 14. und 15. Lebensjahre in einem berühmten Kloster von Paris erzogen werden. Durch den plötzlichen Bankerott des Vaters, dem sein Tod und der der Mutter nach kurzer Zeit folgt, werden sie genötigt, das Kloster zu verlassen und, da sie mittellos sind, sich selbst den Lebensunter­halt zu verschaffen.

Juliette, die Aeltere, „lebhaft, leichtsinnig, bos­haft, mutwillig und sehr hübsch", freut sich der gol­denen Freiheit. Justine, die Jüngere, 14 Jahre alt, naiver und interessanter als ihre Schwester, eine zärt liehe, zur Melancholie und Phantasterei geneigte Natur, empfindet weit mehr ihr beklagenswertes Geschick. Juliette sucht sie zu trösten durch den Hinweis auf die Freuden sexueller Erregungen und zeigt ihr, wie sie durch ihre körperliehe Schönheit reich und glücklich werden könne. Ihre Vorschläge werden aber von der tugendhaften Justine mit Entrüstung zurückgewiesen, worauf sich Beide von einander trennen, um sich später unter eigentümlichen Umständen wieder zu treffen.

Zunächst wird also das Schicksal der tugendhaften Justine erzählt. Diese wendet sich in ihrer Verlassen­heit an die früheren Bekannten ihrer Eltern, wird aber schnöde abgewiesen. Ein Pfarrer versucht sogar, sie zu verführen. Schliesslich kommt sie zu einem Gross­kaufmann Dubourg, dessen grösster geschlechtlicher Genuss darin besteht, Kinder zum Weinen zu bringen, und der natürlich infolgedessen über die weinend ihre Klagen vorbringende Justine sehr entzückt ist. Als sie aber im Laufe des Gespräches seinen sexuellen Ge­lüsten einen heftigen Widerstand entgegensetzt, wird sie von ihm hinausgeworfen. Inzwischen hat eine ge­wisse Madame Desroches, bei der Justine abgestiegen ist, in deren Abwesenheit ihre Kommode geöffnet und Justines geringe Habseligkeiten gestohlen, sodass das arme Mädchen ganz in die Hände dieser Megäre ge­liefert ist. Letztere macht Justine mit einer Demimon-daine, Madame Delmonse, bekannt, welche ihr eine grosse Rede über die Vorteile und die Freuden der Prostitution hält. (Justine I, 28 ff). „Man for­dert nicht die Tugend von uns, sondern nur deren Maske". Daher „bin ich (Delmonse) eine Hure wie Messalina; man hält mich aber für so keusch wie Lucretia. Ich bin Atheistin wie Vanini; man hält mich für so fromm wie die heilige Therese. Ich bin falsch wie Tiberius; man hält mich für so frei­mütig wie Sokrates. Man glaubt, ich sei nüchtern wie Diogenes; aber Apicius war weniger unmässig als ich es bin. Ich bete alle diese Laster an und verabscheue alle Tugenden. Aber wenn Du meinen Gatten, meine Familie fragtest, würden sie sagen: Delmonse ist ein Engel!"

Justine wird nun von beiden Frauen zusammen zu verführen gesucht und schliesslich dem alten Dubourg wieder zugeführt, dem sie aber wiederum Widerstand leistet. Man lockt sie dann in das Haus der Delmonse, wo Dubourg später zum dritten Male sein Heil ver­suchen soll und wo Justine zunächst die tribadischen Attacken der geilen Delmonse abzuwehren hat. Endlich kommt der alte, impotente Dubourg an, wird zunächst von der Delmonse, die ihm die Testes mit einer scharfen Flüssigkeit einreibt und ihn eine wunderbare Bouillon trinken lässt, gehörig präpariert. Im kritischen Mo­ment entwischt Justine zum dritten Male, indem sie unter das Bett kriecht. Der arme Dubourg ist wieder­um betrogen, und man schwört dem widerspenstigen Mädchen schlimme Rache. Delmonse beschuldigt Justine, ihr eine goldene Uhr gestohlen zu haben, und so wird die Unglückliche ins Gefängnis geschickt.

Hier macht sie die Bekanntschaft einer gewissen Dubois, die alle möglichen schändlichen Verbrechen begangen hat. Sie und Justine werden zum Tode ver­urteilt. Die Dubois legt Feuer im Gefängnisse an, bei dem 60 Personen verbrennen. Justine und Dubois ent­fliehen und gesellen sich zu einer Räuber- und "Wilderer­bande im Walde von Bondy. Als Justine sich weigert, ihrer Gefährtin weiter auf der Bahn des Verbrechens zu folgen, wird sie durch Todesdrohungen dazu ge zwungen und muss Zeugin und Gehilfin einer wilden Orgie der vier Männer mit der Dubois sein. Der Bruder der Dubois, Coeur-de-Fer, hält nach derselben eine grosse Lobrede auf die Paederastie, die besonders bei Beichtvätern beliebt sei. (Justine I, 88—99.) Nach verschiedenen Schandthaten dieser Bande entflieht Justine mit einem Kaufmann Saint-Florent, den sie vor der Erschiessung gerettet hat, und der sich als ihren Onkel zu erkennen giebt. Sie steigen in einem Gast­hause ab. Bald zeigt sich, dass die arme Justine vom Regen in die Traufe gekommen ist. Dieser Saint-Florent enthüllt sich als ein bösartiger Lüstling. Schon im Hotel schleicht er herbei, um Justine bei der Be­friedigung eines natürlichen Bedürfnisses zu beobach­ten. Bei anbrechender Nacht verlassen sie das Städt­chen und kommen in einen Wald. Hier versetzt Saint-Florent ihr plötzlich einen Schlag mit dem Stocke, so dass sie ohnmächtig hinfällt, befriedigt seine Lüste an ihr und lässt sie in einem traurigen Zustande und be-wusstlos liegen. Beim Erwachen kann nur das Gebet die unglückliche Justine trösten. Sie hat sich bei Tagesanbruch versteckt, da sie das Wiederkommen des elenden Saint-Florent fürchtet, und wird so unfrei­willige Zeugin einer paederastischen Szene zwischen einem jungen Edelmann, Herrn de Bressac, und dessen 20 Jahre älteren Lakaien Jasmin. Justine wird von ihnen entdeckt, an einen Baum gebunden, aber wieder befreit und der Mutter des Herrn de Bressac als Kam­merzofe zugeführt. Madame de Bressac ist eine Frau von strengster Tugend, die ihren Sohn sehr karg hält. Daher herrscht zwischen diesen Beiden ein sehr schlech­tes Einvernehmen. Frau von Bressac sucht Justine in Paris zu rehabilitieren. Die Delmonse ist aber nach Amerika ausgewandert, so dass die Sache nicht aufge­klärt wird. Merkwürdiger Weise wird Justine von einer heftigen Leidenschaft für den vollkommen dege­nerierten und im höchsten Grade misogynen Bressao 'ergriffen. Dieser benutzt die Annäherung Justinens 'nur dazu, um sie mit seinen lasterhaften Grundsätzen bekannt zu machen und ihren Charakter zu verderben. Auch veranstaltet er in ihrer Gegenwart eine sexuelle Orgie, bei der er die eigene Mutter vergewaltigt. Er kündigt darauf Justine an, dass er seine Mutter besei­tigen wolle, die ihm schon längst im Wege sei. DaB Entsetzliche geschiebt dann auch inmitten wildester Ausschweifungen. Justine, die sich geweigert hat, an> dem Morde teilzunehmen, soll ebenfalls getötet werden, entflieht aber nach dem Städtchen Saint-Marcel in ein Haus, das eine von einem gewissen Rodin geleitete Schule sein soll. Dieser empfängt die nunmehr 17-jährige Justine sehr freundlich und macht sie mit seiner Tochter Rosalie bekannt. Rodin ist 36 Jahre alt, von Beruf ein Chirurg und wohnt mit seiner 30jährigen Schwester Coelestine zusammen. Letztere ist eine Tri-bade, und ein ebensolches erotisches Scheusal wie ihr Bruder. Ausserdem befindet sich noch die 19jährige Gouvernante Martha im Hause. Rodin hat eine Pen­sion und Schule für beide Geschlechter, 100 Knaben und 100 Mädchen zwischen 12 und 17 Jahren. Häss-liche Kinder werden nicht aufgenommen. Rodin unter­richtet die Knaben, Coelestine die Mädchen. Kein fremder Lehrer wird zugelassen, damit die Geheimnisse des Hauses gewahrt werden können. Gleich in den ersten Tagen beobachtet Justine mit Rosalie das ge­heime Treiben der Geschwister. Rodin scheint Saint-Florent's Neigungen zu teilen, er beobachtet von einem Nebengelass aus Justine, die sich in einem cabinet d'aisance aufhält, et defaecatione filiae delectatur. Da im weiteren Verlaufe ihres Aufenthaltes in diesem Hause der Wollust Justine den Anerbietungen der Ge schwister hartnäckig widersteht und schliesslich mit? Rosalie zu entfliehen sucht, beschliesst Rodin, Beide mit Hilfe eines Kollegen Rombeau zu ermorden, nach-( dem man sie vorher zu physiologischen Experimenten benutzt habe. Zuerst wird an Rosalie unter schreck­lichen Orgien die — Sectio caesarea ausgeführt. Justine aber kommt glücklich mit einer Brandmarkung davon und wird fortgejagt.

Auf der Flucht gelangt sie in die Nähe von Sens. Als sie in der Abenddämmerung am Ufer eines Teiches sitzt, hört und sieht sie, wie ein kleines Kind ins Wasser geworfen wird. Sie rettet dasselbe, wird aber von dem Mörder, einem Herrn von Bandole, dabei überrascht. Er giebt das Kind sofort wieder demselben Schicksal preis und führt Justine mit sich auf sein Schloss. Die­ses Ungeheuer lebt einsam in seinem entlegenen Schlosse. Er hat die Manie, jedes Weib nur einma' zu missbrauchen und sie dabei sofort zu schwängern Die Kinder werden bis zum Alter von 18 Monaten voi ihm erzogen und dann in den Teich geworfen. Augen blicklich hat er 30 Mädchen in seinem Schlosse. Er is Antialkoholist und Vegetarier und hält auch die Mäd chen zu einer knappen Kost an, damit sie Kinder be kommen. Auch bindet er sie ante coitum auf ein Maschine, und lässt sie nachher 9 Tage im Bette lieger Kopf niedrig und Eüsse hoch. Das sind seine concej tionsbef ordernden Mittel. Er wohnt dann dem Gebä: akt bei, was ihm stets besonderen Genuss bereitet, un führt selbst allerlei Operationen dabei aus, u. a. d: Sectio caesarea. Justine wird, gerade als an ihr d Reihe ist, von Coeur-de-Eer befreit, den sie ins Schlo einlässt, und der ihr die Freiheit giebt.

Sie gerät nun in eine Benediktiner-Abtei, Saint Marie-des-Bois, dessen Prior Severino, ein Verwandt des Papstes, sich als gefährlicher Wüstling und Paed •ast entpuppt, der mit den nicht weniger ausschwei­fenden Mönchen in. unterirdischen Sälen teuflische )rgien feiert. Zwei „Serails" von Knaben und Mäd-shen sind im Kloster, die von einer Messalina namens ifictorine beaufsichtigt werden. Bei den nun geschil­lerten Ausschweifungen sind die verschiedensten lexualpathologischen Typen vertreten. Einer sucht seine Befriedigung darin, Frauen zu ohrfeigen, ein anderer liebt besonders Menstruirende, ein dritter den jreruch der Achseln. Der Mönch Jerome sagt: „Ich möchte sie (die Frauen) verschlingen, ich möchte sie lebend essen, ich habe lange keine Frau gegessen und ihr Blut geschlürft." Justine, die mit einem jungen Mädchen Omphale Freundschaft geschlossen hat, wird ron dieser mit den geradezu raffinierten Einrichtungen dieses klösterlichen jjordelles, mit den darin geltenden Vorschriften und den Strafen gegen das TTebertreten derselben bekannt gemacht. Die Mönche vollziehen die Todesstrafe in Form des Röstens, Kochens, Käderns, Vierteilens, Zerstückeins und Totpeitschens. Zwi­schen den zahlreichen Orgien werden grosse Beden zur Rechtfertigung derselben gehalten, so von Clement. Der scheussliche Jerome erzählt seine lange wollust­reiche und bluttriefende Lebensgeschichte. Im Beginn seiner Thätigkeit hat es ihm nach der Verführung seiner eigenen Schwester besonderes Vergnügen be­reitet, Schwestern durch ihre Brüder verführen zu lassen. Er ist auch im Jahre 1760 in Deutschland gewesen und hat in Paderborn und Berlin seine Schandthaten ver­übt ).. Dann geht er nach Sizilien, wo die Giftmische rei in höchster Blüte steht und die Geistlichen das ver­derbteste Leben führen. Er wird mit dem Chemiker Almani bekannt, der ein grosser Liebhaber von Ziegen ist, und bei dem der Ausbruch des Aetna einen sexuellen Orgasmus auslöst. Mit Hülfe einer gewissen dementia verübt Jeröme dann die Greuelthaten eines Gilles de Hetz. Von Sizilien geht Jeröme nach Tunis und kehrt darauf nach Frankreich zurück, wo er, bevor er ins Kloster kommt, in Marseille Gelegenheit hat, die dor­tige Corruption zu studieren.

Diese Erzählung begeistert die Mönche zur Hin richtung einiger Mädchen. Auch Justine soll, als ih einziger Beschützer Severino, der zum Ordensgenera der Benediktiner ernannt wird, das Kloster verlässt an die Reihe kommen. Doch gelingt ihr die Fiuchl Sie trifft unterwegs Dorothee d'Esterval, eine abg« feimte Heuchlerin, die Gattin des Besitzers einer eir sam gelegenen Herberge, der alle seine Gäste ausplüi dert und bestialisch ermordet. Dorothee lebt, wie si sagt, mit ihrem Manne in sehr schlechtem Einvernel men und bittet Justine, mit ihr zu gehen. Justine ii aber wieder einmal in eine Falle gegangen. Dies« d'Esterval, der stets seinen Opfern das an ihnen zu b gehende Verbrechen vorher verkündet, braucht näi lieh jedes Mal nach vollbrachter That eine Frau, d ihm die eigene Gattin besorgen muss, die übrige ebenso verderbt ist, wie ihr Mann. Justine soll ihn und seinen Lüsten dienen und ausserdem die Reisendi anlocken und umgarnen. Mehrere solche Greuelszen werden geschildert. Eines Tages kommt ein alter I kannter Justinens, Herr de Bressac, der ein Verwandt d'Estervals ist. Sie begeben sich alle vier zu d< Grafen Gernande, ebenfalls einem Verwandten. Dies ist ein Vielfrass und Säufer und befriedigt seine Blut­gier durch Aderlässe und Incisionen an seinen Frauen, deren er bereits die sechste besitzt. Solche Szenen werden in schauerlichster Weise vorgeführt, während Dorothee später die Madame Gernande zu tribadischen Manövern verführt. Dann repräsentiert sich in der Familie Verneuil, ein neuer Zweig der würdigen Ver-wandtsehaf t. Herr de Verneuil kommt mit seiner Frau, seinem Sohne Viktor, seiner Tochter Cecile und Ge­folge an. Der alte Verneuil betreibt auch eine beson­dere Spezialität des sexuellen Genusses. Er bezahlt reiche Frauen und bestiehlt arme! Er veranstaltet alsbald eine Orgie auf einer „Ottomane sacree", über der ein Bild Gottes hängt, das Veranlassung zu schreck­lichen Gotteslästerungen giebt. Nach mehreren ähn­lichen Szenen, wobei Justine einmal in einen tiefen Brunnen fällt, aber wieder herausgezogen wird, und Bressac grosse Reden gegen die Unsterblichkeit der Seele hält, werden die Tochter und die Frau Verneuils •getötet. Justine entflieht nach Lyon, trifft dort Saint-iFlorent wieder, dessen Spezialität die Verführung von Jungfrauen bildet, die er sofort durch einen Mädchen­händler verkaufen lässt. Justine soll Gehilfin bei seinen Schandthaten werden, weigert sich aber und wird von ihm eingesperrt und muss den von Säint-Florent ausge­spuckten Speichel auflecken. Nach der unerlässlichen Orgie wird Justine freigelassen und begegnet ausser­halb Lyons einer Bettlerin, die um Geld bittet und dann Justine die Börse raubt. Beim Verfolgen gerät Justine in die Höhle einer Bettlerbande, bei deren geschlecht­lichen Ausschweifungen der Paederast und Jesuit Gareau und die Tribade Seraphine, deren Geschichte ganz weitläufig erzählt wird, als Hauptpersonen thätig sind. Justine entkommt auch aus dieser Verbrecher höhle, findet einen von zwei Cavalieren halbtot ge­schlagenen Mann namens Roland, dem sie ihre Hilfe angedeihen. lässt. Dieser Eoland ist das Haupt einei Falschmünzerbande und haust auf einem hoch ober im Gebirge gelegenen Schlosse. Er ist natürlich eben falls ein gefährlicher Wüstling, wie die arme Justine die er mit auf sein Schloss gelockt hat, bald erfährt In einem unterirdischen Gewölbe seines Schlosses, w> zahlreiche Skelette, "Waffen aller Art, kirchliche Geräte Krucifixe, Kerzen u. s. w. sich befinden, betreibt diese Scheusal als sexuellen Sport das „jeu de coupe-cordef das Erhängen seiner weiblichen Opfer, da dies ein ui säglich wollüstiger Tod sei, wie Roland an sich selb öfters erprobt hat und Justinen demonstriert, die ib aber zur rechten Zeit wieder abschneiden mus Schliesslich wird Justine von Rola“d in einen mit Tot« gefüllten Abgrund hinabgestossen, aus dem sie am fc genden Tage, da er das Schloss verlässt, von seine menschlicheren Nachfolger Deville gerettet wir Eines Tages wird die ganze Falschmünzerbande v< haftet, nach Grenoble gebracht und zum Galgen v< urteilt. Justine wird aber durch die aufopfern Thätigkeit eines Herrn S . . . (Sade?), Advokaten i Gerichtshofe in Grenoble, befreit, der auch eine Sam lung für sie veranstaltet.

In einem Gasthofe zu Grenoble trifft Justine inzwischen zur Baronin avancierte Dubois wieder, il einstige Gefährtin im Gefängnis zu Paris, die sich ihr mit einer „Dissertation philosophique" einführt i sie zur Beraubung eines jungen Kaufmanns zu verlei sucht. Justine verrät diesem die Pläne der Dubois, a zu spät. Denn er ist bereits von der den Verrat ahn den Dubois vergiftet worden. Justine wird auf Landstrasse von drei Männern überfallen, die sie in

Landhaus des Erzbisehofs von. Grenoble führen, in dem die rachedurstige Dubois als Auf Seherin fungiert. Dieser Erzbischof ist natürlich auch ein Ausbund von Laster­haftigkeit und Grausamkeit, ein „Faun aus der Fabel", | ein Monomane des Köpfens. Er hat sich einen eigenen („Hinrichtungssaal" eingerichtet, in dem vor den (Augen der schaudernden Justine ein Mädchen Eulalie / archiepiscopo eam paedicante geköpft wird. Justine entflieht, wird aber von der Dubois wieder eingefangen, jl als Brandstifterin und Mörderin denunziert, und ins , Lyoner Gefängnis eingeliefert, von wo sie nächtlicher Weile durch den wieder einmal auftauchenden Saint-Florent einem der Richter, Cardoville, zugeführt wird. In dessen Schlosse feiert eine Gesellschaft von Anthro-pophagen ihre Orgien, unter Assistenz von 12 Negern. \ Justine wird eine Zesit lang aufs Ead geflochten. So­dann machen zwei Mädchen an ihr die Operation der Infibulation. Dann muss sie Spiessruten laufen. Da­nach legen sich sämtliche Teilnehmer auf ein mit eiser-inen Stacheln besetztes Kreuz, das die "Wollust uner-l messlich reizt und zu wilden Ausbrüchen derselben Ver­anlassung giebt. Danach wird Justine ins Gefängnis | zurückgeführt und vom Gericht unter dem Präsidium [ des Wüstlings Cardoville zum Feuertode verurteilt. Doch lässt sie der Qefängniswärter, für den sie aber vorher einen Diebstahl begehen muss, entschlüpfen.

Auf ihrer "Wanderung bemerkt sie gegen Abend eine elegante Dame mit vier Herren. Es ist ihre Schwester Juliette. Bei der Erkennungsszene ruft Juliette aus: „O Kleinmütige, höre auf, Dich zu wun­dern. Ich hatte Dir alles das vorausgesagt. Ich habe den Weg des Lasters eingeschlagen und auf ihm nui Rosen gefunden. Du warst weniger Philosophin, unc Deine verwünschten Vorurteile Hessen Dich Chimärei träumen. Du siehst, wohin sie Dich gebracht haben.' Justine wird mit Kleidern und Nahrung versehen, uni einer der Cavaliere sagt, auf sie deutend: „Oui, voil bien i

Am anderen Tage kündigt Juliette an, dass s: ihrer Schwester ihre eigene Geschichte erzählen wil „Sie, Noirceuil und Chabert, die Sie alles wisse brauchen nicht zuzuhören. Gehen. Sie einige Tage au Land. Aber Sie, Marquis, und Sie, Chevalier, S müssen zuhören, um sich von der Wahrheit der Wor Chaberts und Noirceuils's zu überzeugen, dass es keil extravagantere Frau giebt als nr“ich." Man geht einen Salon des Schlosses, setzt sich auf Canapi Justine nimmt auf einem Stuhle Platz, und Juliel fängt an zu erzählen.

4. Analyse der „Juliette".

Das „Glück des Lasters" bildet das Thema i sechsbändigen „Juliette", die in der Gesamtausgabe; 1797 als eine Fortsetzung und Ergänzung der „Justii

erscheint und den Triumph des Lasters in wahrhaft infernalischen Bildern schildert.

I Justine und Juliette werden, wie schon erwähnt,

i im Kloster Panthemont erzogen, aus dem die „hüb-1 schesten und unzüchtigsten Frauen von Paris" seit ' vielen Jahren hervorgegangen sind. Seit fünf Jahren ist Madame Delbene die Aebtissin dieses Klosters, eine 30jährige Tribade, die Juliette und ihre 15jährige, ispäter in ein Bordell übertretende Freundin Euphrosine /in die Geheimnisse der lesbischen Liebe einweiht. Sie besitzt „le teinplrament le plus actif", 60 000 Livres i Bente und ist von einer „deliciösen Perversität". Sie i entwickelt vor jungen Mädchen von 8 bis 15 Jahren ihr materialistisches und antimoralisches System der i Philosophie, hat H o1 b a c h und La Mettrie studiert, definiert das Gewissen als ein „Vorurteil, das durch die Erziehung eingepflanzt wird", spricht von Nerven- und Elektricitätsfluida, objektiven Existenzen, von Gott, der Seele u. s. w. Sie inszeniert grosse Tribadenszenen, an denen die 20jährige Madame de /Volmar, „die wollüstige Gefährtin Delbene's", ein richtiges Mannweib, die 17jährige Saint-Elme, die 13-und 18jährigen Elisabeth und Flavie, sowie Juliette teilnehmen. Alle gelten in der Welt als schamhaft und ! bescheiden. liier sind sie von einer „energischen Inde-cenz". Dabei wird die Virginität ängstlich behütet. ; Später wird aber Juliette von Delbene vermittelst eines I .Godmiche defloriert, und danach steigt die ganze Gesell­schaft nachts durch ein Grab in der Kirche in die Kata­komben des Klosters hinab. In diesen befindet sich ein niedriger mit Luftlöchern versehener, künstlerisch aus­gestatteter Saal, in dem die 10 jährige Laurette ihrer Defloration harrt neben zwei Mönchen, dem 30jährigen

Abbe Ducroz, Grossvikar des Erzbischofs von Paris, der besonders mit der Aufsicht über das Kloster Panthe- / mont betraut ist, und dem 36jährigen Pater Teleme, ( einem Franziskaner und Beichtvater der Novizen und Pensionärinnen des Klosters. Mit cynischer Offenheit erklärt die Delbene der erstaunten Juliette, dass man sich hier mit den Priestern zum Zwecke sexueller Aus­schweifungen und Grausamkeiten (horreurs, atrocites), versammle, möglichst fern von der Oberwelt. Hier; werden die grossen „Verbrechen" begangen. Bei den nun folgenden Orgien spielt die natürliche und künst­liche Paedicatio inter mulieres et viros eine grosse • Rolle; sie wird besonders den unverheirateten Mädchen empfohlen mit der Begründung: point d'enfants, pres-que jamais de maladies, et des plaisirs mille fois plus doux. Juliette muss die auf einem Tische festgeschnallte Laurette deflorieren, worauf ein opulentes Mahl mit den feinsten Weinen in einem Nebengemach aufgetragen wird, bei dem die arme Laurette bedienen muss und alle Personen nackt am Tische sitzen. Die Volmar manu-stuprat monachos über einer Punschbowle, in die Juliette mingit, worauf die andern Frauen aus derselben trinken. Dann kehrt man in den Saal zurück, und Delbene giebt sich auf dem Särge einer von ihr ermor­deten Nonne hin. Plötzlich werden dann durch den Plug einer Nachteule die Lichter verlöscht, und die, Orgie hat ein Ende.

Nach dem Bankerott und Tode ihrer Eltern wird Juliette von der Delbene sofort entlassen und ihr der Eat erteilt, in das Bordell einer gewissen Duvergier ein­zutreten, wo auch ihre Freundin Euphrosine sich be­findet. Juliette befolge den Bat und trennt sich von ihrer Schwester Justine.

Vom Kloster kommt also Juliette ins Bordell, wo / sie allerlei Abenteuer erlebt. Die einsame Lage dieses / Bordells haben wir bereits geschildert (S. 135). Juliette verkehrt hier mit Prinzen, Edelleuten, reichen Bürgern u. s. w., ist bald als Hofdame, bald als Grisette, bald als „Poissarde" gekleidet und kommt allen möglichen Gelüsten entgegen Sie schliesst Freundschaft mit Fatime, einer 16jährigen Prostituierten, deren Spezia­lität das Bestehlen ihrer Kunden ist, wozu einer der berühmtesten Diebe von Paris", Dorval, sie angeleitet hat, der sich durch seine Spione über alle in Paris an­kommenden Fremden unterrichten, diese durch Dirnen verführen und berauben lässt, wobei er heimlich zu­schaut, unter starker sexueller Erregung. Er besitzt bereits 30 Häuser. Eines Tages müssen Juliette und Fatime zwei ehrliche Deutsche Scheffner und Conrad, bestehlen, nachdem sie dieselben durch Weine berauscht haben. Diese werden dann nackt in einer finsteren Strasse ausgesetzt. Dorval, dessen sexuelle Perver­sität der cunnilmgus post coitum alterius viri ist, ent­wickelt in einer langen Bede seine Theorie und Kecht-fertigung des Diebstahls, dieser „pierre angulaire de la societe. Darauf lässt er Fatime und Juliette in eine dunkle Folterkammer werfen, wo er sie durch zwei Knechte entkleiden lässt und dann unter ungeheurer erotischer Erregung seinerseits ihnen das Todesurteil verkündet, das an dem bereitstehenden Galgen voll­zogen werden soll. Es wird dann an Beiden eine Schein­hinrichtung vollzogen. Dorval befriedigt seine Lust an den Scheintoten, die darauf nackt in einem Wagen zur Duvergier zurückgebracht werden.

Hierauf wird Juliette zu dem Erzbischof von Lyon in die Abtei von Saint-Victor in Paris geschickt. Dieser Gotteshirte paedicat eam unter Assistenz einer gewissen Lacroix und -wird zum Scfyluss von einer dritten Frau j mit Ruthen gepeitscht. '<

Nachdem Juliette glücklich der Gefahr der An­steckung durch einen mit schwerer Syphilis behafteten Mann entgangen ist, der besonders durch den Gedanken i ergötzt wird, seine Schönen zu infizieren, macht sie die Bekanntschaft eines gewissen Noirceuil, eines reichen Wüstlings und grandiosen Bösewichts. Dieser empfin­det das absonderliche Bedürfniss, dass seine Frauen — er besitzt deren bereits die 18te — Zeuginnen aller seiner Ausschweifungen und ihm sogar dabei behilflich sein müssen. Ausserdem begehrt er nur Jungfern. Zwei nackte Knaben müssen während dieser Orgien seine eigene Frau schlagen und stechen. Diese muss dann ebenfalls in adamitischer Tracht bei dem der Orgie folgenden Mahl Noirceuil und seine Maitressen bedienen.

Noirceuil macht der Juliette ein überraschendes Geständnis: Ich habe Ihren Vater wohl gekannt. Ich bin nämlich der Urheber seines Bankerotts. Ich habe ihn ruiniert. Ich verfügte einen Augenblick über sein ganzes Vermögen, konnte es verdoppeln, oder es in meine Hände übergehen lassen! Consequent meinen Principien habe ich mich ihm vorgezogen. Er isti im Ruin gestorben, und ich habe 300 000 Livr.es Rente. Nach diesem Geständnis müsste ich nun eigentlich das Unglück gut machen, in das ich Sie gestürzt habe, j Aber das wäre eine Tugend. Ich werde das nicht tun; denn ich verabscheue die Tugend zu sehr. Dies richtet unübersteigliche Schranken zwischen uns auf. Ich kann Sie nicht wiedersehen." — Nach dieser gemütlichen Auseinandersetzung aes Verderbers ihres Vaters bricht Juliette in ein Jubelgeschrei ans: „Schrecklicher Mensch, wie sehr ich auch das Opfer Deiner Laster

bin, ich liebe dieselben! Ja, ich bete Deine Grundsätze ) an." — „O, Juliette, wenn Du alles wüsstest!" — „Lass mich alles erfahren!" — „Dein Vater, Deine Mutter!" — „Was denn?" — „Ihre Existenz konnte mich verraten . . . Ich musste sie opfern; ich habe sie kurz hintereinander durch ein Gift umgebracht, das ich ihnen beim Souper in meinem Hause ins Essen mischte." Nach dieser schrecklichen Enthüllung ruft Juliette: „Ungeheuer, Du machst mich schaudern, aber ich liebe Dich! . . ." „Den Henker Deiner Familie?" — „Was macht das? Ich urteile über alles „par les sensa-tions". Die von Dir Gemordeten haben mir keine sol­chen Sensationen erregt, aber Dein Geständnis, dasa Du ihr Mörder bist, entflammt mich, und erregt meine Geschlechtslust." Die Idee, de devenr la putain du bourreau de tous ses parents, verursacht ihr höchste "Wonne. Noircenil, hoch erfreut, eine solche Gesin-mmgsgenossin gefunden zu haben, behält sie bei sich in seinem Hause. Sie besucht aber immer noch das Bor­dell der Duvergier. Diese hält auch ein Absteigequar­tier für vornehme, sich prostituierende Damen und junge Mädchen, die alle mit einem mehr oder weniger hohen Grade von Nymphomanie behaftet sind und ihr Leben teils in der Predigt und Messe, teils im Bordell verbringen. Darunter befinden sich wieder verschie­dene sexualpathologische Typen. Die Herzogin von Saint-Fal, die Tochter eines Parlamentsrates, verkauft gern ih re „pucelage antiphysique" und eine Frau liebt nur den Umgang mit Priestern. Noirceuil bekommt jeden Abend von der Duvergier eine Jungfrau geliefert, die in Gegenwart Juliettens, der beiden Knaben und

seiner Gattin ein Opfer seiner Lüste wird. Einmal lässt ) die Duvergier Juliette und sechs andere Mädchen an ' einer Orgie bei einem Millionär Mondor teilnehmen. Mondor, ein decrepider Greis von 66 Jahren, bedarf •endloser Vorbereitungen, um sein Ziel zu erreichen. Er muss durch eine tribadische Szene der sechs Mäd- ' chen, durch künstliche Paedicatio und. durch defae-catio in os potent gemacht werden ad paedicationem. Juliette stiehlt diesem erotischen Scheusal 60 000 Fr., findet aber bei ihrer Rückkehr nach dem Hause Noirceuil, dass sie dort gleichfalls bestohlen worden ist und zwar von Noirceuil selber, der aber Juliettena Kammermädchen Gode anschuldigt und ins Gefängnis Bicetre werfen lässt, nicht ohne vorher diese Helden-that durch eine Orgie gefeiert zu haben und nicht ohne nachher einen grossen Vortrag über das Verbrechen und dessen Nützlichkeit zu halten. — Juliette trifft sich dann im Auftrage der Duvergier mit drei jungen Modistinnen im Cafe de la Port Saint-Antoine, um zu einem Herzog Dendemar in St.-Maur zu fahren, dessen Manie die Flagellation von Mädchen, am liebsten von nicht prostituierten ist, wofür derselbe seinen Opfern grosse Summen bezahlt. Auch lacerat digitis cunnum, bindet um Juliettens Leib einen Dornenkranz, giesst brennendes Oel über die nackten Leiber der vier Mäd­chen. Juliette bestiehlt ihn ebenfalls um eine grosse Summe, trennt sich dann endgültig von der Duvergier and lebt ein Jahr im Hause Noirceuils, ab und zu auf eigene Abenteuer ausgehend, bis Lubin, der Kammer­diener des von ihr bestohlenen Herzogs Dendemar sie eines Tages sieht, sie überfallen und gefangen setzen lässt. Sie wird aber von Noirceuil durch Vermittelung des Staatsministers Saint-Fond befreit und veranlasst, dass eine ihrer Begleiterinnen zu dem Herzog Dende mar als die Diebin denunciert wird, worauf sich Noir-

ceuil und Julie tte an dem Gedanken wollüstig berau­schen, dass nun die unschuldige Minette wegen des ihr aufgebürdeten Diebstahls gehängt werden wird. Noir-ceuil teilt Juliette mit, dass sein Freund Saint-Fond aus Freude über ihr Verbrechertalent ihr eine sehr bedeutende Summe schenkt. Darauf begeben sie sich zu einem Souper bei diesem Minister.

Saint-Fond ist ein Mann von 50 Jahren, ein fal­scher und grausamer Wüstling, Verräter und Dieb. Er hat zahlreiche „lettres de cachet" angefertigt, und mehr als 20 000 Menschen schmachten auf seine Veranlassung in den königlichen Festungen, von denen, wie er sagt, „nicht ein einziger schuldig ist." Der erste Parlamenta-präsident d'Albert ist ebenfalls beim Souper anwesend. Ausserdem Madame Noirceuil, vier Jungfrauen und Juliette. Sechs nackte als Frauen frisierte Knaben servieren. Jeder der drei Wüstlinge hat also je zwei Knaben zu seiner Verfügung. d'Albert verspricht Julietten einen Sicherheitsbrief, der sie gegen jede ge­richtliche Verfolgung, für welches Verbrechen es auch sei, schütze, und Saint-Fond sichert ihr das gleiche zu, verlangt aber, stets von ihr mit der gebührenden Hoch­achtung behandelt zu werden und stets von ihr mit dem seinem Reichtum und Range gebührenden Titel „Monseignenr" angeredet zu werden. Er gehört zu den wenigen „Genossen", die wie die Gestirne am Firma­ment die Welt erleuchten, ohne jemals zu ihr herab­zusteigen, kurz, er leidet an Grössenwahn und dünkt sich mehr zu sein als der König. Er hasst die ganze Welt ausser Noirceuil, d'Albert und einigen Anderen. In sexueller Beziehung non amat anum nisi sordidum,

faeces edit atque ejaculatio ejus maximo fit cum delirio. ) Dabei wird er als der Typus eines schönen, kraftvollen und gesunden Menschen beschrieben. Er ist Alkoholist. Im Verlauf der nun folgenden Orgie wird die Frau des Noirceuil auf schreckliche "Weise getötet. Man reibt ihr den ganzen Körper mit Spiritus ein, steckt brennende lichter in omnia orifica corporis, so das« sie am ganzen Leibe verbrannt wird und vergiftet sie schliesslich, wo­bei unter dem Jauchzen des Gatten Noirceuil die übri­gen Anwesenden dem Todeskampfe zuschauen. Juliette wird dann von dem Minister Saint-Fond zur Arrangeu­rin seiner geheimen Orgien bestimmt, richtet sich mit seinem Gelde ein grosses Hotel in der rue du Fakibourg Saint-Honore ein, erwirbt ein hübsches Landgut ober­halb von Sceaux, eine sehr wollüstig eingerichtete „petite maison" an der Barriere Blanche, das für die Soupers seiner Excellemz bestimmt ist. Sie wird als 17jährige Schönheit in die sie bewundernde Gesellschaft eingeführt, hat vier Kammerfrauen, eine Vorleserin, zwei Nachtwärterinnen, eine Haushälterin, einen Coüfeur, einen Koch, zwei Dienerinnen, drei Equi­pagen, zehn Pferde, zwei Kutscher, vier Lakaien und zwölf — Tribaden zu ihrer Verfügung. Ausserdem setzt sie der Minister, der Giftmord im Grossen betreibt, an die Spitze des „Departements der Vergiftungen". Er setzt ihr die Notwendigkeit auseinander, in der sich oft der Staat befindet, irgend eine unbequeme Persön­lichkeit zu beseitigen. Juliette soll diese Leute ver­giften und für jeden Mord 30 000 Francs bekommen. „Es sind wohl fünfzig in jedem Jahr. Das macht für sie eine Rente von 1 500 000 Francs. Die Opfer der geheimen Orgien — denn man tötet gewöhnlich drei Mädchen bei jedem Souper — es giebt zwei Soupers in

der Woche — -werden das Stück mit 20 000 Francs l bezahlt. Juliette erhält also 12 000 Livree Rente aus / ihren persönlichen Einkünften, eine monatliche Pension 1 von Noirceuil, eine Million von Saint-Fond für die allgemeinen Kosten der Soupers, die Anweisungen auf 20 oder 30 000 Francs für jedes Opfer, im ganzen jähr­lich 6 734 000 Francs. Saint-Fond fügt noch 210 000 „Livres de menus plaisirs" hinzu. Er kann dies ja mit Leichtigkeit thun, da es nicht sein Geld ist, sondern das des Staates, den er ausplündert.

Die Amüsements bei den „petita soupers" und in den wollüstigen Boudoirs der Barriere-Blanche begin­nen nunmehr und werden von Juliette in der vortreff­lichsten Weise geleitet. Saint-Fond, der zu diesen Ver­gnügungen auch einen königlichen Prinzen zugezogen hat, lässt durch Juliette seinen eigenen Vater vergiften, führt dann zusammen mit Noirceuil seine Tochter, mit der er längst im Incest lebt, zu dem Sterbenden und ante oculos ejus eam paedicat. Dasselbe thut Noirceuil. Welch ein Genuas für Saint-Fond! Er ruft triumphie­rend aus: „Je parricidais, j'incestais, j'assassinais, je prostituais, je sodomisais!" Hierauf folgt ein luxuriöses Mahl, bei dem kleine Mädchen brennende Lichter ano inseruntur, so dass sie schliesslich verbrannt wer­den. Andere Mädchen werden auf den Bratspiess ge­steckt und lebendig geröstet. Juliette wünscht noch eine jüngere Freundin und in Grausamkeiten erfinde­rische Gehilfin, worauf man sie mit Lady Olairwil, einer kalten, herzlosen englischen Schönheit bekannt macht. Diese, den Freuden der Tafel bis zum Uebermass hul­digende Gourmande, ist leidenschaftliche Tribade und Männerfeindin. Sie verübt nur gegen Männer ihre Grausamkeiten. Sie liebt passive und aktive Flagel lation in gleicher "Weise, was sie gleich bei einer tri- ' badischen Orgie mit Juliette und vier anderen Frauen \ beweist. Zum Ueberfluss engagiert Saint-Fond noch ' den Henker von Nantes, Delcour, zur Vollziehung der j geheimen Hinrichtungen. Der Gedanke, mit einem veritablen Henker zusammen zu sein, erregt in Juliette die höchste Wollust. Sie lässt sich von Delcour, der ausführt, dass besonders die Libertinage zur Grausam­keit und zum Verbrechen führe, flagellieren und zu­gleich mulier ei cunnilingum facere debet. Darauf werden unter Assistenz von Clairwil und Delcour die entsetzlichsten Grausamkeiten verübt. Cloris, ein Ver­wandter Saint-Fond's, dem dieser seine ganze Carriere verdankt, wird gerade deswegen zum Opfer ausersehen, zumal da seine Frau und Tochter dem begehrlichen Ansinnen des Saint-Fond nicht nachgegeben haben. Dieser hat die beiden Frauen bei der Königin Marie-Antoinette verleumdet, die ibt" drei Millionen (!) für ihre Ermordung zr.r Verfügung stellt. Nachdem die ganze Familie in die Falle gelockt ist, wird sie zunächst gezwungen, die scheusslichsten Arten von Incest mit einander zu begehen. Dann werden Vater, Mutter und Kinder, einer nach dem anderen, hingemorüet. Recht langsam muas der Henker Delcour der Tochter des Cloris den Hak abschneiden, damit Saint-Fond als ihr Paedico maximam habeat voluptatem. Juliette hat einen Saal schwarz drapieren lassen, in dessen zahl­reichen Nischen sich puellae nudae befinden. Die Köpfe der Getöteten werden dort aufgehängt, um später der Königin gebracht zu werden. Ausserdem befestigt man an den Wänden die — Nates! Zahlreiche Folterinstru­mente werden herangeschleppt. Ein Mädchen Fulvie wird gerädert. Anderen werden die Augen ausge- stochen, die Glieder zerbrochen. Ein Jüngling wird in einen hohlen, innen mit scharfen Klingen besetzten Cylinder, den ein Folterknecht wie eine Kaffeemühle dreht, in kleine Stücke zerschnitten.

Nach einigen Tagen werden Clairwil und Juliette von Verwandten des ermordeten Cloris überfallen, aber durch Saint-Fond befreit, wobei Clairwil und Juliette in coitu zwei Männer erschiessen. Saint-Fond er­drosselt in derselben Situation ein Mädchen. Fau3tine und Felicitas, Dormon und Delnos, die beiden Schwestern der Frau Cloris und ihre Verlobten, werden nach einem „enormen Diner" geopfert. Dormon wird „in einem Augenblick" geknebelt, die Clairwil zer­fleischt ihn mit den Zähnen, worauf er von zwei alten Weibern aufs Rad geflochten wird. Faustine, die mit den Haaren an der Decke aufgehängt ist, stirbt vor Schreck. Delnos wird von Juliette mit Nadeln zer­stochen '), Felicitas wird lebend „gepfählt". Clairwil lässt den noch lebenden Delnos wie „Jesus, ce plat co-qnin de Galilee", kreuzigen. Zum Schluss wird ein natürlicher Sohn des Saint-Fond, der Marquis de Rose vergiftet. Ebenso lässt Saint-Fond die Mutter de« Marquis umbringen, um sich in den Besitz ihres grossen Vermögens zu setzen.

Auch auf ihrem Landgut verübt Juliette Greuel-thaten. So fährt sie eines Tages in der Umgebung von Soeanx spazieren, kommt an die Hütte eines braven Bauern, der über den Besuch einer „so grossen Dame" ganz ausser sich gerät. Sie lobt die Reinlichkeit und Ordnmg in dem Häuschen, die heiteren Mienen der

Kinder, das anständige Verhalten der Familie und — benutzt einen Augenblick der Abwesenheit des armen Mannes, um Feuer anzulegen. Dieser findet bei seiner Rückkehr dio Hütte in Flammen, die Kinder lebendig verbrannt, da Juliette Sorge getragen, hat, alle Aus­gänge verschliessen zu lassen. Sie amüsiert sich über den Schmerz des Unglücklichen und eilt dann nach Paris, um ihr Heldenstück der Lady Clairwil zu erzäh­len. Diese runzelt beim Anhören der Geschichte die Stirne wie ein Institutsprofessor. Denn es fehlt noch etwas. Man hätte den Bauern selbst als Brandstifter anzeigen müssen, damit er gehängt oder gerädert wor­den wäre!

Diese vortreffliche Lehrerin führt Juliette, um deren mangelhafte Erziehung zu vollenden, in die „Ge­sellschaft der Freunde des Verbrechens" ein, deren Haus sich in einer Vorstadt von Paris befindet. Die Einrichtung desselben ist bereits beschrieben worden (S. 137). Nach Vorlesung der 45 Statuten, aus denen hervorgeht, dass nur die grössten Verbrecher und Lüst­linge in diese ehrenwerte Gesellschaft aufgenommen werden, wird Juliette aufgenommen, und unerhörte erotische Ausschweifungen folgen, an denen wiederum die Geistlichkeit sehr stark beteiligt ist. Episcopus in nasum suum mingi imperat. Femina ad feminae alte-rius mammam defaecat. Julia clysteribus excitatur. Ein Mann lässt sich eine grosse Zahl von Nadeln in die testes et nates stossen. Ein Anderer per duas Boras lingit os, oculo3, aures, nares, spatia interdigitalia pedum, anum. Senex devorat faecem filiae, quam pae-dicat. Depilat alter cunnum filiae lingua lambens mum. Clairwil trinkt das Blut eines von ihr getöteten Knaben und edit testes. In vier Sälen für „Masturbation,

Geisselung, Folter und Hinrichtungen" werden diese scheusshchen Wollustorgien gefeiert und die grässlich- sten Inceste begangen. An bombastischen Beden über die Herrlichkeit des Lasters fehlt es ebenfalls nicht, und man ist im Zweifel, wer das meiste Vergnügen hat, der „coniste", der „bougre", der „masturbateur" oder der „f en bouche"!

Aber weder Samt-Fond, noch Noirceuil, weder ihr halles Dutzend Lakaien, das aus den stärksten Kerlen ausgewählt ist, noch ihre zwölf Tribaden, noch Clair-wil die alle zusammen aufwiegt, weder die zahllosen männlichen und weiblichen Opfer, die Soupers und die Harems der „Gesellschaft der Freunde des Ver­brechens", können dem unersättlichen Temperament unserer Heldin Genüge leisten. Sie braucht noch aller­lei sonstige Zerstreuungen. Glairwil und Juliette gehen bei dem Karmelitermönch Claude zur Beichte, bei welcher Gelegenheit sie entdecken, dass dieser wunder­bare Mann drei — Testikel hat und er ihnen gesteht, dass er seinen Klosterbrüdern als Pathicus diene und auch ein grosser Atheist sei. An der Barriere de Vaugirard hat dieser Diener Gottes ein kleines Separat­logis, in dem die beiden Freundinnen gute Weine, mollige (moelleux) Sophas und eine ausgewählte porno­graphische Bibliothek finden, ausserdem Godmiches, Condome und „Martinets". Aber lange soll die Freude des braven Mönches nicht dauern. Er wird eines Tages von den Beiden in einen Hinterhalt gelockt und abla-tione membri virilis facta, das Clairwil als Godmiche benutzt, getötet.

Kurz darauf präsentiert sich bei Juliette ein ge­wisser Bernole, ein schmutziges und zerlumptes Indivi­duum und erklärt, ihr wichtige Enthüllungen machen

zu -wollen. Sie erfährt, dass der reiche Banquier, dessen Tochter sie zu sein glaubt und der als ihr angeblicher Vater durch Noirceuil ruiniert wurde, ihr Vater nur kraft des juristischen Grundsatzes sei: Pater is est, quem nuptiae demonstrant. Bernole ist ihr wirk­licher Vater und liefert ihr den Beweis dafür. Alsbald keimt der Gedanke eines Incestes mit diesem Elenden in der zartfühlenden jungen Dame auf. Sie realisiert diese Idee und lässt sich absichtlich von ihrem eigenen Vatei schwängern, den sie dann in Gegenwart der sich an ihr sexuell betätigenden Noirceuil, Samt-Fond und Clairwil erschiesst! Sie übernimmt dann die Erziehung der Tochter Saint-Fond's, die Noirceuils Frau werden soll, aber, wie wir wissen, bereits von ihrem eigenen Vater in alle sexuellen Geheimnisse ein­geweiht ist, trotzdem von Juliette darin noch „vervoll­kommnet" wird. Sie muss einer Orgie in dem Karme­literkloster beiwohnen, bei der zwei „Satansmessen" gelesen werden. Von dem Grafen Belmor, dessen Be­kanntschaft sie durch Noirceuil machen, können Beide viel lernen. Er hat die Manie, kleine Knaben auf den Schultern einer schönen Frau festbinden zu lassen, sie bis aufs Blut zu flagellieren und dann anum pueri ex quo sanguis decurrit usque ad anum feminae lingua lambere. Vor allem aber ist er ein vorzüglicher Statistiker der Wollust und hat ausgerechnet, dass ein Wüstling leicht im Laufe eines Jahres 300 Kinder ver­derben kann; das macht in 30 Jahren 9000. Und wenn jedes verderbte Kind ihm nur zum vierten Teil nach­ahmt, was mehr als wahrscheinlich ist, und jede Gene­ration nach 30 Jahren ebenso handelt, so wird joner Wüstling nach zwei Menschenaltern 9 Millionen Laster­hafte um sich sehen Juliette, die sich von einem berühmten Accouchetar ihr im Incest empfangenes Kind hat abtreiben lassen, besucht mit Clairwil die im Foubourg Saint-Jacques wohnende Giftmischerin und Kartenlegerin Durand, die nur wahrsagen kann, nachdem sie das Blut der be­treifenden Person hat fliessen sehen. Sie prophezeit, dass Clairwil nicht länger als fünf Jahre leben wird, und dass Juliette ins Unglück gerät, sobald sie aufhört, lasterhaft zu sein. Nach einem hysterischen Anfalle dieser blutdürstigen Giftmischerin werden Clairwil und Juliette in die Geheimnisse der Giftmischerei einge­weiht, und mehrere Vergiftungen werden ausgeführt, die von den Messalinen bejubelt und durch anthropo­phagische und fetischistische Excesse gewürzt werden“ (Clairwil cor pueri eripit et vaginae inserit.)

So vergehen zwei Jahre, in denen Juliette ganz vertiert und nur noch an den seltsamsten und ausser-gewöhnlichsten Genüssen Geschmack findet. Sie ist bald 22 Jahre alt. Da teilt ihr Saint-Fond in einer ver­traulichen Unterhaltung einen wahrhaft infernalischen Plan mit. Er will Frankreich entvölkern und zwei Drittel der Einwohner verhungern lassen! Dies macht selbst die hartgesottene Juliette schaudern. Saint-Fond bemerkt es und zieht sich wütend zurück. Juliette empfängt von Noirceuil ein Billet mit der Mitteilung, dass Saint-Fond sie wegen ihres „Rückfalles in die Tugend" zu verderben trachte und dass sie daher so schnell wie möglich Paris verlassen möge. So verlässt sie Hals über Kopf das Hans Saint-Fond's und ruft bei der Flucht aus: „O verhängnisvolle Tugend! Du hast mich wieder einmal einen Augenblick getäuscht! Jetzt fürchte ich aber nicht mehr, dass man mich noch­mals zu den Füssen Deiner schändlichen Altäre finden

wird. Ersticken wir die Tugend für immer. Sie ist nur dazu da, um den Menschen zu verderben. Und das grösste Unglück, das einem in dieser ganz verderbten Welt zustossen kann, ist das, sich allein vor dieser all­gemeinen Corruption schützen zu wollen!" Sie begiebt sich, nachdem sie 1500 Livres, ihre Diamanten und Kleinodien, sowie ihre „geschickteste" Tribade als Kam­merfrau mitgenommen hat nach Angers, wo sie ein Bordell im Stil der Duvergier eröffnet, bald den Adel der Provinz bei sich versammelt und viele Liebhaber findet. Der reiche vierzigjährige Graf von Lorsange, der über eine jährliche Rente von 50 000 Livres ver­fügt, heiratet sie, nachdem sie ihm unter scheinheiligen Thränen ihr ganzes früheres Leben enthüllt hat. In einem tugendreichen Vortrage, der dem Redner selbst Thränen entlockt, sucht der treuherzige Graf die Wissende Magdalena in ihrer neuen Tugendhaftigkeit zu befestigen. Aber diese „hübsche kleine Rede" hat Juliette keineswegs überzeugt. Nachdem sie eine Zeit lang das ihr allerdings neue eheliche Leben ertragen hat, siegt ihre „Vernunft" über „Vorurteil und Aber­glauben". Sie versüsst sich die zwei mit dem „harm­losen" Manne verlebten „monotonen" Jahre durch heimliche Excesse, besonders duröh tribadische Ge­nüsse, bis sie bei einer Messe den famosen Abbe Ohabert, eines der früheren Mitglieder der „Gesellschaft der Ereunde des Verbrechens" trifft. Jetzt beginnt die alte Herrlichkeit wieder. Eeste und Orgien werden gefeiert, obgleich Juliette die Zeit findet, einem Töchterchen das Leben zu geben, um „das Vermögen des Mannes sich zu sichern". Doch fängt dessen Existenz schon an, sie zu genieren, und als sie nun gar erfährt, dass Saint-"Fond ihr nachstellt, beschliesst sie, Erankreich zu ver lassen, vergiftet ihren Mann, der in den Armen des Heuchlers Chabert stirbt und seine "Witwe als Besitzerin von 50 000 Livres Rente zuriioklässt. Versehen mit vielen Empfehlungsbriefen des Abbe geht Juliette nach Italien und lässt ihre Tochter bei Chabert zurück.

Wie wohl fühlt sie sich in der Heimat eines Nero und einer Messalina! Sie will das Land nicht als ein­fache Reisende kennen lernen, sondern ihr Plan geht dahin, als „berühmte Courtisane" zu reisen und sich überall als solche anzukündigen. So kommt sie zuerst nach Turin, der „regelmässigsten und langweiligsten" Stadt Italiens, wo ihr das fromme abergläubische Volk, das wenig Sinn für Vergnügungen hat, gar nicht ge­fällt. Sofort nach ihrer Ankunft lässt sie die Signora Diana, die berühmteste „appareilleuse" der Stadt be­nachrichtigen, dass eine junge und hübsehe Französin zu „vermieten" sei. Alsbald kommen Grafen, Herzöge, Marquis u. s. w. in hellen Scharen zu der Abenteurerin gewallfahrtet. Denn wie der Herzog von Chablais sagt, bei dessen Soupers Juliette glänzt, es ist „die Geschichte aller Französinnen: ihr Wuchs und ihre Haut sind ent­zückend. Es giebt hier so etwas nicht." Auch der König von Sardinien lässt nicht auf sich warten, dessen Manie das — KLystieren ist. Juliette sagt dem „Kaiser der Murmeltiere" einige Wahrheiten über Savoyen. Von einem gewissen Sbrigani, einer Moliere'schen Figur, lernt sie die Geheimnisse des Falschspielen“ kennen und nimmt dann in einer von ihr errichteten Spielhölle den Grafen und Marquis fabelhafte Summen ab. Sbrigani soll sie als Gatte auf ihrer weiteren Reise begleiten. Sie gelangen zunächst nach Alessandria, wo ein reicher Herzog ausgeplündert wird und ihnen die Kleinstaaterei Italiens bei der Flucht vortrefflich zu

statten kommt. In Bologna finden sie die tribadische Kunst aufs höchste entwickelt und "beteiligen sich an einer derartigen Orgie in einem Nonnenkloster. Die­lleise über die Apenninen verschafft ihnen die Bekannt­schaft mit einem sieben Fuss drei Zoll hohen Biesen und anthropophagischen Ungeheuer. Minski — so heisst das Scheusal — lebt als „Eremit des Apennin" in einem befestigten Hause auf der Insel eines Teiches. Die Stühle in diesem Hause sind aus menschlichen Knochen angefertigt; das Haus selbst ist voll von Ske­letten. In unterirdischen Kellern sind die zur Ver­speisung bestimmten Opfer eingesperrt. Minski stammt aus dem Grossfürstentum Moskau, hat grosse Reisen gemacht, um die „Unzucht und die Verbrechen auf der ganzen Erde zu studieren und nachzuahmen". Er hat sich jetzt in die Einsamkeit zurückgezogen, um im Ver­borgenen seinen verbrecherischen Gelüsten freien Lauf zu lassen. Er ist hauptsächlich Menschenfresser und schreibt dieser lieblichen Gewohnheit seine außerge­wöhnliche Kraft zu. Er lauert den Beisenden auf, die dann später als Braten und Ragouts auf seinem Tische serviert werden. Auch Juliette, ihre Kammerfrau und Sbrigani sollen diesem Schicksale nicht entgehen. Aber vorher macht er ihnen die Honneurs in seiner Woh­nung und zeigt ihnen die sehr bevölkerten Harems, die-Keller mit ungeheuren Schätzen. Bethört durch die Liebenswürdigkeit Juliettens verspricht er ihr schliess­lich, sie am Leben zu lassen, wenn sie niemals einen Fluchtversuch machen werde. Nun giebt es jeden Tag eine neue Unterhaltung. Zunächst geht es zu Tische. Minski, ein extremer Alkoholist, trinkt CO Flaschen Wein! Man isst an „lebenden Tafeln!" Eine Reihe nackter Frauen, eine an die andere gedrückt, mit ge beugtem Rücken, unbeweglich, bilden die „Tafel", auf welcher die Lakaien servieren. Kein Tischtuch ist nötig bei diesen schönen „croupes satinees". Man trocknet sich die Finger an den wehenden Haaren der Frauen. Die Speisen sind vorzüglich. Juliette fragt nach dem Genüsse eines besonders wohlschmeckenden Eagoüts, was es sei. Sie findet nicht heraus, ob es Kind- oder Kalbfleisch, Wildpret oder Geflügel ist. „Es ist Ihre Kammerfrau", antwortet das Ungeheuer mit einem liebenswürdigen Lächeln. Die arme Tribade und treue Gefährtin ihrer Herrin ist in ein Ragout verwan­delt worden! Hiernach zeigt dieser charmante Men­schenfresser seinen Gästen eine Menagerie wilder Tiere, lässt einige Frauen aus dem Harem holen und zwischen die Löwen und Tiger werfen. Das grösste Wunder aber ist eine Maschine, die 16 Menschen auf einmal erhängt, erdolcht und enthauptet. Das alles ist zwar recht amü­sant, und Minski verspricht ihnen für die nächsten Tage noch mehr Ueberraschungen, aber Juliette traut der Sache nicht. Auch Sbrigani teilt ihre Befürch­tungen. Sie beschliessen zu entfliehen. Sie mischt dem Menschenfresser Strammonium in die Chokolade aber nur soviel, dass er betäubt wird, denn „ein solches Scheusal darf man nicht töten". Sie raubt aus seinen Schränken alle Schätze und nimmt zwei Frauen, Elise und Raymonde, mit. So kommen sie, beladen mit Ber­gen von Gold und Silber, nach Florenz.

Hier errichten sie eine Spielhölle, verbunden mit einem Bordell und einer Giftbude. Geld haben sie zwar nicht nötig, aber es macht ihnen Vergnügen, die Welt zu sehen, die Familiengeheimnisse zu erfahren, Sitten und Gebräuche kennen zu lernen. In Florenz herrscht der Bruder der Marie-Antoinette, Leopold, Grossherzog

von Toscana, bei dem „toute la morgue allemande eckte". Bald werden Juliette und ihr Begleiter zu einer Orgie, die der Grossherzog und sein Beichtvater in Pratolino veranstalten und bei der Juliette sehr hoch­mütig als „Französin" auftritt, eingeladen. Leopold, dieser „grand successeur de la premiere putain de France" betreibt als Sport die künstliche Herbeiführung des Abortus der von ihm geschwängerten Frauen. Heute aber hat er etwas ganz Besonderes darzubieten. Er bewirtet Juliette mit einer Aufführung von Enthaup­tungen mit Musikbegleitung 1 Die Köpfe fallen nach dem Takte und p. la ritournelle!

Interessant ist die Beobachtung Juliettens, dass in Florenz die Männer sich wie die Frauen und die Frauen wie die Männer kleiden und daher nirgends so viel Neigung zum gleichen Geschlecht vorhanden ist wie dort. Die Prostituierten leben in einem besonderen Stadtviertel. Tizians „Venus" in den Uffizien veran­lasst einen Excurs über die obscönert Darstellungen in der Malerei, wobei die „Venus von Medici", der „Herma­phrodit", „Oaligula caressant sa soeur" erwähnt werden.

Nachdem unsere Abenteurer noch eine tribadische Mutter und Tochter ermordet haben, kommen sie nach Eom, wo sie, mit reichlichen Empfehlungen versehen, bald die vornehmsten Beziehungen anknüpfen, Zutritt in alle Paläste finden und besonders die Gunst der tribadischen Prinzessin Olympia Borghese, der Kardi­näle Albani und Bernis und des Herzogs von Grillo ge­winnen und mit diesen alsbald sich den gewöhnlichen Ausschweifungen hingeben. Bernis dichtet in cynischer Selbstironie eine die Kaste der Jesuiten geisselnde Para­phrase der „Ode auf dem Priapus". Die Borghese ver­giftet ihren Vater und Juliette die Herzogin von Grillo.

Beide beobachten in einem Bordell, wie Priester, Mönche, Abbes u. s. w. sich dort einschleichen. Dann kommt die Borghese auf die Idee, alle Hospitäler und Wohlthätigkeitsanstalten von Born in Brand zu stecken. Sie will dieselbe durch den Polizeidirektor Grhigi und den Grafen Bracciani, den ersten Physiker Europa's, ausführen lassen. Ghigi lässt besonders gern die Men­schen aufhängen, da er als Zuschauer gerade dadurch sexuell erregt wird, und führt auf Verlangen Juliettens und der Borghese eine solche Szene vor. Bracciani, dieser grosse Physiker, tötet durch einen „künstlichen Blitz" ein Mädchen. Endlich werden die 37 Hospitäler Borns angezündet, wobei mehr als 20 000 Menschen umkom­men, und Olympia und Juliette in grösster sexueller Erregung zuschauen. Der Brand dauert acht Tage. Bei einer Orgie im Hause der Borghese erscheinen als Festteilnehmer ein Eunuch, ein Hermaphrodit, ein Zwerg, eine Frau von 80 Jahren, ein kleiner Knabe von 4 Jahren, eine grosse Dogge, eine Ziege ), ein Affe und ein Truthahn! Bracciani nimmt sich des Truthahns an, dem die Borghese im Moment der Ejaculatio viri den Hals abschneidet. Die alte Frau hat natürlich in ihrem langen Leben viele Sünden begangen. Dafür wird sie zum Feuertode verurteilt und sofort auf einem Scheiter­haufen lebendig verbrannt.

Juliette wird, darauf dem Pap3te Pius VI. vorge­stellt, den sie mit seinem früheren .Namen Braschi nennt und dem sie eine derbe Predigt über den kirchlichen Aberglauben und die Unzucht der Päpste hält, was Pius VI., der selbst als schrecklicher Atheist und als ein geschlechtliches Ungeheuer geschildert wird, mit grossem Beifall aufnimmt. Bisweilen versucht er zwar, sie zu unterbrechen, wird aber durch ein: „Schweig, alter Affe!" eingeschüchtert und ruft nach Beendigung dieser Bede aus: „O Juliette, man hat mir zwar gesagt, dass Du Geist hättest. Aber so viel hätte ich nicht erwartet. Ein solcher Grad von Hochflug der Ideen ist sehr selten bei einer Frau." Ein solches Weib möchte natürlich der heilige Vater gern besitzen. Juliette stellt ihm für ihre Hingabe die unwürdigsten Bedingungen, lässt sich dann von ihm den Vatikan und seine Gärten zeigen, wobei sie sehr cynische Bemerkungen macht. Die Zusammenkunft endet mit einer sehr intimen Szene, die auch dem Papste Anlass giebt, seine materialisti­schen und gotteslästerlichen Maximen zu entwickeln. Beim nächsten Male wird eine grosse Orgie in der Peterskirche gefeiert. Der Papst celebriert selbst mehrere Satansmessen, an deren Schlüsse einige Men­schen getötet werden. Juliette siedelt nunmehr in das Schlafgemach des heiligen Vaters über und benutzt die Gelegenheit einer in der grossen Gallerie stattfinden­den sexuellen Unterhaltung, um den Papst zu bestehlen. Hierauf reist sie mit Empfehlungen an die königliche Familie nach Neapel ab. Unterwegs wird sie von den Räubern des berüchtigten Brisa-Testa überfallen, auf

dessen Schloss geführt und mit ihren Begleitern in einem dunklen Verliess eingesperrt. Sie hören von der blut­dürstigen Frau des Räuberhauptmanns sprechen, der sie geopfert werden sollen. Juliette erkennt in derselben ihre alte Freundin Clairwil wieder, die eine Schwester des Brisa-Testa ist, aber mit diesem im Incest lebt. Brisa-Testa erzählt seine lange Lebensgeschichte, die ihn nach England, Schweden, Russland, Sibirien und der Türkei geführt hat. Er schildert die perversen Neigungen und Grausamkeiten der Kaiserin Katha­rina IL, die sich im Winterpalais tribadischen Genüssen hingiebt, wobei sie die Knute weidlich gebraucht. Nach verschiedenen Vergnügungen bei den Räubern, die ebenfalls den Genuss von Menschenfleisch lieben, bricht Juliette mit Clairwil nach Neapel auf. Sie wird von König Ferdinand in Portici empfangen, hält ihm einen hochweisen politischen Vortrag über das König­reich Neapel und dessen Zustände, über die sittliche Verkommenheit der Bevölkerung, dieser „halbspani­schen" Nation, und würzt ihre Rede mit heftigen Ausfällen gegen die Schwägerin des Königs, Marie-Antoinette. Die Königin Charlotte (Karoline) von Neapel ist eine leidenschaftliche Tribade, deren Reize „d'apres nature" Juliette gleich bei der ersten Bekannt­schaft kennen lernt, bei der es zu einer tribadischen Szene zwischen den beiden kommt und der Godmiche sowie die defaecatio ad os eine Rolle spielen. Ferdinand ist Nekrophile. Paedicat cadaver eines von ihm er­drosselten Pagen. Die herrlichen Umgebungen Neapels, die aber auch die Erinnerungen an die Greuel Nero's wachrufen, werden durch Orgien am Cap Misenum, in

Puzzoli, in den Ruinen der Insel Procida, auf Jschia und Niceta entweiht. Im Venustempel zu Bajae geben sich Clairwil, Juliette und Olympia Borghese gemeinen Fischern hin, um dann zu vornehmeren Genüssen beim Prinzen von Francavilla, einem vollendeten Paederasten, zurückzukehren. — Er veranstaltet ein üppiges Garten­fest, wo herrliche Pavillons, wollüstig ausgestattete Kioske, stimulierende Flüssigkeiten, Massennagellationen und — automatisch wirkende Phallusmaschinerien die Sinne erhitzen, und die Königin Karoline „trunken von Wollust und sehr erregt durch Weine und Liköre" bacchantisch wütet. — Bei einem Besuch des Antiken­museums in Portici sehen unsere Reisenden ein Ge­mälde, das einen Satyr mit einer Ziege in Verkehr zeigt, welcher Akt nach dem den Führer spielenden König Ferdinand noch heute in Italien oft ausgeführt werde. Die Ruinen von Herculanum und Pompeji dienen als Stätten der Lust. Vespoli, der Beichtvater des Königs und Leiter seiner Orgien hat in Salerno ein Haus für geheime Hinrichtungen und Folterungen ein­gerichtet. Er findet hauptsächlich. Genuss an der Kreuzigung und an der sexuellen Befriedigung mit — Irrsinnigen! In Paestum wohnen die drei teuflischen Weiber bei einer tugendhaften Witwe, die drei junge unschuldige Töchter hat. Natürlich werden alle ver­gewaltigt und getötet genitalibus laceratis. Sorrent, Castellamare und die blaue Grotte werden dann be­sucht. Und auf Capri ahmt man die Thaten des ehe­maligen Bewohners der Insel, des Kaisers Tiberius, nach. Man kehrt gerade zur rechten Zeit nach Neapel zurück, um ein grosses Volksfest mitzufeiern, bei dem es wild hergeht und 400 Personen getötet werden. Karoline

und Juliette schmieden ein Complott gegen den König Ferdinand, das durch den folgenden von der Königin unterschriebenen Kontrakt gekennzeichnet wird: „Ich werde meinem Gatten alle Schätze stehlen und sie der­jenigen geben, die mir das Gift liefern "wird, das not­wendig ist, um ihn in die andere Welt zu befördern". Dieser Vertrag wird durch eine tribadische Szene be­siegelt. Der nichts ahnende König erfreut Juliette noch durch zwei besonders seltene Darbietungen. Er lässt zwei Frauen auf eiserne Platten binden und diese mit solcher Gewalt auf einander stossen, dass die beiden Körper zerquetscht werden. Das Merkwürdigste aber ist das „Theater der Grausamkeiten", dessen Auffüh­rungen etwas ungewöhnlicher Art sind. Hinrichtungen und wieder Hinrichtungen! Das ist das beständige Pro­gramm der Vorstellungen. Jeder Eingeladene hat seine eigene Loge, in der sieben Gemälde mit sieben verschie­denen Arten von Hinrichtungen hängen: Feuer, Peit­schung, Strick, Rad, Pfählung, Enthauptung, Zerstücke­lung. Ferner befinden sich in der Loge 50 Porträts von Frauen, Männern und Kindern. Jedem Porträt und jeder Art der Hinrichtung entspricht ein Apparat, den man durch einen Druck auf einen Knopf in Gang setzt, nachdem der Maschinist durch den Glockenton benach­richtigt worden ist. Erster Glockenton: Bezeichnung des Opfers, welches alsbald auf der Bühne erscheint. Zweiter Glockenton: Bezeichnung der Hinrichtung, welche alsbald von vier Henkern, „nackt und schön wie Mars" vollzogen wird. O, das ist unerhört, das ist herr­lich! Die Eingeladenen geben sich alle Mühe die amü­santesten Combinationen zu finden, und bei dieser einen „Vorstellung" werden 1176 Personen vom Leben zum Tode gebracht. Der Autor versichert, dass das alles

ganz genau so zugegangen sei und, "wenn wir die Vor­stellung gesehen hätten, wir sie nicht treuer hätten be­schreiben können! Dieses Schauspiel begeistert Juliette und Clairwil zu einem besonders pikanten Verbrechen. Sie schwören ihrer treuen Begleiterin Olympia Borghese Verderben. Auf einer Spazierfahrt, die sie auf den Gipfel des Vesuv führt, stürzen sich die Beiden auf die ahnungslose Olympia, entkleiden sie und werfen sie in den Krater hinein, worauf sieh ihre sexuelle Erregung in einer tribadisehen Orgie Luft macht. Bei dieser erfolgt ein Ausbruch des Vesuv! „Ah, Olympia ver­langt ihre Kleider!" ruft die cynische Juliette, die sie ihr auch, aber erst, nachdem sie alle Wertgegenstände herausgenommen hat, hinunterwirft. — Inzwischen hat die Königin Karoline die Millionen des Königs bei Juliette in Sicherheit gebracht und will mit ihr nach Ermordung des Königs nach Frankreich entfliehen. Juliette denunciert sie aber bei Ferdinand, der die Königin einkerkern lässt, während die Anstifterin des Complotts mit allen Schätzen entflieht.

Clairwil und Juliette treffen die Giftmischerin Durand wieder, die aber Clairwil hasst und Juliette tiberredet, sie zu vergiften, indem sie ihr vorspiegelt, dass Clairwil ihr nach dem Leben trachte. Nach der Ermordung sagt die Durand kaltblütig: „Ich. habe Dich belogen. Sie dachte nicht daran, Dich umzubringen. Aber ihre Zeit war um. Sie musste sterben." Der Vorfall wird bald über einigen Ingeniösen Unterhal­tungen mit Matrosen, denen die Beiden sich nächtlicher­weile im Hafen von Ahcona hingeben, vergessen. Sie kommen dazu, wie der Kaufmann Cordelli in einer Kirche den Leichnam seiner eigenen Tochter schändet. Dieses blutdürstige Scheusal besitzt ein „Schloss am

Meer", aus dem er seine Opfer ins Meer stürzen lässtr oder sie auch wie die unglückliche Raymonde in einen Schlangenkäfig sperrt, wo sie von den Schlangen ge­fressen werden. Aber er treibts nicht mehr lange. Die Durand und Juliette vergiften ihn und seine Genossen und bemächtigen sich seiner ungeheuren Reichtümer. Sie reisen nach Venedig, wo sie ein Bordell im Stile der Madame Gourdan errichten, das sich eines eifrigen Besuches von Seiten der vornehmen Welt zu erfreuen hat und wiederum Veranlassung zur Schilde­rung sexualpathologischer Typen giebt. Zuerst er­scheint ein alter Prokurator von St.-Marcus, dessen Passion menstruirende Mädchen sind. Aber es darf nie dasselbe sein. Raimondi ist ein exquisiter „Voyeur". Der Dritte ist ein „Lecheur". Der Vierte bringt stet“ zwei Negerinnen mit, da er die Contrastwirkung liebt. Der Fünfte lässt sich anbinden und eine „Scheinhin­richtung" an sich vollziehen. Der französische Gesandte stürzt Mädchen in einen flammenden Abgrund. Aach die Tribaden Venedigs erscheinen auf der Bildfläche. Die Zanetti sucht ihre Opfer in Kirchen und ist sehr erfahren in der „Bildung obscöner Gruppen". Sie lei­det an Kleptomanie. Ihr Geliebter ist Moberti, das Oberhaupt einer eleganten Verbrecherbande, der wie seine Freundin conträrsexual ist. Dieses Maniies gröss-ter Kummer ist, dass es keinen Gott giebt und er ihn daher nicht beschimpfen kann. Eines Tages verwandelt sich der zärtliche Liebhaber in einen wilden Tiger. Er lässt sich nämlich im Bordell der Durand mit einem Tigerfell bekleiden und tötet durch seine „Bisse und Tatzen" die Zanetti. — Eine zweite Tribade ist Signora Zatta, in ihren Allüren ganz Mann. Sie hat einen kunstvolen Phallus construirt, der mit Spitzen für meh rere orificia corporis versehen ist. — Ganz eigentüm­liche Gewohnheiten hat ein gewisser Cornaro. Er be­friedigt sich an kleinen Knaben, aber nur, wenn deren — Mutter und Tante zugegen sind. Er giebt ein „anthropophagisches Souper", bei dem die Durand, Juliette und Laurentia, die „verderbteste, lascivste und geistreichste Frau von ganz Italien" zugegen sind. Neger und Negerinnen, Flagellanten, alte Weiber, kleine Knaben und Mädchen assistieren bei den nach dem Souper verübten Grausamkeiten, die Cornaro zu dem Ausruf begeistern: „Combien la nature corrompue est belle dans ses details!" — Silvia, eine vornehme Dame, angefeuert durch die sechste Satire des Juvenal, prostituirt sich wie Messalma im Bordell der Durand et dentibus lacerat genitalia. Der Senator Beanchi bringt seine seit langem gehegte fixe Idee zur Ausfüh­rung, seine beiden Nichten zu prostituiren. — Alberti untersucht seine Opfer wie „Pferde", hat ea besonder“ auf gravide Frauen abgesehen, die er langsam zu Tode martert, indem er ihnen allmählich die Nahrung ent­zieht. — Der Senator Contanini bringt seine Tochter ins Bordell und gebraucht sie. Man spiegelt ihm später ihren Tod vor, um sie als Prostituirte auszubilden. — Auch mit Giften und Wahrsagekünsten machen Juliette und die Durand gute Geschäfte. Sie werden von Zeno, dem Kanzler der Bepublik zu einer Orgie geladen und gemessen mit Venetianerinnen bei einer Gondelfahrt die Freuden der lesbischen Liebe, die noch erhöht wer­den durch einen Sturm, der auf offenem Meere aus­bricht. Juliette nruss in dem Palais einer vornehmen Venetianerin deren Sohn und Tochter verführen. Auch der Bat der Zehn stellt sich ein.

Schliesslich nimmt aber die Herrlichkeit ein Ende. Das Bordell wird aufgehoben; das Vermögen der Durand und Juliettens konfisciert. Juliette geht nach Lyon, von wo sie Noirceuil über ihre bevorstehende Kückkehr nach Paris benachrichtigt und dem Abbe Chabert mit­teilt, dass er ihre nun schon sieben Jahre alte Tochter Marianne ebenfalls nach Paris bringe, damit sie dort zur „Verbrecherin" erzogen werde. Die Freude des Wiedersehens mit Noirceuil ist gross. Dieser hält gleich eine seiner grossen Beden und sagt, dass Juliette ihn noch tausend Mal schlechter wieder fände, als sie ihn verlassen habe. Er hat inzwischen auch Saint-Fond umgebracht. Sie feiern dann ihr Wiedersehen mit einem Morde. Juliette richtet sich in Paris ein Bordell ein, für Männer und Frauen, für welches sechs Kupp­lerinnen die Waren herbeischaffen. Juliette und Noir­ceuil schwelgen in wahrhaft grandiosen Ausschwei­fungen, in denen sie den Kaiser Nero und die Kaiserin Theodora zu übertreffen suchen. Noirceuil heiratet in einer Kirche unter Gebet, Segen und mit Zeugen seine beiden Söhne, Juliette ihre Tochter und ein von ihr verführtes Fräulein Fontanges! Die Freuden dieser in der Weltgeschichte einzigen Ehen dauern nicht lange. Bei einer Orgie, die Desrues und Cartouche als Henker mit ihrer Gegenwart beehren, werden die Söhne Noir-ceuils und Mademoiselle Fontanges unter grässlichen Foltern ermordet. Juliettens Tochter wird ins Feuer geworfen!

Hier endet Juliette ihre Erzählung vor den stau­nenden Zuhörern, nachdem sie noch hinzugefügt hat, dass sie in dem Dorfe, wo das Landgut Noirceuil's liegt und wo das Wiedersehen mit Justine stattgefunden hat, alle Brrinnen vergiftet und so den Tod sämtlicher

Bauern herbeigeführt habe. Juliette echliesst ihren langen Bericht mit einer ' glühenden Apotheose des Lasters. Das ist die glückliche Lage, in der Ihr mich jetzt seht, meine Freunde! Ich gestehe es, ich liehe das Verbrechen leidenschaftlich. Dieses allein reizt meine Sinne, und ich werde seine Grundsätze bis zum letzten Tage meines Lebens verkünden. Frei von jeder religiö­sen Furcht, erhaben über die Gesetze durch meine Ver­schwiegenheit und meine Reichtümer, möchte ich die göttliche oder menschliche Gewalt kennen lernen, die mir meine Wünsche verbieten könnte. Die Vergangen­heit ermutigt mich; die Gegenwart elektrisiert mich; ich fürchte wenig die Zukunft und hoffe, dass der Rest meines Lebens die Ausschweifungen meiner Jugend bei weitem noch übertreffen wird. Die Natur hat die Menschen dazu geschaffen, damit sie sich über alles auf der Erde amüsieren. Das ist ihr höchstes Gesetz und wird immer dasjenige meines Herzens sein. Um so schlimmer für die Opfer, die es geben muss. Alles würde im Universum zu Grunde gehen ohne die er­habenen Gesetze des Gleichgewichtes. Nur durch Frevelthaten erhält sich die Natur und erobert die ihr von der Tugend entrissenen Rechte wieder. Wir ge­horchen ihr also, indem wir uns dem Bösen überliefern. Ein Widerstand wäre das einzige Verbrechen, das si« niemals verzeihen darf. O meine Freunde, überzeuger wir uns von diesen Grundsätzen, aus deren Verwirk lichnng alle Quellen des menschlichen Glückes ent springen."

Mehr als einmal hat Justine während dieser langei Erzählung geweint. Nicht so der Chevalier und de Marquis. Nach der Rückkehr Noirceuils und Chabert wird die Opferung dieser unverbesserlichen „Tugend haften" beschlossen. Im letzten Augenblick aber schlägt Noirceuil einen Schicksalsspruch vor, da eben ein heftiges Gewitter heraufzieht. Man bringt Justine ins Freie. Und siehe da! sie wird auf der Stelle vom Blitz erschlagen. Darob begeisterter Jubel der Ge­nossen des Lasters. Die Natur hat gesprochen. Das Laster ist des Menschen einziges Glück. Während sie noch an der Leiche der unglücklichen Justine ihre Greuel verüben, erscheint plötzlich die Durand wieder auf der Bildfläche. Sie hat einen grossen Teil des in Venedig koiüiszierten Vermögens gerettet. Zum Schluss wird Noirceuil zum Minister ernannt, Chabert wird Erzbischof, der Marquis wird Gesandter in Konstanti­nopel und der Chevalier bekommt eine Rente von 400 000 Livres. Juliette und die Durand folgen ihrem geliebten Noirceuil zu neuen Herrlichkeiten, bis nach zehn Jahren glänzender Erfolge des Lasters Juliette stirbt.

„Wer einmal meine Geschichte schreibt", hat sie ausgerufen, „der betitle sie: Die Wonne des Lasters!"

5. Die „Philosophie dans le Boudoir".

Die „Philosophie dans le Üoudoir ou les instituteurs immoraux" erschien zum ersten Male 1795 als „Ouvrage posthume par l'auteur de Justine" in 2 Bän­den mit 5 Bildern, zum zweiten Male 1805 in 2 Bänden mit 10 Bildern und seitdem öfter.

Das Werk ist eine Nachahmung der „Education de Laure" von Mirabeau und zum Teil auch der „Aloysia Sigaea" des Nicolas Chorier. Das

Hauptthema: die Erziehung eines jungen Mädchens zum Last er wird in Form von Dia­logen und langen lehrhaften Vorträgen erörtert, die nur ab und zu von praktischen Ausführungen der ge­predigten Ausschweifungen unterbrochen werden. Die Handlung tritt zurück hinter den theoretischen Erörte­rungen.

Charakteristisch für den Ton des Ganzen ist die Vorrede an die Wüstlinge: „Wüstlinge jeden Alters und beiderlei Geschlechts! Nur Euch widme ich dieses Werk; nährt Euch mit dessen Grundsätzen, die Euren Leidenschaften günstig sind. Diese Leidenschaften, von welchen Euch kleinliche und kalte Moralisten zurück­schrecken, sind nichts weiter als Mittel, welche die Natur anwendet, um den Menschen ihre Zwecke in Be­ziehung auf ihn zukommen und sie ihn erkennen zu lassen; hört nur auf diese wonnigen Leidenschaften, ihr Organ ist das einzige, welches Euch zum Glück zu leiten im Stande ist.

„Schlüpfrige Weiber, deren Modell die wollüstige Saint-Ange sein möge, verachtet, ihrem Beispiele fol­gend, Alles, was mit den göttlichen Gesetzen des Ver­gnügens im Widerspruch steht und was das ganze Leben in Fesseln hält

„Junge Mädchen, die Ihr lange in widersinniger Sklaverei gehalten worden seid, welche von einer phan­tastischen Tugend und ekelhaften Moral erfunden, Euch nur gefährlich werden muss, ahmt das Beispiel der glühenden Eugenie nach; reisset nieder und tretet mit Füssen, wie sie es thut, alle lächerlichen Lehren, die Euch von einfältigen Eltern eingeprägt wurden.

„Und Ihr liebenswürdige Wüstlinge, die Ihr seit Eurer Jugend keine anderen Zügel kanntet, als die jenigen, mit welchen Euch Eure Begierden leiten, aner­kennt keine anderen Gesetze als Eure Launen; möge Euch der Cyniker Dolmance zum Beispiel dienen! Geht so weit wie er, damit, wenn Ihr die ganze Bahn durch­laufen, welche von der Wollust mit Blumen bestreut sich Euren Blicken darbietet, Ihr Euch überzeugt, dass es nur eine Lebensschule giebt, in welcher Ihr den Hori­zont Eures Geschmackes und Eurer Phantasien aus­dehnen möget, dasa man nur dann, wenn man seinem Genüsse Alles opfert, seinen Lebenszweck erfüllt, dass endlich der Mensch, welcher diese sonst so traurige "Welt bewohnt, nur auf diese Weise aus den Dornen des Lebens Kosen zu pflücken vermag."

Skizzieren wir in aller Kürze die dürftige Hand­lung des Stückes. Im ersten Gespräch treten Madame de St.-Ange und ihr Bruder, der Chevalier de Mirvel auf. Die Erstere ist ein Juliette-Typus, die alles, was mit ihr in Berührung kommt, vergiftet. Dir Bruder dagegen ist mehr receptiv und tritt in dem Buche hinter der kraftvolleren Individualität des Dolmance zurück. Dieser ist ein im Laster consequenter Cyniker, der mit seiner geistreichen Sophistik stets die ganze Situation beherrscht. Er ist nach Mirvels Beschreibung durch seinen frühbegonnenen lasterhaften Lebenswandel hart geworden und besitzt anstatt des Herzens nur tierische Begierden. Er ist Paedera3t und hört nicht auf, in Apo­logien dieses LasteTS zu schwelgen.

Eugenie von Mistival ist ein junges Mädchen, deren Mutter eine Betschwester ist und deren Vater ein Ver­hältnis mit Madarne de St.-Ange unterhält. Letztere hat ihr schon einen theoretischen Unterricht im Laster erteilt, ihr alle Lehren der Religion und der reinen Moral ausgeredet und sie so umgarnt, dass Eugenie sich

ganz ihrer Leitung anvertrauen will. So boII sie denn heute — die ganze Handlung spielt sich im Laufe eines einzigen Tages ab — in die Mysterien des Venus­dienstes und — Sodoms eingeweiht werden. Eugenie kommt und verrät ihre wahre Natur sofort durch das Bekenntnis, dass sie ihre Mutter, diese alte Betschwester, hasse. Dolmance erscheint als Letzter und nunmehr wird Eugenie, die errötend im Anfange Scham heuchelt, zuerst über die Anatomie und Physiologie der männ­lichen und weiblichen Genitalien cum demonstrationex) belehrt und empfängt darauf in den Künsten der „amour physique" und „antiphysique" Unterricht. Später werden zu dem praktischen Unterricht auch der Chevalier und ein Gärtnerbursche und Idiot Augustin zugezogen, so dass Eugenie das Arrangement obscöner Gruppen kennen lernt. Gegen Abend, als Eugenie sich bereits in das grausamste erotische Scheusal verwandelt hat, kommt ihre Mutter, Madame de Mistival gerade zur rechten Zeit. Unter den Augen der jauchzenden Tochter wird sie scheusslieh vergewaltigt, von einem Knecht Lapierre syphilitisch infiziert, und bevor man zu Tische geht, muss Eugenie an ihrer Mutter die Infi-bulation vollziehen.

Dies der Gang der Handlung. Mehr als Dreiviertel des Buches werden durch lehrhafte Excurse ausgefüllt. 6. Die übrigen Werke des Marquis de Sade.

„Justine", „Juliette" und die „Philosophie dans le Boudoir" sind die "Werke, denen der Marquis de Sade

seinen Iwrostratischen Ruhm verdankt. Alle übrigen zahlreichen Schriften desselben sind milde und erträg­lich im Vergleich mit den eben genannten. M a r c i a t nennt deshalb die in ihnen zum Ausdruck kommenden Ideen den „petit sadisme", den „kleinen Sadismus". „Aline et Valcour ou le Roman philosophique", ecrit ä la Bastille un an avant la Revolution, erschien zuerst 1793 in 4 Bänden, später im Jahre 1795. Girouard wurde 1792 mit dem Drucke dieses Wer­kes von S a d e beauftragt. Der Drucker wurde aber in eine royalistische Verschwörung verwickelt, verhaftet und guillotiniert. Inzwischen war der Roman heimlich gedruckt worden, und erschien 1793 unter der Firma der Frau Girouard's. Er fand wenig Käufer. 1795 wurden Exemplare mit neuem Titel in den Handel ge­bracht. In demselben Jahre erwarb der Buchhändler Maradan die Restexemplare, änderte nur Titel und Titelbild, und brachte das Werk so in den Handel. Es ist, wie M a r c i a t richtig vermutet, unzweifelhaft ein Vorbild der „Justine et Juliette", da es fast dieselben Charaktere schildert. Valcour, ein tugendhafter junger Mann liebt Aline, die edle Tochter der edlen Frau des grausamen und lasterhaften Präsidenten de Blamont. Dieser möchte seine Tochter gern an den alten Wüst­ling Dolbourg verheiraten, zumal da er schon früher die tugendhafte Sophie, die er für seine Tochter hält, diesem alten Freunde als Maitresse ausgeliefert hat. Er will, wenn dieser Heiratsplan gelungen ist, dem Dolbourg seine Frau zur Geliebten geben, um von ihm dessen Frau, also seine Tochter, in gleicher Eigenschaft zurückzuerhalten. Der Plan misslingt. Aline tötet

sich. Madame de Blamont wird auf Befehl des Gatten vergiftet. Valcour geht ins Kloster, Dolbourg wird tugendhaft, und der Präsident muss fliehen. In Rosa und Leonore sind zwei lasterhafte weibliche Personen geschildert. Leonore, die überall Glück hat, erscheint als Pendant zu Juliette. Auch an sonstigen interessan­ten Persönlichkeiten ist das Werk reich. Bis auf die Vergiftung und einige Flagellationsszenen enthält „Aline et Valcour" keine Schilderungen von Grausam­keiten.

Querard meint, dasa der Autor als Valcour sich selbst geschildert habe und bisweilen dort seine eigene Geschichte erzähle.

Die „Crimes de l'Amour ou le Delice des passionsj Nouvelles heroiques et tragiques, precede d'une Idee sur les Romans" Paris 1800, sind eine Sammlung roman­tischer Erzählungen wie z. B. „Juliette et Raunai", „Ciarisse", „Lauurence et Antonio", „Eugene de Fran-val" u. s. w., in denen der Kampf zwischen Laster und Tugend geschildert wird. Gewöhnlich aber siegt die Tugend. Der Marquis d e S a d e handelt über diese Sammlung in seiner polemischen Schrift gegen V i 11 e -t e r q u e.8)

Als Vorrede zu den „Crimes de l'Amour" schrieb S a d e die „Ide« sur les Romans", eine nicht unge schickte Uebersicht über die Romanschriftstellerei des 18. Jahrhunderts, eingeleitet durch eine historische Skizze der Entwicklung des Romans, den er als „Ge-1 mälde der Sitten des Jahrhunderts" definiert, das in ge­wissem Sinne die Geschichte ersetzen müsse. Nur ein Menschenkenner kann einen guten Roman schreiben. Diese Menschenkenntnis erwirbt man durch Unglück oder Reisen. Am Schlüsse weist er die Vorwürfe, die man ihm über die cynisehe Ausdrucksweise in „Aline et Valcour" gemacht hat, als ungerechtfertigt zurück. Man muss das Laster zeigen, damit es verabscheut werde. Die gefährlichsten Werke sind die, welche es verschönern und in glänzenden Farben schildern. Nein, es muss in seiner ganzen Nacktheit vor Augen stehen, damit es in seinem wahren Wesen erkannt und gemieden werde.

Endlich erwähnen wir noch das Pamphlet, welches Sade die Ungnade Napoleon' s zuzog. „Zoloe et ses deux acolytes" erschien 1800 in Paris. Zoloe ist Josephine de Beauharnais, die Gattin Bonaparte's. Sie wird als eine lascive, geldgierige Amerikanerin geschildert. Ihre Freundin. Laureda (Madame T a 11 i e n), eine Spanierin, ist „ganz Feuer und ganz Liebe", sehr reich und kann daher alle ihre perversen Gelüste befriedigen. Sie und Volsange (Mad. Vi s c o n t i) nehmen mit Zoloe- an den Orgien mit aus­schweifenden Wüstlingen Teil. Unter den letzteren erkennt man Bonaparte in dem Baron d'Orsec und Barras in dem Vicomte de Sabar. Ein Wort allein würde genügt haben, wie Cabanes sagt, um den Ver­fasser zu enthüllen. Das ist das Wort „Tugend" (Les malheurs de la v e r t u). Er erklärt in „Zoloe": „Qu'on se rappeile qne nous parlons en historien. Ce n'est pa?

notre faute si nos taibleaux sont charges des couleurs de l'immoralite, de la perfidie et de l'intrigue. Nous avons peint les hommes d'un siecle qui n'est plus. Puisse celui-ce en produire de meilleurs et preter ä nos pinceaux les chärmes de la vertu!"

Von den Komödien des Marquis d e S a d e sind nur „Oxtiern ou les Malheurs du libertinage" Versailles 1800, in der die Wonne des Verbrechens gerühmt wird, und „Julia, ou le Mariage sans femme" (Manuscript), eine Verherrlichung der Paederastie, erwähnenswert. 7. Charakter der Werke des Marquis de Sade.

Von den berüchtigten Hauptwerken des Marquis de Sade gilt, was Macaulay von den „Denk­würdigkeiten" des Dr. Burney sagt. Es ist kein Ver­gnügen, sie zu lesen, sondern eine Aufgabe. Wer sich überzeugen will, eine wie trostlose geistige und körperliche Oede die ausschliessliche Beschäftigung mit dem rein Geschlechtlichen im Menschen her­vorbringt, der lese die Werke des Marquis de Sade. Man wird dies aus der blossen Analyse, die wir von „Justine" und „Juliette" gegeben haben, entnehmen können. Und dann hat Sade das gethan, was F r i t z Friedmann in seiner lesenswerten Studie über „Verbrechen und Krankheit im Roman und auf der Bühne" als eine „litterarische Sünde" bezeichnet: er hat das kalte und nackte Verbrechen zum Ausgangs- und Kernpunkt der Handlung gemacht! Diese Verbindung des Geschlechtlichen mit Verbrechen

und destruktiven Vorgängen aller Art muss um so furchtbarer wirken, als sie durch eine Einbil­dungskraft ohnegleichen tausendfach variirt wird. Schon Janin hat erkannt, dass de S a d e die „unermüdlichste Einbildungskraft besass, die vielleicht jemals die Welt in Schrecken gesetzt hat." ) So allein konnte ein pornographisches Riesenwerk von zehn Bän­den entstehen, das „durch den blossen Umfang und das Maass der damit geleisteten geistigen und rein mechanischen Arbeit unwillkürlich imponierend wirkt" . Diese enorme Einbildungskraft spricht sich nach Eulenburg ferner aus in dem „bizarren Ent­wurf dieser ungeheuerlichen, langgedehnten, vielglied-rigen Komposition und seiner bis ins Einzelne gehenden Ausgestaltung mit all ihren fast unentwirrbaren Fäden, mit der Unzahl der nacheinander auftretenden Personen, mit der sehr raffiniert durchgeführten allmählichen Steigerung und mit der fast nie versagenden Treue der Erinnerung und Rückbeziehung!" Dazu kommt der Grundton der Sade'schen Werke, den Juliette als „corruption reflechie" (Juliette IV, 87) bezeichnet, die endlosen, immer wiederkehrenden, immer dasselbe wie­derholenden philosophischen Discuasionen und Dialoge.

Endlich, um das abschreckende Bild zu vollenden, die wahrhaft ungeheuerlichen Behaup­tungen und Uebertreibungen, stupide Hyperbeln einer atisschweifenden Phantasie. Minski trinkt 60 Flaschen Wein auf einmal (Juliette TR, 332); der Karmelitermönch Claude hat drei Testikel (Juliette HI, 77); im „Theater der Grausamkeiten" zu Neapel

werden 1176 Menschen auf ein Mal getötet (Juliette VT, 22—26) u. s. w. u. s. w. Nicht selten sind auch, wie sich bei einem solchen Grapbomanen erwarten lässt, grobe chronologische und geographische Irrtümer. So lässt er Moses die Geschichte Loths während der Ge­fangenschaft der Juden zu Babylon schreiben (Philo­sophie dans le Boudoir I, 195) und Pompeji und Hercu-lamim in Griechenland liegen (ib. 196, u. a. m.

Mögen also auch die Werke des Marquis de Sade in kulturhistorischer und allgemein menschlicher Be­ziehung sehr wichtig und lehrreich sein, wie wir glauben, so wirkt entschieden ihre äussere Form äbstossend. Die Geistesöde und sinnlosen Tautologien in den Haupt­schriften müssen auf ein schwaches Gehirn, welches sich nicht zu kulturhistorischer Betrachtung und wissen­schaftlicher Analyse erheben kann, eine verderbliche Wirkung ausüben, wie schon J a n i n erkannt hat, wenn er in beredten Worten diese Wirkung an einem Bei­spiel veranschaulicht. Weniger gefährlich sind die den Werken beigegebenen obscönenBilder. Nach Kenouvier sollen die berühmten Künstler C h e r y und Carree die Zeichnungen zu diesem „Werke eines Maniakus geliefert haben, das die Zeit der Freiheit be­schmutzt hat". Wir haben die Originalzeichnungen, welche noch in dem Besitze eines Pariser Bibliophilen existieren sollen,8) nicht gesehen, und können also nicht beurteilen, ob diese den Angaben Renouviers entsprechen. Nach den der „Justine et Juliette" bei­gegebenen 104 Stichen können wir nur dem Urteil bei stimmen, welches der geistreiche Eulenburg übe diese Bilder gefällt hat: „Ganz abgesehen von der Schauerlichkeit des Dargestellten ist der künstlerische Wert dieser Illustrationen überaus gering. Grobe Fehler der Zeichnung, der Perspektive, gänzlicher Mangel an Individualisierung, dürftige, fast ärmliche Erfassung der Szenerie frappieren bei der Mehrzahl der Bilder, denen man höchstens die kompositioneile Treue in Anleh­nungen an die oft recht komplizierten Gruppenbeschrei­bungen des Textes als ein immerhin zweifelhaftes Ver­dienst zusprechen könnte. Hier hätte es, wenn schon Derartiges gewagt werden sollte, der entfesselten und vor nichts zurückschaudernden Phantasie bedurft, mit der ein Dore die Gestalten von Dantes Inferno nach-zuschaffen gewusst hat." ) Etwas besser ausgeführt eind die zehn Lithographien in der „Philosophie dans le boudoir" in der uns vorliegenden Ausgabe von 1805. Uebrigens zeichnen sich auch andere pornographische Werke des 18. Jahrhunderts durch schlechte Bilder aus wie z. B. M i r a b e a u' s „Ma conversion". Die Neu­zeit leistet dank ihrer verbesserten Technik darin leider mehr. 8. Die Philosophie des Marquis de Sade.

Der Marquis ist der erste und einzige uns bekannt« Philosoph des Lasters. Vergeblich wird man bei modernen Philosophen wie Stirn er und Nietzsche, die doch auch mit Nachdruck den Egoismus, die „Herrenmoral" und andere hyperindivi­dualistische Ideen predigen, jene — wir möchten es so

nennen — „Vergeistigung" des nackten, gemeinen, teuf­lischen Verbrechens finden wie bei Sade.

Noch ein anderer Gesichtspunkt macht die "Werke des Marquis de Sade für den Culturhistpriker, Arzt, Juristen, Nationalökonomen und Ethiker zu einer wahren Fundgrube des Wissens und der Erkenntnis. Diese Werke sind vor allem lehrreich dadurch, dass sie zeigen, was alles im Leben mit dem Ge• schle chtstr ieb e zusammenhän gt, der, wie der Marquis de Sade mit unleugbarem Scharfsinn erklärt hat, fast alle menschlichen Ver­hältnisse in irgend einer Weise beein-flusst. Jeder, der die soziologis che' Bedeu­tung der Liebe untersuchen will, muss die Hauptwerke des Marquis de Sade gelesen haben. Nicht neben dem Hunger, sondern mehr als der Hunger regiert die Liebe die Welt!

Das an sich grässliche G-emälde der körperliehen Ausschweifungen in den Romanen des Marquis de Sard& soll durch eine gewisse geistige Tünche ver­schönert werden, in Gestalt der in denselben Schriften in grosser Ausführlichkeit entwickelten philoso­phischen Betrachtungen. In ihnen offen­bart sich ebenfalls jene Gewohnheit der Franzosen, wie d'Alembert sagt, „die nichtswürdigsten Dinge ernsthaft zu behandeln." Delbene meint: „Man muss die Erregungen nicht nur empfinden, sondern auch analysieren. Es ist bisweilen ebenso süss, davon spre­chen zu hören ala sie selbst zu gemessen. Und wenn man den Genuas nicht mehr haben kann, ist es göttlich, Über ihn zu sprechen." (Juliette I, 105.) Jeröme sagt, dass die in Sicilien gefeierten Orgien nur durch philo­sophische Discussionen unterbrochen wurden, und man nicht eher neue Grausamkeiten beging, bevor man sie

nicht dadurch „legitimiert" hatte. (Juliette III, 45). Diese theoretischen Wollustgemälde sind auch nötig zur „Entwickelung der Seele" (Justine IV, 173).

Gerade diese philosophischen Erörterungen bewei­sen, dass „wir es bei de Sa de nicht mit dem ersten besten pornographischen Autor gewöhnlichen Schlages zu thun haben, sondern dass es sich hier um eine ganz ungewöhnliche und litterarische Erscheinung, u m eine direkt aus dem Urquell des Bösen schöpfende antimoralische Kraft han­delt" ). Daher wird ein kurzer Blick auf das philo­sophische System des Marquis de Sade ge­rechtfertigt sein.

Alle Anschauungen Sade's entspringen, wie dies nicht anders zu erwarten ist, aus seinem mit Consequenz durchgeführten Materialismus. Er vergöttert die Natur, die er stets als das g u te Prinzip der ihr feindlichen Tugend gegenüberstellt. Das Weltall wird durch seine eigene Kraft bewegt, und seine ewigen der Natur inhaerenten Gesetze genügen, um ohne eine „erste Ursache" alles, was wir sehen, hervorzubringen. Die beständige Bewegung der. Materie erklärt alles. Wozu brauchen wir einen Beweger (moteur) für das, was immer in Bewegung ist? Das Weltall ist eine Versammlung von verschiedenen Wesen, die wechselseitig und succesive auf einander wirken und gegenwirken. Nirgends ist eine Grenze. Ueberall ist ein continuierlicher Uebergang von einem Zustande zu einem andern in Beziehung auf die Einzelwesen, die nach einander verschiedene neue Formen annehmen. (Juliette I, 72—73.) Bewegung und Stoss der materiellen Moleküle er­Mären alle körperlichen und geistigen Erscheinungen. Die Seele muss daher als „aktives" und als „denkendes" Prinzip materiell sein. Als aktives Prinzip ist sie teil­bar. Denn „das Herz schlägt noch, nachdem es aus dem Körper herausgenommen worden ist." Alles, was teilbar ist, ist aber Materie. — Ferner ist das Materie, was Fährlichkeiten unterliegt (periclite). Der „Geist" könnte nicht gefährdet sein. Die Seele folgt aber den Eindrücken des Körpers, ist schwach in der Jugend, niedergedrückt im Alter, unterliegt also allen Gefahren des Körpers, ist also = Materie. (Juliette I, 86.) Noch leichter macht sich Bressac die Beweisführung. Als der Körper der toten Frau des Grafen Gernande noch eine zuckende Bewegung macht, ruft er entzückt aus: „Seht Ihr, dass die Materie zu ihrer Bewegung keine Seele braucht!" (Justine IV, 40.)

Die Unsterblichkeit der Seele ist daher natürlich eine Cbimäre. Dieses blödsinnige Dogma hat die Menschen zu Narren, Heuchlern, Bösewichtern ge­macht und „schwarzgallige" Individuen gezüchtet. Nur dort ist Tugend, wo man die Unsterblichkeit nicht kennt. Juliette erlaubt sich gegenüber der Delbene die schüchterne Frage, ob der Gedanke der Unsterblichkeit nicht tröstlich für manche Unglückliche sei. Delbene antwortet, dass man seine Wünsche nicht zum Mass­stabe der "Wahrheit nehmen dürfte. „Habe Mut, glaube an das allgemeine Gesetz, füge Dich mit Resignation in den Gedanken, dass Du in den Schoss der Natur zurückkehrst, um in anderen Formen wieder aus ihm hervorzugehen. Ein ewiger Lorbeer wächst auf dem Grabe Virgil's, und es ist besser, für immer vernichtet zu werden, als in der sogenannten Hölle zu brennen". Aber, fragt Juliette angsterfüllt, was wird aus mir

Werden? Diese ewige Vernichtung erschreckt mich, diese Dunkelheit macht mich schaudern." — „Was warst Du vorher, vor Deiner Geburt? Dasselbe wirst Du wie­der werden. Genössest Du damals? Nein. Aber littest Du? Nein. Welches Wesen würde nicht alle Genüsse opfern für die Gewissheit, nie wieder Schmerzen zu leiden!" (Juliette I, 83—85.) ) Uebrigens sind diese Doctrinen von der Seele nicht die einzigen, die man als Materialist haben kann. Die Durand behauptet z. B., dass die Seele ein Feuer sei, das nach dem Tode erlösche und seine Stoffe in die Weltmaterie übergehen lässt (Juliette Dil, 247). Und der Bösewicht Saint-Fond konstruiert die Welt aus „molecules malfaisantes", aus „bösen Elementen". Er sieht daher im Universum nur die Schlechtigkeit, das Uebel, die Unordnung und das Verbrechen. Das Böse existierte vor Erschaffung der Welt und wird nachher existieren. Warum ist das Alter schlechter als die Jugend, verderbter und ent­arteter? Weil die bösen Elemente in den Busen der „molecules malfaisantes" zurückzukehren sich an­schicken. Saint-Fond glaubt daher, dass das Böse den Menschen nach dem Tode erwarte, also an eine ewige Hölle. Wer auf der Erde böse gewesen ist, dem wird die Vereinigung mit dem „Bösen" leicht werden. Die Tugendhaften werden grosse Qualen dabei leiden. Giebt es aber eine Hölle, dann ist der Gedanke an den Himmel nicht fern. Thatsächlich glaubt Saint-Fond an das Jenseits, an Belohnungen und Strafen. Um nun zu verhindern, dass seine Opfer in den Himmel kom­men, schliesst er sich mit ihnen auf eine geheimnisvolle

Weise ein und lässt sie mit ihrem Blute auf einem Stück Papier ihre Seele dem Teufel verschreiben, quam chartam membro suo ano eorum inserit, wobei die Betreffenden schrecklich gefoltert werden. (Juliette II, 287, 341.) Clairwil dagegen erklärt die Hölle für eine Erfindung der Priester. (Juliette II, 292 ff.)

Nach dem Vorgange Holbach'a, der jede reli­giöse Regung als geistige Verirrung bezeichnete, wird S a d e nicht müde, über die Begriffe „Gott" und „Religion" die Schale seines Spottes auszugiessen. Sein Atheismus geberdet sich „in konsequenter Weise zugleich als fanatischer Misotheismus, der von dem bekannten Worte: „si Dieu n'existait pas, il faudrait l'inventer", nur Gebrauch zu machen scheint, um diesen eigens dazu erfundenen Gott blasphemisch zu beschim­pfen und zu verhöhnen." ) Die Idee einer solchen Chimäre und die Aufrichtung eines solchen Monstrjims ist das einzige Unrecht, das Delbene den Menschen nicht verzeihen kann. „Mein Blut kocht bei seinem Namen selbst. Ich glaube um mich die zitternden Schatten aller Unglücklichen zu sehen, welche dieser abscheuliche Aberglaube auf der Erde geopfert hat." Sie erinnert an die Unthaten des Klerikalismus und der Inquisition. Würde sie heute leben, sie würde gewiss die auch im Namen dieses klerikalen Gottes erfolgte Folterung des unglücklichen Dreyf us nicht vergessen haben. Del­bene unterzieht hierauf die verschiedenen Gottestheorien einer Kritik. Die Juden sprechen zwar von einem Gotte, aber sie erklären diesen Begriff nicht und reden nur in kindlichen Allegorien von ihm. Die Bibel ist von ver­schiedenen Menschen und „dummen Charlatans" lange

nach Moses geschrieben worden. Dieser behauptet, die Gesetze von Gott selbst empfangen zu haben. Ist diese Vorliebe Gottes für ein kleines unwissendes Volk nicht lächerlich? Die in der Bibel erzählten Wunder werden von keinem Historiker berichtet. Und wie hat dieser Gott die Juden behandelt! Wie hat er sie in alle Welt zerstreut als das odium generis humani. Bei den Juden darf man Gott nicht suchen. Da ist er nur ein „fan-töme degoütant". Aber vielleicht bei den Christen? Doch hier findet Delbene noch grössere Absurditäten. Jesus ist nach ihr entschieden schlauer als Moses. Die­ser lässt das Wunder durch Gott geschehen. Jener macht es selbst! La religion prouve le prophete, et le prophete la religion.

Da also weder durch das Judentum noch durch das Christentum die Existenz Gottes bewiesen wird, so müssen wir uns an unsere eigene Vernunft halten. Diese ist aber bei Mensch und Tier das Resultat des gröbsten Mechanismus. Erinnert man sich der Dinge als abwesender Objekte, so ist das Gedächtnis, Erinne­rung. Erinnert man sich ihrer, ohne dass man von ihrer Abwesenheit unterrichtet ist, also sie als wirklich vor­handene Objekte ansieht, so ist das Einbildung, und diese Einbildung ist die wahre Ursache aller unse­rer Irrtümer. Die Imagination besteht aus „objektiven Ideen", die uns nichts Wirkliches anzeigen, und die Erinnerung besteht aus „reellen Ideen", die uns wirk­lich existierende Dinge anzeigen. Gott ist nun das Pro­dukt der Imagination, der „erschöpften Einbildungs­kraft" derer, die zu träge sind, um die lange Reihe der Ursachen und Wirkungen zu durchdenken und mit einem kühnen Salto mortale zu einer letzten Ursache greifen, deren Wirkung alle anderen Ursachen sind, die selbst aber keine Ursache mehr hat. Das ist Gott. Die „dumme Chimäre" einer „debile Imagination", die nur eine „idee objeetive" ohne reale Existenz zu denken vermag. Gott ist ein „Vampyr", der das Blut der Men- schen aussaugt. (Juliette I, 49 — 62.) In Wirklichkeit kann Gott gar nicht existieren, da die ewig wirkende Xatur in fortwährender Bewegung sieh befindet, sie aber diese Kraft nur aus sich selber besitzt, nicht aber vom Schöpfer zum Geschenk erhalten haben kann«  Denn dann müsste man an das Vorhandensein eines trägen Wesens glauben, das, nachdem es seine Arbeit gethan, in Niohtethun dahinlebt. Ein solches Wesen wäre aber lächerlich wegen seiner Ueberflüssigkeit. Denn es hätte nur so lange gewirkt, bis es erschaffen, dann aber hätte es während Jahrtausenden ruhen müs- sen. (Philosophie dans le Boudoir I, 56). Wenn die Materie nach Begriffen, die uns unbekannt sind, wirkt, wenn die Bewegung der Materie inhaerent ist, wenn nur sie allein im Stande ist, nach Massgabe ihrer Kraft zu schaffen, hervorzubringen, zu erhalten und fortzuführen, wie wir dies in dem unseren Sinnen fassbaren Univer- sum erblicken, in welchem wir eine Unzahl von Welt- körpcrn um und über uns sehen, deren Anblick uns überrascht, deren gleichmässiger, geregelter Gang uns mit Bewunderung und Staunen erfüllt, wozu brauchen wir dann noch einen fremden, ausserhalb des Univer- sums stehenden Faktor, da die bewegende und schaffende Kraft sich schon in der Natur selbst befindet? Diese Natur ist aber an und für sich nichts anderes als eine wirkende Materie (ib. 1, 58). Nach allem dem ist dieser Gott ein launenhaftes Wesen, welches das von ihm geschaffene Geschöpf dem Verderben weiht. Wie fürchterlich, welch ein Ungeheuer ist ein solcher Gott! Gegen ihn müseten wir uns empören. Nicht zufrieden mit einer so grossen Aufgabe, ertränkt er den Menschen,


— 411 —

um ihn zu bekehren, er verbrennt, er verflucht ihn, er ändert nichts daran, dieser hohe Gott, ja, er duldet ein noch viel mächtigeres Wesen neben sich, indem er das Reich Satans aufrecht erhält, welcher seinem Erschaffer zu trotzen vermag, der im Stande ist, die Geschöpfe, die sieli Gott auserkoren, zu verderben und zu verführen. Denn nichts vermag die Energie Satans über uns zu be- siegen. So hat ihn die Religion geschaffen, samt seinem einzigen Sohne, den er vom Himmel herabgeschickt und in einen sterblichen weiblichen Leib bannt. Man wäre geneigt, zu glauben, dieser Sohn Gottes müsste die Erde inmitten eines Engelchores, beleuchtet von glänzenden Strahlen betreten. Aber nein, er wird von einer sünd- haften Jüdin in einem Stalle geboren. Wird uns seine ehrenvolle Sendung vor dem ewigen Tode retten? Fol- gen wir ihm, sehen wir, was er thut, hören wir, was er spricht! Welche erhabene Mission vollführt er? Wel- ches Geheimnis offenbart er uns? Welche Lehre predigt er uns? Durch welche That lässt er uns seine Grösse erkennen? Wir sehen vor allem eine unbekannte Kind- heit, einige Dienste, die er den jüdischen Priestern des Tempels von Jerusalem leistet, dann ein 15 jähriges Verschwinden, während welciher Zeit er sich vom alten ägyptischen Kultus vergiften lässt, den er nach Judäa bringt. Er geht so weit, sich für einen Sohn Gottes zu erklären, der dem Vater an Macht gleich ist; er ver- bindet mit diesem Bündnis die Erschaffung eines dritten Wesens, des heiligen Geistes, indem er uns glauben machen will, diese drei Personen seien nur eine. Er sagt, er habe eine menschliche Form angenommen, um uns zu retten. Der sublime Geist musste also Materie, Fleisch werden und setzt die einfältige Welt durch seine Wunder in Erstaunen. Während eines Abend- mahles betrunkener Menschen verwandelt er Wasser in


- 412 -

Wein. Er speist in einer Wüste einige Faseler mit den von ihm verborgen gehalten^ Lebensmitteln. Einer von seinen Genossen spielt den Toten, lun sich von ihm erwecken zu lassen. Er besteigt in Gegenwart zweier oder dreier seiner Freunde einen Berg und führt hier ungeschickte Taschenspielerkunststücke aus, deren sich jetzt ein Tausendkünstler schämen müsste. I>abei aber verflucht er alle, die ihm nicht glauben wollen, und verspricht den Gläubigen das Himmelreich. Er hinterlässt nichts Geschriebenes, spricht sehr wenig und tut noch weniger. Dennoch bringt er durch seine auf- rührerischen Reden die Behörden auf und wird endlich gekreuzigt. In seinen letzten Augenblicken verspricht er seinen Gläubigen, zu erscheinen, so oft sie ihn an- rufen, um sich von ihnen — essen zu lassen. Er lässt sich also hinrichten, ohne dass sein Herr Papa (Mon- sieur son papa), dieser erhabene Gott, auch nur das Gre- ringste thäte, um ihn von dem schimpflichen Tode zu retten. Seine Anhänger versammeln sich jetzt und sagen, die Menschheit sei verloren, wenn sie dieselbe durch einen auffallenden Handstreich nicht retteten. Lasst uns die Grabwächter einschläfern, stehlen wir den Leichnam, verkünden wir seine Auferstehung! Dies ist ein sicheres Mittel, imi an dieses Wunder glau- ben zu machen; es soll uns dazu helfen, die neue Lehre zu verbreiten. Der Streich gelingt. Alle Einfältigen, die Weiber und Kinder faseln von einem geschehenen Wunder und dennoch will in dieser mit dem Blute Gottes getränkten Stadt niemand an diesen Gott glau- ben. Xicht ein Mensch lässt sich bekehren. Man ver- öffentlicht das T^ben Jesu. Dieser schale Roman findet Menschen, die ihn für Wahrheit halten. Seine Apostel legen ihrem selbsterschaffenen Erl()«ior Worte in den Mund, an die er niemals credacht hat. Einige über-


- 413 -

spannte Maximen werden zur Basis ihrer Moral ge- macht, und da man dies alles Bettlern verkündet, so wird die Liebe des Nächsten und Wohlthätigkeit zur ersten Tugend erhoben. Verschiedene bizarre Cere- monien werden unter der Benennung „Sakramente" eingeführt, unter welchen die unsinnigste die ist, dass ein sündenbelasteter Priester mittelst einiger Worte, eines Galimathias, ein Stück Brod in den Leib Jesu ver- . wandelt. (Philosophie dans le Boudoir I, 60 — 64.) — Man darf sich nicht wundern, wenn nach diesen An- schauungen der Marquis de S a d e oft die Heiligen- schändung für ein Pflichtgebot erklärt und in scharfen Ausdrücken gegen Reliquien, Heiligenbilder, Crucifixe u. s. w. wettert und z. B. Dolmance sagen lässt, dass es sein grösstes Vergnügen sei, Gott zu beschimpfen, gegen dieses Phantom unflätige Worte auszustossen. Dieser möchte gern eine Art ausfindig machen, um diese degoütante chimere noch mehr zu insultieren, und ist wie Moberti böse darüber, dass es gar keinen Gott giebt, so dass er in solchen Augenblicken seine Existenz her- beiwünscht (Philosophie dans le Boudoir I, 125 — 126).

Von diesen theoretischen Maximen gelangt der Marquis de S a d e zur Begründung einer prak- tischen Lebensphilosophie, eben der ,,Philo?;ophie des Lasters."

Um den Triumph des Lasters in der menschlichen Gesellscliaft zu verwirklichen, muss eine zweckent- sprechende Paedagogik gehandhabt werden. Der Marquis de S a d e hat richtig erkannt, dass die Jugend verderben gleichbedeutend ist mit der L^nter- grabimg aller Sittlichkeit überhaupt. Diese Jugend, von der Alexander von Humboldt in seinen imvergleichlichen Briefen an den König Friedrich


— 414 -

Wilhelm IV. sagt, dass sie das „unzerstör- bare, uralte sich immer erneuernde Institut der Menschheit" sei ^), die muss man nach S a d e für sich gewinnen. „C'est dans la jeunesse qu'il faut s'occuper de detruire avec energie les prejuges inculques des l'en- fance." (Juliette IV 134.) So hat denn Sade in der „Philosophie dans le Boudoir" gewissermassen einen Leitfaden der Erziehung zum Laster nach dem Vor- bilde von Mirabeau's „Education de Laure"' ge- schaffen, in dem er seine theoretischen Grundsätze ent- wickelt und ihre praktische Anwendung in der Verfüh- rung und Demoralisierimg eines jungen Mädchens zeigt. — Die Erziehung muss alle unsinnigen Religionslehren verbannen, durch welche die „jungen Organe" der Kin- der nur ermüdet werden und an deren Stelle den Unter- richt in den „sozialen Grundsätzen" einführen. Auch ßollen sie in den schwer zu lösenden Fragen der Natur- kunde unterrichtet werden. Wenn es aber Jemand versuchen sollte, religiösen Firlefanz einschmuggeln zu wollen, so soll er als ein Verbrecher behandelt werden. (Phil, dans le Boud. H, 62 ff.) Sade hat richtig erkannt, dass die Gewohnheit in der Erziehung alles macht. Daher soll auch das Laster dem jugend- lichen Menschen zu einer Gewohnheit gemacht werden. Denn diese hebt alle lästigen Gewissensbisse auf. „Also sei so oft als möglich lasterhaft! Dann wird das Laster allmählich zu einem wollüstigen Kitzel, den man nicht mehr entbehren kann. Das Laster muss eine Tugend werden ! Und die Tugend ein Laster! Dann wird sich ein neues Weltall vor Deinen Blicken aufthun, ein verzehrendes und wollüstiges Feuer wird


1) „Briefe von Alexander von Humboldt an Varnhagen von En^e'-. 3. Auflage. I^ipzig 1860. S. 190.


- 415 -

Deine Nerven durchglühen; es wird die „elektrische Flüssigkeit" entflammen, in welcher das Prinzip des Lebens sich befindet. Jeden Tag entwirfst Du neue ruchlose Pläne und siehst in allen Wesen die Opfer Deiner perversen Gelüste. So gelangst Du auf einem mit Blumen bekränzten Wege zu den letzten Excessen der Unnatur. Nie darfst Du auf diesem Wege Halt machen, zögern und zurückweichen, weil Dir sonst der höchste Genuss für immer verloren geht. Vor allem nimm Dich vor der Religion in Acht, deren gefährliche Einflüsterungen Dich vom guten Wege abhalten, die der Hydra gleicht, deren Köpfe wiederwachsen, so oft man sie abschlägt." Diese Worte ruft DelbSne der 14- jährigen Juliette zu. (Juliette I, 27 — 30.) Diese selbst wiederum erzieht später die Tochter Saint-Fond's, ihre eigene Tochter und Fräulein Fontanges in ähnlichen Grundsätzen, deren verderbliche Wirkungen in der bereits oben erwähnten Statistik des Grafen Belmor zur Anschauung gebracht werden.

So wird das Laster planmässig in alle sozialen Ver- hältnisse eingeführt, von denen wir nur die wichtigsten hervorheben.

LiebeundEhe sind für S a d e chimärische Be- griffe. Mit einer Art von jesuitischer Casuistik unter- scheidet die Duvergier zwei Arten der Liebe, die moralische und die physische. Eine Frau kann moralisch ihren Geliebten oder Gatten anbeten und physisch und temporär denjenigen lieben, der ihr den Hof macht. Zudem hat die Frau von Temperament stets mehrere Liebhaber nötig. (Juliette I, 268.) Del- bene, diese grosse Paedagogin des Lasters, monologisiert lange für die Nutzlosigkeit der Moral für junge Mädchen und Frauen. Sie fragt gleich im Anfang erstaunt: Ist


— 416 -

Olli weibliches Wesen besser oder schlechter, wenn sie cfinen gewissen Körperteil mehr oder weniger „ouverte" hat? Nach ihr müssen die Sitten das individuelle Q- 1 ü c k verbürgen. Sonst sind sie wertlos. Man darf also ein Mädchen nicht zwingen, die Jungfranschaft zu bewah- ren, wenn es gl ü c k 1 i c h ist und danach brennt, die- selbe» zu verlieren. Je mehr ein Mädchen sich hingiebt. um HO liebenswerter ist es, um so mehr Menschen macht OH glücklich. Daher höre man auf, ein entjungfertes Miidchen zu missachten.^) (Jul. I, 108.) Was die Ehe b(*trifft, so handelt es sich nicht um die Frage, ob der Klicl)ruch ein Verbrechen in den Augen des Lappen ist, der ihn erlaubt, oder des Franzosen, der ihn verbietet, sondern ob die Menschheit und die Natur durch diese Tianrilung beleidigt werden. Der Coitus ist notwendig wie Ks8en und Trinken, die Keuschheit ist nur eine ,,coiiv<^ntionelle Mode^^, deren erster Ursprung nur «'in „r a f f i n e ni e n t du 1 i b e r t i n a g e" war. Jetzt ist sie nur eine Tugend der „Dummen und Kntlmsiasten*^ Sie schadet der Gesundheit, da sie wich- tig' Socreto zurückhält.*) Der gemeinschaft- 1 i c li c B c s i t z der Franc n ist das einzig wahre


M A. Moll sn^t („rntorsiu'hungen übor die Libido sexua- lis-. Mtl. I, 202) : „Ich habe don Eindruck, dass die Reizstärke, die die .lungfruuschaft bo7.w. Keuschheit des Weibes auf den Mann ausübt, auch Ihm uns abnimmt. Zum grossen Teile sind es heute mehr s<>ziale Gründe oder die Kitelkeit. die den Mann hindern, ein defh>rierteÄ Mädclien zu lieiraten. Die eigentlich abstoesende \\'irk\ing der l)t»Horation dureli einen anderen Mann ist nicht ininu»r in gendgtMider Stärke vorhanden.**

-) Am In^kanntesten wurden die ..sehreckUchen Folgen" der sexuellen Alvstinenz durch die erotischen Träume und Wahn- ideen des l^arrers von (^ours l>ei Reole in Guyenne, die Buf f on in seiner ..llistoire naturelle** gest^hildert hat und die man am ausführlichsten im „Espion Anglais*. Bd. I. London 1784, 8. 409 bis 4M\ dargestellt findet.


— 417 —

Xatiirgerietz, nicht die Monogamie, die Polyandrie und die Polygamie. Die freie und schrankenlose Vereini- gung und Trennung der beiden Geschlechter entspricht allein den natürlichen Verhältnissen. Und da auch die I^hre ein ganz subjektiver BegriflF ist, der nicht von Andern abhängt, so kann der Ehebruch der Gattin die Ehre des Gatten in keiner Weise tangieren. Delbene erteilt daher den Erauen mit gutem Gewissen Rat- schläge, wie sie ihre Männer am besten betrügen. (Jul. T, 100—131.)

Man kaim sich denken, welche Stellung nach diesen Maximen die Prostitution in der Gesellschaft einnimmt. Xur ein Weib, w^elches genossen und Männer mit ihren rmarmungen beglückt hat, lebt in der Erinnerung der Mc^nschon. Man hat L u c r e t i a sehr bald vergessen, während man sich T h e o d o r a s und Messalina's erinnert, die in tausend und abertausend Gedichten be- sungen werden. Weshalb sollten die Weiber den blu- menbestreuten Weg nicht lieber betreten, der ihnen noch nach dem Grabe einen (hiltus zusichert, anstatt sich dem verachtenden Lächeln der Aufgeklärten auszu- setz(»n, welches ihnen durch Jhre Askese zu Teil werden Anirde? (Phil, dans le Boud. I, 80.) Die Frau sei wie die Tlündin und die Wölfin, die allen angeh()ren (ib. I, 70). So erscheint die Ehe selbst als ein Vergehen.^)

Sehr merkwürdig sind bei S a d e die vielfachen Anklänge an die Ideen eines M al t h u s. Die heute ja


1) Merkwürdiger Weise hat man auch vom Standpunkt der Moral aus die Ehe ein Verbrechen genannt. So z. B. S t a t i u 8 in den berühmten Versen der „Thebais" Lib. II, 232—234) :

Tacite subit ille supremus Virginitatis amor, primaeque modestia culpae Confundit vultus. Tunc ora rigantur honestis Imbribus.

Diihicn, Studien I. Der Marqnis de Sado. 27


— 418 —

zu einer breiiueudeii Frage gewordene Entvölkerung Frankreichs ist keine neue Erscheinung. Xach einem Berieht, den wir der „Vossisehen Zeitung'* vom 11. Juli 181)9 entnehmen, veröffentlichte Professor II o s s i g - nol in Bordeaux vor kurzem das im Jahre 17G7 her- ausgekommene Werk des Abbe Joubert „Die Ent- völkerung und die Mittel ihr abzuhelfen^'. Es geht daraus hervor, dass fast im ganzen vorigen Jahrhundert diese Frage die Geister beschäftigte. Schon 1700 bis 1715 wurde eine thatsächliche Verminderung der Bevölke- rung festgestellt. Das Parlament von Dijon hatte 1764, das Parlament von Bordeaux 1765 auf die Gefahren der Entvölkerung hingewiesen. Der Abbe Joubert gab 1767 als Ursachen der Entvölkerung an: Sittenlosig- keit, Verwenidung bezahlter Ammen, schlechte geeund- heitliche Beschaffenheit der Häuser und Strassen; Miss- brauch geistiger Getränke, Steuerveranlagung. Von den wohlhabenden Klassen sagt er: „Um einen reichen Erben zu lassen, um einen zügellosen Aufwand fortzu- setzen, ist man taub für den Schrei der ^ffatur und zieht vor, die Zahl der Kinder nicht zu vermehren'^ Der gute Abbe betont besonders die tollen Ansprüche vieler Frauen, deren schlechte Erziehung und Verschwen- dungssucht die Ehescheu so vieler Männer erklären.

Auch bei S a d e sind hauptsächlich Frauen die Vertreterinnen des Malthusianismus. Delbene meint, dass die Natur sich wenig um die Fortpflanzung der Geschöpfe kümmere, und das Aufhören aller Zeugung würde sie nicht betrüben. Nur unser Stolz glaubt an die Notwendigkeit und Nützlichkeit der Fortpflanzung, während die Natur gleichgültig Tausende von Wesen vernichtet (Juliette I, 118). Dolmance behauptet so-


— 419 —

gar, dass dem Zwecke des menschlichen Lebens die Ver- mehrung seiner Rasse sehr fern liegt. Es sei beinahe zum Vei-wundern, dass sie von Einzelnen geduldet werde. Wie hätte die Natur dem Menschen ein Gesetz aufbin- den können, welches sie ihrer Allmacht beraubt? Wäre es nicht vernunftgemässer, wenige Menschen ewig jung bleiben und ewig leben zu sehen, als zu altern und zu sterben. Die Fortpflanzung der Menschheit ist ein „schw^aches Ersatzmittel" dafür. Es wäre sogar „schmei- chelhaft" für die ursprüngliche Absicht der Xatur, wenn das Menschengeschlecht ausstürbe. Nur die Ver- minderung der Bevölkerung kann die üebervölkerung und alle üebel, die damit verbunden sind, hindern. Die Kriege, Seuchen, Hungersnöte ^), Mordthaten, Schiff- brüche, Explosionen u. s. w. bewirken positiv die Ver- minderung der Menschenrasse, während jene Handlung, die ein blödsinniger Jude als ein solches Verbrechen be- zeichnet, dass um seinetwillen eine ganze Stadt durch himmlisches Feuer zu Grunde gegangen ist, nicht nur kein Verbrechen, sondern lo^benswert ist; denn sie ver- bindet zwei nützliche Dinge, sie schafft Vergnügen und hindert die Vermehrung der Menschenrasse. (Phil, dans le Boud. I, 100 — 101.) Daher ist eine der Haupt- sünden aller Regierungen die Vermehrung der Bevöl- kerung, die ohnehin nicht den Reichtum des Staates bildet, da sie alsbald in höherem Grade wachsen wird als die Existenzmittel. Seht auf Frankreich und Ihr werdet erkennen, was daraus resultiert. Die viel weise* ren Chinesen haben seit jeher Mittel gegen einen sol- chen TTeberfluss an Bevölkerung getroffen, indem sie


1) Aehnlich Tertullian „De anima" Cap. 30: Farnes bella et voragines civitatum pro remedio deputanda.

27*


— 420 —

Findel- und Armenhäuser unterdrückten und Bettler ohne Almosen liessen (ibid. S. (iU). Wenn Uelbene be- merkt, dass Frankreieh's allzugrosse Bevölkerung zu einer künstlichen Beschränkung der Kinderzahl zwinge und die überzähligen getötet werden müssten, die gleich- geschlechtliche Liebe zu begünstigen sei (Juliette I, 124), so bezieht sieh diese vorübergehende Zunahme der Bevölkerung nach dem oben genannten Werke von Rossignol auf das letzte Jahrzehnt vor der Revo- lution. Madame Saint-Ange empfiehlt (Phil, dans le Bond. T, 99) ähnlich wie unsere modernen Malthii- sianer, die längst über M a 1 1 h u s ' späte Heiraten und „moral restraint" sich hinweggesetzt haben, die be- kannten Praeventivmittel (Condome, oponges etc. . . .)*) — Der entschlossenste Malthusianer ist Saint-Fond. Er behauptet, dass Frankreich „einen kräftigen Ader- las? nötig habe." Die Künstler und Philosophen müssen vertrieben werden, die Hospitäler und Wohlthätigkeits- anstaltcn müssen zerstört werden, und ein Krieg, sowie eine künstlich zu veranstaltende Hungersnot müssen das üebrige tluni. Auf diese Weise will er zwei Drittel der Bevölkerung beseitigen. (Juliette TTI, 126, 261.)


1) Einen sehr merkwürdigen Versuch, die Kindererzeugung unmittelbar zu beschriinken, hat W e i n h o I d empfohlen. Es soll nUmlich jeder Jüngling im 14 .Jahre infibuliert werden. Die Vorhaut wird vorgezogen, sanft zwischen zwei durchlöcherte Metallplatten eingeklemmt, mit einer hohlen Nadel durchstochen, sodass ein 4 bis 5 Zoll langer Bleidraht eingeführt werden kann. Dessen Enden werden hernach zusammengelötet und die LötsteUe gestempelt. Die Infibulation dauert so lange, bis der Betroffene genug besitzt, um zu heiraten oder uneheliche Kinder zu crnilhren. Gegen eigenmächtiges Oeflfnen harte Strafe und wiederholte Visi- tation. Wein hold versichert, die Operation, die selbst bei Juden möglich sei (?). ohne den geringsten Nachteil für die Ge- sundheit bei Onanisten u. s. w. vollzogen zu haben. Vergl. Karl August Weinhold „Von der Uebervölkerung in Mittel- europa" Leipzig 1827; „Ueber das menschliche Elend, welches durch Mi»sbrauch der Zeugung herbeigeführt wird'* 182S u. a. m.



421 —


Ein (itTiir liger V'prsiii.'h wird vi>u der liurgliese iu Kuiii ausgeführt. Kb werdeu 37 1 [oapitäler verbraDiil. in denen mehr als 20 000 Menschen umkommen t (Jui. IV, ■2itS.) In der „Jualine" entwickelt der Bischof ein voll- kommenes System des praktischen Malthiiäiauismus, Ei'stena miiss der Kindermord nicht nur gestattet, son- dern sogar befohlen werden. Zweitens miisäen Kegie- riingskomniissare jährliche liundreien hei ailen Baueru machen nnd alle überilüsaigen, die zidäasige Zahl üher- schreilendcn Fauiüienglieder aus dem Wege räumen. Drittens die durch die Hevolution gewonnene Freiheit muas dem Volke wieder genommen werden; es muss wieder unters Joch. Viertens totale Unterdrückung aller öfEentlichen Almosen und Wohlthätigkeiten. Fünften.s Khrung der ( 'oelibatäre, Paederasteu. Tribaden, Ma stur bauten, kurz aller gesclnvorenen Feinde der Fortpflanzung. Auch der Mörder muss belohnt werden ! Sechstens einfache Wegnahme aller U-'bensniitel. (Justine XV, 280— :iy3.)

Der berühmte „Essay on the priiiciple of pojjii- lalion" von TU. 11. Malthufl erschien zum ersten Alaie 179S in I^ndon. Der Marquis de Sade, der gleich Maltlius die Gefahren der Uebervölkerung schildert, kann also als ein Vorläufer desselben gelten. Indessen haben schon die französischen Physiokraten wie Q u e a n a y in seinen „Maximes gcnerales" und Mirabeau in der „Philosophie rurale" und im ,,Ami dos hommes" sich mit den Problemen der Populatio- uiütik beschäftigt und ähnliche Ideen wie Malthus ent- wickelt,') wenn diesem auch das grosse Verdienst ge- bührt, in einer Spcüialarbeit über die Theorie der Be-


1 ) W. K ■> Stuttgart !892.


„S}-«1


n der Vulkswirtstliuff -20. AufltiKe


— 422 —

völkerungslehre diese zuerst formuliert zu haben und ein Werk zu schaffen, das „in den Mittelpunkt der Jfationalökononiik hinableuchtete, ja ihre Untiefen erst aufgedeckt liat/* ^) Jedenfalls hat auch der Marquis de S a d e dieser wichtigen Frage ein lebhaftes Inter- esse taitgegengebracht. Dass er nicht blos Personen geschildert hat, die Praeventiv- und sogar positiv destruktiven Maasregeln in der Populationistik das Wort reden, beweist Zame in „Aline et Valcour", der den Incest und die Paederastio verbietet, die Klöster auf hel)t, indem er die Nonne mit dem Paederasten ver- gleicht, die beide „frustrent la societe**. Auch sorgt er für Findel- und Waisenhäuser und unterdrückt den sicli breitmachenden Egoismus.")

Seine Theorien des Verbrechens, welche mit den malthusiauischen Ideen aufs engste zusaumienhängen, hat der Marquis de S a d e an ver- schiedenen Stellen seiner Hauptwerke entwickelt, am ausführlichst-en aber in der ,, Philosophie dans le Bou- doir'*, wo er Dolmance dieselben aus einer im Palais Royal gekauften Broschüre vorlesen lässt. In „Justine" erklärt Bre^sac das Verbrechen überbaupt für eine Chimäre. Denn ein Mord verändert nur die Form der Materie, vernichtet diese letztere aber nicht. Nichts geht verloren in der Natur. Auch sind ja alle Hand-


1) H. Eisenhart „(»oschichte der Nationalökonomik" 2. Auflage. Jena 1891. S. 80.

'-) Ma rc i a t a. a. O. 8 224 — Wie sehr das Bevölkerungs- probleni die Mensehen des 18. Jahrhunderts beschäftigte, be- weisen auch die bekannten Anfan^jf^worte des im Jahre 1766 er- chienenen „Vicar of Wakefield" von Oliver Uoldsmith: „Meine Meinung war stets, ein wackerer Mann, der sieh ver- heiratet und eine hübsche Nachkommenschaft auf erzieht, leiste der Gesellschaft grössere Dienste, als einer, der ledig bleibt und blos von der Bevölkerung plaudert".


— 423 —

lungen von der JN^atur eingegeben und daher keine Sünde. (Justine 1, 209 ff.) — Noch anders begründet Delbene die Notwendigkeit des Verbrechens. Die Natur hat die Menschen verschieden schön und stark u. s. w. gemacht. Daher will sie auch verschie- dene Schicksale derselben, und es wird von ihr be- stimmt, dass die Einen glücklich werden, die Anderen unglücklich. Letztere sollen von den Glücklichen ge- quält und gefoltert werden. Das Verbrechen liegt also im „Plane der Natur" und ist ihr so nötig wie Krieg, Pest und Hungersnot. (Juliette I, 176.) Noirceuil findet das ganze Geheimnis der Civilisation da- rin, dass die Schurken und Schlauen sich bereichern, die Duumien unterdrückt werden. Der Schwache ist A'ou X a t u r schwach und dem Starken auf Gnade und Ungnade preisgegeben. Man handelt also gegen die Natur, wenn man als Starker dem Schwachen hilft, statt ihn zu quälen und zu vernichten (Juliette I, 311—312).

Tu dor „Philosophie dans le Boudoir" (II, S. 77 ff) werden die Verbrechen mit dem „flambeau de la philo- sophie** analysiert. Sie können im allgemeinen auf vier verschiedene Hauptverbrechen zurückgeführt werden, auf die Verleumdung, den Diebstahl, die Sittlichkeitsverbrechen und den Mord.

Die V c r 1 e u m d u n g trifft entweder einen schlechten oder einen tugendhaften Menschen. Im ersten Falle liegt nicht viel daran, ob man über ihn etwas mehr oder weniger Schlimmes sagt. Einem tugendliaften Menschen hingegen schadet sie nicht, und das Gift des Verleumders wird auf ihn selbst zurück- fallen. Die Verleumdung dient sogar als ein läutern- des und rechtfertigendes Mittel. Denn durch sie wird die Tugend erst ins rechte Licht gesetzt. Dem Ver-


— 424 —

letuiideten muss nämlich daran gelegen sein, die Ver- leumdung zu widerlegen, und seine tugendhaften Hand- lungen werden dann weltbekannt. Ein Verleumder ist also nicht gefährlich im sozialen Leben. Denn er dient als Mittel, um sowohl die Laster der schlechten Men- schen als auch die Tugenden der guten ans Licht zu fördern, darf somit nicht bestraft werden. (Phil, dans le Boud. II, 78—81.)

Der Diebstahl war zu allen Zeiten erlaubt und wurde sogar belohnt, z. B. in Sparta. Andere Völker haben ihn als eine kriegerische Tugend betrachtet. Es ist gewiss, dass er ^lut, Stärke und Geschicklichkeit erheischt, also für eine Ilepublik sehr notwendige Tugenden. Es hat sogar Völker gegeben, wo der B e - s t o h 1 e n e bestraft wurde, weil er sein Eigentum nicht wohl verwahrte. ( ! I ) Es ist ungerecht, den Besitz durch ein Gesetz zu sanctionieren, da hierdurch allen Verbrechern die Thüren geöffnet werden, welche den Menschen dazu verleiten, sich diesen Besitz zu sichern.^) Viel vernünftiger wäre es, den Bestohlenen zu züch- tigen als den Dieb. fPhil. dans le Boud. II, 81—84.) Xach Dorval, diesem grossen Diebe und Theoretiker seines Berufes, ist die Macht die erste L'rsache des Diebstahls. Der Mächtige bestiehlt den Schwächereu. So will es die Natur. Die (iesetze gegen den Dieb- stahl sind ungültiges Menschenwerk. Man stiehlt jetzt „juridiquement. Die Justiz stiehlt, indem sie sich ihn» Keclitsprochuug bezahlen lässt, die eigentlich um- sonst dargeboten werden sollte. Der Priester stiehlt, indem er sieh für seine Vermittehing zwischen Goft


1) Hier spricht S a d c also von deui ^'orbrechon als einem Verbrechen, nachdem er es vorher für eine naturgeniässe und nützliche Handlung erklärt hat.


— 425 —

lind Mensch bezahlen lässt. Der Kaufmann stiehlt, in- dem er Ware weit über den reellen Wert verkauft. Die Souveräne stehlen durch die Auferlegung von Steuern. Dann giebt Dorval eine Geschichte des Dieb- stahls bei den verschiedenen Völkern und schliesst mit der Erklärung, dass gegen Ende der Regierung L u i - w i g ' s XIV. das Volk 750 Millionen Steuern jährlich bezahlte, wovon nur 250 Millionen in die Staatskasse gelangten. Folglich sind 500 Millionen gestohlen wor- den ! (Juliette I, 203—222.)

A leide Bonneau macht darauf aufmerksam, dass Proudhon in seinem berühmten Buche „La Propriete, c'est le vol" fast genau dieselben Ansichten über den Diebstahl, wie Dorval bei S a d e , entwickelt. Proudhon zählt sogar 15 Arten des „juristischen"^ Diebstahls auf.^) Im 18. Jahrhundert waren diese Ideen häufig, wie Röscher ausführlich darlegt.")

Auch die Sittlichkeits verbrechen müssen in einem republikanischen Staate als ganz gleichgültig betrachtet werden, da diesem nichts daran liegen kann, ob seine Bürger keusch sind oder nicht.

Die Schamhaftigkeit ist ein Produkt der Civilisation, vor allem der Koketterie der Frauen, denen auch die Kleidung viel mehr zu danken ist als <ler Ungunst der Witterung u. s. w. Viele Völker <relien noch heute nackt, ohne unsittlich zu sein. Im (regeiiteil entsiftlicht die Kleidung durch Erregung von Begierden, Reize zu sehen, die durch sie versteckt werden, von denen man kaum Notiz nehme, wenn sie imbedeckt wären. Die P r o s t i t u ti o n ist die natür-


1) „La curiosit6 liti^raire et bibliographique'^ Troisidme ^^rie. Paris 1882. Ö. 139—142.

2) W. Röscher a. a. O. S. 192 ff.


— 426 -

liehe folge der Sittlichkeitsgesetze. Sie wird deshalb als eine Schande betrachtet, weil die Prostituierten für die Genüsse, die sie den Männern bieten, die sie aber auch selber empfinden, Geschenke annehmen. Dann ist die Ehe auch Prostitution. Denn der Mann be- kommt in den meisten Fällen nur dann eine Frau, wenn er sie zu erhalten im Stande ist. Ebenso, wie wir allen ilännern das Recht zum Genüsse einräumen, müssen wir es auch den Weibern geben, da ohnehin im Naturzustände der Menschheit die Weiber allen Männern gehören, ebenso wie dies im Tierreich der Fall ist. Ausserdem wird das Weib mit einem bren- nenden Hang zum Genuss geboren. Die Folgen einer »solchen Freiheit, Kinder ohne Väter, sind in einer liepublik nicht nachteilig; denn alle Menschen haben eine gemeinschaftliche Mutter, das Vaterland ( ! !). Die Fi^^iheit des Genusses muss dem Mädchen vom zarte- sten Alter gestattet werden. Durch Liebesgenüsse wer- den die Weiber ausserordentlich verschönert. (!!)

Der Ehebruch ist eine Tugend. Es giebt nichts Naturwidrigeres als die „Ewigkeit" der ehelichen Bande. Dies ist das drückendste, was es gicbt. Die Nützlichkeit des Ehebruchs wird durch zahlreiche ethnologische Beispiele bewiesen.

Ebenso ist die Blutschande, der I n c e s t eine Tugend! Sie „dehnt die Freiheit aus" und schärft die vor^vandtscliaftliche Liebe ( ! !). Die Urinstitutio- nen waren sogar der Blutschande günstig. Man findet sie überall beim Ursprung des „Gesellschafts- Ver- trages". Wiederum werden zahlreiche ethnologische Beweise dafür beigebracht. — Diese Sitte müsste sogar zum Gesetz (!!!) gemacht werden, weil hier die „B^* derlichkeit" als Basis dient. Wie konnten auch die


— 427 —

ilenächen so einfültig sein, gerade; deneu, die berufen sindj einauder am meisten zu lieben, dies nicht zu ge- stalten. Die Gemeinschaft der Weiber schliesst, natiir- licherweiae aiieh die Blutschande in sich-

Die Notzucht ist ebenfalle kein Verbrechen lind ÄOß;ar weniger schädlich als der Diebstahl. Denn dieser raubt das Eigentum, während jene ea nur ver- schlechtert. Ausserdem begeht der Notzüchter eine Handlung, die friiher oder später mittelst einer kirch- lichen Sanction doch von einem Anderen begangen worden wäre.

Itie P a e d e r a s t i e zu bestrafen, ist eine Bar- barei, da eine ,,Abnormitüt des Geschmackes" kein Verbrechen sein kann. Ebensowenig ist die Tri- badie ein Laster. Beide Gewohnheiten standen bei den Alten in hoher Achtung, Die Paederastie insbe- sondere war stets hei kriegerischen Völkern im Schwange, da sie Mut und Tapferkeit cinflösst. (Phil. dan- le Eoud. 11, 84—114.)

Endlieh ist als vierte Gattung der sogenannten und augeblichen „Verbrechen" der Mord zu untersuchen, und zwar muss man fragen, ob diese Handlung In Be- zug auf die Naturgesetze und auf die politischen Ge- setze, ob sie der Gesellschaft schädlich ist, wie sie unter einer republikanischen Regierimg betrachtet werden muss. und oh der Mord durch einen Mord gerächt wer- den soll.

Vom Standpunkt der Natur ist der Mord kein Ver- brechi-n. Denn zwischen den Menschen, den Pflanzen und den Tieren existiert kein Unterschied. Denn auch der Mensch wird geboren, er wachst, vermehrt sich, stii4)t ah und wird zu Staub und Asche nach einiger Zeit, zufolge seiner orgauisehen Besch.iffenbeit. Es


— 428 —

wäre also ein ebenso grosses Verbreclieii, ein Tier zu töten, denn nur unsere Eitelkeit hat einen Unterschied erfunden. Von welchem Werte kann überhaupt ein Geschöpf sein, welches zu schaffen die Xatur keine Mühe kostet? Auch sind die schaffenden Stoffe der Natur gerade diejenigen, die aus der Auflösung anderer Körper hei'vorgehen. Die Vernichtung ist ein Xatur- gesetz, ist aber nur eine Veränderung der Form, der Uebergang von einer Existenz zur andern, die Metem- psychose des Pythagoras. Also ist das Töten kein Ver- brechen, da eine Veränderung keine Ver- nichtung ist. Sobald ein Tier zu leben aufhört, bilden sich aus demselben sofort kleinere Tiere. ( !) Daher ist es sehr vernunftgemäss, zu behaupten, dass die Hülfe, die wir der Natur in der Veränderung der Form leisten, ihre Zwecke fördert. Es sind Natur- triebe, dass der Mensch den anderen töte, wie die Pest, die Hungersnot und die Elementarereignisse. Nur die Natur hat uns den Hass, die Hache, den Krieg gegeben. Mithin ist der Mord kein Verbrechen gegen die Natur.

Auch ist er ein grosser Faktor in der Politik. Durch Morde wurde Frankreich frei. Was ist der Krieg? Eine Wissenschaft des Verderbens. Sonderbar, die Menschen lehren die Kimst des Ermordens öffent- lich, belohnen diejenigen, die ihre Feinde töten, und verdammen den Mord doch als Verbrechen.

In sozialer Hinsicht ist der Mord ebenfalls kein Verbrechen. Was liegt der Gesellschaft an einem ein- zelnen Mitgliede? Der Tod eines Menschen übt keiner- lei Einfluss auf die ganze Volksmasse. Selbst wenn drei Viertel der Menschen ausstürben, ^^ürde keine Aenderung im Zustande der Uebn«rcrebliebenen ein- treten.


— 429 —

Wie miiss ein Mord im kriegerischen und republi- kanischen Staate betrachtet werden? Eine Nation, die das Joch der Tyrannei abwirft, um die Republik ein- zuführen, wird sich nur durch Verbrechen behaupten. Alle intellectuellen Ideen sind in einer Republik der „Physik der Natur*' unterworfen, und so geben sich ge- rade die freiesten Völker dem Morde am meisten hin. Hierfür führt S a d e zahlreiche Beispiele an. Z. B. wirft man in China die Kinder, die man nicht behalten will, ins Wasser, und der berühmte Reisende D u h a 1 d e giebt die Zahl <ler täglich so Ausgesetzten auf mehr als r>0 000 an! Ist es nicht sehr weise, der stets' wachsenden Zahl der Mensehen in einer Republik Dämme entgegc^nzusetzen? In Monarchien muss die Be- völkornng begünstigt werden, weil die Tyrannen nur durch die Zahl der Einwohner reich werden können. Revolutionen sind nichts anderes als die Wirkung der I"eb(* r völkerung.

Der Mord darf nicht durch einen Mord gerächt werden. ,,Icli begnadige Dich", sagte L u d w i g XV. zu ( ' h a r o 1 a i s , der einen Menschen zur Unterhal- tung- tötete, „doch begnadige ich aucli denjenigen, der Dich t()ten wird*'. Die ganze Basis des Gesetzes gegen die Aliu'der liegt in diesen „erhabenen'* Worten. Da iler Mnrd kein Verbrechen ist, kann man Um nicht be- strafen.

1 )iese vom Marquis de S a d e entwickelten Ideen entspringen keineswegs dem Gehirn eines Wahnsinni- gen. Es sind ganz ähnliche Ideen von den fiTi'osson Terroristen der ersten französisclien Revolution entwickelt worden. Es spricht sich in ihnen jene „starke Er- schütterung, wohl gar Verwirrung des öffentlichen


Rechtsgefühls durch Revolutionen" aus.') Es ist bemerkenswert, daas der Marquis de Sade in seinen vorrevolutionären Schriften wie „Äline et Val- cour" dem Diebstahl und Morde keine oder doch nur eine geringe Rolle eingeräumt hat, während unter den Eindrücken der Revolution beide in sein System der sexuellen Theorien aufgenommen wurden.


>) w. :


.. 0. S. 185.


IV. Theorie und Geschichte des Sadismus.

1. Wollust und Grausamkeit.

Der sehr bekannte Zusammenhang zwischen Woll- lust und Grausamkeit ist nach dem Marquis de S a d e kein unmittelbarer. Zuerst ist die Wollust da. Diese erstickt zunächst das Mitleid im Menschen, macht das Herz hart und gefühllos. (Juliette I, 148.) Zugleich aber bedarf der in der Wollust ganz auf- gehende Mensch immer stärkerer Reize, um befriedigt zu werden. Die Nervenmasse muss durch einen sehr starken Schlag aufgerüttelt und erschüttert werden. Es ist aber unzweifelhaft, dass der Schmerz die Nerven heftiger angreift, als die Freude und daher dieselben lebhafter erregt. Der Schmerz Anderer er- zeugt in dem Wüstling eine angenehme Empfindung. Die Natur spricht uns niemals von Anderen, sondern nur von uns. Es giebt nichts Egoistischeres als ihre Stimme. Sie preist uns das Suchen der Lust an, und es ist ihr einerlei, ob dies Anderen angenehm ist oder nicht.


— 432 —

j)ies€s Gefühl des Vergnügens an Grausamkeit, , welches bei dem Wollüstigen, dessen Herz hart gewor- den ist, besonders hervortritt, ist ein angebornes. Das Kind zerbricht sein Spielzeug, beisst in die Brust seiner Säugararae, erdrosselt den Vogel. Die Grausamkeit ist keine Folge der Entartung, da sie bei wilden Völkern besonders hervortritt. Sic ist nichts anderes als die Energie des Mannes, den Civil isation noch nicht ver- dorben hat, also eher eine Tugend als ein Laster.

Die Grausamkeit der Frauen ist viel intensiver als diejenige der Männer, eine Folge der grösseren Energie und Empfindlichkeit ihrer Organe. Die überspannte Einbildungskraft macht sie wütend und verbreche- risch. Wollt Ihr sie kennen lernen? Kündigt ihnen ein grausames Schauspiel an, ein Duell, eine Hinrichtung, einen Brand, eine Schlacht, einen Gladiatorenkampf, und Ihr werdet sehen, wie sie herzuströmen. Weitere Beweise für die wollüstige Grausamkeit der Weiber liefert ihre Vorliebe für den Giftmord und die Flagel- lation.

Unser Nervensystem ist einmal so wunderbar ein- gerichtet, dass uns Verzernmgen, Zuckungen, Blutver- giessen aufregt, mithin angenehm ist. Sogar Personen, die beim Anblick des Blutes, einerlei ob es ihr eigenes oder das einer fremden Person ist, in Ohnmacht fallen, fühlen dies. Es ist nämlich erwiesen, dass eine Ohn- macht die höchste Potenz der Wollust ist. (Phil, dans le Boudoir I, US— 1.58, Juliette II, 04 — 102.)


2. Anthropophagie und Hypochorematophilie.

Das Menschenfleisch ist für den Wüstling die beste Nahrung, da es die Bildung eines reichlichen und guten


— 433 —

Sperma befördert und für schnellen Ersatz des ver- loren sorgt. Wer einmal diese süsse Speisse genossen hat, kann von ihr nicht mehr lassen. Dagegen ist Brot die unverdaulichste und ungesundeste Nahrung, welche erschlafft und den Körper zerrüttet. Daher füttern Tyrannen ihr sklavisches Volk mit Wasser und Brot (Juliette ü, 323 ff). Auch Minski schreibt dem Genüsse von Menschenfleisch eine aussergewöhnliche Kraft zu (Juliette HI, 313).

Eng verbunden mit dieser Anthroprophagie ist der Anblick, die Aneignung und der Genuss a b g e - trennterKörperteile, eine Art von anthro- pophagischem Fetischismus. So werden die Gesässe der bei den Orgien getöteten Personen abgeschnitten und zum Zwecke wollüstiger Erregung aufgehängt (Juliette II, 231)^). Die Silvia zerreisst die Genitalien ihrer Opfer mit den Zähnen und isst sie (Juliette VT, 235). Ebenso benutzt Clairwil das abge- schnittene Membrum des Mönches Claude zu wollüsti- gen Zwecken (Juliette III, 101) und erklärt, dass sie somper ]>enem videat, den sie, nisi habeat in cunno vel ano, doch so sehr in ihrer Phantasie habe, dass sie glaubt, dass man ihn nach ihrem Tode wirklich in ihrem Gehirne finden wird! (Juliette III, 154.) Dieses antliropophagische Weib trinkt das Blut und isst die Testikel der von ihr getöteten Knaben (Juliette III, 72). Auch reisst sie das Herz derselben heraus und gebraucht es als Phallus (Juliette HI, 252)^). Auch

1 ) Der heilige Hieronymus schildert als Augenzeuge, dass die Atticoten in Britannien sich von Mcnschenfleisch nähr- ten und den Busen der Weiber und den Hintern als besondere Leckerbissen genossen. (R. A n d r e e , „Die Anthropophagie". Leipzig 1887. S. 14.)

2) Bei den Menschenopfern der alten Mexikaner wurde zu- erst das Herz den lebenden Opfern aus der Brust herausgerisfien. (R. Andre e a. a. O. S. 74.)

D Uhren. Stadien L Der Marquis de Sade. 28


— 434 —

Minski, die Räuber des Brisa-Testa, Cornaro sind Anthropophagen (Juliette III, 313; V, 206; VI, 204).

Kinnibalisehe Gelüste gehörten nach Bettel- h e i m offenbar zu dem Bestand der Ilachesch\\üre des 18. Jahrhunderts. Der Herzog von Chaulnes, der wegen einer Liebesaffäre mit Beaumarchais in Streit geriet, übrigens bei anderer Gelegenheit seine eigene Mutter aufs gröblichste beschimpfte, brüllte mit entsetzlicher Stimme: „Ich werde diesen Beaumar- chais töten, und wenn ich ihm erst den Degen in den Leib gerannt und das Herz mit den Zähnen ausgerissen haben werde, mag diese Mesuard sehen, was aus ihr wird." In der ersten Fassung des Goethe 'sehen „Clavigo" heisst es ebenfalls:

„Meine Zähne gelüstet's nach seinem Fleische, meinen Gaumen nach seinem Blute u. s. w.^)

Die Hypochorematophilie^) spielt eben- falls bei S a d e eine grosse Rolle. Saint-Florent und Rodin finden grosse Befriedigung in der Beobachtung des Aktes der Defaecation (Justine I, 136 und 304). Mondor, Saint-Fond und viele andere sind Kotfresser. Der Gatte der St.-Ange lässt sich in os defaecieren. (Phil, dans le Boud. I, 92.) Dass auch diese liebliche Eigenschaft nicht vielleicht etwas Erbliches ist, sondern von abgelebten Wüstlingen, wie ja z. B. der 66jährige Mondor einer ist, als letztes Reizmittel in Anwendung gezogen wird, kaim man aus den mehr als merkwür- digen Worten der Juliette schli^säen. Sie sagt: „Man täuscht sich im allgemeinen über die Entleerungen des


i)A. Bettelheim „Beaumarchais". Frankfurt a. M. 1886. S. 176 und 207.

2) So bezeichnen wir den Kotfetischismus und die Leiden- schaft, Kot zu essen, nach dem griechischen Wort rd hnox^t^gfifta = Kot.


— 435 —

Caput mortuum unserer Verdauungsorgane. Sie sind nicht ungesund, sondern sogar sehr angenehm. Es wohnt in ihnen derselbe Spiritus rector wie in allen übrigen Körperbestandteilen. An nichts gewöhnt man sich so leicht als an den Geruch des Kotes. Ihn zu essen, ist deliciös! C'est absolument la saveur piquante de l'olive. Man muss allerdings zu- erst ein wenig die Imagination nach dieser Kichtung hin beeinflussen! Aber wenn man so weit ist, so ist es ein höchst wonnevoller und aufregender Genuss." (Juliette I, 289.) Die sexu- elle Hypochorematophilie hat mit dem Kotschmieren der Geisteskranken nichts zu thun. Ja, gerade diese seltsame und ekelerregende Monomanie bildet den besten Beweis für unsere Anschauung, dass alle diese Dinge bei Geistesgesunden vorkommen können, wie ja auch aus den Ausführungen S a d e s hervor- geht. Nach T a X i 1 bilden die „stercoraires", wie man sie nennt, nicht mehr eine Ausnahmeerscheinung. „In den öffentlichen Häusern sind zu diesem Zwecke beson- dere Vorrichtungen getroffen, und gesunde jimge Leute wiederholen aus Nachahmungstrieb die krankhaften Handlungen schwachsinniger Subjekte, die einst durch ihr unmässiges Leben sich berühmt ge- macht hatten." ^)


3. Weitere sexualpathologische Typen bei Sade.

Schon vor R. v. Krafft-Ebing gebührt ohnp Zweifel dem Marquis de Sade das Verdienst, fast alle sexualpathologischen Typen, die es giebt,


1) B. Tarnowsky „Die krankhaften ErBcheinungen des Geschlechtssinnes Berlin 1886 8. 70.

28*


— 436 —

in seinen Bomanen zusammengestellt zu haben. Es ist kein Zweifel, dass diese grosse Mannigfaltigkeit der von ihm geschilderten sexuellen Perversionen, die genaue Individualisierung der einzelnen Typen auf der aus dem Leben schöpfenden Beobachtung beruht.

Sämtliche Sinne dienen bei Sade der Erre- gung sexueller Gefühle. Beginnen wir mit dem Ge- hör. Es giebt auch einen Wort-Sadismus! Es ist nach DoLmance angenehm und aufregend, stark tönende Worte von unflätiger Bedeu- tung im Rausche der Wollust auszusprechen, weil sie die Einbildungskraft steigern. Man spare sie also nicht, sondern variire sie ins Unendliche, damit sie um so mehr Skandal erregen. Es verursacht eine ganz eigene Wonne, wenn man in Gegenwart tugendhafter Leute sich durch Fluchen Luft machen kann, wenn man sie zu demoralisieren vermag, zu ähnlichen Aeusserungen verführt und, wenn sie nicht gutwillig hören wollen, sie fasst und zwingt, es zu thun. (Phil, dans le Boud. I, 146 — ^147.) So ruft Madame St.- Ange inmitten einer Orgie erfreut aus: Comme tu blasphemes, mon ami, imd schreit bei derselben Ge- legenheit der stummen Eugenie zu: Jure donc, petite putain, jure donc! (Phil, dans le Boud. I, 125 und 129.)

Das Gesicht nimmt ebenfalls Teil an dem sexuel- len Genüsse. Alberti liebt es, schwarze Frauen neben weissen zu sehen, weil dieser Contrast ihn besonders ergötzt. (Juliette VI, 238.) Grosser Wert wird auf die zweckentsprechende Drapierung der Zimmer gelegt, damit alles dazu beitrage, den Genuss zu erhöhen (Juliette n, 231). Die „Voyeurs" sind ebenfalls zahl- reich vertreten. Saint-Fond besitzt wie kein anderer „die Kunst, seine Leidenschaften durch eine industriöse


437


r Abstinenz aufzuBtiioheln" und sielit daher eine Zeit lang dem Coitua anderer zu. (JuUette II, 185.) Auch Ilaimondi ist ein solcher Voyeur, der mit dem blossen Zusehen sich begnügt. (Juliette VI, 150.)

Der Geruchasinn wird zunächst durch die iiumnigfaltigaten Parfüms, deren sich die Weiber be- dienen, erregt. In der „Gesellschaft der Freunde des Verbrechens" werden alle Teilnehmer der Orgien von jungen Mädchen und Knaben gereinigt und parfümiert (Juliette ni, 30)'). Das Beriechen der weiblichen Achseln kommt öfter vor (z. B. Juliette HI, 54), eben- so der Faeces (ibidem). Ein Bischof lässt sich auf die Nase urinieren (Jiiliette III, 51).')

Der Geschmack findet auch sein Recht. Nicht nur die Faeces sind deliciös, auch Sperma und Urin werden verachlimgen (Juliette I, 172). Die ,,rj6cheurs" und .jGaraahucheurs" gehören ebenfalls zu dieser Kate- gorie (z. B. Juliette III, 55; VI, 152), sowie die zahl- reichen tribadi sehen Cunnilingiiae. Insbesondere ist Dolmance nach dieser Itichtung hin sehr thätig.

Der Tastsinn wird fast stets zuerst als Vorbe- reitungamittel zu einer Orgie benutzt, indem man ihm durch „täter" und „ciaquer" der verschiedenen Körper-


I) Uabelais schildert in «einer „Gargitatua" dn „weit- licheH Kloxter", in dem vor den Zimmern der Frauen Eaarauf- putzet und ParfUmeure atel>«i, „durch deren USnde die MHuhbf gingen, wenn sie die Frauen besuchen wollten" und die zugleich alle Morgen die Zimmer mit wohlriechenden Kamazea be^preogten. (F. E. Schneegan«. .J)ic Abtei ThSltme in Rabelais' Gatg»n- tua". Neue Heidelb, Jahrbücher. Heidelberg 1808. Bd. Vin, S. 143— lÖB). Vielleicht iat der Name des Paters ThSleiiie im ersten Band der .JuUette*' diesem Kloster entlehnt.

= ) Vgl. aueh den „Er^njwngsband" ; Ungen, Dr. Alb. „Die sexuelle Osphresiologle. Die Begehungen des Geruchssinne» und der Gertlche zur menBchllchen GoBchleehtsthiltiKkeit". der dietctj Thema iTgiebig behandelt. Cliarluttb. IIWI. Vcrlug >ou H, Borndorf. — 2. ÄuH. Berlin 1900.


— 438 —

teile, indbesondere der Nates, eine Befriedigang ver- schafft.

Aus der bunten Fiüle der übrigen sexuellen Per- versitäten^ die ja zum grössten Teile bereits erwähnt wurden, heben wir nur die bemerkenswertesten heraus. — Den Exhibitionismus predigt Dolmanoe, indem er Eugenie dazu anhält, schamlos ihre Heize vor aller Welt zu enthüllen, die Kleider aufzuheben u, s. w. (Phil, dans le Boud. I, 147.) Saint-Fond empfiehlt sogar Männern und Frauen Kleider, welche die Qe- schlf'chtsteile und das Gesäss freilassen (Juliette H, 197). Die Befriedigung grausamer Grelüste findet auf die verschiedenste Weise statt: durch Köpfen, Vierteilen, Rädern, Feuer, Zerschmettern zwischen zwei Platten, wilde Tiere, Erhängen, Kreuzigung u. s. w. Don-al lässt eine Schein-Hinrichtung voll- ziehen (Juliette I, 225 — 230). Ein Anderer wieder empfindet es als besonderen Genuss, an sich selbst eine solche Schein-Hinrichtung vornehmen zu lassen, eine Art von symbolischem Masochismus. Auch die Folter wird in Anwendung gezogen (Juliette m, 66), und Juliette zersticht ihre Opfer mit Nadeln (Juliette H, 285). Die aktive und passive Flagellation kommt un- gemein häufig vor, sogar in einem eignen „Saal der Geisselung'* (Juliette III, 65). Zu diesen grausamen Gk^lüsten gehört auch die Monomanie des Venaesecie- rens \m<l der Incisionen (Justine III, 223).

Die Z o o p h i 1 i e wird von S a d e als sexuelles Rnffinemont lioehge priesen. „Der Truthahn ist deli- ciös, aber man mus ihm den Hals im Augenblick der Krisis abschneiden. Le resserrement de son boyau vous comble alors la volupte'^ (Juliette I, 333). Der Trut- hahn vereinigt sich im vierten Bande der Juliette mit einem Affen, einer Ziege und einer Dogge, um die


sexuellen i'eioschxiiecker zu ergölzen. l_J\iliette IV, M-2.)

i-'erdinaiKi von Neapel ist Kekropbile, er be- friedigt sich an der Leiche eines Pagen. (Juliette V, !263.) Sogar die Statuensohändung wird er- wähnt. Ein Page befriedigt sich im Louvre an di;r Veuuä Kallipyge. (Juliette 1, 333. J

KDdlich erhöht die Verwirklichung bizarrer Einfälle den sexuellen Geniiss. Beimor bindet seine Opfer fest (Jiiliette LEI, 163), der König von Sar- dinien liebt das Klvatieren (ib. m, 294), das auch noch an einer andei-en Stelle als besonderes Reizmittel vor- kommt (III, 54), Vespoti liebt besonders Irrsinnige (Jul. V, 345), ein venezianischer Prokurator Menstru- ierende (ib. VI, 147), ein Dritter die Depilation der Genitalien (Jul. II, 59), ein Vierter steckt brennende lichter in die Körperöffnungen (Jul. II, 22), Delbene giebt sich auf den Särgen früherer Opfer hin (Jul. I, 172) u. s, w. u. s. w.

Seltsame Naturerzeugnisse und Naturerscheinungen dienen der Wollust. Ein Eunuch, ein Zwerg und ein Hermaphrodit liefern aus- erlesene Genüsse (Juliette IV, 262). Der Anblick grosser Brände erregt die Sinne, (ib. IV, 258.) Der Ausbruch des Aetna (Justine III, 67). des Vesuvs (Jul. VT. 35), der Sturm auf offenem Meere (Juliette VT. 269) verschaffen sexuelle Genüsse,

Auch geKchichtliche Erinnerungen werden im selben Sinne verwertet. Man ahmt die Thaten des T i b e r i u s , des Nero und der Theo- dors nach (Juliette V, 362; VI, 319 und 341); man feiert Orgien auf den historisch denkwürdigen Stätten von Pompeji und Herculanmn (Jul. V, 340 — 341), im Venustempel zu Bajae (fb. V, 294) u. s. w.


— 440 —

4. Versuch einer Aufstellung von erotischen

Individualitäten.

Sehr bemerkenswert in psychiatrischer und anthro- pologischer Beziehung ist der Versuch des Marquis d e S a d e , die einzelnen Neigungen der Personen in seinen Romanen aus ihrer körperlichen Be- schaffenheit abzuleiten. Als Beispiel geben wir die Schilderung des Geschwisterpaares Rodin und Coelestine.

„Rodin war ein Mann von 36 Jahren, brünett, mit dichten Augenbrauen, lebhaftem Auge, heroischer Miene, hohem Wuchs. Sein ganzes Wesen atmete Ge- sundheit, aber gleichzeitig Wollust. Membrum erec- tum valde durum erat." (Justine I, 252.)

Noch interessanter ist die Beschreibung des Mann- weibes Coelestine. „Coelestine, die 30jährige Schwester Rodin's, war gross, mager, wohl gewachsen, hatte die ausdrucksvollsten Augen \md die allersinnliehste Physiognomie. Sie war brünett, sehr behaart, hatte clitoridem perlongam, anuni virilem, Avenig Busen, ein leidenschaftliches Temperament, viel Boshaftigkeit und Wollust. Sie besass ,,tous les goüts", besonders die Vorliebe für Frauen und gab sieh den Männer nur als Pathica hin^'. (Justine I, 253.)

Wie man sieht, schildert der Marquis de S ad e die Coelestine als sehr behaart. Genau dieselbe Eigenschaft legt T a r d i e n den erotisch besonders stark veranlagten Frauen bei. Auch er spricht von einer „abondance du Systeme pileux'S ferner von dem besonderen Glänze der Augen, dem wollüstigen Blicke (flamme brülante du regard), den dicken roten Lippen und einer auffälligen starken Entwickelung der Brüste und Geschlechtsteile. Der von Satyriasis ergriffene


— 441 —

Mann zeichnet sich nach T a r d i e u durch einen starren, gierigen Blick ans, hat blutunterlaufene Augen, einen wollüstigen Mund, blasse Greeichtsfarbe, indecente Manieren und nimmt eine herausfordernde Haltung an/)


5. Sorgfalt im Arrangement obscöner Gruppen.

Da an den Orgien in den ßomanen des Marquis de S a d e stets zahlreiche Personen teilnehmen, so erwächst den Leitern derselben eine besondere Auf- gabe und auch ein sexueller Genuss daraus, jeder ein- zelnen Person ihre Eolle vorzuschreiben, die von ihr einzunehmende Stellung und die auszuführenden sexu- ellen Handlungen vorherzubestimmen. Delbene sagt: Bringen wir ein wenig Ordnung in unsere Vergnü- gungen. Man geniesst dieselben besser, indem man sie vorher fixirt (Juliette I, 6). Auch die Tribade Zanetti ist sehr erfahren in der Bildung solcher obscöner Gruppen (Juliette VI, 160). In der „Philosophie dans le Boudoir", diesem Lehrbuche des Sexualgenusses, werden natürlich der Schülerin Eugenie von Madame St.-Ange und insbesondere von Dolmance diese Arrangements ausführlich eröffnet. Madame de St.- Ange führt dann Eugenie in eine Nische, deren Wände aus Spiegelglas bestehen und die „die verschiedenen Stellungen tausendfach wiederholen und so die eigenen Genüsse den Augen der auf einer Ottomane sich ihnen Hingebenden recht deutlich machen, da kein Körper- teil auf diese Weise verborgen bleibt. So erblicken die Liebenden lauter ähnliche Gruppen und Nachahmer


1) P. G a r n i e r „Onanisme" 6. Auflage. Paris 1888 8. 7^—77.


— 442 —

ihrer eigenen Vei-gnügungen, lauter wunderbare Ge- mälde, der Wollust." (Philosophie dans le Boudoir I, 40.) Ein ganz besonderes Stück ist die „Caralcade", welche der lebenslustige Mönch Clement in der „Justine" ausführen lässt. Dabei dienen zwei auf allen Vieren kriechende Mädchen als Pferde. (Justine II, 201.) Aehnliche obscöne Arrangements kehren fast auf jeder Seite der „Justine" und „Juliette" wieder.


6. Das Mysterium des Lasters.

Delbene sagt: Die Laster darf man nicht unter- drücken, da sie das einzige Glück unseres Lebens sind (Juliette I, 25). Man muss sie nur mit einem solchen Mysterium umgeben, dass man niemals ertappt wird. Dieses Mysterium ist zugleich ein besonderer Reiz. Juliette wundert sich über das Schweigen und die Ruhe bei der grossen Orgie in der „Gesellschaft der Freunde des Verbrechens" und zieht daraus den Schluss, dass der Mensch nichts in der Welt so sehr achte, wie seine Leidenschaften. (Jul. III, 63.) Darum finden alle Orgien an dunklen, abgelegenen Orten statt, in einsamen Schlössern, in Höhlen, unter- irdischen Gewölben, im Walde, im Gebirge, am und auf dem Meere, in Folterkammern und Hinrichtungs- sälen. Daher wird der Anthropophage Minski zum „Einsiedler der Apenninen", der in einem wohlbefestig- ten Hause auf der Insel eines Teiches lebt (Juliette üi, 313). Für Dolmance giebt es gewisse Dinge, die „abso- lut des Schleiers bedürfen" und die er selbst vor den Augen der würdigen Madame St.-Ange verbirgt (Philosophie dans le Boudoir II, 153).


— 443 —

7. Die Lüge als Begleiterin sexueller Perversion.

Die Lüge ist zu allen Zeiten die stete Begleite- rin der Prostitution und der geschlechtlichen Aus- schweifungen jeder Art gewesen. Man darf mit Recht behaupten, dass jeder Wollüstige ein Lügner ist, und dass man sich auf die Angaben eines Wüstlings nie- mals verlassen darf. i,Die Sucht zu lügen, sagt Parent-Duchatelet, ist bei den öffentlichen Mädchen allgemein und ein Kind der immer falschen Stellung, des peinlichen Zustandes, worin sie leben, der Meinung, die man, wie sie wissen, von ihnen hegt. . . Man muss daher bei Benutzung ihrer Aussagen sehr vorsichtig sein".^) Ein anderer ausgezeichneter Kenner der Prostitution äussert sich noch schärfer: „Die Prostituierte lügt aus Hang zur Lüge, und zwar nicht nur bei vollkommen gleichgiltigen Dingen, nach denen sie gefragt wird, sie lügt selbst dort, wo es leicht ist^ sie der Unwahrheit zu überführen, sie lügt ohne Rück- sicht darauf, ob sie Jemandem dadurch Schaden zu- fügt, ja sie thut es unter Umständen selbst zu ihrem eigenen Nachteil".*)

Fast alle Helden und Heldinnen der S a d e ' sehen Romane lügen. Die Lüge ist als eine Bedingung der Aufnahme in den Club der „Gresellschaft der Freunde des Verbrechens" vorgeschrieben, und es wird denn auch bei der grossen Orgie dieses Clubs furchtbar ge- logen (Juliette m, 59). Allen diesen Wüstlingen ge- währt die Lüge sogar einen sexuellen Genuss. Zwar rühmt ?i\ch Dolmanoe seiner Wahrheitsliebe, die aber


1) P a r e n t - D u c h a t e 1 e t a. a. O. Bd. I, S. 63.

2) G. Behrend. Artikel „Prostitution" in Eulen- burg ' s „Real-Encyclopädie der gesamten Heilkunde". 3. Aufl. Berlin und Wien 1898. Bd. XIX, 8. 437.


— 444 —

mit Recht sofort von der des Lasters der Lüge über- aus kundigen Madame St.-Ange bezweifelt wird, wor- auf Dohnance lustig ervridert: „Ja wohl, ein wenig falsch und lügenhaft! Das muss doch in der heutigen Gesellschaft sein, in der man mit Leuten zusammen lebt, die uns ihre Laster verbergen und nur ihre Tugen- den zeigen. Es wäre gefährlich, freimütig zu sein. Denn dann würde man ihnen gegenüber im Nachteil sein. Die Heuchelei und die Lüge sind uns von der Gesellscha-ft auferlegt w o r d en. Niemand ist so verderbt wie ich. Und doch halten mich alle für anständig". (Philosophie dans le Boudoir H, S. 7 — 8.) Die Delmonse prokla- miert ebenfalls die Lüge als die Beschützerin der Woll- lust (Justine I, 28—29).


8. Sade's Ansicht über die Natur der sexuellen

Entartung.

Die Mehrzahl der von S a d e geschilderten sexuell perversen Persönlichkeiten fröhnt diesen Lastern aus Angewöhnung; die meisten Lüstlinge sind erst all- mählig durch Erfahrung und aus Raffinement zu diesen verschiedenen Arten unnatürlicher Wollust gekommen. Auch ist ja die Tendenz der ganzen „Philosophie dans le Boudoir" darauf gerichtet, die junge Eugenie all- mählig mit allen Lastern, auch den conträrsexualen Genüssen bekannt zu machen, und S a d e schildert mit richtiger Erkenntnis, wie diese ?fovize der Wollust alle Lehren begierig in sich aufnimmt und praktisch nachahmt. Dolmance sagt, dass die Einbildungs- kraft der Stachel des Vergnügons sei und immer neue Arten der geschlechtlichen Befriedigung erfinde.


— 445 —

(Phil, dans le Boud. I, 104.) Und nach Madame St.- Ange ist die Einbildungskraft die „caprieieuse portiere de notre esprit", Feindin aller Begel^ Anbeterin der Unordnung (ib. S. 105). Nach der sehr gelehrigen Eugenie muss man der Imagination freien Lauf lassen in Bezug auf die unnatürlichen Dinge. Dann ver- grössert sich der Gtenuss nach dem Massstabe des „Weges, den der Kopf gemacht hat" (ib. S. 109). Sehr drastisch schildert Dolmance, wie die jungen Mädchen zuerst Widerwillen gegen die Paedicatio empfinden, dann immer mehr Geschmack daran bekommen und schlieslich diese Art der sexuellen Befriedigung allen anderen vorziehen (ib. S. 131). Dolmance selbst, dieser cjnische Apostel der Paederastie, bekennt sehr frei- mütig den Grund, weshalb er Paedico geworden ist. Dieser Grund ist, wie wir schon früher sahen, ein rein — anatomischer (ib. S. 176). Der Chemiker Almani, ein Zoophile, ist durch das „Studium der Natur" ein sexuell Perverser geworden (Justine III, 67).

Nur an zwei Stellen haben wir eine Andeutung der hereditären Natur der conträren Sexual- empfindung gefunden. Clement erklärt, dass die sexuelle Perversion des Menschen eine Funktion seiner Organe sei. Daher ist der sexuell per- verse Mensch ein Kranker, er ist „wie eine hyste- rische Frau." Man kann ihn ebenso wenig bestrafen, wie man einen anderen Kranken bestraft. Denn er ist nicht Herr seiner selbst. Er ist zu beklagen, aber nicht zu tadeln. Und wenn die Anatomie noch mehr ver- vollkommnet sein wird, wird man leicht den Zusam- menhang zwischen der Organisation des Menschen und den Leidenschaften nachweisen. Was wird aus den Gesetzen, der Moral, der Religion, dem Galgen, dem Paradiese, den Göttern und der Hölle werden, wenn


— 446 —

man gezeigt haben ^vi^d, dass ein bestimmter Lauf einer Flüssigkeit, eine bestimmte Art von Fasern, ein bestimmter Graid von „Schärfe" im Blute oder den tierischen Geistern genügen, um aus einem Menschen ein Objekt der Strafe und Belohnung zu machen. (Justine II, 212 — 213.) Ebenso meint Bressac, dass der Pathicus von Natur ein Anderer sei als die übrigen Männer. Er erklärt diese Leidenschaft für angeboren und Folge einer „ganz verschiedenen Skruktur". Es wäre eine Dummheit, sie zu bestrafen (Justine I, 162 bis 364).

9. Unsere Definition des Sadismus.

Wir fassen den Begriff „Sadismus" bedeutend weiter, als dies bisher geschehen ist. Sehen wir uns also zunächst die Definitionen desselben bei anderen Autoren an.

Lacassagne erklärt den Sadismus für einen „Geisteszustand", bei welchem der Sexualtrieb erregt oder befriedigt wird unter dem Einflüsse des Zerstörungstriebe s.^)

Nach R. V. Krafft-Ebing ist der Sadismus jene Form der Perversion der Vita sexualis, bei wel- cher die Person einen sexuellen Genuss darin findet, Anderen Schmerz zuzufügen und auf Andere Gewalt auszuüben. Er stellt dem Sadismus den Masochis- mus (nach dem Schrif titeller Sacher-Masoch) gegenüber, die mit Wollust betonte Vorstellung, von einem Anderen herrisch behandelt, gedemütigt und misshandelt zu werden.^) Er betrachtet Masochismus


i)A. Lacassagne .,Vacher T^ventreur et les crimes Badiques". S. 239.

2)R. V. Krafft-Ebing „Neue Forschungen auf dem Gebiete der Psychopa thia sexualis." 2. Auflage. Stuttgart 1891. S. 1 und 46.


— 447 —

und Sadismus als die „G rundformen psycho- sexualer Perversion, die auf dem ganzen Grebiete der Verirrungen des Geschlechtstriebes an den verschiedensten Stellen zu Tage treten können." ^)

Demgegenüber macht v. Schrenck-Notzing geltend, dass zunächst der Unterschied der aktiven imd passiven Rolle in den Bomanen des Marquis de S a d e und von Sacher-Masoch nicht so scharf durch- geführt sei, wie dies v. Krafft-Ebing annimmt. Zudem kämen beide Formen der Perversion oft bei demselben Individuum vor. Er ordnete also beide Begriffe einem einzigen höheren Begriffe, der A 1 g o - lagnie (von d!Ayos= Schmerz und XdypOg = ge- schlechtlich erregt) und bezeichnet den Sadismus als aktive Algolagnie, den Masochismus als passive Algolagnie. Es giebt aber nach diesem Autor noch andere Formen der Algolagnie: die ona- nistische Algolagnie (Selbstverstümmelung, Auto- flagellantismus), die visuelle Algolagnie (geschlecht- liche Erregung beim Anblick von Prügelszenen), zoophile und bestiale Algolagnie, n e k r o - p h i 1 e Algolagnie, endlich die ideelle oder sym- bolische Algolagnie, bei welcher „der Schmerz ohne jede I^'ebenbedeutung und phantastische Ausschmück- ung um seiner selbst willen eine Rolle spielt, ohne Rücksicht auf aktive oder passive Bethätigung." ^)

T h o i n o t giebt folgende Definition des Sadis- mus: „Sadismus ist die Perversion des Sexuallebens, bei welcher der Betreffende sexuellen Genuss darin findet, Schmerzen von sehr verschiedenen


1) R. V. Krafft-Ebing a. a. O. S. 48.

2) y. Schrenck-Notzing »»Idtteraturzusammenstellung über die Psychologie und Psychopathologie der Vita sexuaÜB". (3. Forts.) Zeitschrift für Hypnotismus. Bd. 9, Heft 2. Leipzig 1899. 8. 111—112.


— 448 —

Graden einem Anderen zuzufügen, sei es, dass er selbst sie zufügt, oder zufügen 1 ä s s t oder, ohne dass er der Urheber derselben ist, dabei zuschaut. Diese leidende Person muss immer ein mensch- liches Wesen sein.^)

T h o i n o t und von Schrenck-Notzing stimmen darin überein, dass die Verbindung von Grausamkeit und Wollust der höhere Begriff ist, dem die anderen untergeordnet werden müssen, dass also der Masochismus nicht etwas Beson- deres neben dem Sadismus darstellt, sondern wie dieser eine Form der Algolagnie ist. Unzweifelhaft hat aber T h o i n o t Unrecht, dass er den Begriff Sadismus (welches Wort er für Algolagnie setzt) nur mensch- lichen Wesen gegenüber angewendet wissen will.

A. Eulenburg hat wohl noch vor von Schrenck-Notzing darauf aufmerksam ge- macht, dass der Begriff der Algolagnie, den er durch die Worte Lagnänomanie (= Sadismus) und Maclilänomanie (= Masochismus) ersetzt, sehr viele Ab- und Unterar ten umf asst. Auch er betont, dass „sich das nämliche Individuum abwechselnd aktiv und passiv verhalten, und aus Beidem geschlecht- liche Erregung und Befriedigung schöpfen kann." Ferner erinnert Eulenburg an die Mittelformen, wobei „das Individuum zum Behufe geschlechtlicher Erregung weder selbst gewaltsame Handlungen vor- nimmt noch solche erduldet — wohl aber dergleichen von Anderen provociert, sie mit ansieht und durch den An blick, oder unter Umständen schon durch die blosse Vorstellung des An- blicks in die gewünschte Befriedigung versetzt


1) A. Lacassagne a. a. O. S. 239.


wird." Also eiue Art von iileeller oder illu- sionärer Lagnänouianie und Machlänomanie. Fer- ner ist die Begebung grausamer Akte gegen Tiere in Betracht zu zieheu. Schliesslich erklärt Eiilenburg das Beobachtungsmaterial für „üoch bei Weitem nicht abgeschlossen".')

Es handelt sich nun unseres Erachtens darum, eine allgemeine nnd für alle Fälle zutref- fende Definition des Sadismus zu finden, die kurz und prägnant den G-rundton der Sude' sehen Werke auadriickt und unter die sich alle Formen der passiven und aktiven Algolagnie, der Zoo- und Nekrophilie, der symbolischen Algolaguie u. a. w. unterordnen lassen. Bedenkt man, dass in den Werken des Marqnis d e Sa de auch alle wirklichen und ideellen destruktiven Vorgange in der lebenden nnd toten Natur als Ursachen sexueller Er- regung und Befriedigung betrachtet werden, wie Mord, foller, Nekrophilie, ZoophilJe, aber auch Ausbrüche von Vulkanen, Schiffbrüche, Feuerebrünste, Diebstähle u. s. w., 90 wird man den typischen Sadismus folgend er massen definieren :

Der Sadismus ist die absidhllich gesuchte oder zufällig dargebotene Verbindung der geschlechtlichen Er- regung und des Geschlechtsgen usses mit dem wirklichen oder auch nur sym- bolischen (ideellen, illusionären) Ein- treten furchtbarer und erschrecken- der Ereignisse, destruktiver Vorgänge

") A. Eulenburg „Sexuale Neuropathie" Leip^g 1885 S. 113. Das Wort .J^agnilnomnnie" leitet Kalenburg von iarvis (wolltlslig) alv4s (wUd], und fiavla ab: „MachlHnO' manie" von fidxJlog Hvollllstip; vom weiblichen Gewhiecht) alvdg iini! ftavln.

liiibl'eD, StHdiou 1. IWr Uarquii da Sa'lc. uU


— 450 —

und Handlungen, welche Leben, Gesundheit und Eigentum des Men- schen und der übrigen lebenden W e 8 e n bedrohen oder vernichten und die Con- ti nuität toter Gegenstände bedrohen und aufheben, wobei der aus diesen Vorgang en einen geschlechtlichen Ge- nuss schöpfende Mensch selbst ihr direkter Urheber sein kann, oder sie durch Andere herbeiführen lässt, oder blosser Zuschauer bei denselben ist, oder endlich freiwillig oder unfrei- willig ein Angriffsobjekt dieser Vor- gänge ist.

Uns scheint, dass diese Definition dem Wortsadis- mus ebenso gerecht wird wie dem Lustmorde, der Folter und der Freude an zerstörenden Ereignissen.

10. Beurteilung des Menschen Sade nach seinem Leben und seinen Schriften.

Die wichtigste Frage ist die: War der Marquis de Sade geisteskrank oder nicht?

Heute, wo die hereditäre und krankhafte Natur der sogenanten conträren Sexualempfindung so sehr betont und energisch die Aufhebung des § 175 des deutschen Strafgesetzbuches verlangt wird, ist man nur zu leicht geneigt, jede schwerere sexuelle Perver- sion als Zeichen einer Geisteskrankheit zu deuten. Demgegenübor betonen wir als imsere feste, aus kidtur- historischen Studien und Erfahrungen des modernen Lebens geschöpfte TJebcrzeugung, dass wir die Mehr- zahl der sexuellen pcr\xTsen Personen für geistig gesund halten und ihre Perversion auf Verfüh-


^^^ rung und ,


451


rung und geachleclit liehe tleberreizung zurücHüliren. LHe Anschauungen v. Krafft-Ebing's, der die hereditäre Natur vieler aexiieller Perveraionen ver- Irilt, werden gegenüber den durchaus berechtigten Ausführungen v. Schrenck-Notzing'a, der die Erziehung, occaaionelle Momente, wie Verführung u. dgl. m. verantwortlich macht, immer mehr an Boden verlieren, wie weitere Studien erweisen werden. Selbst von Krafft-Ebing sagt einmal (Areh. f. Psychia- trie Bd. Vn, S. 304); „Wer Tardieus bekannte Studie, C a s p e r s gerichtsärztliche Werke, Le- grand du Saulies Mitteilungen in den Annales medico-psychologiquee, März 1876, gelesen hat, wiid zu- I geben müssen, daaa die greulichsten geachlechtlichen S Verirrimgen mit geistiger Gesundheit verträglii'b sind." I Eb geht daraus, wie Moll richtig bemerkt, hervor, fdasa Krafft-Ebing selbst die greulich- eschlechtlicheu Perversitäten nicht als Beweis einer Geistes- J'k rankheit ansieb t.')

Was speziell den Sadismus betrifft, so bemerkt (auch Eulenburg, ein Anhänger der Aufhebung [■'des § 175, daaa „bei weitem nicht alle, namentlich reaktiven Algol agnisten als geisteskrank im engeren Sinne zu betrachten seien, Gewiss sind ea die „schweren" „schwersten" unter ihnen, die eigentlichen sexualen 1 Verbrecher, Lustmörder u. a. w. wohl ausnahmslos, ob- L gleich man auch von ihnen mehrere als geistesgeaund r hingerichtet hat (was ich übrigens nicht als ein Un- |;glück, noch weniger als einen Justizmord ansehen »möchte)."')


1) A. Mo 11 „Uniersuch uiigcn tiber die ,4dbido iexualia" rg „NeuropathU BexuAlia" S. 116.


— 452 —

Ueber den GeistesziuBtand des 3Iarquis de Sa de, der bekanntlich von Royer-CoUard für gesund erklärt wurde, haben sich in diesem Jahre zwei Aerzte geäussert, Dr. Marciat in Lypn und Professor A. Eulenburg in Berlin. Der letztere hervor- ragende Neurologe hat ohne Zweifel das eingehendere ii?iid scharfsinnigere Gutachten über S a d e . geliefert. Er kommt zu dem Schlüsse, dass „auch die Irrenärzte imserer Zeit der Mehrzahl nach sich kaixm in der Lage befunden haben würden, de S a d e vor dem Straf- richter für geisteskrank und „der freien Willensbestim- mung beraubt" zu erklären und ihn der unzweifel- haften gerichtlichen Verurteilung damit zu ent- ziehen.*' *) Marciat kommt zu einem ähnlichen Resultat. Der Marquis de Sade war „nicht geisteskrank im genauen Sinne des Wortes". Höchstens könnte man an moral insanity denken, aber nur im Hinblick auf die Hauptwerke. Aber „man muss sich erinnern, dass Mirabeau, Musset und viele Andere auch sehr schlüpfrige Bücher veröffent- licht haben." ')

Die Annahme einer „moral insanity" (folie morale), die Marciat eventuell zulassen würde, hat E u 1 e n b u r g (a. a. O. S. 514) bereits zurückgewiesen, da es eine Form der Seelenstörung, die sich „lediglich (lurcli eine krankhafte Umwandlung, eine Perversion der natürlichen sittlichen Antriebe und Gefühle und durch eine daraius entspringende Neigung zu unsitt- lichen Handlungen, ohne sonstige Störungen der In-

1) A. Kille nbiirg „Der Marquis de Sade" a. a. O. S. 513—514.

2) Marciat a. a. O. S. 216. Neuerdings hat auch C a b a n *> 8 die Frage der CleisteRkrankheit des Marquis de Sade berührt und sie verneint. Nach ihm litt derselbe mehr an „Satyro-graphomanie" als an wirklicher Erotomanie. C a b a n ^ s a. a. O. S. 260.



tviligeiiz (.■hBrakterisiertt.'", uiclit giebt, vielmehr „immer Tini ach wach iing der Intelligenz neben der ( !pf iihlBstöning hen-urtritt und dass es sich demnach Hin Fälle angeborenen SchwacliBinna, meist auf degenerativer Grundlage handelt", {a. a. O. S. 514).

Wir glauben, dass speziell bei S a d e jene Form JiT Entartung in Betracht kommen könnte, welche K r a c p e I i n als „i m j) n I s i v e s Irresein" be- zeichnet. Es sind „alle jene Formen des Entartungs- Irreseins, denen die Entwiekehmg krankhafter Neigungen und Triebe eigentümlich ist.'" Die- «■Iljeti können entweder dauernd den Willen beherr- schen orler nur zeitweise, in einzelnen Anwandlungen, hervortreten. Der Kranke handelt dabei ohne klaren Beweggrund, So tragen seine Willens- iiiH^sernngen vielfach den Stempel des TJnvorbedaeh- tcn und Zwecklosen, Widersinnigen. Gerade auf dem (lehiete des impulsiven Irreseins „tritt nns am deut- lich-ifen die häufige Verbindung krank- hafter Antriebe mit dem G c s c h 1 e o h t a - triebe entgegen." Die geistige Begabung braneht keine scharfer hervortretenden Störungen auf- zuweisen. Doch ist in schweren Füllen meist S c li wa c h si n n vorhanden. In allen Fällen findet Mch eine gewisse Beschränktheit, Zerfahrenheit, Ver- schwommenheit, eine haltlose Schwäche des Charakters, kindischer Eigensinn, Menschenscheu. Roheit, Das im- piitüive Irresein tritt besonders in den Entwicke- 1 iingsjahrcn hervor und zeitigt auch spüter meist piM'iodische Krankheitserscheinungen. "Man soll aber nach Kraepelin das Besitehen des impulsiven Irreseins nur dort annehmen, wn wirklich der


m:,'-^ £ ,i^r^k T^r-iafTizef Ziel kerror- ^rinn -sr^ »-o jtT«i l2L "i&r^r fer«äcbe des

r>{kf v*r*/!. K r jk ^ p ^ . : n 122S% <i5e Möeüchkeh za, da» |/i//t^;>;ik^ Abtn^l[ii^ t^/& Tinb<-rarix;giKher Süxke im Zur k^AfAh ^frlAtiirer O^Taidie:: bei den ^JieiasbinGigen Volkfzth 4^, ?fnd«te hian^r sind jLs bei ans. nnd d*- irA/;r ^ilft „forzÄ imPÄlnibile" de* iuJieaiächen und spwii- vuJi/rfj 0^;«!^^tzF>TJche* Fjeilekrhi eine Berechriguiig habe.*) Na^rh Aif^Mii oriffniierenden Vorbemerinnigen gehen vrjr f\ATHu^ da^t ljh\ßen nnd die Werke des Marquis d e H$ii\f: rnit der Absicht zu uotersuchen, daraus Schlüsse Hill Mjinerj ( ieiHtenzuj^Xsuid zu ziehen. Wir können nur wenige nuthere Anhaltspunkte aus seinem Leben Ter- wert^fFi,

1. S a d e war ein Provenzale und besase als HoU'hfr da« HÜdlich heisse Blut und die Leidenschaftlich- keit i^einer I^ndsleute.

2. In lUr/u'huufr auf die Heredität ist wenig uiit'\i\vt'ii',\nir, Docfh iHt wahrscheinlich, dass Sa de die Nei^iifi^ zum galanten Leben und zur Schriftstellerei von Hfitu'tti Olieirn geerbt hat. Wie wir jetzt wissen, Hrhriel) de Sa de schon rnit 23 Jahren ein obscönes Hiich. Kh gescliali dien nach der Rückkehr aus dem K ric'ge.

{. lieber Sade-.H Leben in der Kindheit liegen

Ui'iur vi»rliiHHlicli(!n T5(*obachtungen vor.

4. HernorkeriHwert ist, dass Sa de mit 17 Jahren, hIho im Beginn der Pubertät, in den Krieg zog und HncliH iliilin^ lang fem von Haus und Familie weilte. K« irtt mit Sich(»rheit festgestellt, dass während dex

1) K. Kraepclin „PBychiatrie" 6. Auflage. Leipzig 1899. Bd. II, 6. 667— «60.


— 455 —

Kriegszeit unter dem Einflüsse der unerhörten sittlichen Corruption in der französischen Armee auch die Aus- schweifungen des Marquis de S a d e ihren Anfang nahmen.

5. Die unglückliche Ehe spielt nicht die Rolle im I^ben S a d e ' 8, welche M a r c i a t ihr zuschreibt.

6. Es ist jetzt genau festgestellt, dass der Marquis de S a d e bei den beiden grossen Skandalaffären seine Opfer nicht erheblich verletzt oder gar getötet hat.

7. Es ist sicher, dass der langjährige Aufenthalt im Gefängnisse eine körperliche und psychische Schädi- gung auf S a d e ausgeübt hat. (S. oben S. 324.)

8. Dass S a d e eine starke geschlechtliche Erreg- barkeit besass, geht aus der Beobachtung des Freundes von Brierre de Boismont hervor.

9. Sehr bemerkenswert erscheinen einige geistige Eigentümlichkeiten, die während des Gefängnislebens Sades's hervortreten: das Misstrauen, die Lügen- haftigkeit, die wilden Zomesausbrüche bei den Be- suchen seiner Frau.

10. N^ach dem Austritt aus dem Gefängnisse scheint der Marquis de S a d e solche Eigenschaften weniger gezeigt zu haben und sogar durch die Rettung seiner Schwiegereltern zu bekunden, dass sein sittliches Gefühl nicht ganz erstorben war.

Betrachten wir nunmehr die Werke des Marquis de S a d e , so ergiebt sich Folgendes:

11. Erstaunlich und schon von Eulenburg hervorgehoben ist der blosse Umfang der Hauptwerke und das „Mass der damit geleisteten geistigen und der rein mechanischen Arbeit."

12. Die überaus zahlreichen, geschickt aneinander geknüpften Details, die raffiniert durchgeführte all- mähliche Steigerung und fast nie versagende Treue der


— 456 —

Erinnerung und Kückbeziehung zeugen von einer grossen geistigen Kraft.

13. Die Verschiedenheit der Schriften lässt deut- lich den Einfluss der Zeit und des Milieu erkennen.

14. Mit Recht haben M i c h e 1 e t und nach ihm T a i n e („Les origines de la France contemporaine", Paris 1885, Bd. III, S. 307) den Marquis de Sade als den ,,Profosseur du crime" bezeichnet. Er ist der Theoretiker des Lasters, insofern er nach eigener Lektüre und Beobachtung alle geschichtlich nachweisbaren und zu seiner Zeit sich ereignenden Anomalien des Geschlechtslebens in seinen Hauptwer- ken mit unleugbarem Scharfsinn beschrieben und zu- sammengestellt hat. Was R. v. Krafft-Ebingin Form einer wissenschaftlichen Mono- g r a p h i e getlian hat, das hat schon hundert Jahre f riiher der Marquis d e S a d e in Form eines Romans geleistet.

15. Hierdurch gewinnen seine Hauptwerke einen kulturhistorischen und zeitgeschicht- lichen W e r t , indem sie" alle Phasen, Nuancen und Eigontümliclikeiton de^ französL^chen Geschlechts- lebens im Frankreich des ancien regime und der grossen Revolution erkennen lassen, wie wir im ersten Teile dieses Werkes nachgewiesen haben.

1 G. Die von Sade vorgetragene Theorie des Last r s ist ein Produkt der Revolution und findet in dieser zahlreiche Analogien.

17. In Werken, die früher und später fallen als „Justine et Juliette** und. die „Philosophie dans le Poudoir^*, hat S a d e durchaus moralische Ansichten entwickelt.

18. Auch in den berüchtigten Hauptwerken finden sich zahlreiche Andeutungen, dass Sade in ihnen


— 457 —

vorzüglich T e u (i e ii z s c h r i f t e ii gegen das ancieu regime erblickte.

19. Es darf daber nicht ohne weiteres aus dein Inhalt dieser Schriften auf den Charakter des Ver- fassers geschlossen werden, zirnial Aä, häufig genug das Verbrechen als Laster gehrandmarkt wird luid auch andere scheinbare Inkonsequenzen — beruhigende Wir- kung des Gebets (Justine I, 141 ff). Glaube an Un- .-iferhlichkeit (Juliette II, 2S7), üeberdrusf! an Aus- sehweifungen (JuHette lU, 283 — 284) — vorkonimen.

20. S a d e zeigt in allen Werken eine aiisgehrei- tete Belesenheit iu der zeitgenössischen philosophischen und Wissenschaft liehen Litterat ur.

21. Als ph ilosophischer Denker ist er je- doch mehr als mittelmäasig. Seine Philoeophie ist eklektischer Mischmasch. Seine Beweisführung be- etehf aus sinnlosen Tautologien und nach sinnloseren Anticipationen.

Nach diesen Ausführungen lautet un.ter Urteil: Der Marquis deSadewarnichtgeiateskrank, Er war eine vielleicht durch Heredität neuropa- t h i H c h e Persönlichkeit, die, inmitten eines verhäng- nisvollen Milien, frühzeitig auf die Bahn des Lasters geriet und wie so viele Zeitgenossen durch ^erfüh^ung und Gewöhnung sexuell pervers wurde, deren hohe geistige Begabung zweifellos durch eine lang- IJährige (iefangnishaft eminent geschädigt wurde, so dass besonders iu den philosophischen Deduk- tionen seiner Hauptwerke ein gewisser Grad von geistiger Schwäche deutlich hervortritt, wäh- rend dies in den realen Schilderungen, die mit unleug- barer Beobachtungsgabe ein Gemälde der Zeit entwerfen, viel weniger sichtbar ist. Wir haben im ersten Teile den engen Zusamraenhang des Inhalts von


— 458 —

S a d e ' s berüchtigten Hauptwerken mit der Kultur seines Zeitalters zur Genüge nachgewiesen. Die grosse Kluft, die zwischen Sade als Persönlichkeit und S a d e als Schriftsteller liegt, wird dadurch zum Teil überbrückt. Um die Brücke ganz herzustellen, genügt es, daran zu erinnern, dass die Einbildungs- kraft sexuell perverser Personen fast stets ungeheuer- liche Blüten treibt. „Zahlreiche Patienten dieser Art, Conträrsexuale, Masturbanten und besonders Algolag- nisten wurden enttäuscht, sobald sie die Produkte ihrer Einbildungskraft zu realisieren versuchten. Sie er- leben sozusagen in ihren traumhaften Schwärmereien sexuelle Orgien, und werden durch die Wirklichkeit ernüchtert."^) Da es nicht er- wiesen ist, dass der Marquis de Sade die Thaten eines Gilles de Retz, mit dem wir ihn als Men- schen nicht so ohne weiteres vergleichen möchten, wie Eulenburg dies thut, oder diejenigen eines Charolais ausgeführt hat, so muss vorläufig die hier gegebene Erklärung des geistigen Zustandes S a d e ' s , die sieh im ganzen mit der Eulenburg' sehen (leckt, als die einzige mögliche angesehen werden, da wir die allerdings verdächtigen plötzlichen Zornesaus- brüche als Ausfluss jener oben erwähnten „forza irresis- tibile" betrachten, und die Periodicität der Erschei- nungen, die an das wirkliche Vorhandensein eines im- })ulsiven Irreseins denken lassen könnte, doch zu wenig ausgesprochen ist. ^)

1) V. Sc hr e n c k - N o t zi 11 g a. a. O. S, 111.

2) Tarnowsky erklärt den Marquis de Sade für einem , .geborenen Paederasten" (?), der am Schlüsse seines Lebens im „Altersblödsinn" verfiel. Seine Werke enthalten nur „Rat- schlUge eines Geisteskranken". („Die krankhaften Erscheinungen des CoKohlochtssinnes" Berlin 1886, S. 70—71). Ein kühnes Urteil !


V. Geschichte des Sadismus im 18. und 19. Jahrhundert.

1. Verbreitung und Wirkung der Schriften des

Marquis de Sade.

Wir haben schon erwähnt (S. 336 ff), dass die pornographischen Schriften des Marquis de Sade wenigstens unter dem Direktorium öffentlich verkauft wnirden, bei allen Buchhändlern zu haben waren und in den Katalogen aufgeführt wurden. Ein grosser Kapi- talist unterstützte den Vertrieb, der sich über das In- und jVusland erstreckte. Daher nimmt es nicht Wun- der, da.ss trotz der Konfiskation und Vernichtung der Werke unter Napoleon I. (1801) die Verbreitung (ler>olb(»n durch häufige Nachdrucke sich zu einer ge- radezu ungeheueren gestaltete. Auch neue Konfiska- tionen vom 19. Mai 1815, vom Jahre 1825 *), vom 15. Dezember 1843 ^) trugen nur dazu bei, die Begierde


1 ) F. D r II j o n „Catalogue de« ouvrages, Berits et dessins poursuivis, supprimr^s oii condamn^s" Paris 1879 S. 13, S. 111, S. 216.

-) ..Catalogiie des 6critfi, gravures et dessins condamnte dopiii»* 1814 jusqifaii 1er janvier 1860" Paris 1860 8. 109.


— 460 —

nach der Lektüre und dem Besitze dieser berüchtigten Bücher zu steigern. Im vorigen Jahrhundert suchten sogar die Verleger das Verbot eines Buches direkt zu erlangen, weil sie dann sicher waren, viele Abnehmer für dasselbe zu finden. L a 1 a n n e erzählt davon ein ergötzliches Beispiel.*) Unser Goethe sah aitf dem Frankfurter Marktplatz einen verbotenen französischen Roman verbrannt werden, und ruhte nicht eher, als bis er ein Exemplar erlangt hatte. Dabei war nach seiner Erzählung dieses Exemplar durchaus nicht das einzige, welches nach dieser Exekution gekauft wurde.') Bereits im Jahre 1797 schreibt Vi Hers über die Verbreitung der „Justine": „Jedermann will wissen, wa> dies für ein Buch ist; man verlangt es, man sucht es, es wird verbreitet, die Ausgaben werden ver- griffen, neu aufgelegt, und so zirkuliert das greulichste (rift in verhängnisvollstem Ueberfluss." *) Auch in Deutschland waren die Schriften de S a.d e ^ s ver- }»reitet. V i 1 1 e r s sah in Lübeck bei einem Buchhänd- ler „noch drei Exemplare**. Hamburg, wo V i 1 1 e r s seine Abhandlung für den dort erscheinenden „Specta- teur du Xord" seh rieb, war der hauptsächlichste Ort für den Druck und Nachdruck der französischen ero- tischen und pornographischen Autoren. J a n i n schil- dert im Jahre 1834 in anschaulicher Weise, welch eine beliebte T^ektüre die Schriften des Marquis de S a d e unter dem ersten Kaiserreich und unter der Restaura- tion waren. T"nd er wagt auch nur von ihnen zu spre- chen, weil er weiss, dass seine Leser


M L. L a 1 a n n e ,.^"rio8it6s bibliographiques" Paris 1857. 8. 401.

  • ) E. E(l«ivar(l?* ..Libraries and founders of libraries*'

Iym<lon 1864 S. 85.

3) C h. VillerÄ „lettre sur le roinan intitiili^ Justine ou If»?* ^lalheurA de la Vertu**. Neudruck Paris 1877 S. 12.


— 461 —

diese Werke längst kennen, „Denn, inaa täusche sich nicht darüber, der Marquis de Sade ist überall-; er ist in allen Bibliotheken, wo er aller- dings sich versteckt hinter anderen unschuldigen Wer- ken. Man frage jeden Auktionator, ob sie nicht bei der Inventarisation fast jeden Nachlasses die Bücher des Marquis de Sade gefunden haben. Ja, durch die Polizei werden sie am meisten verbreitet," ')

Was die gegenwärtige Verbreitung der Hauptwerke des Marquis de Sade betrifft, so sind die ersten Auf- lagen der „Justine" und „JuUette" aus den Jahren 1791^1796 äusserst selten und kosten wenigstens ÖOO bis 800 Francs. °) Herr Joachim Gomez de la C o r t i n a in Madrid bezahlte nach der Angabe in dem Kataloge seiner Bibliothek (1855 No. 3908) die 10 Bände der Original-Ausgabe von 1897 mit 750 Francs! Dieselbe Ausgabe findet sich im Katalog einer Büclier- sammiung, die der Pariser Buchhändler Techener im Jahre 18G5 nach Lond<m schickte.*) Ein Pariser Antiquar bot kürzlich ein „exemplaire delicieus, reliure de Petit" dieser Ausgabe für 1200 Fr. an. (Zeitschr. f. BiicJierfr. Mai/Juni 1900 S. 123.) In der Neuzeit wurden besonders von der Firma Gay und Douce in BrüsBel Neudrucke veranstaltet, von denen nach ihrem Kataloge die „Justine" mit 150 Francs, die „Juliette" mit 200 Francs berechnet werden. Tu einem deutschen Kataloge vom Jalire 1899 finden wir die „Justine" zum Preise von 120 Mark, die „Philosophie dans le Bou- doir" für 25 Mark und „Aline et Valcour" für 45 Mark angeboten. Die Werke sind auch heute noch tr^tz ihres


1] J. Janin a. b. O. 8. 337.

!) „Lpb crimes de l'unour etc." H. 205. K«iicrding-i t p erste Aungnbe der „Justine" (iir 180 Fr. nngeboten. ») ibidem S. 209.


— 462 —

hohen Preises in allen Ländern des europäischen Westens veAreitet und fehlen selten in den Bibliothe- ken (sit venia verbo) geheimer Bordelle und vornehmer Absteigequartiere. So fand der frühere Chef der Pariser Sittenpolizei, M a c e , in einer ^^maisoii de rendez-vous" einer Wittwe F .... in der pornogra- phischen Bücher- und Bildersammlung auch die „Justine" des Marquis d e S a d e.^)

Es ist eine alte Thatsache, dass alle Obscönitäten und unreinen Schilderungen im Druck ungleich ver- derblicher wirken als das gesprochene Wort. Der „Zauber des Wortes" wirkt im Druck gewissermassen auf zwei Sinne, auf das Gehör und Gesicht, im Sprechen nur auf das Gehör. Lino Ferriani hat in einer wertvollen Schrift *) sich eingehend mit dem namen- losen Schaden beschäftigt, den die pornographischen Schriften und Bilder in jungen Seelen anstiften.

Wir behaupten, dass die pornogra- phischen Schriften — ein Uebel, das f o r t z e uge n d B ÖS e s gebärt — zu einem grossen Teile die m an uig[f a 1 1 igs t e n sexuellen Perversionen miterzeugen helfen. Schon der heilige Basilius sagte in seiner herrlichen Rede an die Jünglinge: „Wer sich an schlechte Lektüre gewöhnt, ist bereits auf dem Wege zur bösen That." Höchst bemerkenswert ist das Ge- ständnis des berüchtigten Marschalls GillesdeRais, der erzählt, dass er in der Bibliothek seines Grossvaters einen S ii e t o n gefunden und darin gelesen habe, wie Tiberius, Caracalla und andere Caesaren Kin- der gemartert hätten. „Sur quoi je voulus i m i t e r

1) L6o Taxil „La corniption fin-de-aiftcle" Paris 1894 S. 293.

') Lino Ferriani ..Delinquenti che scrivono**. Como 18M.


— 463 —

les dits Cesars, et le meme soir me mit ä le faire en suivant les images de la le§on et du 1 i V r e" ^). Ein Masochist erklärt in seiner von von Krafft - Ebing mitgeteilten Autobiographie „Ueberhaupt scheint mir, dass die Schriften des Sacher- Masoch viel zur Entwickelung dieser Perversion bei Disponierten beigetragen haben" *). Auch Eulen- b u r g warnt davor, den „vergiftenden Einfluss der überhandnehmenden pornographischen Litteratur und einer gewissen Presse, die mit Vorliebe über jedes sen- sationelle Verbrechen, zumal über Unzuchtdelicte, Lustmorde u. dgl. berichtet, zu unterschätzen." ')

Es ist sicher, dass die Schriften des Marquis de S a d e noch heute auf schwache und geistig wenig widerstandsfähige Personen denselben vernichtenden, depravierenden Einfluss ausüben, den einst J a n i n so dramatisch geschildert hat.*) Wenn es auch unwahr- scheinlich ist, dass Saint-Just sich von den Szenen der „Justine" zu seinen Grausamkeiten hat inspirieren lassen, und dass Napoleon I. die Lektüre der Sade- schen Werke seinen Soldaten verboten hat '^), so kann nicht bezweifelt werden, dass die Schriften praktische JsTachahmer ihres Inhalts gefunden haben und noch fort und fort die in ihnen geschilderten sonderbaren sexuel- len Perversionen bei gewissen Lesern hervorrufen. Was S a d e für das vornehme Wüstlingstum ist, das sind manche entsetzlichen Hintertreppenro- mane, die die schauerlichsten Einzelheiten von Lust-


1 ) M a r c i a t a. a. O. S. 247.

2) R. V. Krafft-Ebing ,^eue Forschungen auf dem Ge- biete der Psychopa thia sexuaUs". Stuttgart 1891, S. 9.

3) A. Eulenburg „Neuropathia sexualis" S. 120.

  • ) J. Janin a. a. O. 8. 340 ff.

•'•) ..Les crinies de Tamour etc." S. 203 und 209.


— 464 —

morden, Hinrichtungen, Foltern u. s. w. mit wonnigem Behagen ausmalen, für die Lustmörder und S i 1 1 - liehkeitsverbrecher aus dem Volke. Man forsche nur nach, und man wird mehr als einmal den unheilvollen Einfluss derartiger Lektüre auch auf die Seele des niederen Volkes bestätigt finden und sich Manches erklären können, was sonst unerklärlich sein würde.


2. Retif de la Bretonne's „Anti-Justine".

Zwei bedeutende französische Schriftsteller, K e t i f de la Bretonne und. Charles Villers eröflf- nen fast zu gleicher Zeit die „Sadelitteratur". Zunächst beschäftigen wir uns mit K e t i f ' s „L'Anti- Justine, ou les delices de Famour. Par M. Linguet, av. au et en Parlem. etc." Au Palais-Koval !P798, chez fene la veuve Girouard, tres-connue. (2 Bände in 12*.) Auf dem Titel werden 60 Bilder angegeben, die aber nie erschienen sind. Von den 8 Teilen, die Retif in der Vorrede ankündigt, ist nur der erste veröffentlicht worden. M o n s e 1 e t glaubte, dass nur ein einziges Exemplar dieses ersten Teiles gedruckt worden sei; nach dem Bibliopliilen Jacob giebt es aber sechs bekannte Exemplare dieses Werkes, das Retif in seiner kleinen Druckerei fertigstellte. Drei zum Teil unvollständige von diesen sechs Exemplaren besitzt die Geheimabteilung (L'enfer) der Pariser Nationalbiblio- tliek, welche aus der grossen Oonfiscation stammen, die der erste (-onsul im Jahre 1803 bei den Buchhändlern des Palais-Royal und in den Bordellen vornehmen liess, wobei bestimmt wurde, dass zwei Exemplare jedes por- nographischen Werkes auf der Xationalbibliothek secre-


— 465 —

tiert werden sollten; die übrigen wurden vernichtet.') Eins von den wenigen ersten Exemplaren kaufte ein reicher englischer Eiicberliebhaber, Es befand sieh epäter in der Bibliothek des Herrn Cigongne und kam dann in den Besitz des Herzogs von A u m a 1 e. Heute ist das Werk durch zahlreiche Neudrucke, die in Belgien veranstaltet wurden, {2 Bände in 18" mit achleehten kulorierten Lithographien; die anderen Aus- gaben sorgfältiger, in 12" mit Gravüren) sehr ver- breitet"). Retif veröffentlichte das Werk imter dem Namen des bekannten Advokaten Linguet, den er als Jean Pierre Lingiiel die Erklärung abgeben lässt, daas er dieses „schlechte Buch" in guter Absiebt verf asst habe. Nun hiess aber der Verfasser der „Caeo- raonade" nicht Jean Pierre, sondern Simon Nico- las Ilenri Linguet.

Nach Monselet enthält die „Anti-Justine'" obscöne Schilderungen aus dem eignen Leben U e t i f 3 und bildet ein Supplement zum „Monsieur Nicolas" "). Das Werk ist in 48 Kapitel eingeteilt, von denen bei einigen die Titel angegeben sind: „Du bon Mari spartiate" — „Des Conditions du Manage" — „Du Dedonimagement" — „Du chef-d'oeuvre de tendresse patenielle" — „D'une nouvelle Actrice", — Das Buch strotzt von ObscÖnitiilcn, die aber nach Ketif einen moralischen Zweck verfolgen und eine „Art von Gegengift" gegen die „infame Justine'" bil- den sollten. „II est destinö ä ramener les maris blaaes auxquela les femmes n'inspiront plus rien. Tel est le but de cette etonnante production que le nom de Linguet rendra immortelle." Er will die Frauen vor


1) FbuI L. .laeob, Bibliuphilp a. a. O. B. 413—115. t) ,.I*a irimcB de lamour etc." S. 211. 1) Pftu] L. Jacob etc." S. «5.

lühran, Stndien l Der Marqul» da Snit. 30


— 466 —

der Grausamkeit bewahren. Die „Anti- Justine" ist deswegen ebenso o b s c ö n wie die „Justine'^, damit die Männer für diese einen Ersatz ohne die Grausam- keiten des S a d e ' sehen Werkes haben. Er hält die Publikation dieses „Antidots" für dringend notwendig (urgente). Es muss also damals wohl die Verbreitimg der „Justine" eine ausserordentliche gewesen sein. R e t i f erklärt endlich noch in der cynischsten Weise die Darstellungen auf den Bildern, die dem Werk bei- gegeben werden sollten.*)


3. Charles de Villers.«)

Unter den zahlreichen französischen Emigranten, .welche die grosse Revolution nach Deutschland führte und welche hier zwischen französischem und deutschem Geistesleben vermittelten, nimmt der edle Karl von V i 1 1 e r s , der wie Adalbert von Chamisso der Unsrige geworden ist, eine ganz hervorragende Stelle ein. Charles Fran§ois Dominique de Villers, geboren den 4. November 1765 in dem lothringischen Städtchen Bolchen von französischen Eltern aus dem Languedoc, war anfangs Offizier, ging nach Deutschland, wo er in Lübeck von seiner Freundin Dorothea Schlözer, der Tochter des berühmten Göttinger Historikers und der ersten deutschen Frau, die (am 17. September 1787) in Göttingen den Grad eines Doktors (der Philosophie) erlangte, in den geist-

1) „Les crimes de l'amour etc. S. 212 — ^214.

2) Allen Bibliophilen sei die neueste, schön ausgestattete Monographie von Ulrich empfohlen. Sie enthält aber merk- würdiger Weise nichts über V i 1 1 e r s * Besprechung der »Justine". (O. Ulrich „Charles de V i 1 1 e r s. Sein Leben und Beine Schriften." Leipzig 1899).


467 —


uiid lebensvollen Kreia eingeführt wurde, dessen Mit- telpunkt dflB Haufi ihres Gatten, des Lübeckischen Senators R o d d e war. Diese Frau erschloas unserem V i 11 e r 8 das Verständnis für deutsches Geistesleben und machte ihn zu einem begeisterten Apostel des Deutschtumes in Frankreich. Er wurde später Pro- fessor der Philologie in Göttingen und starb dort am 2ti. Februar 1815. Um die Bedeutung dieses Mannes, der für die direkten geistigen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich durch seine vortrefflichen Schriften über Luther, Kant und über die Provinz Westfalen sicher mehr gethan hat als C h a m i s b o, ins rechte Licht zu setzen, genügt es, daran zu erinnern, dass Goethe von V i 1 1 e r a in einem Brief an Reinhard sagt, dass er „wie eine Art von Janus bifrons herüber und hinüber sieht" und selbst an ihn schrieb: „Sie haben mich im ästhetiachen Sinne bei Ihren Landsleuten eingeführt." ') Y 1 1 1 e r ' s Bei- spiel hat bekanntlich Benjamin Conetant und Frau von S t a e 1 zu gleichen teutophilen Bestrebungen , ermuntert.

Es wurden in Deutsehland von den Emigranten verschiedene französische Zeitschriften herausgegeben, deren eifriger Mitarbeiter V i 1 1 e r s war, hauptsäch- lich im Sinne der Propaganda für deutsches Wesen und deutsche Litteratur, aber auch um die Deutschen mit den französischen Eraoheinungen auf dem Gebiete der Litteratur, Kirnst imd Wissenschaft bekannt zu machen. Besonders war Hamburg auch schon vor der Revolution ein Centrum für solche Bestrebungen gewesen, sowohl im guten wie im scblimnien Sinne.

■) „Briefe von Benjamin CoDBtAnt, Gßrres, Ooethe etc." All* wähl aus dem baniüehrittlicheD NachlMs des Cbarlet d«  Villers herausgegeben von M. I g 1 e r. Hamburg 1879. 3. 98.


— 468 —

Denn in Hamburg wurden viele fnuizosisehe Erotica zum ersten Male Teroffentlicht oder nachgedruckt.*) Hier gaben B a n d u s (Marie JeanLouis Anaable de Bandufl, lebte von 1791 \As 1802 in Hamburg), Bondens de Vanderbourg und V i 1 1 ers vom Januar 1797 bis zum Dezember 1802 den ^pectateur du Nord", ein yjoumal politique, litteraire et moral" heraus, welches es in diesen 6 Jahren auf 24 Bände brachte. Die Zeitschrift wurde in Frankreich ver- boten.*)

Im vierten Bande dieses „Spectateur du Nord" erschien nun im Jahre 1797 die ,^ttre sur le Roman intitule Justine ou les Malheurs de la Vertu", welche M. L. H o f f m a n n mit Recht dem Charles de V i 1 1 e r 8 zusclireibt. Eine Neuausgabe dieser inter- essanten Notiz über den Roman des Marquis de S a d e wurde im Jahre 1877 von A. P. Malassis veran- staltet, der wir in der Analyse folgen.')

V i 1 1 e r s erklärt in der Vorrede, dass das berüch- tigte Buch „Justine" viel verlangt werde, in immer neuen Auflagen erscheine und so, damit den Lesern des „Spectateur" die Lektüre des schrecklichen Buches er- spart werde, eine kurze Inhaltsangabe gerechtfertigt


1) Keichard sagt (a. a. O. III, S. 16): ^^Französische Hendungen, »ohweizerische und deutsche Nachdrucke und die Ankündigungen von Uebersetzungen jagten und kreuzten sich von allen »Seiten." — Vergl. dazu die interessante Schrift „La presse p/>riodique francaise ä Hambourg, depuis 1686 jusqu'en 1848." HrfiHHol 1854. — In Hamburg erschien auch im Jahre 1807 jener berüchtigte ultratribadische Roman „Julie ou j'ai Hauv(^ ma rose" (2 Bände), dessen Heldin, nachdem sie mit Ener- gier und Konsequenz die oft mehr als kühnen Angriffe zahlreicher MUnner abgewehrt hat, schliesslich wohl ihrer ursprünglichen Neigung folgend, eins der vielen Opfer einer gefährlichen Tribade wird.

2) M. I sler a. a. O. S. 152.

s) „Lettre sur le Roman intitule Justine ou les Malheurs de la Vertu par Charles de Viller s". Paris 1877.


erscheiüe. Speziell ist er von einer 1> a m e zur Lektüre des £ucheB und zum Bericht über dasselbe aufgefordert worden (S. 13). Zwar haben ihm „zivanzig Mai Ekel nnd Entrüstung das Buch aus der Hand fallen lassen", über die „grosse Berühmtheit" desselben habe ihn be- wogen, dasselbe bis zn Ende durchzulesen. Dann „habe ich es denen zurückgegeben, von denen ich es bekom- men hatte, froh, das geistige Spiessrutenlaufen über- standen zu haben und daa abscheuliche Buch nicht mehr unter den Augen zu haben. Es war ohne Zweifel unserem Jahrhundert vorbehalten, es her- vorzubringen. Denn dies Buch konnte nur inmitten der Barbareien und der bluti- gen Erschütterungen coneipiert wer- den, die Frankreich heijngeaucht haben. Es ist eine der widerlichsten Früchte der revolu- tionären Krisis, eines der stärksten Argumente gegen die Freiheit der Presse" (S. 14). In der That ist das Werk „ausserordentlich" in Beziehung auf die bizarrsten und graueamsten Äuaschwetfungen und eine raffinierte Grausamkeit. Ea giebt Werke, die von den Grazien inspiriert zu sein scheinen. Dieses haben die Furien inspiriert. „Es ist mit Blut geschrieben, Es ist unter den Büchern, was Robespierre unter den Menschen war. Man erzählt, da^, als dieser Tyrann, als ('out hon. Saint-Just, Collot, (»eine Minister, der Mordthaten und Verurteilungen müde waren und diese steinernen Herzen etwas wie Ge- wisse iiabisae empfanden und die Feder ihnen angesichts der zahlreiohen, noch zu unterzeichnenden Urteile aua den Händen glitt, sie nur einige Seiten der „Justine" zu lesen brauchten, um wieder schreiben zu können. Man erzählt diese Anekdote in Frankreich und glaubt An sie." fS. 16.)


— 470 —

Y i 1 1 e r 8 setzt daoiL in £ürze die uns bekannten philosophischen Theorien des Marquis d e S a d e aus* einander und sagt, dass dieses Buch „alle pomographi- scheur Werke, die . seit der . Kegentschaft Prankreich übersohwenimt haben", hinter sich lässt. (8. 18.) Er schildert dann den. Gang der Handlung in der „Justine". Er hält zwar den Roman, der nur auf Scheusale wie Robespierre und C o u t h o n Eindruck machen könne, nicht für gefahrlich, fordert aber doch zu einer „Verschwörung" aller anständigen Menschen, die noch Moral auf der Erde haben wollen, auf, damit alle noch vorhandenen. Exemplare dieses Romans vernichtet wer- den. „Ich werde drei Exemplare kaufen, die noch bei meinem Buchhändler sind, und sie ins Feuer werfen." Er hofft, dass in drei Jahren die Exemplare nur noch in Bibliotheken zu finden sein werden. (S. 21.) Trüge-, rische Hoffnung!

V i 1 1 e r s kommt zu dem Schlüsse, dass die ,j Justine" in gleicher Weise die Wahrscheinlichkeit, den gesunden Menschenverstand und das Zartgefühl „selbst der Wüstlinge" verletzt, dass dieses Buch platt und dumm sei, lächerliche Uebertreibungeri imd wider- natürliche Dinge enthalte, und dass es sogar das Theo-^ rem in B o i 1 e a u ' s „Art poetique" verleugne:.

II n'eet point de.serpent, ni de monstre odieuz» . . Qui par Tart imitß ne.puisse plaire aux yeux.

. ' Denn diese Monstra sind sehr „odieux", gefallen aber weder dem Auge noch dem Geiste. Indessen „was werden Sie dazu sagen, dass wenig Werke. so viele Auf- lagen isrlebt haben, wie die elende „Justine"? Was solU man von einer Zeit denken, in der sich ein Schriftsteller, zur Abfassung eines solchen Romans fand, Buchhänd- ler, um ilm zu verkaufen und ein Publikimi, um ihik zu kaufen?" (S. 22— 23.) - ;


— 471 —

Das Gift war ein Contagium animatum,. das sich trotz des ehrliehen V i 1 1 e r s ins Ungemessene ver- mehrte. Es lebt noch heute.


4. Despaze.

Der Dichter Despaze (gestorben 1814) erwähnt den Marquis de S a d e ebenfalls und zeigt ihn in drasti- scher Weise in einer seiner Satiren als Verkünder seiner schrecklichen Theorien:

Si votre soeur vous platt, oubliez tout le reste

Savourez avec joi les douceurs de Finceste;

Servez-vous du poison, et du fer et du feu;

La vertu n'est qu'un nom, le vicen'est qu'un jeu.

Teile est, de point en point, son infame doctrine.

L'ami de la morale, ea parcourant Justine,

Noir roman que Tenfer semble avoir inventö,

Se trouble, et malgrß lui demande, 6pouvant6,

Comment le monstre affreuz qui traga ces peintures,

Ne Ta pas expiß dans rhorreur des tortures?!)


5. Der Sadismus in der Litteratur.

Der Marquis de S a d e hat zahlreiche litterarische Nachahmer gefunden. Wir nennen nur die wichtigsten Schriften und Nainen, diejenigen, welche einen direkten Einfluss der Lehren des Marquis de S a d e deutlich erkennen lassen.

Ein Werk, welches als eine allerdings gemilderte Nachahmung dtr S a d e ' sehen Schriften betrachtet


1) „Les Crimes de Tamour etc." S. 183^184.


— 472 —

werden kana, und welches nach Gay ^ydenselben Gre- Mthmzck für die Veremignng der Grausamkeit mit der Wollust" zeigt, ist der ron K L. J. Toulotte ver- fasfste Roman ^^Le Dominicain, oa les crimes de Tinto- lerance et le« effets du celibat religieux par T . . . . e" PariÄ 1H03 chez Pigoreau (4 Bde. in 12*). Das Buch enthält mehrere Episoden aus dem Leben des ,,celebre marquis", i^t sonst aber uninteressant und ohne Ge- schick abgefasst. Es wurde durch Urteil vom 12. Juli 1827 und von 5. April 1828 confisciert.*)

Im Jahre 1835 hatte ein buchhändlerischer Speku- lant die Idee, einen sehr schlechten Boman mit dem Titel „Justine ou les Malheurs de la vertu" (2 Bände in 8 ^) schreiben zu lassen, mit einem Auszug aus der Vor- rede des Marquis d e S a d e aus dessen echter „Justine'^ Diese Erzählung, in welcher Diebe und Taugenichtse schlimmster Sorte ihre wenig erbaulichen Grundsätze verkünden, soll von einem sehr untergeordneten Autor, dem Vielschreiber R a b a n verf asst und von einem Ver- leger Bordeaux (Fr. M. J.) veröffentlicht worde^ sein. Das Buch wurde öffentlich angekündigt. Der Skandal war gross. Die Obrigkeit schritt ein und der Verleger wurde zu sechs Monaten Gefängnis und 2000 Franc8 Ooldstrafe verurteilt.^)

Ein Schriftsteller, dem die Lektüre der S a d e - sehen Uomano direkt gefährlich geworden zu sein sclioint, ist Jacques Baron Reverony de S a i n t - (^ V r , wohl der erste sadistische Autor. Kr wurde im Jahre 1767 geboren, wurde Geniecomman- dant, daneben ein sehr fruchtbarer Schriftsteller, Ver- fasser von Thoaterstiicken, wissenschaftlichen Werken


M K. Drujon h. r. O. S. 130.

s\ ..laM crimw do l'amour etc." S. 210.


— 473 —

nnd Romanen. Er starb im Jahre 18:i!t im Wahnsinn,') Anf ihn haben die Werke Sade'a offenbar grossen Eindruck gemacht. Denn in seinem Roman „Pauliska Oll la Perversitc moderne, mSmoires reeents d'une Polo- naise", Lemierre et chez Courcier an VI, (1798) (2 Bde. in 12" mit 2 Bildern in der Art von C h a i 1 1 u) schil- dert er ähnliche grausame Akte aus Wollust wie der Marquis de S a d e , hinter dem er aber weit zurück- bleibt.') Nach Cohen enthalten auch die übrigen Komane diese« Autors wie ,,Sabina d'IIerfeld, ou les Dangera de l'imagination" Pariri 1797 — 1799 (2 Bde. in 13") und „La Torrent des patwions, ou les Dangers de la galanterie" Paris 1818 {2 Bde.) Schilderungen und Doctrine im Genre des Marquis de S a d e *).

„Ein anständiger Mensch hat immer einen Band des Marquis de S a d e in seiner Tasche" heisst es in einem Romane von iJorel {P. Borel, Le Lycan- thrope „Madame Potiphar '■)*), und ein Journatiat, Capo de Feuillade sehrieb, dass die „Lelia" der George Sand ihm ähnliche Doctrinen zu lehren scheine, wie die Werke des Marquis de S a d e. Proudhon uauute deswegen diese berühmte Schrift- stellerin die würdige Tochter des Marquis de Sade.°) Wie wir sahen, hat übrigens Proudhon seibat über den Diebstahl ähnliche Anaichten wie S a d e ent- wickelt.

Der französische Sozialist F o u r i e r entwickelt eine sadistische Thefirie der Liebe, In seiner „Harmo-


»1 „Bionraphie universcüe" Bd. XXXV, S. 494 — lO.-). ") „Los crimcB de l'amour etc." S. 242. '1 H, rohen ..Guide de l'amateuT de livres etc." f bis 419.

  • » ,J*B orime» de rnmour etc." S. 237.

>) ibidem B. S41.


— 474 —

nie" darf jede Frau gleichzeitig besitzen: einen epoux, von dem sie zwei Kinder hat; einen geniteur, von dem sie ein Kind hat; einen favori, ausserdem noch beliebig viele amants, die gesetzlich keine besonderen Hechte haben. Gegen Uebervölkerung wird diese harmonische Welt durch vier organische Mittel geschützt: la regime gastrosophique, la vigueur des femmes, l'exerciee inte- gral, und — les moeurs phanerogames ! ^)

Bei den modernen französischen Pamassiern, Dia- bolikern, Decadenten und Aestheten wimmelt es von sadistischen Naturen. Wir verweisen zum genaueren Studium dieser Poeten aller perversen Gefühle auf ^fordau's „Entartuns:/' ") Wir erwähnen nur das Wichtigste.

Baudelaire ist nach B o u r g e t „ein Wol- lüstling; und Vorstellungen, die bis zum Sadis- mus v e r d e r b t sind, erregen denselben Mann, der den (erhobenen Finger seiner Madonna anbetet. Die mürrischen Trunkenheiten der gemeinen -Venus, die berauschende Glut der schwarzen Venus, die kunstvol- len Wonnen der erfahrenen Venus, die verbrecherischen Wagnisse der blutgierigen Venus haben ihre Erinne- rungen in den durchgeistigsten seiner Gedichte gelassen. Ein übelriechender Dunst niederträchtiger Schlafzim-' mer entweicht seinen Gedichten". (S. 74.) B a u d e •^ laire besingt die „geheimnisvolle Wut" der Wollust:

Quelquefoia pour apaiser Ta rage raystörieuse, Tu prodigues, s6rieuse, La raorsure et le baiser.a)


1) W. Ro Sicher a. a. 0. S. 719.

2) M. Nord au „Entartung^' BerUn 1892 S. 43—162.

3) A. Eulenburg ,,Neuropathia sexualis" S. .109.


t


475


,,Leä Diaboliqut-a", die „Teunischeu" von Bar- bey d'Aurevillj sind eiue Sammlung wahn- witziger Geschichten, in denen Männer und Weiber sicli in der soheusalichaten Unzucht wälzen und dabei fort- während den Teufel anrufen, ihn preisen und. ihm dienen. Es lässt sicIi nicht leugnen, dasß sadistische Ideen in diesem Buche vielfach zu Tage treten.

Echt sadistische Typen schildert Paulhan in seinem Buche „Le nouveau mysticisme" (Paris 1801) in dem Kapitel „L'amour du mal" (S. 57 — 99). Ein reicher Fabrikant beschuldigt einen jungen Mann auf FreierafÜBsen fÖlschhch, an einer ansteckenden Krank- heit zu leiden und erhält seine Behauptung „um des Vergnügens willen" aufrecht. Ein junger Strolch ge- niesst die Wonne des Diebstahls so sehr, dass er aus- riift: „Selbst wenn ich reich wäre, möchte ich immer stehlen." Viele Leute suchen den Anblick körperlicher Leiden. P a u 1 h a n meint sogar, dass „im Geiste eines Menschen unserer eigenen Zeit eine gewisse Freude daran erwacht, die Ordnung der Na tiir zu stören, die früher nicht mit solcher Starke aufgetreten zu sein seheint".')

Aehnliche Theorien werden in Joseph Pela- dan's „Vice supreme", dem „äussersten Laster" ent- wickelt.

Die von S a d e so sehr goutierte Hj-pbchoremato^; philie findet sich bei dem Decadenteu Maurice B a r r e s. Er lässt seine „kleine Prinzessin" erzählen; Als ich zwölf Jahre alt war, liebte ich es, wenn ich allein war, meine Schuhe und Strümpfe auszuziehen und die nackten Füsse in warmen Kot zu stecken. So' verbrachte ich Stumlcn und das gab mir Lustschatiöt


— 476 —

über den ganzen Körper**, und ähnlich wie S a d e seine Helden an Personen mit leiblidien Gebrechen, wie einem Eunuchen, Zwerge und Hermaphroditen Gefallen finden lässt, wird auch B a r r e s von diesen Eigen- schaften angezogen. Im „Garten der Berenice" heisst es: „Als Berenice ein kleines Mädchen war, bedauerte ich in meiner Begierde, sie zu lieben, ungemein, dass sie nicht ein leibliches Gebrechen hatte." *)

J. K. Huysmans rollt in seinem Roman „ä rebours" das Erziehungsproblem der „Philosophie dans le Boudoir" wieder auf. Dem Herzog des Esseintes begegnet in der Rue de Rivoli ein etwa seohzehnjähri- ger, bleich und verschmitzt aussehender Bursche, der eine schlechte Cigarette raucht und von ihm Feuer ver- langt. Des Esseintes schenkt ihm eine duftige tür- kische Cigarette, führt ihn in ein Cafe und lässt ihm kräftige Pünsche vorsetzen. Dann führt er ihn in ein Freudenhaus, wo seine Jugend und Verwirrung die Dirnen verwundert. Während der Knabe von einem Frauenzimmer weggeschleppt wird, fragt die Wirtin des Esseintes, wie er dazu komme, diesen Knaben zu ihr zu führen. Der Decadent antwortet: Ich suche einfach einen Mörder anzufertigen. Zunächst führe ich ihn alle vierzehn Tage hierher, und gewöhne ihn an Genüsse, zu denen er die Mittel nicht besitzt. Später wird er stehlen, um zu Dir kommen zu können. Ich hoffe, er wird auch morden. Dann wird mein Ziel erreicht sein." Er entlässt den Knaben mit den Worten: „So, nun gehe. Thu den Anderen, was du nicht willst, dass sie dir thun. Mit diesem Grund- satz kommst du weit."


1) ibidem. 8. 115—116.



In Hujsmaos' „IM bas" schreibt des Esseintes eine Geaehichte von Gilles de Rays, dem Massea- Lustmörder des fünfzehnten JahrLmiderts, auf den nach Nordau Moreau de Tours' Werk über die Gesehlechtsverirriuigen die „im Allgemeinen zwar unwissende, aber auf dem Sondergebiete der Erotomanie sehr belesene Bande der Diaboliker aufmerksam ge- maebt hat, nnd dies giebt Huysraans Gelegenheit, mit Schweinebehagen im schauerlichsten Unrat zu \viibien und zu nüstern." *)

Auf einen typischen sadistischen Dichter, der Nordau anscheinend entgangen ist, hat A 1 e i d e £ o □ n e a u aufmerksam gemacht. Es iat dies Emile Oheve, der im Jahre 1882 eine Giedichtsammhing „Virilites" verötfentliehte, in der ein Gedicht „T.e Fauve" eine glühende Verherrlichimg des Marquis d e S a d e und des Sadismus darstellt. Wir zitieren einige der charakteristischsten Verve aus dem sehr langen Gedichte: ")

Au fond, l'homme est un fauve. II a l'amour du aang: II aime A 1e verser dans des luttea aauva^a^ Son coeur bat et se gonfle a« brnit relentissant Des claironB pröctirseurs du meutre et des ravagea.

Partout OD k «aiig coule, oü plane la teireur, On \e trfpaa r^pand aa morne et sombre ivresee, Homme, fenune, otiacun vmit eavourer l'horreiir: Im brise des ehamiera noiia Hatte et noua careaEc.


L'^chafaiid, le auppliee




Nnita aimons la naja, le tigre, l'i


>) ibidem S. 105—107. >) „La CurioaUe litt^raire i Serie. Paria 1882. S. 160—174.


— 478 —

Car noiuB aimons aussi le dßsespoir, les pleurs, Jje drame palpitant des angoisses secr&tes,

Un attrait monatrueux, iin prurit sensuel,

Sort pour nous de la mort, du combat, du sapplice.

Oh! qu'il est dans le vrai, ce marquis, ce Satan, Qui mariant le sang, la fange et le blasphdme, D'un Olympe de boue effroyable Titan, Dans la f6rocit6 mit le plaisir suprCme!

Marquis, ton livre est fort, et nul dane l'avenir Ne plongera jamais aussi bas soue l'inf&me: Nul ne pourra jamais apr^s toi rßunir, Rn un pareil bouquet, tous les poisons de l'&me.

Tu brilles oomme un tigre au milieu des cochons Dans Teffrayant mus^ oü la hideur s'ötale.

Auprös de toi, Marquis, comme ils sont Spiders, Les Piron, les Zola, dans leurs fades ßbauches! QuHls rampent platement sur leurs bas-fonds grossiers, Dans r^troit horizon de leurs maigres dßbauches.

Au moins, toi tu fis grand dans ton obsc6nit6!

L*bomme est un fauve. En lui le monstre vit toujours

Utopistes niais dont la sensiblerie,

R^ve un monde baign6 d*6ternelles amours,

Nous n'entrerons jamais dans votre bergerie.

Car, jeune hommc au coeur fier ou vieillard aux yeux doux, Vierge dont le front pur a des reflets d'opale, Petit enfant rieur jouant sur nos genoux. Tont Ötre humain en lui renferme un cannibale.

Paul Bourget lässt in seiner „Physiologie der modernen Liebe" Claude Larcher halbträumend folgen- dermassen monologisieren: „Ich sehe vor mir diesen


— 479 —

ljeil.1, au dem ich jeden Umrias keune, die Sulmltern voll und zart zugleich, den wallenden Busen, die schlan- ken Hüften, ganz nackt, und mich mit einem Messer, wie ich diesen LeJb zerfleischte, diese Glieder mit Blut besudelte, und wie sie unter der Schärfe des Stahls erzitterten, — und ihren Schmerz . . . Nein, das werde ich nie thun, weil hei mir, dem Kulturmenschen in der Periode des Niederganges, die Handlung nie die Schwester der Begierde sein kann .... Himmel ! wie oft habe ich mir das schon geträumt, und nichts schafft mir Linderung als dieser Traum." ')

Eine sadistisch veranlagte Trlbade wird in der Schrift „Gamiani ou deux nuite d'exces" geschildert, die 1836 in nur 20 Exemplaren gedruckt wurde, und 186S in Brüssel gleichfalls in nur 75 Exemplaren nachgedruckt ward. Eins von diesen Exemplaren be- findet sich im Besitze des Schriftstellers Paul Lin- dau, der es A. Moll zur Durchsicht Hess. Dieser teilt mit, das in dem Nachdruck der Autor als A. D. M. bezeichnet wird. Es soll Alfred de Musset sein, und „man glaubt, dass Müsset sich als der ehemalige Geliebte der George Sand an dieser durch die Schrift rächen wollte, indem er in der Heldin Gamiani eine Triliade wildester Art. die George Sand achil- derte".') Wir sahen schon oben, dasa C a p o de F e u i 1 1 a d e ebenfalls die George Sand sadisti- scher Neigungen bezichtigte. Uebrigens wird in


') Paul Bourget „Physiologie der moderneD Liebe." Deutsch von A. Dittrich. Budapest 1891. ß. 2. Dies Buch ist eine reiche Fundgrube für die Arten nnd Raffln erien der modernen FraiixüRi sehen Liebe.

<) Ä. Mol] „Untersuchungen über die Libido BCXualiB" Bd. I, S. 698— e09. Dentsehe Uebersetiung ; „Gamiani oder iwei Nilrhtp in Ati«pelH«enheif. Von A. D. M, Holland 1873. an. 109 S.


— 480 —


^^Gamiani'* die Cnzncht zwischen einem Weibe und einem Esel gesehildert, nach dem Vorbflde Ton Apn- 1 ^ j o s * ^oldnem Esel*'.* j

Aach die deutsche Litteratnr weist einige sadistische Specimina aof . So hat Heinrich von K 1 e i Ä t in seiner .,Penthegilea" ein Ton rasender Liebeswut er^ffenes Weib geschildert, das ächliesölich ihren geliel^ten Achilles mit einem Pfeile erschiesst, ihn von Hunden zerreisen lässt, und

Kr, in dem Porpor seines Blutes sidi wälzend.

Rührt ihre sanfte Wange an, und ruft:

Penthesilea! meine Braut! was thost du?

Ist dies das Rosenfest, das du Terspraehst?

Doch sie —

Hie schlägt, die Rüstung ihm vom Leibe reissend.

Den Zahn schlägt sie in seine weisse Brust,

Sie und die Hunde, die wetteifernden,

OxuH und Sphinx den Zahn in seine rechte.

In seine linke sie; als ich erschien.

Troff Blut von Mund und Händen ihr herab.*)

Ein deutächer Roman, in dem der Marquis d e S a d e solir liäufig erwähnt wird, und sadistische Akte eine gro?Jse Kolle spielen, ist das berüchtigte Buch „Aus den Memoiren einer Sängerin** Boston, Reginald Chesterfield (Altona 1862 kl. 8"* 2 Bände und neuere Ausgabe Budapest., Jac. Casanova). Es soll dies eine Autobiographie der berühmten Sängerin Wilhel- mine Scliröder-Devrient (1804 — 1860) sein. Der Roman schildert in Briefen an einen Arzt die Fort- schritte, welche die Sängerin in der Ars amandi macht. Die „Justine" des Marquis de S a d e hat besonders den zweiten Band des Werkes beeinflusst, aus dem wir da-

1) Eine wortgetreue Ausgabe der trefflichen UebersetEung von Rode erBchien kürzlich im Verlage von H. Barsdorf in Leip- ^>9- ^g}' ^ic Ankündigung am Schluss der ^Bibliographie."

2) Heinrich von Kleist „Penthesilea" 23. Auftritt.


— 481 —

her das iu dieser Richtung Wichtigste mitteilen. In Budapest lernt die Schröder-Devrient eine gewisse Anna kennen, eine Deraiitiondaine und genaue Kenneriu der seit langer Zeit berüchtigten Corruplion in der ungarischen Hauptstadt. Sie fragt Anna nach ihrer Ansicht über die „Justine", die sie in Frajikfurt am Main gekauft habe, von der sie aber mehr abgc- stossen als angezogen werde. Anna giebt ihr darauf den Rat, einmal der Auspeitschung einer Diebin beizu- wohnen. Dies bereitet der Sängerin einen grossen Genusä, und das Opfer, die Diebin Rosa wird nach der Execntion von den Beiden zu einer Orgie mitgenom- men, hei der unsere Heldin in Liebe zu ihr entbrennt. „Es war eine so ausschliesslich reine Liebe, dase mich alle anderen Weiber anekelten und die Männer noch viel mehr." (Bd. II, S. 84.) Sie nimmt Rosa in Dienst und präpariert sie im Kaiserbade für den amor leabieue. Der Gedanke an die künstliche Defloration von Rosa bereitet ihr schon im voraus eine unendliche Wonne, und am seihen Abend vollzieht sie diesen Akt in Gesellsohaft ihrer Freundinnen Anna und Nina mit einem', .doppelten" künstlichen Phallus, während Anna nach der Operation „das Jungfernblut aufleckte." Nunmehr besuchen sie die berühmtesten Budaiiester Bordelle. In dem Freudenhaus der Resi Luft feiern sie mit Damen und Herren der vornehmen Budapester Gfeeelischaft eine grosse Orgie, bei der alle Anwesenden maskiert, aber sonst nackt erscheinen, und deren Einzel- heiten zum grossen Teil der ,, Justine" des Marquis de S a d e entnommen werden. Die Schröder- Devrient lernt hier einen gewissen Ferry kennen, der die arme Rosa aufs neue defloriert, und die Sänge- rin den paederae tischen Ausschweifungen einer Räuber-

Dühren, StndiSD I. Der U>r<iiilB ,1a Sulp. 31


U,ii\i\p im Walde beiwohnen Iä8«t, Wi iloiic-a frf W den „Vfiyuur" spielt. Die Sah r od e r - D e vr i' kommt darauf In Begleitung von Itosa aacli Florenz ?ii' einen 59jährigen otigliächeu Wüstling Sir Ethe MiTwyn, kennen lernt, der sie über alle sexuellen La in Italien unterriehtet uud sie iu Kom nach der 1


viclitung piner i'iilji-t, wo eine Xc-naen, Knab ijri welcher dii srlijindet werdei deurlich erkennl: lf(>inoiren zum M-ie die Schilden r>if Pariser Halbwei


eines Mannes in eine Kii he Orgie zwischen Prieeti Bchiedeneo Tieren stattfio er beiden Hingerichteten ät das Vorbild der „Juliel ibar beruhen aber auch di perBÖiiHchen Beobacbtiuig I Paris und I^odon beweis i.iu besonders die T-aufl>aliii c-l


iri'"'i-i*cii Oamillii wird ansfiilirliL-li geschildert i Ziililri'icbor .iudisti^elicr Verbrechen Erwähnung getli l>iirLiiif rei?f sie mit dem Sänger Sarolta nach Iy.md wii <\c drei .liilirc lang bleibt. Sie be-^ucht eino Fi ifercdytli, eine reii'lie Lebcdimie, die sie mit al öffeiilJicbcn und geheimen Fveuden Londons liekai niai-lU. sie nach ViiuxJLal! Gardens, in den Piccadi Sa). 'MM. ins Jlolborn Casin.i. in die Portbuid Koo fiiJirt. I>ann suchen sie als Prostilnierte in den Strai- Alicntciior. Trittzileni sehlägt die Sängerin die v^ lockendsten Ancrbictnngen iles englischen Adels g und bleib! ihrer geliebten Kosa treu. Hier endet < Krzählnng. — Der KiiiÜns* Sade's ist unverkennb sinviihl in der .Schiidorung der PcrsiJnlichkeitcn als . InlLultes. Auch ünwahrscheinliehkeiteii und Uebertr hnngen wie hei Sa de kouLiiiei; vor. So z. B, hält si in London im Garten der .Mr-, :Mered,vth eine Gose i^ebaft von Frai.e,, d !■ e i T a ir e I a ii g nackt auf! V


— 483 —

das im englischen Kliraal „Justine" wird oft erwähnt.') Im ersten Bande (S. 177) spricht die Sängerin von den • Denkwürdigkeiten dee Herrn von H , . .", von dem „Portier des C'hartrenx", „Yaublaa", „Fßlicia"^ ii, a. als von „wahrem Gift für unverheiratete Frauen", wobei flie ihr eigenes Buch auszunehmen scheint.

In Sacher-Maaoch's „schwarzer Czarin" ist Xarda eine Sadistin. Aber neben Narda stellt S a c h e r- M a H o c h eine Afrikanerin, die dieselbe noch an Woll- lust uad Granaamkeit übertrifft, „ein Weib wie aus Ebenholz gesohnitzt, berauschend in dem schwarzen Glänze ihres bacchantischen Leibes, in dem grausamen Lachen des Tigerkopfes, in dem mordlustigen Funkeln ihrer wollüstigen Augen." Auf Narda's Frage, weshalb sie einen Menschen getötet habe, antwortet sie bei- nahe stolz: „Aus Mordluat! — Lasg mich sterben, ich kann nicht leben, wenn ich Niemanden töten soll. Mein Herz verlangt nach Blut, wie das Eure nach Küssen.'")

Eulenburg zitiert den modernen Dichter Detlev von Liliencron, der „die im Liebes- kampf sich gewaltsam vollziehende körperlich-seelische Entladung" in folgenden Versen schildert:


1) „Das einzige Buch Sade'a liielt er lurllck, weil er es fUr mich zu gefUhrlich hielt: ich fand e^s erst nach acinem Tode sorgfaltig versteckt in einem Schranke, welche einen doppelten Boden hatte. Ich machte mich daran, das Buch zu lesen . , Dieaea Buch hat Eweierlei Wirkungen, je nach dem Naturell des Lenera oder der Leserin, je nach der Empffinglichfceit und Auf- tasaungagabe derselben. So wie es Duvalin halb blasiert gemacht hatte, so fühlte ich einen Ekel vor diesen Abacheulichkeiten, die zu lesen mich viel Ueber Windung kostete." Memoiren einer Pilngerin Bd, H, 8. 12—13.

') W. Huflsalkow „Grausamkeit und Verbrechen im ssMieilen Leben" 3. Aufl. Leipzig 1609. S. 76.

31»


— 484 —

Wollen zwei Panther sich rasend zerreissen^ Feuer und Flammen entlodem der Haft, Ringen und Raufen und Balgen und Beissen«  Sinkende Wimpern, entstürzende Kraft.^)

Auch in Kretzers Eoman „Drei Weiber", in Karl Bleibtreu's Novellen „Schlechte Gesell- schaft", in M. G. Conrad's „Die klugen Jung- frauen" werden sadistische Typen und Szenen geschil- dert. Vielfach werden im modernen sogenannten „naturalistischen" (sit venia verhol) Eoman die „Sodo- mie, Paederastie, lesbische liebe, Notzucht, Blut- schande, Ehebruch studiert, pragmatisiert, auf unglück- selige Vererbung, falsche Erziehung, überreizte Nerven zurückgeführt und — verteidigt." ^)

Dass einzelne Doctrinen des Marquis de S a d e sich bei neueren deutschen Philosophen, sogar noch potenziert, wiederfinden, wie z. B. bei S t i r n e r und Nietzsche, ist ja bekannt.

Von Nietzsche, diesem vielvergötterten drei- mal Weisen, seien nur die folgenden bezeichnenden Aphorismen zitiert: Wink. — Aus alten florentini- echen Novellen, überdies — aus dem Leben: buona femmina e mala femmina vuol bastone. (Sachhetti Nov. 86^) und: Ueber allen Ge- setzen — Was aus Liebe gethan wird, geschieht immer jenseits von Gut und Böse.*) Auf Nietzsche's allmählich schon zum Ueberdruss werdende „Herren- moral" und seinen köstlichen „Uebermenschen" näher einzugehen, halten wir für überflüssig und teilen damit die Ansichten der übrigen „Bildungsphilister".


1) A. Eulenburg ,,Neuropathia sexualis" S. 109.

2) Fritz Friedmann „Verbrechen und Krankheit im Roman und auf der Bühne" Berlin 1889 S. 27.

») Fr. Nietzsche »jenseits von Gut und Böse" 4. Aufl.

Leipzig 1895. S. 108. (Aphor. 149.)

«) ibid. S. 109 (Apor. 155).


^^^^ Ein nod ' S fl d e iinii ]


— 485


nooh grösserer Sophisl. als der Marquis de S a d e und Nietzsclie ist Max Stirner, der loider die dialektische Methode für seine geistigen Salti morali missbrauchte. Dieser Weislieits Jongleur betet das Ich auf eine geradezu ungeheuerliche Weise an. Er schreibt es stete gross, um seine Ehrfurcht vr>r dieser Majestät gehörig auszudrücken, „Ob, was Teil denke und thue christlich sei. was künmiprt's Mich! oh es meuBchlieli, liberal, human, ob es unmenschlich, illiberal, inhuman, was frag' Ich danach? Wenn es nur bezweckt, was Ich will, wenn Ich nur Midi darin befrie- dige, dann belegt es mit Praedikaten wie Ihr woUt: es gilt Mir gleich.'" — „Ea gicbt keinen Sünder und keinen sündigen Kgoismust — Wir sind allzumal voll- kommen, und ,,Huf der ganzen Erde ist nicht Ein Mensch, der ein Bünder wärel" - — „Eigner bin Ich Meiner Gewalt, und loh bin ee dann, wenn Ich Mich als Einzigen woias.. Im Einzigen kehrt selbst der Eigene in sein ach Opfer lach es Nichts zurück, aus wel- chem er gelioren wird. Jedes höhere Wesen über Mir, sei PS Gott, sei es der Mensch, sehwacht das Gefühl Meiner Einzigkeit und erbleicht erst vor der Sonne dieses Bewusstdein«. Sl«ll' leh auf Mich, den Einzigen, meine Sache, dann steht sie auf dem vergUiiglicbeD, dem sterblichen Sehöpfer seiner, der sich selbst ver- zehrt, und Ich darf sagen:

Ich halt' mein 8ach' auf Nichts gestellt." '1

Die Sittlichkeit i.st bei solchen Ansichten eine fixe

Idee, ein „Kparron", mit dem die Menschen behaftet

sind. Die Ehe ist ein Nonsens, die Keuschheit ist gans

besonders eine fixe Idee, und selbst die Biut-

iD." 2. Aun.


— 486 —

schände ist nichts anderes. „O Lais, o Ninon^ wie that Ihr wohl, diese bleiche Tugend zu verschmähen. Eine freie Grisette gegen Tausend in der Tugend grau gewordene Jungfern." Der Mord ist für S t i r n e r ebenfalls ein Nichts. ,,Ich aber bin durch itich berech- tigt zu morden, wenn Ich mir's selbst nicht verbiete, wenn ich selbst Mich nicht vor dem Morde als vor einem „Unrecht" fürchte."

Schon H. Ströbel hat her\'orgehoben, dass Stirner'ö Theorie des Egoismus nicht neu sei und an die Ideen der Aufklärungsphilosophen H o 1 b a c h , La Mettrie und Helvetius erinnere ^) Wir können uns dem Gedanken nicht verschliessen, dass S t i r n er auch die Schriften des Marquis de S a d e gekannt hat. Denn weder 11 o 1 b a c h noch L a Mettrie und Helvetius verteidigen Blutschande und Mord. Das sind echt sadische Gedanken.


6. Einige sadistische Sittlichkeitsverbrechen.

Dass die Schriften des Marquis de S a d e viele Proselyten gemacht haben, erscheint uns sehr wahr- scheinlich angesichts der merkwürdigen Arten von sexuellen Vergehen, die auch heute noch beobachtet werden und manchmal geradezu eine Szene aus der „Justine" und „Juliette" zum Vorbilde zu haben schei- nen. Nach Eulenburg fehlt es bis in die Gegen- wart hinein durchaus nicht „an modernen Nachahm- ungen, natürlich nur im Kleinen und in schwächlicher Form, wie die in regelmässiger Wiederkehr nicht allzu


1) H. Ströbel „Stirner's Einziger und sein Eigentum in Neuland, Band II, Nr. 2. Berlin 1897 S. 89.


487


selt«i! die Polizei uud die Gerichte besdiäftigeiiden. öfters mit wahrhaft bestialischen ^\]{teii der Verstüm- iiiehing, mit Anthropophagie, Nekronjanie u. 3- w. ver- bundenen Lustmorde an Kindern imd Frauen beweisen. Unsere Zeit, bekanntlich die Zeit der Spezialitäten, weiss sich auch auf diesem Gebiete eigenartige Spezialisten zu züchten. Der Eine verschafft sich durch Erwürgen von Mädchen und Frauen einen wollüstigen Reiz; der Andere schlitzt der Geschändeten den Ijeib auf, nm gewisse Eingeweide herauszurebsen ; noch Andere trin- ken das Blut ihrer Opfer oder verzehren kannibalisch Stücke der ausgeschnittenen Eingeweide (Brüste und Genitalien). Die nicht ganz so Gefährlichen begnügen sich damit, ihren Opfern — ausschliesslich jungen Mäd- chen — Schnitt- und Stichwunden an verschiedenen Körperteilen, mit Vorliehe am Unterleib, beizubringen, um sich durch den Anblick des herabfliesenden Blutes geschlechtlich zu erregen (die vielzitierten Geschichten des „Mädchenschneiders" von Augsburg und des „Mad- cheustechers" von Bozen)." ')

In einem grossen Werke über den berüchtigten Luetmörder Vacher, der 1898 in Lyon hingerichtet ^vurdc, hat Lacassague alle „sadistischen Verbre- chen" des 19. Jahrhunderts zusammengestellt. Hier finden sich ausführliche Nachrichten über den berüch- tigten Ix)ndoner Luatmörder „Jack thc Kipper", den Paul Lindau in Amerika bereits in ein^m Senaa- tionsdrama verewigt sah (E u 1 e n b u r g a. a, O. S. 109), über Ben Ali in New-York, Piper und Pomeroy in Boston, über die Affäre von Pont-T^val u. a. m. ■)


») A. Eulenburg s. a. 0. S. IIT.

  • } A. LacaHBdg e „Vachner Veventreur et. les crioieH

saiaques" Lyon und PariB J899 S. 243 — 282. — Vgl. Laurent. SsdismuH und Ma»ochiamiie. 6. Aufl. Berlin 1004. Anm. d. V.


(


^Bi^^^Hli


— 488 — ^^^


Kiüo w(-iieiv Aiifxälilmig derartiger Atton


üi-licn Brierrf de Boismont*), ferner


M..11'), V. Kraffl-Eliing»), auf die wir


Li -ir verweisen.


Wir hoben nur eimc


6 ganz direkt au Si


n •• 11 am 8a(


a n e n erinnernde TSüH» 1


«)F



ICin im hö


e det^repidei- russischor Fi


lii-s sieh von


r<wBe. dii- sieb übt-r ihn, i


<ieu RtM&nt «« 


(Ken musstG, auf dio Bi


■IcfäciorBB tmdl^


auf dipsp Weise die Bi


^^*iner IjWdo an


F. E r a f f t - E b i n g a. a.


'Vw iüinlicho Szene bri .Tnliottc Bd. ]


b) Statuenschändung.


.■('vöii.irunt


vom 4


If


irz


ist: t.


. CSrtii.r. n


l.der


.«•1


in


lie ytai


.. v,rli,.l)ti' u


id über (_'l


itii.


vcrsuel


■ l>ctruiTeii


viinlo.



X


ich V


^ ;l. ;i. 0. S.


-a (\>


■fl


Hn^


. .Tiilie


c) Kürperliche Oebrechen als Reizmittel.

Dir licj-iilunto friin^^rwische Schriftetellcr 0ha

Jiii II il .■ I ;i i rc hiitlr Lielicsverhältni.*s mit hä

CM. widcruiiriiü:.-!! Perütuicn. Negerinneu, Zwei

len, llii-iiiiirii, (ic'L'cii eiTii' solir ^ehöno Frau änssei


..Ki'iuH


vom 21. Juli 184(1 i ■ iifl, Stuttg. 18!W) S.


— 489 —

er den Wunsch, sie an den Händen aufgehängt zu seilen und ihr die Füsse küssen zu dürfen. — Nach V. Krafft-Ebing „Neue Forschungen etc/^ (Un- zweifelhafte Entlehnungen aus S a d e).

d) Sadistische Venaesectio. (Affäre T ).')

Ein 36jähriger Kommandant, der ein Verhältnis mit einer jungen Dame angeknüpft hatte, zwang die- selbe, nachdem er sie mit Schimpfworten überhäuft hatte, unter schrecklichen Drohungen, sieh Blutegel an die Geschlechtsteile und den Anus ansetzen oder sich zur Ader zu lassen. Sobald Blut floss, verwandelte sich seine Wut in Zärtlichkeit, und er zwang sie, ihm zu Willen zu sein.

Ein verheirateter Mann stellte sich Krafft- Ebing mit zahlreichen Schnittwunden an den Armen vor und gab an, das-, wenn er sich seiner jungen ner- vösen Frau nähern wolle, er sich stets zuvor einen Schnitt beibringen müsse. Sie sauge dann an der Wunde, worauf sich erst bei ihr die sexuelle Erregung ein- stelle.') (Vergl. „Juliette" ITI, 233ff).

e) Affäre Michel Bloch. 3)

Die Einzelheiten über diese echt sadistische Affäre finden wir in der Pariser Zeitung „Gil Blas" (Nummern vom 14. und 16. August 1891). Die Anklage richtete sich gegen einen in Paris wohlbekannten Michel Bloch, Diamantenmakler, vielfachen Millionär, Be- sitzer der Herrschaft La Marche u. s. w., einen Mann von etwa 60 Jahren, glücklich verheiratet, Vater einer


J) Brierre de Boisniont a. a. O. S. 560.

2) R u s 8 a 1 k o w a. a. O. S. 76, 77.

»)A. Kulenburg „Neuropathia sexualis" S. 118 — 119.


— 490 —

18jährigen uiid einer lOjährigeu Tochter. Mitangeklagt war eine Kupplerin Frau Marehand, bei der die Zu- sammenkünfte Bloches mit seinen Opfern gewöhnlich stattfanden. Die erste Zusammenkunft Bloch's mit der Klägerin Claudine Buron gestaltete sich folgender- massen. Das Mädchen ^vu^de in ein Zimmer der Alarchand geführt und musste sich mit zwei Altersge- nossinnen, die sie dort vorfand (schon friiheren Bekannt- schaften Bloch's) vollständig entkleiden. Ganz nackt, ein Spitzentaschentuch in der Hand, betraten alle drei ein blaues Zimmer, in dem ein älterer Herr sie erwar- tete. Dieser Herr, den Clientinnen des Hauses unter dem Xamen „Fhomme qui pique** bekannt, war der An- geklagte Bloch. Er empfing seine Opfer, nachlässig auf einem Sopha hingestreckt, in einem Rosa-Atlas-Peig- noir, das reich mit weissen Spitzen garniert war. Die Mädchen mussten sich ihm einzeln, stillschweigend und mit einem Lächeln auf den Lippen (dies war ausdrück- lich verlangt) nähern; man reichte ihm Xadeln, Batist- taschentücher und eine Art Geissei. Die Novize, Clau- dine Enron, musste vor ihm niederknieen ; er stach ihr in die Brüste, ins Gesäss, fast in alle Teile des Körpers im Ganzen gegen hundert Xadeln. Dann faltete er ein Taschentuch dreieckig zusammen und befestigte es mit etwa zwanzig Xadeln auf dem Busen des jungen Mäd- (jhens, so dass ein Zipfel zwischen die Brüste, die bei- den übrigen auf die Schultern zu liegen kamen, und riss das «o festgesteckte Tuch mit einem brutalen Griff plötzlich ab. Nim erst, wie es scheint, recht erhitzt, fiel er über das junge Mädchen her, peitschte sie, riss ihr Büschel von Haaren am Unterleib aus, presste ihr die Brustwarzen u. s. w. und — befriedigte sich endlich an ihr vor den Augen ihrer Genossinnen. IHese hatten wahrend der Zeit ihm den Schweiss von der Stime ab-


p*


491


trockneu iiud plastische Stellungen annehnieii müssen. Alle drei wurden nun entlassen und empfingen von Herrn Blocli ein Honorar von 40 Francs. — Derartige Sitzungen wiederholten sich noch mehrmals. — Bloch, der als ein Mann von abschreckendem süuferartigen Aussehen, mit fliehender Stirn, gelber Perrücke, kleinen bläuHchen Augen, roter Plattnase und Kuebelbart ge- schildert wird, legte sich bei den Verhandlungen anfangs aufs Leugnen, lachte dann, als man ihn an die Einzel- heiten der obigen Szene erinnerte, und nahm eine Miene der Verwunderung darüber au, dass man um solche Lumpereien so viel Aufhebens mache. Der Gerichts- hof verurteilte ihn zu einem halben Jahre Gefängnis und 200 Francs Geldbusse, ausserdem civilrechtlich zu einem Schadeneresa tz von 1000 Francs an Claudiue Enron; seine Helferahelferin, die Marehand, zu einem ■Tahre Gefängnis. (Vergl. die ähnlichen Szenen in „Juliete" II, 284; IH, 55.)

f> Wort-Sadismus.

Ein dem Anschein nach sehr respectabler älterer Herr knüpft im Palais-Royal-G arten, den er regelmässig besucht, mit einem für seine Zwecke geeignet acheinen- deu weiblichen Wesen Bekanntschaft an, lässt sich auf derselben Bank, jedoch inimor in geziemender Entfer- nung von ihr nieder und bringt im T^ufe der Unterhal- tung die Frau, die in ihm einen Kunden wittert, dahin, sich in ihren Beden immer freier und unzweideutiger zu ergehen. Ist das erreicht, so zittert und „gluckst" er vor Entzücken, hjindigt seiner Partnerin fünf Franken zum Lohn ein, und empfiehlt sich '), (Vergl. ,, Philo- sophie dans le Boudoir" I, 129 u. ö.).


— 492 —

g) Nachahmung des Marseiller Skandals. ^

Im Jahre 1840 erregte der amerikanische Gesandte in Madrid grosses Aufsehen durch eine Skandalaffäre ähnlich derjenigen, welche der Marquis de S a d e im Jahre 1772 in Marseille veranstaltet hatte. Der Ge- sandte hatte schon öfter Excentricitäten im Genre des Marquis de S a d e begangen. Eines Tages lud er etwa 20 „Manolas" zu einem Souper ein, bei dem er an diese Mädchen stark irritierende Substanzen verteilte, die sie in eine hochgradig wollüstige Aufregung versetzten.


Wir könnten die Liste dieser offenbaren Imitationen des Marquis de S a d e noch vergrössern, halten es aber für unnötig und erwähnen nur noch, dass augenblicklich in „einer kleinen Strasse im Südwesten Berlins" ein sadistisch veranlagter Arzt wohnen soll.*)

1) „Ij€8 crimes de l'amour etc." S. 264.

2) „Deutsche medizinische Presse." 1899. Nr. 21. Wenn £ulenburg „Sexuale Neuropathie" (S. 101) von einem Manne brichtet, der nudas feminas mit brennenden Lichtern in ano um sich herumtanzen liess, so ist diese Idee ganz offenbar von S a d e suggerirt. der mehrere derartige Scenen schildert.


Schluss.


Es ist kein Zweifel, daaa den Werken dea Marquis ä e S a d e eine Bedeutung in der Geschichte der mensch- lichen Kultur zukommt, die ganz anderswo liegt als auf dem Gebiet der Pornographie oder der aberwitzigen autimoraliaclien Ideen, welche wir in diesen Schriften linden. Der Marquis de S a d e ist der Erste gewesen, der bewuast alle Erscheinungen der Natur und des sozialen Geschehens unter dem Gesichtspunkte des mensch- lichen Geschlechtslebens betrachtet hat. lieber den entsetzlichen Bildern entarteter Ge- sohlechtslust, welche aus einer genauen Kenntnis sexual- pathologischer Phaenomene entsprungen sind, darf jene eben angedeutete Grundtendenz der Seh rüts teilerei des Marquis de Sa de nicht vergessen werden. Sie ver- dient in kulturhistorischer, nationalökonomischer, ju- ristischer und ärztlicher Beziehung die ernsteste Be- achtung des wissenschaftlichen Forschers. Es giebt auch hier nur, wie Eulenburg — der rait seiner wert- vollen Abhandlung in der „Zukunft" recht eigentlich in Deutschland die Sade-Forschung inauguriert hat — sich ausdrückt, ein Objekt nnd ein Problem des Erkennen s. Ein geistvoller Psychiater, Dr.


— 494 —

PaulNaeckein Hubertusburg, beginnt seine neueste Studie über die Psychopathia sexualis mit den charak- teristischen Worten: „Immer klarer und klarer tritt der kolossale Einfluss der Genitalsphäre auf die Bildung des Ich-Complexes, auf den Charakter des Menschen zu Tage." ^) Wir fügen hinzu: immer klarer wird auch die Bedeutung des sexuellen Faktors in Gesell- schaft und Staat. Wir haben selten ein solches Denkerurteil gehört, wie uns gegenüber ein berühmter Anthropologe, der früher mehrere Jahre in Paris gelebt hatte, über die gegenwärtigen Verhältnisse in Frank- reich fällte. Er führte zu unserem nicht geringen Er- staunen die sozialpathologischen Erscheinungen, wie sie besonders in der Dreyfus- Affäre grell zu Tage traten, auf zwei Ursachen zurück: auf die geradezu ungeheuer- liche Verbreitung der sexuellenPerversionen aller Art und auf den — Absvnth ! Dies ist ein erleuch- tendes Wort. Wenn in der französischen Zeitung „Siecle" der ehemalige Dominikaner Hyacinthe L o y s o n und der Schriftsteller Yves Guvot den Gedanken entwickelten, dass der Katholicismus den, wie Ulis scheint, unaufhaltsamen Verfall Frankreichs her- beigeführt hätte, und Frankreich daher nach M i r a - b e a u ' s Rezept zunächst eiitkatholisiert werden müsse, so ist das nur eine halbe Wahrheit. Denn die Ursache des Triumphes der schwarzen Bande in Frankreich ist nach unserer Ueberzeugung vor allem die geradezu grauenhafte geschlechtliche Entartung in Frankreich, von der man in Deutschland kaum eine Ahnung hat. Dieses sexuell perverse Frankreich stürzt sich mit AVonne in die finsterste Mystik, in religiöse Ekstasen,


1) „Kritisches zum Kapitel der normalen und pathologischen Sexualität von P. N ä c k e. Arohiv für Psychiatrie. Berlin 180§. Hd. 32. Heft 2, S. 356.


— 495 —

und bedarf der jesuitiscbeii Moral und CaBuistik vne der Hungrige des Brodes. Es ist kein Zufall, dasa z. B. Maurice Barres, dieser dekadente Lüstling, das Banner des nationalißtiscHen Clericalismus schwingt. Nur vom Standpunkte einer sexualpathologLsehen Erklä- rung kann man gewisse direkt an äadistische Vor- kommnisse erinnernde Aeuäserungen und Ausschrei- tungen des französischen Volksgeistes verstehen, wie z. B. die planinässig durchgeführte Attacke gegen den unglücklichen Dreyfus. Mercier bekommt vom General Boisdeffre den Auftragj ein belastendes Df>cument gegen Dreyfus herzustellen. Er lässt daft'ielhe durch den berüchtigten Esterhazy schrei- ben und dann in den Papierkorb der deutschen Bot- sclijift werfen. Nun folgt die Verhaftung, Degradation und Deportation eines Unschuldigen, von dessen Un- scliuld der ganze Generalatab, und nicht weniger die Herren D r u ni o n t und Rochefort genaue Kennt- nis hatten. Aber daa Opfer auf der Teufelsinsel muas noch weiter gemartert werden. Man entzog ihm die Nahrung oder reichte ihm ungenieasbare, mderliche Speisen, man belog ihn und spiegelte ihm die untreue seiner Frau vor; schrieb er in der entsetzlichen Einsam- keit ein Wort auf Papier, so wurde ihm dieses entris-sen : schliesslich legte man ihn in Ketten, die ins Fleisch schnitten. Max Nordau hat mit Lebhaftigkeit ge- schildert, wie sich an diesen Grausamkeiten gegen einen Unschuldigen die ganze Lügner- imd Eälseherbande in echt sadistischer Weise geradezu berauschte.'! Er hat


1) Voas, Zeitung vom 31. Juli 18Ö9. — Wenn Herr Henri Albert im „Morcure de France" (April 1000) mich wfgen dieser Vergl«icbung der Dreyfuagegner mit Sadisten verspottet, so er- widere ich ilim, diisB dieselhe ho nahe liept. dast ich sogar nicht cinmiil die Priorität habe. Denn sein Land'^ninnii Ö c t a v c


— 496 —

auch darauf aufmerksam gemacht, dass der grööste Teil der tonangebenden Antidreyfusards aus Lebemännern und WüstKngen bestand. Aehnlich wie bei der Dreyfus- Affäre zeigten sich auch in der Affäre V o u 1 e t - Chanoine sadistische Anwandlungen im französi- schen Volke. Diese beiden Helden hatten ihren Vor- gesetzten, den Obersten K 1 o b b , mitten in Afrika ein- fach erschiessen lassen. Auch sie fanden — so unglaub- lich es klingt — in der nationalistisch-antisemitischen Presse leidenschaftliche Verteidiger, die von Helden- mut, von der Besonderheit afrikanischer Verhältnisse u. s. w. faselten.^) — In allen diesen Dingen macht sich jenes „eigentümliche gallokel tische Element des fran- zösischen Volkscharakters bemerkbar, dem neben dem frivol-erotischen auch der lüstern-grau- same Zug von jeher nicht fehlte und der in V o 1 - t a i r e ' s Kennzeichnung seiner Landsleute als „Tiger- affen" den zutreffendsten Ausdruck findet." *)

Wir haben oft ernsthaft die Frage erwogen, ob unserm Vaterlande auch ähnliche Gefahren drohen, wie


M i r b e a u hat in seinem vor meinem Buche erschienenen Roman „Le Jardin des supplices" Paris 1900 S. XII dieselbe Ana- logie. „L'affaire Dreyfus nous en est un exemple admirable, et jamais, je crois, la passion du meurtre et la joie de la chasse ä l'homme, ne s'ßtaient auBsi compl&tement et cyniquement 6tal6e s." Nun, Herr Albert?

1) Dass auch hier meine Ansicht, dass es sich um zwei Sadisten handelt, richtig ist, beweisen die geradezu ungeheuer- lichen Enthüllungen des Abgeordneten Vi g n 6 in der Sitzung der französischen Deputiertenkanmier vom 23. Nov. 1900. V o u 1 e t und Chanoine Hessen Hunderte von Eingeborenen rein aus Vergnügen am Morden töten, Hessen Hände und Köpfe ab- schneiden, mit Lanzen erstechen und dgl. Scheusslichkeiten mehr verüben. Freilich sind nicht blos Franzosen solche Bluthunde. Auch wir Deutschen haben eitlen Prinzen Proeper v. Arem- berg!

2) A. Eulenburg „Der Marquis de Sade" S. 610.


— 497 —

sie in Fraijkreieh aus dar zuuelinieiideii sexuellen Ent- artung sich ergeben, die bereit« zu einem Bevölkerungs- slilUtande geführt hat. Nun besteht zwar zwischen dem deutschen und fvanzÖBisehen Volke auch in sexuel- ler Hinsicht ein gewaltiger Unterschied, und schon K u r t z hat darauf aufmerksam genjaoht, dass in die- nern Punkte aeit alter Zeit ein greller Ktmtrast zwischen beiden Nationen besteht, wie er sich achi'u in der Schil- derung der germanifiehen Sitte und Zucht bei Taci- t u s und der bei Gregor von Tours in dessen Geschichte der Franken offenbart. Dort rohe, aber edle Einfalt. Gradheit der Sitten, Zucht und Keuschheit des Lebens, Heilighaltung der Ehe, Treue, Ehrenhaftig- keit; hier die kolossale Entartung der merowingischen Zeit, brutale Zuchtlosigkeit. treulose Verräterei, Mein- j^iHigkeit, Heimtücke, Mordpläne, Giftmischerei, Un- ersättlichkeit nach Sehätzen, AtiSBchweifungen im ge- schlechtlichen Leben. Und obechon die schwärzesten Farbeu des Gregor'aclien Gemäldes den Kreisen des lloflebeus angehören, so behauptet Kurtz ganz rich- tig, dafi*i Entartung auch im Volke eingerissen war.') Schon S a 1 V i a n von Marseille (t 48,'> n, Chr.), der von der sittlichen Verwilderung seiner Zeit in Frankreich ein schreckliches, alwr getreues Bild entwirft, behaup- tet, dass Gott den deutschen Eroberern das Reich hin- gegeben, weil sie frömmer als die Römer seien.')

Indessen seien wir im Hinblick auf diese ange- Wirene und immer wieder durchbrechende sittliche Kraft unseres Volke.a nicht zu vertrauen^'voll in Be- ziehung auf unsere Widerstandsfähigkeit gegen die


1) (1, Ro=koff „Gfwhiohip des Ttii M. 11, S. fiO. 3) ibidem. Uühreo. Stadien L Der Maiquü de StÄe.


— 498 —

immer mehr Platz greifenden verderbliehen Einflüsse aller Art.

Es ist unsere feste Uebera&eugung, die \vir mit einem der gi'össten deutschen Irrenärzte, unserem lang- jährigen Lehrer E. K r a e p e 1 i n teilen, dass die grösste Zahl der geschlechtlichen Pervensitäten erworben und nicht angeiboren ist. Nichts reizt so zur Nach- ahmung wie sexuelle Dinge und Praktiken aller Art, seien sie noch so ekelhaft! In der dritten Szene von M o 1 i e r e ' s „La Critique de TEcole des Femmes" kommt ein Zwiegespräch vor, das auf eine höchst naive Weise diese Wahrheit ausdrückt:

„C 1 i m e n e — II a une obscenite qui n'est pas supportable.

Elise. — Comment dites-vous ce mot-lä, madame?

C 1 i m e n e. — Obscenite, madame.

Elise. — Ah ! mon dieu, obscenite. Je n e sais ce que ce mot veut dire; mais je le trouve le plus joli du mond e."

Ja, das Wollüstige, das Obscöne zieht unwidersteh- lich an, fast jeden Menschen! Denn der Ge- schlechtstrieb ist nun einmal, wenigstens eine lange Zeit, der Brennpunkt des menschlichen Lebens, und dann ist Manches „le plus joli du monde."

Wir haben immer diejenige Paedagogik für die beste gehalten, welche mehr negativ ist und das Böse von dem jugendlichen Gemüte abwehrt, statt dieses mit frommen Lehren vollzupfropfen. Am gefährlichsten sind für die Jugend schriftliche und bildliche Darstel- lungen den Entartungen des Geschlechts- triebes. Eine traurige Wahrheit spricht R e t i f de la Bre tonne in der Einleitung seiner „Anti- Justine" aus, wenn er schreibt: „Fönten eile eagte: „Es giebt keinen Kummer, der gegen eine Stunde T^k-


türe Stand hielte. — Nim ist aber von allen Lektüren diejeiHge der erotischen Werke die anzieliendäte (la plu» eutraiiiunte), besundors wenn dieselben mit aus- drucksvolien (expressives) Figuren au^estattei sind." Man sollte die Worte belierzigen, die Emile Zola, dieser freie und grosse Geist, an einen Vater schrieb, der ihm die Frage vorlegte, ob seine Tochter den „Dok- tor Pascal" lesen dürfe. Er antwortete: ,,I e h schreibe nicht für junge Mädchen, und ich denke, dass nicht jede Lektüre für Gehirne gut ist, die noch in der Entwickelung begriffen sind. ^ Später, weun das Leben sie frei macht, werden sie lesen, was sif wollen." ') Den verderblichen Einfliiss der modernen naturalistischen Litteratur schildert Seved Rib- bln g in seinem ausgezeichneten Buche über die „sexuelle Hygiene", dessen Lektüre wir jedein Paeda- gogen empfehlen möchten.*)

Auch die Kunst hat sieh leider zu allen Zeiten in den Dienst der Wollust und der sexuellen Perver- sion gestellt. Seved Ribbing versichert, daas er öfter bei einem Besuche von Studenten oder anderen jungen Männern Wände und Schreibtisch derselben mit Abbildungen mehr oder weniger entblösster Frauen be- deckt gefimden habe, mit Photographien der Fräulein X. und Y., von Kunstreiterinnen, Cafe-Sangerinnen, ■welche „mit und ohne Kleidung in den unglaublichsten Stellungen und Verrichtungen dargestellt sind."' Rech- net man noch allerlei andere obseöne Bilder hinzu, welche mit „Cigarrenetuis, Breloques, Stöcken und auf tausend anderen Wegen eingeschmuggelt, wohl auch öffentlich in den Tagesblättem angezeigt werden, so fin-

>) VoHsischi! Zeitung No, .,20 vom 4. Novemlivr 189S. -) ß. Ribbinf; .Jüe semelle Hygiene und ihre ptbiBchen KonBpquennpn". 9, Aufl. Leipzig lft»2, H. M4— »4,


— 500 —

det man, daae die Verführung auf recht vielfache Weise arbeitet." *) Xach E u 1 e n b u r g existiert sogar ein Sadismus in der Kunst oder „mindestens eine nicht geringe Zahl oft mit virtuoser Technik ausgeführ- ter, aber in bedenklicher Weise sadistisch wirkender Schöpfungen in Malerei und Sculptur. Er erwähnt R o d i n ' s „Pforte der Dantesdien Hölle", F r e - m i e t ' 8 „Gorilla, der ein Weib raubt^", Galliard- Sansonetti's „Brunhild", Rochegrosse's „Andromache", „Jacquerie", „Eroberung Babylons", Albert Keller's „Mondschein*, R i c h i r ' s „Verderbtheit" und K 1 i n g e r ' s „Salome".^) Dass J. »T. W i n c k e 1 m a n n durch das Studium des grie- chischen Altertums und der griechischen Kunst zur Knabenliebe sich bekehrte, ist uns sehr wahrscheinlich und bei der Betrachtung des von ihm so sehr geliebten „Pan" in der Münchener Glyptothek noch mehr zur Ge^vi3sheit geworden. H ö s s 1 i sagt in seinem gedan- kenreichen Werke über den „Eros"^): „Nach unseren ^[einungen und Auslegungen müsste das Studium der Antike eigentlich ein gefährliches Bestreben, und Ix)n- don, Paris, Rom und München mit ihren antiken Kunst- schätzen gefährliche Orte sein, welche unsere Zeit der reinen Moral und Sittlichkeit mit der Pest der natur- abtrünnigen Griechen bedrohen !"

Zweifellos wird der Einfluss der Litteratur und Kunst bei weitem überboten durch die direkte Verführung, von der sich behaupten läöst, dass sie alle Arten der sexuellen Perversion zu erzeugen ver- mag. Tarnowsky erklärt paederastische Kreise


1) a. a. O. S. 94—95.

2) A. Kulenburg „Neuropathia sexualis" S. 120.

8) H. Hössli „Eros". Die Männerliebe der Griechen etc. 2. Aufl. Münster i. d. Schweiz 1892. S. 113.


501


als ,,iiijii-litige Zentren für die Propaganda der Sittc-ii- Verderbnis", die durt-h „Erfahrung uüd Beispiel'" junge Subjekte verführen. In Paris werden zebn- bis zwölf- jährige Kinder duriih Ueberredung und Drubungen allraubKch zur Masturbation und Sodomie verleitet und dann zu denunzierenden Kyuaeden herangebildet — ■ ,.lert petita Jesus", wie man sie nennt.') Und angesiehts dieser Thatsaehen denkt mau an Aufhebung des ^ 175 (iea deutschen Strafgeatzbuehes ! Das hiesee den Teufel durch Beelzebub austreiben. Mögen lieber die paar im glücklichen hereditären Uruinge leiden als dass die Pftederaatie, das entsittlich endate aller sexuellen Last«r, für erlaubt und straflos erklärt wird.

Das« es sogar Kotesaer aua blosser Gewöhnung giebt, erwähnt Tarnowsky ebenialls (S. TO).

Nichts erscheint uns ungereimter als der Aus- spruch von H o b b e s in seinem „Leviatban"' (Pars I, cap. 6). „Älienae calamitatie contemptuß noiniuatur- crudelitas, proceditque a propiae aeciiritatis opinione, i^am ut ftliquis sibi placeat in nialis alieuis sine alio fine, videtur mihi i m p o a a i b i ] e." Würden die Hinriebtungen wieder öffentlich oder die altriimiBchen Gladiatorenkärapfe wie- der eingeführt werden, dann würde auch die Zahl der Liifttinorde sich vermehren. Noch neuerdings halben wir in den Komorner Folterem Anklünge an die alte Inquisition wieder bekommen. Hobbea kannte die menschlicbe Natur zu schlecht.

Wie die einzelnen sexuellen Porveräionen a 1 1 - ratthlieh erworben werden, schildert imüber- tretflich Tarnowsky: „Der entsittlichte Mensch wendet Allee an, was zur Steigerung der Wollust bei-


L. O. f-. 90 und 101.


— 502 —

tragen kann. Das Gesicht, das Tastgefühl, Gehör, Ge- ruch, sogar der Geschmack zuweilen, kurz alle Sinne wer'den nacheinander, oder zugleich, in gewisser Weise gereizt, um die geschlechtliche Erregung zur möglich- sten Intensität zu bringen. Unter diesen Erregungs- mitteln kommt auch die passive Paederastie vor, als zufällige Nebenerscheinung, als ein neuer Keiz, wel- cher die Erregung steigern kann, die gewöhnlich zum Schluss duröh Beischlaf mit einem Weibe befriedigt wird. Zuweilen wird auch der Gebrauch äusserer und innerer Beizmittel, die Lektüre pornographischer Schriften hinzugezogen u. s. w." ^)

Und als eine Illustration der erschreckenden Wahrheit des M o 1 i e r ersehen „le plus joli du monde" erscheint der Ausspruch dieses erfahrenen Kenners des modernen Lebens: „Gegenwärtig erscheint das Laster in den Augen der M-ehrheit nicht nur verführerisch durch die Kraft, Neuheit oder Mannigfaltigkeit der Empfindungen, sondern es verleiht in der Sphäre der eigentlichen Geschlechtsthätigkeit dem Wüstling einen gewissen Anstrich von Epikuräismus, Ausgesuchtheit, Verwöhntheit und Ueberlegenheit vor anderen Men- schen, die anscheinend weniger entwickelt, aber sitt- samer und enthaltsamer sind." ')

Der geschlechtlichen Corruption kann nur auf eine einzige Weise entgegen gearbeitet werden. Die Be- kämpfung der Prostitution, des Mädchenhandels, der, wie die Verhandlungen der internationalen krimina- listischen Vereinigimg in Budapest (1899) gezeigt haben. An oder eine grosse Ausdehnung angenonmien hat, des Alkoholismus, der Verführung durch Bücher, Schaustellungen u. s. w. sind nur Palliativmittel.

1 ) T a r n o w ß k y a. a. S. 141.

2) a. a. O. S. 147.


— 503 —

Schon Seved Kibbing betont, dass nur die Auf- klärung, d. h. geistige Bildung, das nun einmal in d^r Welt vorhandene Uebel paralysieren könne (a. a. O. S. 93). Wir haben in der Einleitung dieses Werkes als das wahre Ziel der menschlichen Liebe die geistige Freiheit, den Gedanken, den BegriflF, als das wahrhaft Objektive und Unvergängliche kennen gelernt. Die Grundlage jeder Ethik ist die Reflexion, der Verstand, den W. Stern mit grossem Unrecht ganz aus der Ethik entfernen will. ^) Er will die Ethik ganz auf die Gemütswelt basieren. Das ist Utopie. ITur wo der (xeist, der Begriff in der Welt herrscht, kann wahre Sittlichkeit gedeihen. Denn die wahre geistige Natur des Menschen entbehrt nicht des Gemütslebene, sie hebt Cr? nur mit sich empor und adelt es. Mit dem Ge- mixte allein verdirbt man alles in „einer eisernen Zeit, inmitten enister Erforschimg des Wirklichen*^^) Schön sagt Hegel, dass gerade „aus dem Ueberdruss an den Bewegungen der unmittelbaren Leidenschaften" sich der Mensch zur Betrachtung und geistigen Durch- dringung der Dinge heraus madit. Weder die Liebe, noch die Freundschaft, noch die Familie, noch Kunst und Religion an und für sich vermögen die dem Mensehen inneTvohnende Sehnsucht nach dem Ewigen zu befriedigen. Alles gipfelt im Erkennen. „Die Seligkeit des Erkennents ist die höchste menschliche Befriedigung, sie ist die unvergängliche Quelle, von der ein Trunk den Durst auf ewig stillt; sie ist das, was ich den absoluten Genuss nenne. Die Sehnsucht nach dem Ewigen, dieser Heimat des


1) W. Stern »«Kritische GruiKlleg^ng der Ethik als positive Wissenschaft". Berlin 1897. S. 238.

2) E. Du Bois-Reymond .^dalbert v. Chamisso als Naturforscher". Leipzig 1889. S. 57.


— 504 —

Geistes, kann sieh nur im Wissen befriedigen; in allen fniheren Formen der Befriedigung, in dem natür- lichen Genüsse, in der Liebe, dem Staate, der Kunst, der Religon, konnte sich das wahre Bedürfnis des Geistes nie ganz erfüllen, jede dieser Formen blieb mit einem Widerspruch behaftet, der erst in der Philosophie sich zur vollen Befriedigung auflöste.^* ^)

ISTiemand hat wohl begeisterter die veredelnde W^irkung der geistigen Bildung auf die Moralität ge- priesen, als die beiden grossen englischen Philosophen des 19. Jahrhunderts, die wahren praktischen Lebens- künstler Buckle und L e c k y. Nach Letzterem versteht es sich von seihst, dass „jeder Einfluss, welcher den Bereich und die Kraft des VorsteUirngsvermögem* vergrössert, auch die liebenswüi^igen Tugenden beför- dert, und ist es ebenso klar, dass die Erziehung diese W^irkung im höchsten Grad besitzt. Ein ungebildeter Mensch kann sich von den ihm fremd gebliebenen Men- schenklassen, Völkern, Gedankenrichtungen und Exi- stenzen keine Vorstellung machen, während jede Erweiterung des Wissens eine Erwei- terung der Einsicht und daher des Mit- gefühles mit sich bringt. — Dieselbe intellec- tuelle Kultur, welche die Vergegenwärtigung des Schmerzes erleichtert und daher Mitleid erzeugt, er- leichtert auch die Vergegenwärtigung der Charaktere und Meinungen, und erzeugt daher Milde. Die Er- rungenschaft dieses Vermögens der intellectuellen Sympathie ist die gewöhnliche Begleiterin eines grossen und gebildeten Geistes.'^ ^)


1) K. Fischer „Wotima". Stuttgart 1852. S. 4. 2) W. E. H. Leeky „Sittengeschichte Europas von Augustu» bis auf Karl den Grossen" übers, von H. J o 1 o w i c z. 2. Aufl. Leipzig und Heidelberg 1Ö79. S. 120 — 121.


— 505 —

Der Gedanke an den Tod und un die ewige Ver- geltung, mit welcher manche Moralisten und fast aUe Confessionen den fleischlichen Sünder bedrohen, i.-t nach unserer Ansicht eher geeignet, die Si n n 1 i p h - keit zu schüren, wie ja auch gerade die mit Hölle und Fegefeuer drohende katholische lürche unter ihren Bekennern nicht eben sittlich reinere Menschen ziihlt als die übrigen Confessionen. Uns erschien immer der siebeuundsech'zigste T^chrsatz de? vierten Teiles der Ethik des Spinoza als eine der erhaben- sten Maximen der Lebensweisheit:

„Der freie Mensch denkt über nichts weniger nach, als über den Tod; und s'eine Weisheit ist nicht ein Nachdenken über den Tod, sondern über das Leben,"

Was nach dem Tode sein wird, das hat S o k r a - tes in den herrlichen Schluss Worten der platonischen ,, Apologie" verkündigt '), Wir aber sind im Lelwn, welches dem Geiste so unendlich viele, anziehende und der Erforschung würdige Probleme bietet. Beherzigen wir des Septiiuins Severus gedankenschweres Wort „Laboremus", arbeiten wir unausgesetzt an unse- rer Ver\-ollkomninung. die nicht anders möglich ist als durch geistige Thätigkeit, und lehren wir auch unsere Kinder die ,. Seligkeit des Erkcnnens". dann werden wir unseren Nachkommen ein Bekenntnis or^paren, in w-el-


I ) Eine dar »cliönsten von den vielen balb heidniät-Iieii Sagi-n des mittel alter Uuhen Irlands ist dip von den Inseln d«-i Lebens und de« Todea. In einem gpwisseii See in Munster gab e» »wei luaelni in die eine konnte der Tod nieht dringen, aber Alter lind Krankheit und liebennfiberdruss und ParoityMneu fürch- terlichen Leidens wuren dort lieimisah und verrichteten ihr Werk, bis die Einwohner ihrer Unsterblichkeit müde, auf die gegenüber- liegende fnse) als auf einen Hafen der Ruhe schauen lernten, iliii.' Barken in das dunkle Gewaaser steuerten, ilas Ufer erreichten und Kur Ruhe gelangten. — Leck y a, n. O. I, f-. 183.


— 506 —


ches eines jener verderblichen Bücher des 18. Jahr- hunderts, der „Faublas" elegisch ausklingt: „Beklagen Sie mich nicht; beneiden Sie vielmehr mein Loos und sagen Sie nur, dass es für glühende und gefühlvolle Menschen, die in der ersten Jugend den Stürmen der Leidenschaften preisgegeben waren, nie mehr ein voll- kommenes Glück auf Erden giebt/'


V. Bibliographie.

1. Romane und Novellen.

1. Justine ou les Malheurs de la vertu, en Hollande, chez les Libraires associßs, 1791, 2 Bände in 8, 283 und 191 Seiten. Titelbild von Ch6ry. (Erwähnt im Katalog von Pix4r6court unter No. 1239). Neudruck als „Liber Sadicus" Paris 1884 in 8o 340 Seiten (bei I. Liseux). Auch englisch.

2. Justine ou les Malheurs de la vertu, en Hollande, chez les Libraires associßs, 1791. 2 Bände in 12o. Kleines Titelbild von Texier. Einige Exemplare dieser Ausgabe enthalten 12 obscöne Bilder mit Totenköpfen, Ketten und Hin- richtungsinstrumenten. Enthält bereits die ersten textlichen Vergröberungen .

3. Justine ou les Malheurs de la vertu, ft Londres (Paris, Cazin), 1792. 2 Bände in 16o von 337 und 288 Seiten. Hübsches Titelbild nach Ch6ry und 5 obscöne Bilder ohne Namen. Aus der geheimen Druckerei von Cazin. Hier sind ganze Szenen umgearbeitet.

4. Justine ou les Malheurs de la vertu, 3me Edition (4me) corrig^ et augmentße, ä Philadelphie, 1794, 2 Bände in 18o, mit 8 obscönen Bildern, unter ihnen ein allego- risches Titelbild ohne Namen. Im Vorwort ein „avis de Töditeur" und eine Widmung des Autors ,^A ma bonne Amie". Sehr schöne Ausgabe.


— 508 —

5. Justine oii les Malheurs de la vertu, ü Ix>ndres (Paris) 1797, 4 Bände in 18P mit 6 Bildern und neuen Episoden. Eine typographische Luxusausgabe.

6. Justine ou les Malheurs de la vertu, en Hollande, 1800, 4 Bände, in 18o von 136, 134 und 132 Seiten, 12 obscöne Bilder, von denen 4 Titelbilder sind. Nachdruck der Aus- gäbe Cazin von 1792.

7. Juliette ou la Suite de Justine, l^re edition S. L. 1796, in 8« 4 Bände. — Ferner Kehl 1797 (ohne Bilder) und 1798 (60 Bilder) 6 Bände in 18o.

8. La Nouvelle Justine ou les Malheurs de la vertu, suivi de l'Histoire de Juliette sa so eur, ou les Prosp^rit^s du vice, Hollande ( Pari», Bertrandet oder Didot?), 1797, 10 Bände in 18«. Die „Justine" umfasst 4, die „Juliette" 6 Bände. Ein Titelbild und liK) BUder, bei dem 2ten Nachdruck 104. Am Ende von Band VI Anweisung an den Buchbinder betreffs Reihenfolge der Bilder, fehlt meisten«. Die Zahl der Bilder ist in vielen Exemplaren eine geringere als 104, meist 100. Häufige Nachdrucke des Werkes sclion in den ersten Jahren nach Erscheinen, mit Lithographien, z. B. eine durch C o 1 n e t besorgte. Die modernen in Belgien seit 1830 ver- anstalteten Ausgaben haben denselben Titel und dasselbe Datum. (Eine vollendet im Oktober 1875 zu Brüssel.)

0. La Philosophie dans le boudoir ou les Instituteurs libertins. Dialogue. Ouvrage posthunie de l'auteur de Justine. A Ijondres (Paris), aux d^pens de la Compagnie, MDCCXCXC; (für 1795), 2 Bände klein 18», 290 und 216 Seiten, 1 Titelbild und 4 obscöne Bilder. Diese Ausgabe neuerdings in Belgien mehrere Male (1868 u. ö) nachgedruckt. Motto: La möre en prescrira la lecture ä sa tiUe.

10. La PhiHo Sophie dans le boudoir, ou les Instituteurs immoraux, Ouvrage Posthume par Taut^ur de Justine. London, aux d6pens de la Compagnie MDCCCV. 2 Bände, klein 8», 203 und 191 Seiten, 10 obscöne Lithographien.

11. La Philosophie dans le boudoir, Londres (Paris), 1830, 2 Bände in 18« mit 10 Lith )-raphien. In einigen Exemplaren schlechte Photographien.


— 509 —

12. Aline et Valcour ou le Roman philosophi- q 11 e. Ecrit Ä la Bastille im an avant la Revolution de France. ()rn6 de qiiatorze gravures. Par le Citoyen S***. A Paris, Chez Girouard, Libraire, rue du Bout-du-Monde, no. 47, 1793. 4 Bände in 18'» (8 Teile) XIV, 315, 603, 575, 374 Seiten. 14 nicht ohscöne Bilder.

13. A 1 i n e et Valcour ou le Roman philoso- p h i q II e. Elcrit A la Bastille un an avant la Revolution de France. Orn6 de quatorze gravures. Par le Citoyen S***. A Paris. Chez la veuve Girouard, Libraire, au Palais Egalite, Galerie de Boi»?, No. 196. 1795. — Eine andere gleiche Ausgabe desselben Jahres enthält 16 Bilder. Im Vorwort 7 lateinische Verse aus Lucrez.

14. Aline et Valcour ou le Roman philoso- p h i q u e , dcrit ä la Bastille, un an avant la Revolution, par le Citoyen S*** Paris, Maradan, 1795, 8 Teile in 18o mit Bildern und neuem Titelbild (Veritas impavida). Von „Aline et Valcour" existieren mehrere Neudrucke. Letzte Ausgabe, Brüssel 1883 bei J. J. Gay, 4 Bände in 8o.

15. Valnior et Lydia ou Voyage autour du moncle de deux amants qui se cherchent, Paris, Pigoreau ou Leroux, an VII, 3 Bände in 12o. Abgekürzte Copie von „Aline et Valcour."

16. Alzonde et Koradin, Paris, Cercoux et Montar- dier, 1799, 2 Bände in 18o. Abgekürzte Copie von „Aline et N'alcour**.

17. La Marquise de Ganges, Paris, Buchet, 1813, 2 Hände in 12o. Langweiliger Roman, der dem Marquis de Sade zugeschrieben wird, (von Pigoreau in der „Petite Biblio- graphie biographico-romancidre" Paris Oktober 1831 S. 309.) Nach Q u e r a r d hat de Sade hier eine historische Thatsache ver- ändert, indem er die Marquise zum Werkzeug und Opfer ihrer unwürdigen Schwäger und ihres Gatten werden lässt. Das Motto des Werkes lautet: ,J/e ciel qui ne laisse rien d'impuni sur la terre, vengera la vertu des outrages dont le crime eher che ä recraser." Gay citirt die folgende Stelle, die nach seiner Ansicht Kadischen Geistes ist: „Le crime est si cruel ä peindre, les couleurs dont un historien fidele doit le nuancer, sont ä la fin si sombres et si lugubres, qu'au lieu de l'offrir ä nu, on preförerait souvent


— 510 —

se laisser deviner ou se traeer Iui-m(^me plus par les faits qui le constituent que par les crayons d^oütants, dont on est forcß de le dessiner. II est si facile d'6luder les lois; il est tant de crimes secrets qu'elles n'atteignent pas, et rhomme puissant les brave avec tant d'audace." Gay ,3ibliogr. de ramour" IV, S. 428 — 429.

18. Pauline et Belval ou les Victimes d'uu amour criminel, anecdote parisienne du XVIIIe si^le, avec romances et figures Paris an VI (1798), 3 Bände in 12o, und Paris, chez C h a m b o n , 1817, 2 Bände in 12o mit Bildern. — Nach Pigoreau von Sade.

19. L'Etourdi, Lampsaque, 1784. 2 Bände in 18o. Nath Paul Lacroix von Sade. Enthält ein Kapitel („La com6die" ) über S a d e ' s Theater in La Coste. Wird auch dem Andrea de Nerciat zugeschrieben. Neuausgabe Brüssel (Gay et Douc6) 1882, 2 Bände kl. 8. 138 und 104 S.; mit 2 Titelbildern von C h a u V e t. Vgl. Gay-Lemonnyer ,3iWiogr. de Tarn.*' II, 176.

20. Les Grimes de l'Amour ou le D6lire des passions; Nouvelles historiques et tragiques, pr^c^ßes d'une Id6e sur les Romans et orntes de gravures, par D. A. F. Sade, auteur d'Aline et Valcour. A Paris, chez Mass6, an VIII. 2 Bände in 80 und 4 Bände in 12o, 4 Titelbilder. Motto, aus den „Nights'- von Young entlehnt: Amour, fruit d^licieux que le ciel permet ä la terre de produire pour le bonheur de la vie, pourquoi faut-il que tu fasses nattre des crimes, et pourquoi Thomme abuse-t-il de tout? — Die Titel der 11 in dieser Sammlung enthaltenen Novellen lauten: Juliette et Raunai, ou la Gonspiration d'Am- boise — La Double 6preuve — Miss Henriette Stralsond — Faxe- lange — Florville et Gourval — Rodrigue — Laurence et Antonio — Emestine — Dorgeville, ou le Criminel par vertu — La com- tesse de Sancerre — Eugene de Franval.

21. Zolo6 et ses deux acolythes (sie) ou Quel- ques DOeades de la vie de trois jolies femmes. Histoire v^ritable du sidcle dernier, par un contemporain. A. Turin (Paris) chez tous les marchands de nouveaut^s. De Tlmprimerie de Fauteur. Thermidcnr, an VIII, in 12. Ein Titelbild, welches Josephine de Beauhamais, Madame Tallien und die Visconti darstellt (Laureda, Volsange sind die beiden letzteren, Zolo6 die erstere).


— 511 —

22. ZoIo6 et ses deux Acolytes Discours aux Manes de Marat L'Auteur des Crimes de l'Amour ä Villeterque Avec Notiees Biogra- ph i q u e s Bruxelles Chez tous les libraires 1867 und 1870, in 120. Cn und 178 S. Titelbild von F. Rops.

23. Dorci ou la Bizarrerie du Sort, Conte inMit de de Sade, chez Charavay Paris 12o, 1 Titelbild, 1881, enthält auch An. France ,^otice sur de Sade", 22 Seiten.

24. L'Auteur des Crimes de l'Amour ä Ville- terque, folliculaire. Paris, Mass^ an IX, in 12o 19 S. (Antwort auf einen Angriff von Villeterque im Journal de Paris von 1800.)

25. Co u p 1 e t s chant^s ä Son Eminence le Cardinal Maury, le 6 octobre 1812 ä la maison de sant6 prös de Charenton, in

Revue rötrospective Paris 1833. Bd. I, 8. 262 ff.


2. Dramatische Werke.

26. Oxtiern ou les Malheurs du libertinage, drame en 3 actes et en prose, par D. A. F. S. Versailles, Blaizot, an Vni, in 8«, 48 Seiten. (Im November 1791 und Dezember 1799 aufgeführt.)

3. Manuscripte.

27. T r e n t e „Conte s".

28. Le Portefeuille d'un homme de lettres, 4 Bünde, geschrieben 1788 in der Bastille).

29. C o n ra d : historischer Roman aus der Albigenserzeit. (Confisciert 1801.)

30. Marcel; Roman.

31. Isabelle de Bavi^re; ein historischer Roman, in Charenton verfasst.

32. Adelaide de Brunswick; ein historischer Roman eben dort geschrieben. Beide Romane düster, aber ohne Blas- phemien und Obscönitäten.


— 512 —

33. 5 Hefte Bemerkungen, Gedanken, Aus- züge. Lieder u. s. w. aus der Zeit des letzten Aufenthaltes in Charenton.

34. L e s 120 Journ^es de Sodome ou l'Ecole du Libcrtinage, 6crites en 20 soirßes, de 7 ä 10 heures, et linies le 12 November 1785. Ein Manuscript des Marquis de S a d e besitzt gegenwärtig der Marquis d e V. — , dessen Gross- vater es von Armoux de St. Maximin erhielt, der bei der Zerstörung der Bastille zugegen war und dieses kostbare Manuscript in dem Räume fand, in dem der Marquis de 8 a d e gefangen gesessen hatte. Pisanus Fraxi (Index librorum prohibi- torum, London 1877 S. 422 — 424) beschreibt es folgendermassen : Das Manuscript besteht aus einer Reihe von Papierstücken, 4^^ Zoll oder 11 Zentimeter breit, alle zusammengeheftet und eine Rolle von 12yio Meter bildend. Jedes Stück Papier ist auf beiden Seiten bescluieben mit der Handschrift des Marquis de S a d e und so kleiner Schrift, dass man die Buchstaben mit einem Vergi'össerungsglase lesen muss. Das Manuscript enthält eine kurze Vorrede und 52 Kapitel; es werden darin die That en einer (resellschaft von Wüstlingen beider (Geschlechter erzUhlt, die zwei Häuser in der Nachbar- .schaft von Paris hat und enorm reich ist. Der Roman ^t so obscön wie die „Justine", aber nicht so reich an philosophischen Excursen. Er schliesst: „terminße le 25. Nov. 1783." i) Fraxi hält dies Ms. für die von R§tif de la Bretonne häufig er- wähnte „Thöorie du libertinage". Gegenwärtig befindet sich dies Maniiscript in den Händen eines Marseiller Buchhändlers, der es für 5000 Frcs. zum Verkauf anbietet. 2)

35. Entwurf einer Bordelleinrichtung, im Besitz des Pariser Bibliophilen M. H. B.8) Diese« Project des Marquis de Sa de erwähnt R§tif de la Bretonne in ..Monsieur Nicolas** Bd. XVI, S. 4783.


1) Titel und Schluse* des Werkes geben also ein verschie- denes Datum an. Dies deutet auf eine wiederholte Durchsicht des Manuscriptes hin.

2) Dies Manuscript wurde durch Vermittelung des Autors dieses Werkes angekauft und im Jahre 1904 zum Druck beför- dert. Anm. d. Verl.

'*) Ist das der bekannte Bibliophile und Kunsthistoriker Henri B^raldi?


— 513 —

36. Julia ou la Mariage sans femme, folie- vaudeville en 1 acte. Katalog der dramatischen Bibliothek des Herrn de Soleinne No. 3879. Die HandBchrift gleicht derjenigen des Marquis de S a d e. Obscünes Stück, das die Paederastie verherrlicht. a

37. Le Misanthrope par amour ou Sophie et Desfrancs, comßdie en 5 actes et en vera. Aufgeführt im Th^fttre-Francaiß im Jahre 1790.

38. L'Homrae dangereux ou le Suborneur, com^dic» en 1 acte et en vers de dix syllabes. Aufgeführt im Th^iatre Favart 1790.

39. L a France f , com^die lubrique et royaliste,

no. .)79« (1796), in 8» gedruckt. Wird von Paul Lacroix (im Katalog Soleinne unter No. 3876) dem Marquis de Sa de zugeschrieben. Das Stück muss erst nach 1796 gedruckt worden sein, wie die folgenden Verse beweisen:

Buonaparte rdgne en mattre.

A sa guise il nous fait des lois

Puis, en despote, il nous les donne,

Petit-fils d'un petit bourgois,

Assifi sur le tröne des rois,

Que lui manque-t-il? la eouronne.

Da.s deutet auf die Zeit des Consulates. Das Stück figuriert in verschiedenen Katalogen (Saint-Mauris, Baillct, Ijeber No. 5016 und Pix6röcourt*s Katalog des Jahres 1839 S. 368). Am Anfang der 70er Jahre dieses Jahrhunderts wurde ein Neudruck von wenigen Exemplaren (Sirassburg 1871, 12», VIII, 118) ver- anstaltet. Die Personen der Komödie sind Frankreich, England, die Vend^e, der Herzog von Orleans, der Graf de Puisaye, der König von Preussen, Kaiser Franz II. und König Karl IV. von Spanien. Das Stück ist dem Polizeiminister mit folgenden Worten gewidmet: „Devine si tu peux, et choisis si tu l'oses." Die Vorrede beginnt: „J'ai cherchß A 6tre lu par tout le monde. Si mon ou\Tage va jusqu'ä la post^rit^, je la supplie de ne pas me juger sur le style, mais sur le fond. Lecteurs, ne vous pr6venez pas contre le titre; femmes aimables pardonnez-le moi! plus voufi rae lirez, plus je rßclame votre indulgence. Libertins, hommes de lettrcH, politiques, historiens, philosophes, patriotes, royalistes, ^trangers, lisez-moi; j'^cris pour vous tous. Et vous, souveraine,

Dühren. Studien I. Der Marquis de Sado. 33


— 514 —

de ma pens^e, vous que j*adore, si vous me devinez, ne eraigncz rien pour le sentiment. J'ai 6crit avec ma phime; mou coeur n'y est pour rien." Das obscöne Stück enthält zahlreiche Noten mit Anspielungen auf zeitgenössische Ereignisse. £cht sadisch ist das Geständnis: „Lorsqu'il s'agit du bien, qu'importe eomment on Topöre? N'avez vous jamais pris de poison pour vous gu^rirV Unter den zahlreichen bissigen Ausfällen gegen her\'orragende Zeitgenossen sind hervorzuheben: ,yNotre Brutus de Douay (Merlin), de mauvais mari devint mauvais pöre, autaut qu'il ßtait mauvais Fran^ais. — Notre Caln (J. M. Ch6nier) d^nonca son fr^re Abel, et le fit assassiner, non par la Jalousie de ses succöB, mais pour avoir ses ouvrages, qu'il nous donne comme les siens."

40. L'Epreuve, com^e en 1 acte et en vers. C'onfis- ziert 178*2 wegen anstössiger Stellen.

41. L'Ecole des jaloux; le Boudoir. Aufgeführt 1791 im Th6ätre Favart.

42. Clr^ontine ou la fille malheureuse,. drame en 3 acte» et en prose. 1792?

43. Le Pr^varicateur ou le Magistrat du tempspassß.

44. Le Capricieux ou l'Uomme inegal. An- genommen vom Th^'fttre Louvois, aber vom Autor zurückge- zogen.

45. Les Jumelles, 2 actes et en vers.

46. Les A n t i q u a i r e s , 1 acte et en prose.

47. Henriette et Saint- Clair ou la Force du sang. Drame.

48. L'Egarement de l'infortune.

49. Le Pore de famille.

lieber diese drei letzten Manuscripte schreibt die Marquise de 8a de im Jahre 1787 an ihren Gatten (Ginisty a. a. O. S. 28) : „J ' a i 1 u Henriette, et j'y ai reconnu l'auteur de l'Egarement de l'infortune. Je le trouve bonne fonci^rement et faite pour faire le plus grand effet vis ä vis foux qui ont de l'ftme. Elle ne rövoltera que les ämes pusillani- mes qui ne sentiront pas la position et la Situation. Elle est assez diff^rente du Pore de famille pour n'ßtre pas crue calqu4e dessus. En g^n(?raK eile a de grandes beaut^s. VoilA


— 515 —

mon avis sur une simple lecture. Je la relii'ai encore plus d'une fois, parce que j'aime ä la folie tout ee qui vient de toi, 6tant trop partiale pour en juger sßv^rement/' Danach fällt die Ab«  fassung dieser Manuscripte in das Ende der 80er Jahre.

50. Franchise et trahison.

61. Fanny ou les Effets du d^sespoir.

52. Entwurf eines Gladiatorenschauspiel s.

Diese und noch zahlreiche andere Manuscripte befinden sich im Besitze der Familie de S a d e. Durch die kürzlich erfolgte Veröffentlichung der Briefe der Marquise de S a d e durch Paul G i n i 8 t y ist hoffentlich diejenige der übrigen auf den Marquis de S a d e sich beziehenden Schriftstücke inauguriert worden. Ihm ist im Jahre 1900 C a b a n 6 s mit seiner wertvollen Studie gefolgt, die neue zahlreiche archivalische Dokumente zur Sade- Biographie beibringt. Die Sade-Forschung, welche in der letzten Zeit in ein lebhafteres Tempo zu geraten scheint, bedarf dringend weiteren Materials zum Studium eines der merkwürdigsten Menschen und Schriftsteller.


4. Schriften im Sinne des Marquis de Sade.

53. L'Anti-Justine ou les D^lices de l'Amour. Par M. Linguet, av. au et en Parlem. Epigraphe: Casta placent superis. — Manibus puris sumite (cunnos). Avec soixante ligures. Premiere partie. Fleuron: Tßte de faune couronn6e de feuilles et de raisins. Au Palais- Royal; chez feu la veuve Girouard, trös-connue. 1798. Deux parties in- 12. Mehrere Neudrucke in Brüssel, einer (1863) in 2 Bänden, in-18o, mit schlechten colo- rierten Lithographien, die andern sorgfältiger, in-12o, mit Gra- vüren. Weitere Neudrucke „conformes ä T^ition originale" 8. 1. (Brüssel 1864) 12o, VIII, 260 S. (6 obsc. Gravüren); s. 1. (Brüssel, 16 mittelm. Lithogr.); s. 1. (Brüssel J. Gay) 16o; Amster- dam chez de Kick (Brüssel) 12o 2 Bde. VIII, 114 und 166 S.; 6 freie Bilder; s. 1. (Amsterdam) 2 versch. Aufgaben, (eine blosser Text, andere mit 38 freien Bildern); Brüssel 1890 XVI, 103, 143 S. (in 1 Bd.) 8o ohne Bilder. — In der Vorrede heisst es über S a d e : Blas^ sur les femmes, depui^ longtemps, la Justine de Dsda. me tomba sous la main; eile me mit en feu . . .Personne

33*


— 516 —

n'a H(: plu8 indign^ que moi des ouvrages de rinfame de Sades, que je lis dans une prison. Ce 8c('16rat ne pr^f*ent los d<^Uce« de Pamoiir. qu*accoTnpagii6s de tourment», de la mori mCme." Der Zweck des Verfassers (RßtifdelaBretonne) ist ein ande- rer: ,^on but est de faire un livre plus savoureux que las siens. et que le« ßpouses pourront faire lire ä leurs maris; un livre oü les sens parleront au eoeur; oü le libertinage n'ait rien de cruel pour le sexe des Grftces, oü Tamour, ramen6 ä la Nature, exempt de scrupules et de pr6jug6s, ne präsent que des images riantes et voluptueuses/' Die auf dem Titel angegebenen 60 Bilder fehlen.

Ö4. Pauliska, ou la Perversitß moderne, mßmoires r6cents d'une Polonaise. Paris, l^mierre et chez Cour- cier, an VI (1798), 2 Bönde in 12o. 2 Bilder nach Art des Chaillu. Verfasser ist Jacques Baron R6v^rony de Saint- Cyr. (1767—1829). Das eine Bild stellt einen Mann dar, der vor einer Frau kniet und ihren Arm beisst, bis das Blut kommt; das zweite zwei Frauen und ein Kind inmitten des Brandes und Zu- sainuiennturzes eines Schlosses. — Im „Tribunal d ' A p o 1 1 o h" Petit Dictionnaire des auteurs contemporaines (Paris, an VIII, 2 Bde.) wurde der Roman sofort als einer „ä la Sade" quali- ficiert. Mit Bezug auf die Stellung des Verfassers im G^niecorps wird hinzugefügt: „De gräce, citoyen Räv^roni, employoz votre g^nie au g§nie."

55. 8abina d'Herfeld ou les Dangers de l'ima- gination. Paris 1757—1758. 2 Bände in 12^ .Verf. R6v§- ronv de Saint-Cvr.

56. Le Torrent des passions, ou les Dangers de la galanterie. Paris, B a r b a , 1818. 2 Bde. Verf. Rövf'rony de Saint-Cyr.

57. Le Dominicain, ou les crimes de Tintolö- ranee et les effets du c61ibat röligieux par

'1' e (E. L. .1. Toulotte), Paris, Pigoreau, 1803,

4 Bände in 12o.

58. Justine ou les Malheurs de la vertu avec prC'face par Marquis de Sade. Paris, Olivier, Impr. Maltesse, 1835, 2 Bände in 8o, und Paris, bei Bordeaux, Miteur, Hötel Bullion, 1836, 2 Bände in 8o. Verfasser Raban. Eine buch-


— 517 —

händlerische 8peculation, die nur durch den Titel an den gleich- namigen Roman des Marquis de S a d e erinnert. VerwftHserte Imitation desselben.

59. Aus den Memoiren einer Sängerin. Boston. Keginald Chesterfleld (Verlagsbureau Altona) kl. 80, 2 Bände, VII, 244 und 251 S. Bd. 1 erschien 1862 (nach Fraxi 1868) und 1870. Bd. II 1875. — Neudruck, Bucarest, Jacob Casanova (sie!) 2 Bde.

Soll Autobiographie der Schröder-Devrient sein. Das einzige uns bekannte deutsche Buch im Gtenre der Schriften des Marquis de S a d e.

60. V i r i 1 i t 6 s par Emile Chevet, Paris, A. l^merre, 1882, in 180. Sammlung von Gedichten. Besonders ,4-« Fauve" ist eine glühende Apologie de» Sadismus und des Marquis de Sade.

Betreffs der übrigen sadistischen Romane verweisen wir auf das betr. Kapitel in Abschnitt IV.

61. Im Fructidor des Jahres VII lies Prövost, Direktor des Th^Atre sans prötention ein Stück „Justine ou les Malheurs de la vert u" ankündigen, dessen Aufführung die Polizei verbot.


5. Schriften über den Marquis de Sade und

den Sadismus.

62. L e 1 1 r e s u r 1 c Roman i n t i t u l C* «Justine ou les Malheurs de la vertu par Charles Villers Paris 1877. Kl. 8'» 23 S. Neuausgabe von A. P. M a 1 a s s i s. Das Original erschien im Jahre 1797 im .,Spectateur du Nord** Band IV.

63. Interessante Mitteilungen über die Theaterauf- führungen Sades in Charenton, Brief vom 23. Mai 1810 an Madame C o c h e 1 e t , an den Direktor Coulmier in „Kevue anecdotique", Bd. X (Nouvelle S^rie, Bd. I) 1860. S. 101 bis 106.

64. M (^ m o i r e s s e c r e t s p o u r «« c r v i r A I * h i ?< t o i r e de la Rßpublique des Lettres en France ou


— 518 —

Journal d'un observateur, Bd. VI, S. 162 — 163. (Affftre von Marseille.)

65. Lettrea de la Marquise Du Deffand ä Horace Walpole, depuis comte d'Orford, Gentes dans les ann^es 1766 ä 1780 etc." Nouv. Mit. corrig^e. Paris 1812. Bd. I, IS. 225 bis 227; 228—229 (Affäre Keller).

66. , Bibliographie et Iconographie de tous les ouvrages deRßtif de laBretonne par P. L. Jacob, bibliophile. Paris 1875 8. 413—423 (R6tif' s Be- ziehungen zum Marquis de S a d e nach Stellen aus seinen Schriften).

67. D^tention du marquis de Sadein: Revue rötrorspective Bd. I, Paris 1833 S. 256 ff.

68. L'espion Anglais London 1784 Bd. II, S. 393 bis 395 (Affären von Marseille und der Keller).

69. Journal de la cour et de Paris, depuis le 28 novembre 1732 j u s q u ' a u 30 novembre 1733 in : Revue r^trospective Bd. Vll, 1836 S. 118—119 (Voltaire und die Familie S a d e) .

70. Histoire physique, civile et morale de Paris par J. A. Dulaure. Paris 1821 Bd. VI, S. 224. (Urteil über den Marquis de Sa de).

71. Charles Kodier „Souvenirs, ßpisodes et portraits pour servir ä Thistoire de la r^volution et de l'empire". Paris 1831 B<1. II, S. 57—60. (Ueber die Persönüchkeit S ade 's).

72. Petite Bibliographie biographico- romuneiore etc. par Pigoreau Paris, üctobre 1821 S. 309. (Ueber Leben und Schriften.)

73. J. S. Ersch, Supplement k la France litt^raire de 1771—1796", Hambuig 1802 S. 412.

74. J. S. Er s c h , „I^ France litt^raire" Hamburg 1798 Bd. III, 8. 221—222.

75. J u 1 e s Jan in „Le Marquis de Sade" in: Revue de Paris. Bd. XI, 1834, S. 321—360. Nachgedruckt in den „CaU- combi's" Bd. I, 1839 und abgekürzt in „Le Livre" Paris 1870 S. 279—292. Auch deutsch Leipzig 1835 8o.

76. Paul L. Jacob, bibliophile „La V6rit6 sur les deux procös criminels du Marquis de Sade" Revue de Paris 1837. Bd. XXXVIII, S. 135 — 144. Später als eine der „Dissertations sur quelques points curieux de l'Histoire et de THistoire litt^aire


— 519 —

par le Bibliophile Jacob" wieder erschienen. Endlich nochmals abgedruckt in „Curiositfes de THistoire de France, 2e s6rie: Les Procf's c^l^bres." Paris 1858, in 12o S. 225 ff.

77. Le Marquis de bade, Paris, chez les Marchands de nouveautßs, 1834. Ein Band in 12o VIII, 02 ö. mit einem Phantasieporträt des Marquis de S a d e aus der Sammlung des Herrn de 1 a Porte. Das Datum ist falsch, da diese Publikation nur ein Nachdruck der Artikel von .) a n i n und L a c r o i x ist, letzterer aber erst 1837 seine Abhandlung schrieb.

78. Dictionnaire des Ath6e« par S y 1 v a i n M a r ^ e h a 1 2e M. par J. L a 1 a n d e , Bruxelles 1833 Supple- ment S. 84. (Sade als Atheist).

79. Biographie universelle ancienne et mo- derne (Mich au d) Paris 1863. Bd. 37, S. 217—224. (Artikel des jüngeren M i c h a u d).

80. Biographie universelle et portative des c o n t e m p o r a i n 8 depuis 1788 jusqu'ä nos jours. Paris 1836. Band \ . S. 698—699.

81. Biographie g6n6rale Bd. XLIl. (Artikel von J. M. r. i.j

82. J u 1 e 8 K e n o u V i e r „Histoire de l'art pendant la revolution-' Paris 1863 8. 26». (Oscöne Bilder zu den Werken Sade 'S).

83. Le Marquis de Sade, l'Homme et ses 4 c r i t ^>. Etüde bio-bibliographique. Sadopolis, chez Justin Val- court, A Tenseigne de la „Vertu malheureuse", Fan 0000 (Bruxel- les, J. (;ay, 1866) in 12o, 72 S., Verfasser P. G. Brunet. Con- fisziert 1874. Enthält den Anhang: Le Discours prononc6 ä la Seetion des Piques, par Sade, citoyen de cette section et membre de la SociC't»'* populaire. — Die Schrift ist wieder abgedruckt in „Zolo^ et ses deux Acolytes etc. (Siehe No. 22.)

84. Index librorum prohibitorum being Notes bio-biblio-iconographical and critical on curious and uncommon Books by P i s a n u s F r a x i , Ix)ndon 1877. S. 30 — 39 (Analyse von „Aline et Valcour" Mitteilungen über Sade), S. 406 — 410 (Analyse von Zoloß et ses deux Acolytes") S. 422 — 424 (lieber eiu Sade' sches Manuscript).

85. Justine ynd Juliette oder die Gefahren der Tugend und die Wonne des Lasters. Kritische


— 520 —

Ausgabe nach dem Französischen de» Marquis de 8ade. Leipzig Carl Minde (1874) kl. 8« 155 8. Im wesentlichen ein Phantasie- produkt, doch nicht ohne einige treffende Bemerkungen.

86. Die Schule der Wonne. Aus dem Französischen des Werkes „La philosophie dans le boudoir*' vom Marquis de Sade, Verfasser von »Justine und Juliette** Leipzig. Carl Minde. (1875?) Enthält eine Analyse der philosophischen Excurse in der „Philosophie dans le Boudoir** und ebenfalls schätzbare Bemer- kungen.

87. Id6e sur les Romans par D. A. F. de Sade pub- lice avec pröface, notes et docunients inßdits par O c t a v e Uzanne Paris 1870 Edouard Rouveyre gr. 8« XLVIIL 50 S. Die „Prßface** enthält eine Biographie S a d e ' s und eine Biblio- graphie von 37 Nummern, sowie einige Briefe de» Marquis d e S a d e an die Direktion der Com^die Francaise. Dann folgt der Abdruck der „Id^e sur les Romans" mit Anmerkungen.

88. Le Livre par J. Janin, Paris 1870. 8" S. 291 (Testament).

89. Cazin, sa vie et »es 6ditions, Cazino^iolis 1863 kl. 80 S. 149. (Ueber die zweite Ausgabe der „Justine".)

90. Les Crimes de l'amour PrÖc^dC» d'un Avant- propos, suivi des Id^es sur les romans, de l'auteur des crimes de l'amour ä Villeterque, d'une notice bio-bibliographique du marquis de Sade: I'homme et ses Berits et du discurs prononc<» par le marquis de Sade h la section des Piques, gr. 8** Bruxelles Gay et Douce 1881, VI, 273 S. Eine sehr schätzbare Kollection von Sadiana. Von uns im Text stets als „Les Crimes de TAmour etc** zitiert. Inhalt: Abdruck der historischen Novelle „Juliette et Raunai ou la conspiration d'Amboise** (aus der Novellensamm- lung „Les crimes de Tamour**) S. 1 — 96; die „Id^ sur les Ro- mans** S. 97 — 135. „L'auteur des crimes de Taraour ä Villeter- que folliculaire". S. 137 — 153; „J^ Marquis de Sade, I'homme et ses ecrits* S. 155 — 264 (neuer und bedeutend vermehrter Abdruck der B r u n e t ' sehen Bio-Bibliographie) ; „Section des Piques. l>iscour8 etc. par Sade, citoyen de cette section, et mem- bre de la Soci^tß populaire**, S. 265—272.

91. La curiositö littr»raire et bibliographi- queleet3e sOrie. Pari« 1882. Enthält im 1. Bande kurze


— 521 —

Analyse der ,^u8tine", im 3. Bande S. 131—169 eine zwar selir unvollständige, aber an treffenden Bemerkungen reiche Analyse der „Juliette**, sowie S. 169 — 176 den Abdruck des sadistiMchen Gedichtes „!-« Fauve** von E. C h e v (\

92. A. Eulen bürg .,l>er Marquis de Öade** in: Die Zu- kunft VII. Jahrgang No. 26, vom 2ö. Milrz 1899 8. 497— .")15. Eine geistvolle Studie, welche die Sade-Forschung in Deutschland er- öffnet. Inhalt: Allgemeines über die Bedeutung des Marquis de Sa de S. 497—499; das Leben S. 499—504; die Werke S. 504 bis 507; geistig-sittliches Niveau und Zusammenhang mit anderen Zeitrichtungen 8. 507 — 512; krankhafter Geisteszustand de Sade» S. 512—515.

93. Lettre» inßdites de la Marquise de Sade par Paul Ginisty in: I^a Grande Revue 3e Annöe No. 1. Paris ler janvier 1899 S. 1—31. — Höchst wertvolle Studie über das Verhältnis zwischen dem Marquis de S a d e und seiner Frau, nebst neuen Beiträgen zur Lebensgeschichte.

94. Le Marquis de Sade et le Sudisiiie par le Dr. Marciat in: „Vacher Teventreur et les crimes sadiques'* par A. L a c a s 8 a g n e Lyon et Paris 1899 gi*. 8" S. 185 bis 237 und S. 411. Eine schätzbare Abhandlung mit mehreren neuen Beiträgen und originellen Bemerkungen.

95. R. V. K r a f f t - E b i n g „Neue Forschungen auf dem Gebiete der P s y c h o p a t h i a s e x u a 1 i s** 2. Auflage Stuttgart 1891; enthält ein Kapitel „t'eber Masochis- mu» und Sadismus** S. 1 — 45.

96. L 4 o T a X i 1 „La c o r r u p t i o n f i ii <l e s i <* e 1 e" Nouv. 6dit. Pari« 1894. Enthalt S. 213—246 ein Kapitel „Le sadisme'* mit einer Biographie des Marquis de Sade.

97. A. E u 1 e n b u r g „Sexuale Neuropathie" Leipzig 1895 S. 108—125. Reich an lichtvollen Bemerkungen fiber den Sadismus.

98. L e S a d i s m e au p o i n t de v u e de 1 a m e d e - eine legale, les crimes sadiques par A . L a e a s - sagne in: Vacher r<^ventreur etc. Lyon et Paris 189«. S. 239 hm 282.

99. B r i e r r e de B o i s m o n t „Remarques m «'mI i c o - Ißgale^ sur la perversion de l'instinct gßn«- sique" in: Gaz. m^dicale de Paris No. 29 vom 21. .Juli 184».


— 522 —

100. Bemerkungen über Sadismus an verschiedenen Stellen bei von Schrenck-Notzing. Die Suggestions- therapie bei krankhaften Erscheinungen des GeschlechtBsinnes u. s. w." Stuttgart 1892, K. v o n Krafft-Ebing „Psychopathia sexualis'* ö. Aufl. Stuttgart 1890 u. ö., A. Moll „Die konträre Sexual- empfindung" 2. Aufl. Berlin 1893 u. ö., A. Moll „Unter- suchungen ttber die Libido sexualis*' Berlin 1898 Bd. I, (der zweite Band soll speziell den Sadismus behandeln), B. Tarnowsky. ,fDie krankhaften Erschei- nungen des Geschlecht ssiunes*' Berlin 1886.

101. W. Russalkow „Grausamkeit und Ver- brechen im sexuellen Leben'* Leipzig 1899, speziell : „Der Masochismus** S. 45 — 56, der „Sadismus** S. 57 — 77.

102. Etüde sur la Flagellation au point de vue m^dical et historique Paris 1899. Prachtwerk.

103. L. Thoinot „Attentats aux moeurs et perversions du sens genital* Paris 1898.

104. Ganz kurze ErwHhnungen des Marquis de S a d e in Morcier's ..Xouveau Tableau de Pari s**, H o u s - s a y e * 6 „N otre Dame de Thermidor**, Michelet's ,.H istoire de la Rßvolutio n**, Maxime du Camp's „Paris, sa vie, ses fonctions et ses organes** Bd. V., Piazzolli';3 „Catalogue de livres rares et c u r i e u x** Mailand 1880 S. 394—396, Thevenot de Mo- r a n d e ' s „Gazette noire par un homme qui n'tot pas bl&nc** 1784, S o u 1 i ß ' s „Memoires du Diable", M e y e r ' s „Frag- mente aus Pari s**, Bd. 1, „D i c t i o n n a i r e L a r o u s s e*% H. T a in e ' s „Origines de la France contemporaine**, in T u 1 1 i o 1^ a n d o 1 o ' 8 „Schizzi litterari** Turin 1840, „Chronik des Oeil de Boeuf* Bd. VIII (Marseiller Affaire); O. L. B. Wolff „Allg. Geschichte des Romans** ( über „Justine** ) ; Jean de A' i 1 1 i o t „La flagellation i\ travers le Monde** Paris 1900 Bd. II (AfT. Keller) ; „Denkwürdigkeiten der Marie Antoinette'* Ijeipzig 1836; Böttiger's „Sabina" Auegabe von 1810 (in einer An- merkung) : F r u 8 t a „Der Flagellantismus und die Jesuiten- beichte** Stuttgart 1840; „Magazin für Litteratur" Jahrg. 1891; Karl Gold mann ..Masochismus und Sadismus in der I^ittera- tur**; Oettinger's „Moniteur des l^ates'*, Artikel „Sade**.


— 523 -

105. Le Marquis de Sade, «es aventures, ses Oeuvres, passion« myst^rieuses, folies, «rotio^ues. Arth^me Fayard, öditeur, 78 boulevard Saint- Älichel, Paris O. J. lex. 8o. 932 Seiten, 116 Bilder. Ein Hinter- treppenroman von riesigem Umfange, dessen 5 Teile folgende Titel haben: 1. L'orgie de Marseille, 2. La femme ^orchße vive, 3. Les faux bonnets rouges, 4. L*or tout-puissant, 5. Le pensionnaire de Charenton. — Das Ganze eine seltsam-romantische Mischung von Dichtung und Wahrheit, unter Benutzung historischer Werke wie Michelet's „Histoire de la rßvolution" u. s. w. Die Bilder sind sehr schlecht und zum Teil abschreckend.

106. La marquise de Sade par Rachilde. Ein moderner Roman, der von A. Eulenburg , Sexuale Neuro- pathie" S. 86 zitiert wird.


Nachträge.


107. Joanne Laisn6, ou le Si^gc de Beaucis, trag6die en 5 actes. Mit 8 gegen 3 Stimmen im Th6fttre-Francais abgelehnt (1791), wegen einer Verherrlichung Ludwig 's XI. MS.

108. Les Ruses d'amour, comÄdie ^plsodique, en 1 aote, en prose. MS.

109. Euphemic de Melen, ou le Sidge d'Alger: trag, en 1 acte, en vers. MS.

HO. Azelis ou la coquette punie, comMie f6erie en 1 acte, en vers libres. Angenommen im Th^fttre de la rue de Bondi (1790). MS.

111. Di V er ti ssem en t. MS.

112. Tancröde, sc^ne lyrique, en vers. MS.

113. La Tour inystßrieuse op6ra-comique en 1 acte. MS.

114. La Fete de I'amiti^, prologue. MS.

110. L'hommage de la reconnaissance, vaude- ville en 1 acte (In Charenton aufgeführt). MS.

116. „Journal de l'amateur de livres. Pari^^ 1849. Bd. III, S. 3—6 (Ueber „Zolo6 et ses deux Acolytes").


— 524 —

117. ,^ournal de la librairic • Paris 1815. S. 38.

118. „L es fous cßlöbres" in 18«, 1840. (Mit Phan- tasiebild Sade' s).

119. Le Li vre. Sept. 1883. 8. 589 (Nachrichten über ,,Aline et Valcour").

120. A. CabanÖB , Ja pr6tendue folie du Marquis de 8ade" in: Le Cabinet Secret de THistoire, 8«, Paris, A. Maloine. 1900 S. 259 — 320. — Ein neuer, höchst wichtiger Beitrage zur Sade-Forschung. Enthält hauptsächlich neues Material zur Lebensgeschichte de S a d e ' s aus dem Archiv der auswärtigen Angelegenheiten und dem Archiv de» Irrenhauses in Charenton. In Kürze werden wir wohl neuen Veröffentlicliungen entgegen- sehen dürfen.

121. — bl — , Recension meines Werkes in: Zeitschrift für Bücherfreunde, IV. Jahrgang, Heft 2/3 (Mai/Juni 1900) S. 122 — 124. — Vortreflfliche, höchst schätzbare Correcturen und Nachträge enthaltende Kritik der vorliegenden Schrift. Der Ver- fasser ist ein genauer Sade- Kenner.

122. Menabrea „Les Origines f6odales dans les Alpes occidentales** Turin 1865, 4o, S. 573 ff. — (Ueber de S a d e ' s Aufenthalt in Fort Miolans).

123. Alfred B^gis „Notes de Police" über den Aufenthalt Sade's in der Bastille in: „Nouvelle Revue" November- December 1880 S. 528 ff.

124. L'Amateur d'Autographes 1863 S. 279; 1804 S. 105—106; 1866 (Briefe und Mitteilungen über de Sade).

125. M. A. Baudot „Notes historiques*' publikes par Mme Edgar Quinet S. 62—^5 (über D^sorgues, de Laage, Abb4 Fournier und den Marquis de Sade ak Opfer der napoleonischen Polizeiwillkür ) .

126. Oswald Zimmermann „Die Wonne des Leids." Beiträge zur Erkenntnis des menschlichen Empfindens in Kunst und Leben." 2. Auflage, Leipzig, C. Reissner 1885 enthält S. 107 — 114 ein Kapitel „Die Association von Wollust und Grausam- keit", aber auch sonst vielfache Erörterungen über das Verhält- nis zwischen Schmerz und Wollust.

127. J u 8 t i n e , or the Misfortunc's of Virtue, by the Marquis de Sade for the first time tvanalated from the French



ü^:




Btrigionl Edition (Holland. 1701) Paria. J. Liseux, ISaS, B"

- Englische Aimgnhp des „Ldber Sadieiis" vor J. Liafux.

t— Nach ,^. f. Bttcherfreunde" Mai/Juni 1900 S, 122 n-urden in

,Juitine und ^uliette" mehrtsi'U ins EngUachc

ttertrAgen.

iUcher Äuslug der Noiivellc Ju»tiaH. DarBber lieiH.'<t v.a in ,.Z. f. BflcUer freunde" a. h. U. S. 121 — 122: ,^ne Analyst der .^luliette", vermiBcUt mit bio- gruphiM'hra Detiiltt über deren Verttteaei, leitet iiurk einen epi- sodischen Ausintg des ^Verkes ein, der vor kurzem erschienen iat lind dei- Ankündigung nftch auch in das Deutsi^be iilKrsetzt wer- den BolHe. E* würde dies die erste Ueberfletztlng eines Werkes Sude't: in das Deutsche sein."

120. I.e LibeTtin hulUndais. Ein jüngst in Brtts«el lugedniekter Uomon, deAseii Verfasser angeblich der Uarqitie ^4 e S « d e ist. (Z. f. B. S. 123,)

»0. The Double Lifü o( Cuthbert Coekerton, K«i|. Attorney-al-law o( tbe dty of London. Hia Histoi-y and that uf his dsiigbter and sonie curious unecdotea of other ladiee niid their lovere. tYom The Original Ms. Dated 1T9B. PeiiHine Jn tbe Yeai- nf nur Lord. 1894 (1900) 8", -150 Seiten. — Nm'h der Vurrede ein unter dem Einflüsse der Sciirifteu Sa de 's entstandenes Werk. Wenn es erlit wllre, wUrde en das früheste ■adiHtisehe Werk in England sein. Es ist liiicüftwahrE^cheinticli ■en Ursprungs.

IMI. The Sword and W.nnankind. Beliig a study of the Intluente of „Tlie Queen of Weapona" ujHin the moral and sopial Statuts of wonieu. Adapted frora Ed. de Beaumont'^ .J.'Epfe el le» Femmes" with addilion» and an indeir by Alfred AlliJ-on M. A., Oxon, aud an etched frontispice by ALljert B e 8 B e. Paris 1900 8", 380 K. — [nteressanles Werk über Maso- t;hisiuns des Weiiies. Kapitel XI des dritten Teiles bandelt von den ..Lady -Killers."

132. T h e P 1 e a H u r e s o f C r u e 1 1 y being a sequel to the readtng of J n s t i n e e t .1 u I i e 1 1 e l^ the Marquis de Bade, Paris et London 1S9S. 8" .1 Kinde 84. 122, 114 Seiten. — Exquisit sadistische Erzählung.

133. U. B r u n e t „EanlHiEiics bibliographiqueB, Paris, .1. O a v, 1864. 12". (Enthält Bemerkungen Über J!olo«").

134. L^Esprit de,i noeurs au XVIlIe sificle. uu la petite Maisoii, jirov. en 3 a. et en pr., traduit du Congo:


— 526 —

par M. d ' U n s i - T e r m

Personal tools