Über einige Motive bei Baudelaire  

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"Uber einige Motive bei Baudelaire" (1940, On Some Motifs in Baudelaire) is a text by Benjamin first published in the Zeitschrift fur Sozialforschung. A translation is featured in Selected Writings: 1938-1940 (1996).

Full text

Über einige Motive bei Baudelaire.

Von

Walter Benjamin.

I

Baudelaire hat mit Lesern gerechnet, die die Lektüre von Lyrik vor Schwierigkeiten stellt. An diese Leser wendet sich das einleitende Gedicht der Fleurs du mal. Mit ihrer Willenskraft und also auch wohl ihrem Konzentrationsvermögen ist es nicht weit her; sinnliche Genüsse werden von ihnen bevorzugt; sie sind mit dem spleen vertraut, der dem Interesse und der Aufnahmefähigkeit den Garaus macht. Es ist befremdend, einen Lyriker anzutreffen, der sich an dieses Publikum hält, das undankbarste. Gewiss liegt eine Erklärung bei der Hand. Baudelaire wollte verstanden werden : er widmet sein Buch denen, die ihm ähnlich sind. Das Gedicht an den Leser schliesst mit der Apostrophe: Hypocrite lecteur, - mon semblable, - mon frere P) Der Tatbestand erweist sich ergiebiger, wenn man ihn umformuliert und sagt: Baudelaire hat ein Buch geschrieben, das von vornherein wenig Aussicht auf einen unmittelbaren Publikumserfolg gehabt hat. Er rechnete mit einem Lesertyp, wie ihn das einleitende Gedicht beschreibt. Und es hat sich ergeben, dass das eine weitblickende Berechnung gewesen ist. Der Leser, auf den er eingerichtet war, wurde ihm von der Folgezeit beigestellt. Dass dem so ist, dass, mit andern Worten, die Bedingungen für die Aufnahme lyrischer Dichtungen ungünstiger geworden sind, dafür spricht, unter anderm, dreierlei. Erstens hat der Lyriker aufgehört, für den Poeten an sich zu gelten. Er ist nicht mehr ,der Sänger', wie noch Lamartine es war; er ist in ein Genre eingetreten. (Verlai ne macht diese Spezialisierung handgreiflich; Rimbaud war schon Esoteriker, der das Publikum ex officio von seinem Werke fernhält.) Ein zweites Faktum: ein Massenerfolg lyrischer Poesie ist nach Baudelaire nicht mehr vorgekommen. (Noch Hugos 1) Charles Baudelaire : ffiuvres, M. Le Dantee. Paris. I, S. 18 (im folgenden nur noch nach Band und Seitenzahl zitiert). Üb~r einige Motive bei Baudelaire 51 Lyrik fand beim Erscheinen eine mächtige Resonanz. In Deutschland stellt das "Buch der Lieder" die Schwelle dar.) Ein dritter Umstand ist derart mitgegeben: das Publikum wurde spröder auch gegen lyrische Poesie, die ihm von früher her überkommen war. Die Spanne Zeit, von der hier die Rede ist, darf man ungefähr von der Mitte des vorigen Jahrhunderts an datieren. In der gleichen Epoche hat sich der Ruhm der Fleurs du mal ohne Unterlass ausgebreitet. Das Buch, das mit den ungeneigtesten Lesern gezählt und anfangs nicht viele geneigte gefunden hatte, wurde im Laufe der Jahrzehnte zu einem klassischen; es wurde auch zu einem der meistgedruckten. Wenn die Bedingungen für die Aufnahme lyrischer Dichtungen ungünstiger geworden sind, so liegt es nahe, sich vorzustellen, dass die lyrische Poesie nur noch ausnahmsweise den Kontakt mit der Erfahrung der Leser wahrt. Das könnte sein, weil sich deren Erfahrung in ihrer Struktur verändert hat. Man wird diesen Ansatz vielleicht gutheissen, aber nur desto verlegener um eine Kennzeichnung dessen sein, was sich in ihr könnte gewandelt haben. In dieser Lage wird man bei der Philosophie nachfragen. Dabei stösst man auf einen eigentümlichen Sachverhalt. Seit dem Ausgang des vorigen Jahrhunderts stellte sie eine Reihe von Versuchen an, der ,wahren' Erfahrung im Gegensatze zu einer Erfahrung sich zu bemächtigen, weIche sich im genormten, denaturierten Dasein der zivilisierten Massen niederschlägt. Man pflegt diese Vorstösse. unter dem Begriff der Lebensphilosophie zu rubrizieren. Sie gingen begreiflicherweise nicht vom Dasein des Menschen in der Gesellschaft aus. S'ie beriefen sich auf die Dichtung, lieber auf die Natur und zuletzt vorzugsweise auf das mythische Zeitalter. Diltheys Werk "Das Erlebnis und die Dichtung" ist eines der frühesten in der Reihe; sie endet mit Klages und mit Jung, der sich dem Faschismus verschrieben hat. Als weithin ragendes Monument erhebt sich Bergsons Frühwerk Matiere et memoire über diese Literatur. Mehr als die andern wahrt es Zusammenhänge mit der exakten Forschung. Es ist an der Biologie ausgerichtet. Sein Titel zeigt an, dass es die Struktur des Gedächtnisses als entscheidend für die philosophische der Erfahrung ansieht. In der Tat ist die Erfahrung eine Sache der Tradition, im kollektiven wie im privaten Leben. Sie bildet sich weniger aus einzelnen in der Erinnerung streng fixierten Gegebenheiten denn aus gehäuften, oft nicht bewussten Daten, die im Gedächtnis zusammenfliessen. Das Gedächtnis geschichtlich zu spezifizieren, ist freilich Bergsons Absicht in keiner Weise. Jedwede geschichtliche Determinierung der Erfahrung weist er vielmehr zurück. Er meidet damit vor allem und wesentlich, derjeni- 52 Walter Benjamin gen Erfahrung näherzutreten, aus der seine eigene Philosophie entstanden ist oder vielmehr gegen die sie entboten wurde. Es ist die unwirtliche, blendende der Epoche der grossen Industrie. Dem Auge, das sich vor dieser Erfahrung schliesst, stellt sich eine Erfahrung komplementärer Art als deren gleichsam spontanes Nachbild ein. Bergsons Philosophie ist ein Versuch, dieses Nachbild zu detaillieren und festzuhalten. Sie gibt derart mittelbar einen Hinweis auf die Erfahrung, die Baudelaire unverstellt, in der Gestalt seines Lesers, vor Augen tritt.

II

Matiere et memoire bestimmt das Wesen der Erfahrung in der duree derart, dass der Leser sich sagen muss : einzig der Dichter wird das adäquate Subjekt einer solchen Erfahrung sein. Ein Dichter ist es denn auch gewesen, der auf Bergsons Theorie der Erfahrung die Probe machte. Man kann Prousts Werk A la recherche du temps perdu als den Versuch ansehen, die Erfahrung, wie Bergson sie sich denkt, unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen auf synthetischem Wege herzustellen. Denn mit ihrem Zustandekommen auf natürlichem Wege wird man weniger und. weniger rechnen können. Proust entzieht sich übrigens der Debatte dieser Frage in seinem Werke nicht. Er bringt sogar ein heues Moment ins Spiel, das eine immanente Kritik an Bergson in sich schliesst. Dieser versäumt nicht, den Antagonismus zu unterstreichen, der zwischen der vita activa und der besonderen vita contemplativa obwaltet, die sich aus dem Gedächt.nis heraus erschliesst. Es lässt sich aber bei Bergson so an, als ob die Hinwendung auf die schauende Vergegenwärtigung des Lebensstromes eine Sache der freien Entschliessung sei. Proust meldet seine abweichende Überzeugung von vorneherein terminologisch an. Das reine Gedächtnis - die memoire pure - der bergsonsehen Theorie wird bei ihm zur memoire lnvolontaire - einem Gedächtnis, das unwillkürlich ist. Unverzüglich konfrontiert Proust dieses unwillkürliche Gedächtnis mit dem willkürlichen, das sich in der Botmässigkeit der Intelligenz befIndet. Den ersten Seiten des gros sen Werks obliegt es, dieses Verhältnis ins Licht zu stellen. In der Betrachtung, die den Terminus einführt, spricht Proust davon, wie ärmlich sich seiner Erinnerung durch viele Jahre die Stadt Combray dargeboten habe, in der ihm doch ein Teil der Kindheit dahingegangen sei. Proust sei, ehe der Geschmack der madeleine (eines Gebäcks), auf den er dann oft zurückkommt, ihn eines Nachmittags in die alten Zeiten zurückbefördert habe, auf das beschränkt gewesen, was ein Gedächtnis ihm in Bereitschaft über einige Motive bei Baudelaire 53 gehalten habe, das dem Appell der Aufmerksamkeit gefügig sei. Das sei die memoire volontaire, die willkürliche Erinnerung, und von ihr gilt, dass die Informationen, welche sie über das Verflossene erteilt, nichts von ihm aufbehalten. "So steht es mit unserer Vergangenheit. Umsonst, dass wir sie willentlich zu beschwören suchen; alle Bemühungen unserer Intelligenz sind dazu nichts nutze. "1) Darum steht Proust nicht an, zusammenfassend zu erklären, das Verflossene befinde sich "ausserhalb des Bereichs der Intelligenz und ihres Wirkungsfeldes in irgendeinem realen Gegenstand... In welchem wissen wir übrigens nicht. Und es ist eine Sache des Zufalls, ob wir auf ihn stossen, ehe wir sterben, oder ob wir ihm nie begegnen. "2) Es ist nach Proust dem Zufall anheimgegeben, ob der einzelne von sich selbst ein Bild bekommt, ob er sich seiner Erfahrung bemächtigen kann. In dieser Sache vom Zufall abzuhängen, hat keineswegs etwas Selbstverständliches. Diesen ausweglos privaten Charakter haben die inneren Anliegen des Menschen nicht von Natur. Sie erhalten ihn erst, nachdem sich für die äusseren die Chance vermindert hat, seiner Erfahrung assimiliert zu werden. Die Zeitung stellt eines von vielen Indizien einer solchen Verminderung dar. Hätte die Presse es darauf abgesehen, dass der Leser sich ihre Informationen als einen Teil seiner Erfahrung zu eigen macht, so würde sie ihren Zweck nicht erreichen. Aber ihre Absicht ist die umgekehrte und wird erreicht. Sie besteht darin, die Ereignisse gegen den Bereich abzudichten, in dem sie die Erfahrung des Lesers betreffen könnten. Die Grundsätze journalistischer Information (Neuigkeit, Kürze, Verständlichkeit und vor allem Zusammenhanglosigkeit der einzelnen Nachrichten untereinander) tragen zu diesem Erfolge genau so bei wie der Umbruch und wie die Sprachgebarung. (Karl Kraus wurde nicht müde nachzuweisen, wie sehr der sprachliche Habitus der Journale die Vorstellungskraft ihrer Leser lähmt.) Die Abdichtung der Information gegen die Erfahrung hängt weiter daran, dass die erstere nicht in die ,Tradition' eingeht. Die Zeitungen erscheinen in grossen Auflagen. Kein Leser verfügt so leicht über etwa~, was sich der andere ,von ihm erzählen' liesse. - Historisch besteht eine Konkurrenz zwischen den verschiedenen Formen der Mitteilung. In der Ablösung der älteren Relation durch die Information, der Information durch die Sensation spiegelt sich die zunehmende Verkümmerung der Erfahrung wider. Alle diese Formen heben 1) Marcel Proust : A la recherche du temps perdu. I : Du c4t«! de chez Swann. Paris. I, S. 69 . • ) Marcel Proust, 1. c., S. 69. 54 Walter Benjamin sich ihrerseits von der Erzählung ab; sie ist eine der ältesten Formen der Mitteilung. Sie legt es nicht darauf an, das pure An-sich des Geschehenen zu übermitteln (wie die Information das tut) ; sie senkt es dem Leben des Berichtenden ein, um es als Erfahrung den Hörern mitzugeben. So haftet an ihr die Spur des Erzählenden wie die Spur der Töpferhand an der Tonschale. Prousts achtbändiges Werk gibt "inen Begriff davon, welcher Anstalten es bedurfte, um der Gegen"art die Figur des Erzählers zu restaurieren. Proust unternahm das mit grossartiger Konsequenz .. Er geriet dabei von Anfang an an eine elementare Aufgabe: von der eigenen Kindheit Bericht zu geben. Er ermass ihre ganze Schwierigkeit, indem er es als Sache des Zufalls darstellt, ob sie überhaupt lös'bar sei. Im Zusammenhange dieser Betrachtungen prägt er den Begriff der memoire involontaire. Dieser trägt die Spuren der Situation, aus der heraus er gebildet wurde. Er gehört zum Inventar der vielfältig isolierten Privatperson. Wo Erfahrung im strikten Sinn obwaltet, treten im Gedächtnis gewisse Inhalte der individuellen Vergangenheit mit solchen der kollektiven in Konjunktion. Die Kulte mit ihrem Zeremonial, ihren Festen, deren bei Proust wohl nirgends gedacht sein dürfte, führten die Verschmelzung zwischen diesen beiden Materien des Gedächtnisses immer von neuem durch. . Sie provozierten das Eingedenken zu bestimmten Zeiten und blieben Handhaben desselben auf Lebenszeit. Willkürliches und unwillkürliches Eingedenken verlieren so ihre gegenseitige Ausschliesslichkeit.

III

Auf der Suche nach einer gehaltvolleren Bestimmung dessen, was als Abfallprodukt der bergsonschen Theorie in Prousts memoire de l'intelligence erscheint, ist es geraten, auf Freud zurückzugehen. Im Jahre 1921 erschien der Essai .. Jenseits des Lustprinzips ", der eine Korrelation zwischen dem Gedächtnis (im Sinne der memoire involontaire) und dem Bewusstsein aufstellt. Sie hat die Gestalt einer Hypothese. Die Überlegungen, die sich im folgenden an sie anschliessen, werden nicht die Aufgabe haben, sie zu beweisen. Sie werden sich begnügen müssen, die Fruchtbarkeit derselben für Sachverhalte zu überprüfen, die weit von denen abliegen, die Freud bei seiner Konzeption gegenwärtig gewesen sind. Schüler von Freud dürften vielleicht eher auf solche Sachverhalte gestossen sein. Die Ausführungen, in denen Reik seine Theorie des Gedächtnisses entwickelt, bewegen sich zum Teil ganz auf der Linie von Prousts Unterscheidung zwischen dem unwillkürlichen und dem willkürlichen Eingedenken. ..Die Funktion des Gedächtnisses" über einige Motive bei Baudelaire 55 heisst es bei Reik, "ist der Schutz der Eindrücke. Die Erinnerung zielt auf ihre Zersetzung. Das Gedächtnis ist im wesentlichen konservativ, die Erinnerung ist destruktiv. "1) Den fundamentalen Satz von Freud, welcher diesen Ausführungen zugrunde liegt, formuliert die Annahme, "das Bewusstsein entstehe an der Stelle einer Erinnerungsspur. '(2)* Es "wäre also durch die Besonderheit ausgezeichnet, dass der Erregungsvorgang in ihm nicht wie in allen anderen psychischen Systemen eine dauernde Veränderung seiner Elemente hinterlässt, sondern gleichsam im Phänomen des Bewusstwerdens verpufIt. '(3) Die Grundformel dieser Hypothese ist, "dass Bewusstwerden und Hinterlassung einer Gedächtnisspur für dasselbe System miteinander unverträglich sind. '(4) Erinnerungsreste sind vielmehr "oft am stärksten und haltbarsten, wenn der sie zurücklassende Vorgang niemals zum Bewusstsein gekommen ist. '(5) Übertragen in Prousts Redeweise: Bestandteil der memoire involontaire kann nur werden, was nicht ausdrücklich und mit Bewusstsein ist ,erlebt' worden, was dem Subjekt nicht als ,Erlebnis' widerfahren ist. "Dauerspuren als Grundlage des Gedächtnisses" an Erregungsvorgänge zu thesaurieren, ist nach Freud "andern Systemen" vorbehalten, die vom Bewusstsein verschieden zu denken sind. **) Nach Freud nähme das Bewusstsein als solches überhaupt keine Gedächtnisspuren auf. Dagegen hätte es eine andere Funktion, die von Bedeutung ist. Es hätte als Reizschutz aufzutreten. "Für den lebenden Organismus ist. der Reizschutz eine beinahe wichtigere Aufgabe als die Reizaufnahme ; er ist mit einem eigenen Energievorrat ausgestattet und muss vor allem bestrebt sein, die besonderen Formen der Energieumsetzung, die in ihm spielen, vor dem gleichmachenden, also zerstörenden Einfluss der allzu grossen, draussen arbeitenden Energien zu bewahren. '(6) Die Bedrohung durch diese Energien 1) Theodor Relk : Der überraschte Psychologe. Leyden 1935. S. 132 . • ) Die Begriffe Erinnerung und Gedächtnis weisen im Freudschen Essai keinen flir den vorliegenden Zusammenhang wesentlichen Bedeutungsunterschied auf. I) Sigm. Freud : Jenseits des Lustprinzips. 3, Aufl., Wien 1923. S. 31. ") Freud, I. c., S. 31/32. ') Freud, I. c., S. 31. ") Freud, I. c., S. 30 . .. ) Von diesen "andern Systemen" handelt Proust mannigfach. Am liebsten repräsentiert er sie durch die Gliedmassen, und dabei wird er nicht müde, von den In ihnen deponierten Gedächtnisbildern zu sprechen, wie sie, keinem Wink des Bewusstseins hörig, unvermittelt In dieses einbrechen, wenn ein Schenkel, ein Arm oder ein Schulterblatt in1 Bett unwillkürlich in eine Lage kommen, wie sie sie vor Zeiten einmal eingenommen haben. Die m~moire Involontaire des membres ist einer der von Proust bevorzugten Gegenstände. (Cf. Marcel Proust : A la recherche du temps perdu. I: Du eOt6 de chez Swann. Paris. I, S. 15.) I) Freud, I. c., S. 34/35. 56 Walter Benjamin ist die durch Chocks. Je geläufiger ihre Registrierung dem Bewusstsein wird, desto weniger muss mit einer traumatischen Wirkung dieser Chocks gerechnet werden. Die psychoanalytische Theorie sucht, das Wesen des traumatischen Chocks "aus der Durchbrechung des Reizschutzes ... zu verstehen." Nach ihr hat der Schreck "seine Bedeutung" im "Fehlen der Angstbereitschaft. "1) Die Untersuchung von Freud hatte ihren Anlass in einem bei Unfallneurotikern typischen Traum. Er reproduziert die Katastrophe, von der sie betroffen wurden. Träume von solcher Art "suchen" nach Freud "die Reizbewältigung unter Angstentwicklung nachzuholen, deren Unterlassung die Ursache der traumatischen Neurose geworden ist. "2) Etwas Ähnliches scheint Valery im Sinn zu haben. Und die Koinzidenz lohnt vermerkt zu werden, weil Valery zu denen gehört, die sich für die besondere Funktionsweise der psychischen Mechanismen unter den heutigen Existenzbedingungen interessiert haben. (Dieses Interesse vermochte er überdies mit seiner poetischen Produktion, die eine rein lyrische geblieben ist, zu vereinbaren. Er stellt sich damit als der einzige Autor dar, der unmittelbar auf Baudelaire zurückführt.) "Die Eindrücke und Sinneswahrnehmungen des Menschen ", heisst es bei Valery, "gehören, an und für sich betrachtet, der Gattung der Überraschungen an; sie zeugen von einer Insuffizienz des Menschen... Die Erinnerung ist... eine Elementarerscheinung und will darauf hinaus, uns die Zeit zur Organisierung" der Reizaufnahme "zu gönnen, die uns zuerst gefehlt hat. "3) Die Chockrezeption wird durch ein Training in der Reizbewältigung erleichert, zu der im Notfall sowohl der Traum wie die Erinnerung herangezogen werden können. Im Regelfalle liegt dieses Training aber, wie Freudannimmt, dem wachen Bewusstsein ob, das seinen Sitz in einer Rindenschicht des Gehirns habe "die ... durch die Reizwirkung so durchgebrannt" sei4), dass sie der Reizaufnahme die günstigsten Verhältnisse entgegenbringe. Dass der Chock derart abgefangen, derart vom Bewusstsein pariert werde, gäbe dem Vorfall, der ihn auslöst, den Charakter des Erlebnisses im prägnanten Sinn. Es würde diesen Vorfall (unmittelbar der Registratur der bewussten Erinnerung ihn einverleibend) für die dichterische Erfahrung sterilisieren. Die Frage meldet sich an, wie lyrische Dichtung in einer Erfahrung fundiert sein könnte, der das Chockerlebnis zur Norm gewor1) Freud, 1. C., S. 41. I) Freud, 1. C., S. 42. B) Paul Val~ry : Autres Rhumbs. Paris 1934. S. 264/265. 6) Freud. 1. Co. S. 32. Über einige Motive bei Baudelaire 57 den ist. Eine solche Dichtung müsste ein hohes Mass von Bewusstheit erwarten lassen; sie würde die Vorstellung eines Plans wachrufen, der bei ihrer Ausarbeitung im Werke war. Das trifft auf die Dichtung von Baudelaire durchaus zu. Es verbindet ihn, unter seinen Vorgängern, mit Poe ; unter seinen Nachfolgern wieder mit Valery. Die Betrachtungen, die von Proust und von Valery über Baudelaire angestellt worden sind, ergänzen einander in providentieller Weise. Proust hat einen Essai über Baudelaire geschrieben, der in seiner Tragweite durch gewisse Reflexionen seines Romanwerks noch übertroffen wird. Valery gab in der Situation de Baudelaire die klassische Einleitung zu den Fleurs du mal. Er sagt dort: "Das Problem musste sich für Baudelaire folgendermassen stellen - ein grosser Dichter, doch weder Lamartine, noch Hugo, noch Musset zu werden. Ich sage nicht, dass dieser Vorsatz bei Baudelaire bewusst gewesen wäre; aber er musste sich zwangsläufig in Baudelaire vorfinden - ja dieser Vorsatz war eigentlich Baudelaire. Er war seine Staatsraison. "1) Es hat etwas Befremdliches, beim Dichter von einer Staatsraison zu reden. Es beinhaltet etwas Bemerkenswertes : die Emanzipation von Erlebnissen. Baudelaires poetische Produktion ist einer Aufgabe zugeordnet. Es haben ihm Leerstellen vorgeschwebt, in die er seine Gedichte eingesetzt hat. Sein Werk lässt sich nicht nur als ein geschichtliches bestimmen, wie jedes andere, sondern es wollte und es verstand sich so.

IV

Je grösser der Anteil des Chockmoments an den einzelnen Eindrücken ist, je unablässiger das Bewusstsein im Interesse des Reizschutzes auf dem Plan sein muss, je grösser der Erfolg ist, mit dem es operiert, desto weniger gehen sie in die Erfahrung ein; desto eher erfüllen sie den Begriff des Erlebnisses. Vielleicht kann man die eigentümliche Leistung der Chockabwehr zuletzt darin sehen: dem Vorfall auf Kosten der Integrität seines Inhalts eine exakte Zeitstelle im Bewusstsein anzuweisen. Das wäre eine Spitzenleistung der Reflexion. Sie würde den Vorfall zu einem Erlebnis machen. Fällt sie aus, so würde sich grundsätzlich der freudige oder (meist) unlustbetonte Schreck einstellen, der nach Freud den Ausfall der Chockabwehr sanktioniert. Diesen Befund hat Baudelaire in einem grellen Bild festgehalten. Er spricht von einem Duell, in dem der Künstler, ehe er besiegt wird, vor Schrecken 1) Charles Baudelaire : Les ßeurs du mal. Avec une IntrodUCtiOD de Paul Val&}'. Ed. Cr~s. Paris. S. X. 58 Walter Benjamin aufschreit. 1) Dieses Duell ist der Vorgang des Schaffens selbst. Baudelaire hat also die Chockerfahrung ins Herz seiner artistischen Arbeit hineingestellt. Diesem Selbstzeugnis kommt grosse Bedeutung zu. Äusserungen mehrerer Zeitgenossen stützen es. Dem Schrecken preisgegeben, ist es Baudelaire nicht fremd, selber Schrecken hervorzurufen. Valles überliefert sein exzentrisches Mienenspiel2) ; Pontmartin stellt nach einem Porträt von Nargeot Baudelaires konfiszierte Visage fest; Cladel verweilt bei dem schneidenden Tonfall, der ihm im Gespräch zur Verfügung stand; Gautier spricht von den ,Sperrungen', wie Baudelaire sie beim Deklamieren liebte3) ; Nadar beschreibt seinen abrupten Schritt.') Die Psychiatrie kennt traumatophile Typen. Baudelaire hat es zu seiner Sach(! gemacht, die Chocks mit seiner geistigen und physischen Person zu parieren, woher sie kommen mochten. Das Gefecht stellt das Bild dieser Chockabwehr. Wenn er seinen Freund Constantin Guys beschreibt, so sucht er ihn um die Zeit, da Paris im Schlaf liegt, auf, "wie er dasteht, über den Tisch gebeugt, mit der gleichen Schärfe das Blatt visierend wie am Tag die Dinge um ihn herum; wie er mit seinem Stift, seiner Feder, dem Pinsel ficht; Wasser aus seinem Glas zur Decke spritzen und die Feder an seinem Hemd sich versuchen lässt; wie er geschwind und heftig hinter der Arbeit her ist, als fürchte er, die Bilder entwischten ihm; so ist er streitbar, wenn auch allein, und pariert seine eigenen Stösse. "6) In solch phantastischem Gefecht begriffen, hat Baudelaire sich selbst in der Anfangsstrophe des Gedichts Le solei! porträtiert; und das ist wohl die einzige Stelle der Fleurs du mal, die ihn bei der poetischen Arbeit zeigt. Le long du vieux faubourg, ou pendent aux masures Les persiennes, abri des secretes luxures, Quand le solei! cruel frappe a traits redoubh~s, Sur la viJIe et les champs, sur les toits et les bIes, Je vais m'exercer seul a ma fantasque escrime, Flairant dans tous les coins les hasards de la rime, Trebuchant sur les mots comme sur les paves, Heurtant parfois des vers depuis longtemps reves.") Die Erfahrung des Chocks gehört zu denen, die für Baudelaires 1) Cit. Emest Raynaud : Ch. Baudelaire. Paris 1922. S. 317/18. I) JuJes Valles: Charles Baudelaire (Andre Billy : Les ecrivains de combat. Paris 1931. S. 192). 8) Eugene Marsan : Les cannes de M. Paul Bourget et le bon choix de Philinte. Paris 1923. S. 239. t) Firmin MaiJJard : La cite des intellectuels. Paris. S. 362. I) 11, S. 334. I) I, S. 96. Über einige Motive bei Baudelaire 59 Faktur bestimmend geworden sind.· Gide handelt von den Intermittenzen zwischen Bild und Idee, Wort und Sache, in denen die poetische Erregung bei Baudelaire ihren eigentlichen Sitz vorfinde. i ) Riviere hat auf die unterirdischen Stösse hingewiesen, von denen der baudelairesche Vers erschüttert wird. Es ist dann, als stürze ein Wort in sich zusammen. Riviere hat solche hinfälligen Worte aufgezeigt2) : Et qui sait si les fleurs nouvelles que je reve Trouveront dans ce sollave comme une greve Le mystique aliment qui ferait leur vigueur. 3) Oder auch Cybele, qui les aime, augmente ses verdures.') Hierher gehört weiter der berühmte Gedichtanfang La servante au grand creur dont vous etiez jalouse.6) Diesen verborgenen Gesetzlichkeiten auch ausserhalb des Verses ihr Recht werden zu lassen, war die Absicht, der Baudelaire im Spleen de Paris - seinen Gedichten in Prosa - nachgegangen ist. In seiner Widmung der Sammlung an den Chefredakteur der "Presse ", Arsene Houssaye, heisst es : "Wer unter uns hätte nicht schon in den Tagen des Ehrgeizes das Wunderwerk einer poetischen Prosa erträumt? sie müsste musikalisch ohne Rhythmus und Reim sein, sie müsste geschmeidig und spröde genug sein, um sich den lyrischen Regungen der Seele, den Wellenbewegungen der Träumerei, den Chocks des Bewusstseins anzupassen. Dieses Ideal, das zur fixen Idee werden kann, wird vor allem von dem Besitz ergreifen, der in den Riesenstädten mit dem Geflecht ihrer zahllosen einander durchkreuzenden Beziehungen zu Hause ist. "6) Die Stelle legt eine doppelte Konstatierung nahe. Sie unterrichtet einmal über den innigen Zusammenhang, der bei Baudelaire zwischen der Figur des Chocks und der Berührung mit den grossstädtischen Massen besteht. Sie unterrichtet weiter darüber, was unter diesen Massen eigentlich zu denken ist. Von keiner Klasse, von keinem irgendwie strukturierten Kollektivum kann die Rede sein. Es handelt sich um nichts anderes als um die amorphe Menge 1) Cf. Andre Gide : Baudelaire et M. Faguet (moreeaux choisis. Paris. S. 128). I) J acques Rlviere : Etudes. Paris. S. 14. a) I, S. 29. ') I, S. 31. I) I, S. 113. ') I, S. 405/06. 60 Walter Benjamin der Passanten, um Strassen publikum. *) Diese Menge, deren Dasein Baudelaire nie vergisst, hat ihm zu keinem seiner Werke Modell gestanden. Sie ist aber seinem Schaffen als verborgene Figur eingeprägt, wie sie auch die verborgene Figur des oben zitierten Fragments darstellt. Das Bild des Fechters lässt sich aus ihr entziffern : die Stösse, welche er austeilt, sind bestimmt, ihm durch die Menge den Weg zu bahnen. Freilich sind die faubourgs, durch die der Dichter des soleil sich hindurchschlägt, menschenleer. Aber die geheime Konstellation (in ihr wird die Schönheit der Strophe bis auf den Grund durchsichtig) ist wohl so zu fassen: es ist die Geistermenge der Worte, der Fragmente, der Versanfänge, mit denen der Dichter in den verlassenen Strassenzügen den Kampf um die poetische Beute ausficht. v Die Menge - kein Gegenstand ist befugter an die Literaten des neunzehnten Jahrhunderts herangetreten. Sie traf Anstalten, sich in breiten Schichten, denen Lesen geläufig geworden war, als ein Publikum zu formieren. Sie wurde Auftraggeber; sie wollte sich, wie die Stifter auf den Bildern des Mittelalters, im zeitgenössischen Roman wiederfinden. Der erfolgreichste Autor des Jahrhunderts ist diesem Verlangen aus innerer Nötigung nachgekommen. Menge hiess ihm, fast im antiken Sinn, die Menge der Klienten, des Publikums. Hugo spricht als erster die Menge in Titeln an : Les miserables, Les travailleurs de la mer. Hugo war in Frankreich der einzige, der mit dem Feuilletonroman konkurrieren konnte: Der Meister der Gattung, die für die kleinen Leute Quelle einer Offenbarung zu werden anfing, ist, wie bekannt, Eugene Sue gewesen. Er wurde 1850 mit grosser Stimmenmehrheit als Vertreter der Stadt Paris in das Parlament gewählt. Kein Zufall, dass der junge Marx Anlass fand, mit den Mysteres de Paris ins Gericht zu gehen. Aus der amorphen Masse, der damals ein schöngeistiger Sozialismus zu schmeicheln suchte, die eherne des Proletariats herauszuschlagen, stand ihm als Aufgabe früh vor Augen. Darum präludiert die Beschreibung, die Engels dieser Masse in seinem Jugendwerk abgewinnt, wie schüchtern immer, einem dermarxschen Themen. In der "Lage der arbeitenden Klassen in England " he isst es : "So eine Stadt wie London, wo man stundenlang wandern kann, ohne auch nur an den Anfang eines Endes zu kommen, ohne .) Dieser Menge eine Seele zu leihen, ist das eigenste Anliegen des Flaneurs. Die Begegnungen mit ihr sind ihm das Erlebnis, das er unermüdlich zum Besten gibt. Aus Baudelaires Werk sind gewisse Reflexe dieser lllusion nicht hinwegzudenken. Sie hat übrigens ihre Rolle nicht ausgespielt. Der unanimisme von Jules Romains Ist einer ihrer bewunderten Spätlinge. über einige Motive be Baudelaire 61 dem geringsten Zeichen zu begegnen, das auf die Nähe des flachen Landes schliessen lässt, ist doch ein eigen Ding. Diese kolossale Zentralisation, diese Anhäufung von dritthalb Millionen Menschen auf Einen Punkt hat die Kraft dieser dritthalb Millionen verhundertfacht... Aber die Opfer, die ... das gekostet hat, entdeckt man erst später. Wenn man sich ein paar Tage lang auf dem Pflaster der Hauptstrassen herumgetrieben hat ... , dann merkt man erst, dass diese Londoner das beste Theil ihrer Menschheit aufopfern mussten, um alle die Wunder der Civilisation zu vollbringen, von denen ihre Stadt wimmelt, dass hundert Kräfte, die in ihnen schlummerten, untäthig blieben und unterdrückt wurden... Schon das Strassengewühl hat etwas Widerliches, etwas, wogegen sich die menschliche Natur empört. Diese Hunderttausende von allen Klassen und aus allen Ständen, die sich da aneinander vorbeidrängen, sind sie nicht Alle Menschen, mit denselben Eigenschaften und Fähigkeiten, und mit demselben Interesse, glücklich zu werden ?.. Und doch rennen sie aneinander vorüber, als ob sie gar nichts gemein, gar nichts miteinander zu thun hätten, und doch ist die einzige Übereinkunft zwischen ihnen die stillschweigende, dass .Jeder sich auf der Seite des Trottoirs hält, die ihm rechts liegt, damit die beiden aneinander vorbeischiessenden Strömungen des Gedränges sich nicht gegenseitig aufhalten; un.d doch fällt es Keinem ein, die Andern auch nur eines Blickes zu würdigen. Die brutale Gleichgültigkeit, die gefühllose Isolierung jedes Einzelnen auf seine Privatinteressen tritt um so widerwärtiger und verletzender hervor, je mehr dieser Einzelnen auf den kleinen Raum zusammengedrängt sind. "1) Diese Beschreibung ist merklich von denen verschieden, die man bei den französischen Kleinmeistern finden kann, einem Gozlan, Delvau oder Lurine. Es fehlt ihr die Gewandtheit und Nonchalance, mit der der Flaneur sich durch die Menge bewegt und die der Feuilletonist ihm beflissen ablernt. Für Engels hat die Menge etwas Bestürzendes. Sie löst eine moralische Reaktion bei ihm aus. Eine ästhetische spielt daneben mit; ihn berührt das Tempo, in dem die Passanten aneinander vorüberschiessen, nicht angenehm. Es macht den Reiz seiner Schilderung aus, wie sich der unbestechliche kritische Habitus mit dem altväterischen Tenor in ihr verschränkt. Der Verfasser kommt aus einem noch provinziellen Deutschland; vielleicht ist die Versuchung, in einem Menschenstrom sich zu verlieren, an ihn nie herangetreten. Als Hegel nicht lange vor seinem Tod zum ersten Mal nach Paris kam, 1) Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klassen in England. Leipzig 1848. S.36/7. 62 Walter Benjamin schrieb er an seine Frau: "Gehe ich durch die Strassen, sehen die Menschen gerade aus wie in Berlin - alles ebenso gekleidet, ungefähr solche Gesichter - derselbe Anblick, aber in einer volkreichen Masse. "1) In dieser Masse sich zu bewegen, war dem Pariser etwas Natürliches. Wie gross auch immer der Abstand sein mochte, den er für seinen Teil von ihr zu nehmen beanspruchte, er blieb von ihr tingiert, er konnte sie nicht wie ein Engels von aussen ansehen. Was Baudelaire angeht, so ist die Masse so wenig etwas ihm Äusserliches, dass sich in seinem Werk verfolgen lässt, wie er, von ihr bestrickt und von ihr angezogen, sich ihrer wehrt. Die Masse ist Baudelaire derart innerlich, dass man ihre Schilderung bei ihm vergebens sucht. So trifft man seine wichtigsten Gegenstände kaum jemals in der Gestalt von Beschreibungen. Es ist ihm, wie Desjardins sinnreich sagt, "mehr darum zu tun, das Bild dem Gedächtnis einzusenken als es zu schmücken und auszumalen. "2) Man wird sich sowohl in den Fleurs du mal wie im Spleen de Paris umsonst nach einem Gegenstück zu den Gemälden der Stadt umsehen, in denen Victor Hugo Meister war. Baudelaire schildert weder die Einwohnerschaft noch die Stadt. Dieser Verzicht hat ihn in den Stand gesetzt, die eine in der Gestalt der anderen heraufzurufen. Seine Menge ist immer die der Grossstadt ; sein Paris immer ein übervölkertes. Das ist es, was ihn Barbier sehr überlegen macht, dem, weil sein Verfahren die Schilderung ist, die Massen und die Stadt auseinanderfallen. *) In den Tableaux 1) Briefe von und an Hege!. Hrsg. von Karl Hege!. Zweiter TheU. Leipzig 1887 (Georg Wilhelm Friedrich Hegel : Werke. XIX, 2, S. 257). I) Paul Desjardins : Charles Baudelaire (La Revue bleue. Paris 1887. S. 18) . • ) Bezeichnend für Barbiers Verfahren ist sein Gedicht Londres, das in vierundzwanzig ZeUen die Stadt schildert, um unbeholfen mit den folgenden Versen abzuschliessen : EoßD, dans UD amas de choses, sombre, Immense, Un peuple nair, vivant et mourant eo silence. Des elres par milliers, suivant l'instinct fatal, Et courant apres r or par le bien et le mal. (Auguste Barbier: Jambes et poemes. Paris 1841. S. 193/94.) - Baudelaire ist von Barbiers ,Tendenzgedichten', zumal dem londoner Zyklus Lazare, tiefer beeinflusst worden, als man es hat wahr haben wollen. Der Schluss des Baudelaireschen CrepuscuIe du soir lautet : Ils f1nissent Leur destln~ et vont vers le gounre commun. Jahsonicf!~~r:e 10:01, 14 August 2022 (EDT)!r~~e~i:ssJahsonic 10:01, 14 August 2022 (EDT)j~~fu:i~s d'un Au coln du leu, le solr, aupres d'une Ame almee. (I, S. 109). Man vergleiche dies mit dem Schluss der achten Strophe von Barbiers Mineurs de Newcastle : Et plus d'un qul rt!valt dans le fond de son Ame Aux douceurs du logis, ä l'reH bleu de sa femme, Trouve au ventre du goulIre un etemel tombeau. (Barbier, I. c., S. 240/41). - Mit wenigen meisterlichen Retuschen macht Baudelaire aus dem ,Bergmannslos' das banale Ende des Grossstadtmenschen. Über einige Motive bei Baudelaire 63 parisiens ist fast überall die heimliche Gegenwart einer Masse nachweisbar. Wenn Baudelaire die Morgendämmerung zum Thema macht, so ist in den menschenleeren Strassen etwas von dem "Schweigen eines Gewimmels H, das Hugo aus dem nächtlichen Paris herausspürt. Nicht so bald lässt Baudelaire den Blick auf den Tafeln der Anatomieatlanten verweilen, die auf den staubigen Seinequais zum Verkauf ausliegen, so hat auf diesen Blättern die Masse der Abgeschiedenen unvermerkt die Stelle eingenommen, an der vereinzelte Gerippe zu sehen waren. Eine kompakte Masse bewegt sich in den Figuren der Danse macabre vorwärts. Mit dem Schritt, der das Tempo nicht halten kann, mit Gedanken, die von der Gegenwart nichts mehr wissen, aus der grossen Masse herauszufallen, macht das Heldentum der verhutzelten Frauen aus, denen der Zyklus Les petites vieilles auf ihren Wegen folgt. Die Masse war der bewegte Schleier; durch ihn hindurch sah Baudelaire Paris. *) Ihre Gegenwart bestimmt eines der berühmtesten Stücke der Fleurs du mal. Keine Wendung, kein Wort macht in dem Sonett A une passante die Menge namhaft. Und doch beruht der Vorgang allein auf ihr, wie die Fahrt des Segelschiffs auf dem Wind beruht. La rue assourdissante autour dc moi hurlait. Longue, mince, en grand deuil, douleur majestueuse, Une femme passa, d'une main fastueuse, Soulevant, balan~ant le feston et l'ourlet ; Agile et noble, avec sa jambe de statue. Moi, je buvais, crispe comme un extravagant, Dans son <eil, ciellivide Oll germe l'ouragan, La douceur qui fascine et le plaisir qui tue. Un eclair ... puis la nuit 1 - Fugitive beaute Dont le regard m'a fait soudainement renaitre, Ne te verrai-je plus que dans l'eternite ? Ailleurs, bien loin d'ici 1 Trop tard 1 Jamais peut-/!tre 1 Car j'ignore Oll tu fuis, tu ne sais Oll je vais, o toi que j'eusse aimee, ö toi qui le savais 11) Im Witwenschleier, schleierhaft durch ihr stummes Dahingetragenwerden im Gewühl, kreuzt eine Unbekannte den Blick des Dichters. Was das Sonett zu verstehen gibt, ist, in einem Satz festgehalten : die Erscheinung, die den Grossstädter fasziniert - weit entfernt, an der Menge nur ihren Widerpart, nur ein ihr feindliches Element zu

  • ) Die Phantasmagorie, in der der Wartende seine Zeit zubringt, das aus Passagen

erstellte Venedig, das das Empire den Parisern als Traum vorgaukelt, verHösst auf seinem Mosaikband nur einzelne. Daher kommen bei Baudelaire keine Passagen vor. 1) I, S. 106. 64 Walter Benjamin haben -, wird ihm durch die Menge erst zugetragen. Die Entzückung des Grossstädters ist eine Liebe nicht sowohl auf den ersten als auf den letzten Blick. Es ist ein Abschied für ewig, der im Gedicht mit dem Augenblick der Berückung zusammenfällt. So stellt das Sonett die Figur des Chocks, ja die Figur einer Katastrophe. Sie hat aber mit dem so Ergriffenen das Wesen seines Gefühls mitbetroffen. Was den Körper im Krampf zusammenzieht - crispe comme un extravagant, heisst es - das ist nicht die Beseligung dessen, von dem der Eros in allen Kammern seines Wesens Besitz ergreift; es hat mehr von der sexuellen Betroffenheit, wie sie einen Vereinsamten überkommen kann. Dass "diese Verse nur in einer Grossstadt entstehen konnten "1), wie Thibaudet gemeint hat, will nicht viel sagen. Sie lassen die Stigmata zum Vorschein kommen, die das Dasein in einer Grossstadt der Liebe beibringt. Nicht anders hat Proust das Sonett gelesen und darum das späte Nachbild der Frau in Trauer, das ihm eines Tages in Albertine erschienen ist, mit der beziehungsvollen Beschriftung la Parisienne versehen. "Als Albertine wieder in mein Zimmer trat, hatte sie ein schwarzes Satin kleid an. Es machte sie blass, und sie ähnelte so dem Typ der feurigen und doch bleichen Pariserin, der Frau, die, frischer Luft entwöhnt, durch ihre Lebensweise inmitten von Massen und vielleicht auch durch den Einfluss des Lasters angegriffen, an einem bestimmten Blick zu erkennen ist, welcher bei Wangen, denen kein Rot aufgelegt wurde, unstet wirkt. "2) So blickt, noch bei Proust, der Gegenstand einer Liebe, wie nur der Grossstädter sie erfährt, wie sie von Baudelaire dem Gedicht erobert wurde und von der man nicht selten wird sagen dürfen, die Erfüllung sei ihr minder versagt als erspart geblieben. *) VI Unter den älteren Fassungen des Motivs der Menge darf eine von Baudelaire übertragene Erzählung Poes als die klassische angesehen werden. Sie weist einige Merkwürdigkeiten auf, und man hat ihnen nur zu folgen, um auf gesellschaftliche Instanzen 1) Albert Thibaudet : Interieurs. Paris. S. 22. 2) Marcel Proust: A Ja recherche du temps perdu. VI : La prisonniere. Paris 1923. I, S. 138 . • ) Das Motiv der Liebe zu der Passantin wird von einem Gedicht des frühen George aufgenommen. Das Entscheidende ist ihm entgangen - die Strömung, in der die Frau, von der Menge getragen, vorübertreibt. So kommt es zu einer befangenen Elegie. Die Blicke des Dichters sind, wie er seiner Dame gestehen muss, "feucht vor sehnen fortgezogen / eh sie in deine sich zu tauchen trauten." (Stefan George : Hymnen Pilgerfahrten Algabal. Berlin 1922. S. 23.) Baudelaire lässt darüber keinen Zweifel, dass er der Passantin tief in die Augen gesehen hat. über einige Motive bei Baudelaire 65 zu stossen, die so mächtig und so verborgen sind, dass sie zu denen dürfen gerechnet werden, von denen die vielfach vermittelte, sowohl tiefgreifende wie subtile Wirkung auf die künstlerische Produktion allein ausgehen kann. Das Stück ist betitelt "Der Mann der Menge ". London ist sein Schauplatz; und zum Erzähler macht es einen Mann, der nach langer Krankheit sich erstmals ins Getriebe der Stadt hinausbegibt. In den späten Nachmittagsstunden eines Herbsttages hat er sich hinter dem Fenster eines grossen Lokals in London installiert. Er mustert die Gäste um sich herum, auch die Inserate in einer Zeitung; vor allem aber geht sein Blick über die Menge hin, die sich an seinem Fenster vorüberschiebt. "Die Strasse war eine der belebtesten in der Stadt; den ganzen Tag war sie von Menschen gefüllt gewesen. Nun aber, bei Einbruch der Dunkelheit, wuchs die Menge mit jeder Minute an; und als die Gasflammen entzündet waren, drängten zwei dichte, massive Ströme von Passanten an dem Cafe vorbei. Ich hatte mich noch nie in gleicher Verfassung gefühlt wie in dieser Abendstunde ; und ich kostete die neue Erregung aus, die beim Anblick des Ozeans wogender Köpfe mich überkommen hatte.. Allmählich liess ich aus dem Auge, was in dem Raum, in dem ich mich befand, vor sich ging. Ich verlor mich an die Betrachtung der Strassenszene. "1) Die Fabel, zu der dieses Vorspiel gehört, muss, so bedeutsam sie ist, auf sich beruhen; der Rahmen, in dem sie spielt, will betrachtet sein. Düster und zerfahren wie das Gaslicht, in dem sie sich bewegt, erscheint bei Poe die londoner Menge selbst. Das gilt nicht nur von dem Gesindel, das mit der Nacht "aus den Höhlen "2) kriecht. Die Klasse der höheren Angestellten wird von Poe folgendermassen beschrieben : "Ihr Haar war zumeist bereits ziemlich gelichtet, ihr rechtes Ohr stand illfolge seiner Verwendung als Träger des Federhalters gewöhnlich etwas vom Kopfe ab. Alle rückten gewohnheitsmässig an ihren Hüten, und alle trugen kurze goldene Uhrketten von altmodischer Form. "3) Noch erstaunlicher ist die Beschreibung der Menge nach der Art, wie sie sich bewegt. "Die meisten, die vorbeikamen, sahen aus wie Leute, die mit sich zufrieden sind und mit beiden Füssen im Leben stehen. Sie schienen nur daran zu denken, sich durch die Menge den Weg zu bahnen. Sie runzelten die Brauen und warfen Blicke nach allen Seiten. Wenn sie von benachbarten Passanten einen Stoss bekamen, zeigten sie ') Edgar Poe : Nouvelles histoires extraordinaires. Traduction de Charles Baudelaire. ~d. Calmann-Levy. Paris. S. 88. B) Poe, 1. c., S. 94. 8) Poe, 1. c., S. 90/91. 66 Walter Benjamin sich nicht weiter ungehalten; sie brachten ihre Kleider wieder in Ordnung und hasteten weiter. Andere, und auch diese Gruppe war gross, hatten ungeordnete Bewegungen, ein rot angelaufenes Gesicht, redeten mit sich selbst und gestikulierten, so als ob sie sich gerade in der unzähligen Menge, von der sie umgeben waren, allein vorgekommen wären. Wenn sie unterwegs innehalten mussten, dann hörten diese Leute plötzlich zu murmeln auf; aber ihre Gestikulation wurde heftiger, und sie warteten mit abwesendem, forciertem Lächeln, bis die Leute, die ihnen im Wege standen, vorbeiwaren. Wenn man sie anstiess, so grüssten sie diejenigen tief, von denen sie ihren Stass bekommen hatten, und sie schienen dann höchst befangen. '(1)*) Man sollte denken, die Rede sei von halb trunkenen, verelendeten Individuen. In Wahrheit handelt es sich um "Leute von gutem Stande, Kaufleute, Advokaten und Börsenspekulanten".2) **) Man wird das Bild, das Poe entworfen hat, nicht als realistisch bezeichnen können. Es zeigt eine plan voll entstellende Phantasie am Werk, die den Text weit von denen abrückt, die man als Muster eines sozialistischen Realismus zu empfehlen pflegt. Bar':' bier zum Beispiel, der einer der besten ist, auf die sich ein solcher Realismus vielleicht berufen könnte, schildert die Dinge weniger befremdlich ab. Auch wählte er einen transparenteren Gegen- ') Poe, I. c., S. 89.

  • ) Zu dieser Stelle findet sich eine Parallele in Un jour de pluie. Das Gedicht

ist, wenn auch von anderer Hand signiert, Baudelaire zuzuschreiben (cf. Charles Baudelaire : Vers retrouves. M. Jules Mouquet. Paris 1929). Der letzte Vers, der dem Gedicht das ungemein Düstere gibt, hat seine genaue Entsprechung im "Mann der l\lenge". "Die Strahlen der Gaslaternen", heisst es bei Poe, "waren zuerst, als sie noch mit der Abenddämmerung in Streit gelegen hatten, schwach gewesen; nun hatten sie gesiegt und warfen ein flackerndes und grelles Licht rings umher. Alles sah schwarz aus, funkelte aber wie das Ebenholz, mit dem man den Stil Tertullians verglichen hat." (Poe, I. c., S. 94). Baudelaires Begegnung mit Poe ist hier um so erstaunlicher als die folgenden Verse spätestens 1843 geschrieben worden sind - also zu einer Zeit, da er von Poe nicht wusste. (I, S. 211). ehaenn, nous coudoyant sur le trottoir glissant, Egoiste et brutal, passe et flOUS eclabousse, OUt pOllr courir plus vite, en s'eIoignant nous pousse. Partout fange, dNuge, obscuritl! du eiel. Noir tableau qu'eüt r@v~ le noir EzechieJ. ') Poe, I. c., S. 90. ") Die Geschäftsleute haben bei Poe etwas Dämonisches. Man mag an Marx denken, der die "fieberhaft jugendliche Bewegung der materiellen Produktion" in den Staaten dafür haftbar macht, dass "weder Zeit noch Gelegenheit" war, "die alte Geisterwelt abzuschaffen." (Karl Marx : Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte. Ed. Rjazanov. Wien-Berlin. S. 30.) Baudelaire lässt bei Einbruch der Dunkelheit "träg wie ein Kaufmannspack die schädlichen Dämonen" in der Luft erwachen. (I, S. 108) Vielleicht ist diese Stelle inl Crepuscule du soir eine Reminiszenz an den Poeschen Text. Ober einige Motive bei Baudelaire 67 stand; es ist die Masse de'r Unterdrückten. Von ihr kann bei Poe nicht die Rede sein; er hat es mit ,den Leuten' schlechtweg zu tun. In dem Schauspiel, das sie ihm darboten. spürte er, wie Engels, etwas Bedrohliches. Es ist eben dies Bild der Grossstadtmenge, das für Baudelaire bestimmend geworden ist. Wenn er der Gewalt erlag, mit der sie ihn an sich zog und als Flaneur zu einem der ihren macht-e, so hat ihn doch das Gefühl von ihrer unmenschlichen Beschaffenheit dabei nicht verlassen. Er macht sich zu ihrem Komplizen und sondert sich fast im gleichen Augenblick von ihr ab. Er lässt sich weitläufig mit ihr ein, um sie unversehens mit einem Blick der Verachtung ins Nichts zu schleudern. Diese Ambivalenz hat etwas Bezwingendes, wo er sie zurückhaltend einbekennt. Mit ihr mag der schwer ergründliche Charme seines Crepuscule du soir zusammenhängen. VII Baudelaire hat es gefallen, den Mann der Menge, auf dessen Spur der Poesche Berichterstatter das nächtliche. London die Kreuz und die Quer durchstreift, mit dem Typus des Flaneurs gleichzusetzen. I) Man wird ihm darin nicht folgen können. Der Mann der Menge ist kein Flaneur. In ihm hat der gelassene Habitus einem manischen Platz gemacht. Darum ist eher an ihm abzunehmen, was aus dem Flaneur werden musste, wenn ihm die Umwelt, in die er gehört, genommen ward. Wurde 'sie ihm von London je gestellt, so gewiss nicht von dem, das bei Poe beschrieben ist. An ihm gemessen, wahrt Baudelaires Paris einige Züge aus guter alter Zeit. Noch gab es Fähren, die dort, wo später Brücken sich wölben sollten, die Seine querteI!. Noch konnte, in Baudelaires Todesjahr, ein Unternehmer aul den Gedanken kommen, zur Bequemlichkeit bemittelter Einwohner fünfhundert Sänften zirkulieren zu lassen. Noch waren die Passagen beliebt, in denen der Flaneur dem Anblick des Fuhrwerks enthoben war, das den Fussgänger als Konkurrenten nicht gelten lässt. *) Es gab den Passanten, welcher sich in die Menge einkeilt, doch gab es auch noch den Flaneur, der Spielraum braucht und sein Privatisieren nicht missen will. Die Vielen sollen ihren 1) 11, S. 328.

  • )' Der Fussgänger verstand, seine Nonchalance unter Umständen provokatorisch zur Schau zu tragen. Um '1840 gehörte es vorübergehend zum guten Ton, Schild- . kröten in den Passagen spazieren zu führen. Der Flaneur lIess sich gern sein Tempo

von ihnen vorschreiben. Wäre es nach ihm gegangen. so h!ltte der Fortschritt diesen pas lernen müssen. Aber nicht er behielt das letzte Wort, sondern Taylor, der das ,Nieder mit der F1anerie' zur Parole machte. 68 Walter Benjamin Geschäften nachgehen: flanieren kann der Privatmann im Grunde nur, wenn er als solcher schon aus dem Rahmen fällt. Wo das Privatisieren den Ton angibt, ist für den Flaneur ebensowenig Platz wie im fieberhaften Verkehr der City. London hat seinen Mann der Menge. Der Eckensteher Nante, der in Berlin eine volkstümliche Figur des Vormärz war, steht gewissermassen Pendant zu ihm; der pariser Flaneur wäre das Mittelstück. *) Wie der Privatier auf die Menge sieht, darüber erteilt eine kleine Prosa Aufschluss - die letzte, die E. T. A. Hoffmann geschrieben hat. Das Stück heisst "Des Vetters Eckfenster". Es ist fünfzehn Jahre älter als Poes Erzählung und stellt wohl einen der frühesten Versuche dar, das Strassenbild einer grösseren Stadt aufzufassen. Die Unterschiede zwischen den beiden Texten lohnen vermerkt zu werden. Po es Beobachter blickt durch das Fenster eines öffentlichen Lokals; der Vetter dagegen ist in seinem Hauswesen installiert. Poes Beobachter unterliegt einer Attraktion, die ihn schliesslich in den Strudel der Menge zieht. Hoffmanns Vetter in seinem Eckfenster ist gelähmt; er könnte der Strömung selbst dann nicht folgen, wenn er ~ie an der eigenen Person verspüren würde. Er ist aber über diese Menge vielmehr erhaben, wie es sein Posten in einer Etagenwohnung ihm nahelegt. Von dort durchmustert er die Menge; es ist Wochenmarkt, und sie fühlt sich. in ihrem Element. Sein Opernglas hebt ihm Genreszenen aus ihr heraus. Dem Gebrauch dieses Instruments ist die innere Haltung des Benutzers durchaus entsprechend. Er will seinen Besucher, wie er gesteht, in die "Prinzipien der Kunst, zu schauen "1) einweihen.**) Diese besteht in der Fähigkeit, sich an .) In Glasbrenners Typus zeigt sich der Privatier als kümmerlicher Sprössling des citoyen. Nante hat keinen Anlass, sich umzutun. Er richtet sich auf der Strasse, von der sich von selbst versteht, dass sie ihn zu nichts führt, ebenso häuslich wie der Spiessbürger in seinen vier Wänden ein. 1) Ernst Theodor AmadeusHolImann·: Ausgewählte Schriften. XIV. Stuttgart 1839. S. 205. . .. ) Bemerkenswert ist, wie es zu diesem Geständnis kommt. Der Vetter schaue, meint sein Besucher, auf das Treiben da unten nur, weil er seine Lust am wechselnden Spiel der Farben habe. Auf die Dauer müsse das doch wohl ermüdend sein. Ähnlich, und wohl nicht sehr viel später, schreibt Gogol anlässlich eines Jahrmarkts in der Ukraine : "So viele Leute waren dorthin unterwegs, dass es einem vor den Augen flimmerte." Vielleicht hat der tägliche Anblick einer bewegten Menge einmal ein Schauspiel dargestellt, dem sich das Auge erst adaptieren musste. Wollte man das als Mutmassung gelten lassen, so ist die Annahme nicht unmöglich, es seien ihm nach Bewältigung dieser Aufgabe Gelegenheiten nicht unwillkommen gewesen, sich im Besitz seiner neuen Errungenschaft iu bestätigen. Das Verfahren der impressionistischen Malerei, das Bild im Tumult der Farbflecken einzuheiIpsen, wäre dann ein Reflex von Erfahrungen, die dem Auge eines Grossstädters geläufig geworden sind. Ein Bild wie Monets Kathedrale von Chartres, die gleichsam ein Ameisenhaufen aus Steinen ist, würde diese Annahme illustrieren können. Über einige Motive bei Baudelaire 69 lebenden Bildern zu erfreuen, wie ihnen das Biedermeier auch sonst nachgeht. Erbauliche Sprüche stellen die Auslegung.·) Man kann den Text als einen Versuch ansehen, dessen Veranstaltung fällig zu werden begann. Es ist aber klar, dass er in Berlin unter Bedingungen unternommen wurde, die sein volles Gelingen vereitelten. Hätte Hoffmann Paris oder London je betreten, wäre er auf die Darstellung einer Masse als solcher aus gewesen, so hätte er sich nicht an einen Markt gehalten; er hätte nicht die Frauen beherrschend ins Bild gestellt; er hätte vielleicht die Motive aufgegriffen, die Poe. der im Gaslicht bewegten Menge abgewinnt. Übrigens hätte es derer nicht bedurft, um das Unheimliche herauszustellen, das andere Physiognomen der grossen Stadt gespürt haben. Ein nachdenkliches Wort von Heine gehört hierher. "Er litt ", so berichtet ein Korrespondent 1838 an Varnhagen, "im Frühling sehr an den Augen. Das letzte Mal ging ich ein Stück von den Boulevards mit ihm. Der Glanz, das Leben dieser in ihrer Art einzigen Strasse, regte mich zu unendlicher Bewunderung auf, welchem gegenüber dieses Mal Heine das Grauenvolle, das diesem Weltmittelpunkte beigemischt sei, bedeutend hervorhob. '(1) VIII Angst, Widerwillen und Grauen weckte die Grossstadtmenge in denen, die sie als die ersten ins Auge fassten. Bei Poe hat sie etwas Barbarisches. Disziplin bändigt sie nur mit genauer Not. Später ist James Ensor nicht müde geworden, Disziplin und Wildheit in ihr zu konfrontieren. Er baut mit Vorliebe Militärverbände in seine karnevalesken Banden ein. Beide vertragen sich miteinander vorbildlich. Nämlich als Vorbild der totalitären Staaten, in denen die Polizei mit den Plünderern geht. Valery, der für den Symptomkomplex ,Zivilisation' einen scharfen Blick hat, kennzeichnet einen der einschlägigen Tatbestände. "Der Bewohner der gros sen städtischen Zentren ", schreibt er, "verfällt wieder in den Zustand der Wildheit, wi,II sagen der Vereinzelung. Das Gefühl, auf die anderen angewiesen zu sein, vordem ständig durch das Bedürfnis wachgehalten, stumpft sich im reibungslosen Ablauf des sozialen Mechanismus allmählich ab. Jede Vervoll- .) Erbauliche Erwägungen widmet HofTmann in diesem Textunter anderen dem Blinden, der sein Haupt gen Himmel gerichtet hält. Baudelaire, der diese Erzählung kannte, gewinnt in der Schlusszeile der aveugles der Betrachtung HofTmanns eine Variante ab, welche ihre Erbaulichkeit Lügen straft: Que cherchent-ils au ciel, tous ces Aveugles? (I, S. 106.) 1) Heinrich Heine : Gespräche. Hrsg. v. Hugo Bieber. Beriin 1926. S. 163. 70 Walter Benjamin kommnung dieses Mechanismus setzt gewisse Verhaltungsweisen, gewisse Gefühlsregungen ... ausser Kraft. '(1) Der Komfort isoliert. Er rückt, -auf der anderen Seite, seine Nutzniesser dem Mechanismus näher. Mit der Erfindung des Streichholzes um die Jahrhundertmitte tritt ei~e Reihe von Neuerungen auf den Plan, die das eine gemeinsam haben, eine vielgliedrige Ablaufsreihe mit einem abrupten Handgriff auszulösen. Die Entwicklung geht in vielen Bereichen vor sich; sie wird unter anderm am Telefon anschaulich, bei dem an die Stelle der stetigen Bewegung, mit der die Kurbel der älteren Apparate bedient sein wollte, das Abheben eines Hörers getreten ist. Unter den 1,mzähligen Gebärden des Schaltens, Einwerfens, Abdrückens usf. wurde das ,Knipsen' des Photographen besonders folgenreich. Ein Fingerdruck genügte, um ein Ereignis für eine unbegrenzte Zeit festzuhalten. Der Apparat erteilte dem Augenblick sozusagen einen posthumen Chock. Haptischen Erfahrungen dieser Art traten optische an die Seite, wie der Inseratenteil einer Zeitung sie mit sich bringt, aber auch der Verkehr in der grossen Stadt. Durch ihn sich zu bewegen, bedingt für den einzelnen eine Folge von Chocks und von Kollisionen. An den gefährlichen Kreuzungspunkten durchzucken ihn, gleich Stössen einer Batterie, Innervationen in rascher Folge. Baudelaire spricht von dem Mann, der in die Menge eintaucht wie in ein -Reservoir elektrischer Energie. Er nennt ihn bald darauf, die Erfahrung des Chocks umschreibend, "ein Kaleidoskop, das mit Bewusstsein versehen ist. "2) Wenn Poes Passanten noch scheinbar grundlos Blicke nach allen Seiten werfen, so müssen die heutigen das tun, um sich über die Verkehrssignale zu orientieren. So unterwarf die Technik das menschliche Sensorium einem Training komplexer Art. Es kam der Tag, da einem neuen und dringlichen Reizbedürfnis der Film entsprach. Im Film kommt die chockförmige Wahrnehmung als formales Prinzip zur Geltung. ,Was am Fliessband den Rhythmus der Produktion bestimmt, liegt beim Film dem der Rezeption zugrunde. Nicht umsonst betont Marx, wie sehr beim Handwerk der Zusammenhang der Arbeitsmomente ein flüssiger ist. Dieser Zusammenhang tritt am Fliessband dem Fabrikarbeiter verselbständigt als ein dinglicher gegenüber. Unabhängig vom Willen des Arbeiters gelangt das Werkstück in dessen Aktionsradius. Und es entzieht sich ihm ebenso eigenwillig. "Aller kapitalistischen Produktion ... ", schreibt Marx, "ist es gemeinsam, dass nicht der Arbeiter die Arbeitsbedingung, sondern umgekehrt die Arbeits1) paul VaIery : Cahier B, 1910. Paris. S. 88/9. I) ll, S. 333. über einige Motive bei Baudelaire 71 bedingung den Arbeiter anwendet, aber erst mit der Maschinerie erhält diese Verkehrung technisch handgreifliche Wirklichkeit. "I} Im Umgang mit der Maschine lernen die Arbeiter, "ihre eigene Bewegung der gleichförmig stetigen eines Automaten "2) zu koordinieren. Mit diesen Worten fällt ein eigenes Licht auf die Gleichförmigkeiten absurder Art, mit denen Poe die Menge behaften will. Gleichförmigkeiten der Kleidung und des Benehmens, nicht zuletzt Gleichförmigkeiten des Mienenspiels. Das Lächeln gibt zu denken. Es ist vermutlich das heute im keep smiling geläufige und figuriert dort als mimischer Stossdämpfer. -" Alle Arbeit an der Maschine erfordert ",heisst eS im oben berührten Zusammenhang, "frühzeitige Dressur des Arbeiters. "3) Von Übung muss diese Dressur unterschieden werden. Übung, im Handwerk allein bestimmend, hatte in der Manufaktur noch Raum. Auf deren Grundlage "findet jeder. besondere Produktionszweig in der Erfahrung die ihm entsprechende technische Gestalt; er vervollkommnet sie la n g sam." Er krist~llisiert sie· freilich rasch, "sobald ein gewisser Reifegrad erreicht ist. "4) Aber dieselbe Manufaktur erzeugt andrerseits "in jedem Handwerk, das sie ergreift, eine Klasse sogenannter ungelernter Arbeiter, die der Handwerksbetrieb streng ausschloss. Wenn sie die durchaus vereinfachte Spezialität auf Kosten des ganzen Arbeitsvermögens zur Virtuosität entwickelt, beginnt sie auch schon, den Mangel aller Entwicklung zu einer Spezialität zu machen. Neben die Rangordnung tritt die einfache Scheidung der Arbeiter in gelernte und ungelernte. "5) Der ungelernte Arbeiter ist der durch die Dressur der Maschine am tiefsten Entwürdigte. Seine Arbeit ist gegen Erfahrung abgedichtet. An ihr hat die Übung ihr Recht verloren. *) Was der Lunapark in seinen Wackeltöpfen und verwandten Amüsements zustande bringt, ist nichts als eine Kostprobe der Dressur, der der ungelernte Arbeiter in der Fabrik unterworfen wird (eine Kostprobe, die ihm zeitweise für das gesamte· Programm zu stehen hatte; denn die Kunst des Exzentriks, in der sich der kleine Mimn in den Lunaparks konnte schulen lassen, stand zugleich mit der Arbeitslosigkeit hoch im Flor). Poes Text macht den wahren Zusammenhang zwischen Wildheit und Disziplin einsichtig. Seine Passanten 1) Karl Marx : Das Kapital. Ed. Korsch. Berlin. S. 404. 8) Marx, I. c., S. 402. 8) Marx, I. c., S. 402. ') Marx, I. c., S. 323. 6) Marx, I. c., S. 336/37.

  • ) Je kürzer die Ausbildungszeit des Industriearbeiters, desto länger wird die des

Militärs. Es gehört vielleicht mit zur Vorbereitung der Gesellschaft auf den totalen Krieg, dass die Übung aus der Praxis der Produktion in die Praxis der Destruktion abwandert. 72 Walter Benjamin benehmen sich so, als wenn sie, angepasst an die Automaten, nur noch automatisch sich äussern könnten. Ihr Verhalten ist eine Reaktion auf Chocks. "Wenn man sie anstiess, so grüssten sie diejenigen tief, von denen sie ihren Stoss bekommen hatten." IX . Dem Chockerlebnis, das der Passant in der Menge hat, entspricht das ,Erlebnis' des Arbeiters an der Maschinerie. Das erlaubt noch nicht anzunehmen, dass Poe von dem industriellen Arbeitsvorgang einen Begriff besessen hat. Auf alle Fälle ist Baudelaire von einem solchen Begriff weit entfernt gewesen. Er ist aber von einem Vorgang gefesselt worden, in dem der reflektorische Mechanismus, den die Maschine am Arbeiter in Bewegung setzt, am Müssiggänger wie in einem Spiegel sich näher studieren lässt. Diesen Vorgang stellt das Hasardspiel dar. Die Behauptung muss paradox erscheinen. Wo wäre ein Gegensatz glaubhafter etabliert als der zwischen der Arbeit und dem Hasard? Alain schreibt einleuchtend : "Der Begriff ... des Spiels ... beinhaltet..., dass keine Partie von der vorhergehenden abhängt. Das Spiel will von keiner gesicherten Position wissen ... Verdienste, die vorher erworben sind, stellt es nicht in Rechnung, und darin unterscheidet es sich von der Arbeit. Das Spiel macht mit der gewichtigen Vergangenheit, auf die sich die Arbeit stützt..., kurzen Prozess. "1) Die Arbeit, die Alain bei diesen Worten im Sinne hat, ist die hoch differenzierte (die, wie die geistige, gewisse Züge vom Handwerk bewahren dürfte); es ist nicht die der meisten Fabrikarbeiter, am wenigsten die der ungelernten. Zwar fehlt der letzteren der Einschlag des Abenteuers, die Fata Morgana, welche den Spieler lockt. Aber was ihr durchaus nicht abgeht, das ist die Vergeblichkeit, die Leere, das Nicht-vollendendürfen, welches vielmehr der Tätigkeit des Lohnarbeiters in der Fabrik innewohnt. Auch dessen vom automatischen Arpeitsgang ausgelöste Gebärde erscheint im Spiel, das nicht ohne den geschwinden Handgriff zustande kommt, welcher den Einsatz macht oder die Karte aufnimmt. Was der Ruck in der Bewegung der Maschinerie, ist im Hasardspiel der sogenannte coup. Der Handgriff des Arbeiters an der Maschine ist gerade dadurch mit dem vorhergehenden ohne Zusammenhang, dass er dessen strikte Wiederholung darstellt. Indem jeder Handgriff an der Maschine gegen den ihm voraufgegegangenen ebenso abgedichtet ist, wie ein coup der Hasardpartie gegen den jeweils letzten, stellt die Fron des Lohnar1) Alain : Les idees et les äges. I, S. 183/84 (Le jeu). über einige Motive bei Baudelaire 73 beiters auf ihre Weise ein Pendant zu der Fron des Spielers. Beider . Arbeit ist von Inhalt gleich sehr befreit. Es gibt eine Lithographie von Senefelder, die einen Spielklub darstellt. Nicht einer der auf ihr Abgebildeten geht in der üblichen Weise dem Spiel nach~ Jeder ist von seinem Affekt besessen; einer von ausgelassener Freude, ein anderer von Misstrauen gegen den Partner, ein dritter von dumpfer Verzweiflung, ein·vierter von Streitsucht; einer macht Anstalten, um aus der Welt zu gehen. In den mannigfachen Gebarungen ist etwas verborgen Gemeinsames : die aufgebotenen Figuren zeigen, wie der Mechanismus, dem die Spieler im Hasardspiel sich anvertrauen, an Leib und Seele von ihnen Besitz ergreift, so dass sie auch in ihrer privaten Sphäre, wie leidenschaftlich sie immer bewegt sein mägen, nicht mehr anders als reflektorisch fungieren können. Sie benehmen sich wie die Passanten im poeschen Text. Sie leben ihr Dasein als Automaten und ähneln den fiktiven Figuren Bergsons, die ihr Gedächtnis vollkommen liquidiert haben. Es scheint nicht, dass Baudelaire dem Spiel ergeben gewesen ist, wiewohl er für die, die ihm verfallen sind, Worte der Sympathie, ja der Huldigung gefunden haU) Das Motiv, das er in dem Nachtstück Le jeu behandelt hat, war in seiner Ansicht von der Moderne vorgesehen. Es zu schreiben, bildete einen Teil seiner Aufgabe. Das Bild des Spielers wurde bei Baudelaire das. eigentlich moderne Komplement zum archaischen Bild des Fechters. Der eine ist ihm eine heroische Figur wie der andere. Mit Baudelaires Augen hat Börne gesehen, als er geschrieben hat: "Wenn man alle die Kraft und Leidenschaft ... , die jährlich in Europa an Spieltischen vergeudet werden ... zusammensparte, ... würde es ausreichen, ein römisches Volk und eine römische Geschichte daraus zu bilden. Aber das ist es eben I weil jeder Mensch als Römer geboren, sucht ihn die bürgerliche Gesellschaft zu entrömern, und darum sind Hasard- und Gesellschaftsspiele, Romane, italienische Opern und elegante Zeitungen ... eingeführt. "2) Im Bürgertum ist das Hasardspiel erst mit dem neunzehnten Jahrhundert heimisch geworden; im achtzehnten spielte nur der Adel. Es war durch die napoleonischen Heere verbreitet worden und gehörte nun" "zum Schauspiele des mondänen Lebens und der Tausende ungeregelter Existenzen, die in den Souterrains einergrossen Stadt zuhause sind" - dem Schauspiel, in dem Baudelaire das Heroische sehen wollte, " wie es unsere Epoche zu eigen hat. "3) 1) Cf. I, s. 456, auch II, S. 630. I) Ludwig Börne : Gesammelte Schriften. Hamburg-Frankfurt a. Main 1862. III, S. 38/9. 3) II, S. 135. 74 Walter Benjamin Will man den Hasard nicht sowohl in technischer als inpsychologiseher Hinsicht ins Auge fassen, so erscheint Baudelaires Konzep-; tion noch bedeutungsvoller. Der Spieler geht auf Gewinn aus, das ist einsichtig. Doch wird man sein Bestreben, zu gewinnen und Geld zu machen, nicht einen Wunsch im eigentlichen Sinne des Wortes nennen wollen. Vielleicht erfüllt ihn im Inneren Gier, vielleicht eine finstere Entschlossenheit. Jedenfalls ist er in einer Verfassung, in der er nicht viel Aufhebens von der Erfahrung machen kann. *) Der Wunsch seinerseits gehört dagegen den Ordnungen der Erfahrung an. "Was man sich in der Jugend wünscht, hat man im Alter in Fülle" heisst es bei Goethe. Je früher im Leben man einen Wunsch tut, desto grössere Aussicht hat er, erfüllt zu werden. Je weiter ein Wunsch in die- Ferne der Zeit ausgreift, desto mehr lässt sich für seine Erfüllung hoffen. Was aber in die Ferne der Zeit zurückgeleitet, ist die Erfahrung, die sie erfüllt und gliedert. Darum ist der erfüllte Wunsch die Krone, welche der Erfahrung beschieden ist. In der Symbolik der Völker kann die Ferne des Raumes für die Ferne der Zeiten eintreten; daher die Sternschnuppe, welche in die unendliche Ferne des Raumes stürzt, zum Symbol des erfüllten Wunsches geworden ist. Die Elfenbeinkugel, die da ins nächste Fach rollt, die nächste Karte, die da zuoberst liegt, sind der wahre Gegensatz zu der Sternschnuppe. Die Zeit, die in dem Augenblick enthalten ist, da das Licht der Sternschnuppe für einen Menschen aufblitzt, ist vom Stoffe derer, die von Joubert mit der ihm eigenen Sicherheit umrissen worden ist. "Zeit", sagt er, "wird auch in der Ewigkeit vorgefunden; aber es ist nicht die irdische Zeit, die weltliche ... Diese Zeit zerstört nicht, sie vollendet nur. "1) Sie ist das Gegenstück zu der höllischen, in der sich die Existenz derer abspielt, die nichts, was sie in Angriff genommen haben, vollenden dürfen. Die Verrufenheit des Hasardspiels hängt in der Tat daran, dass der Spieler selbst Hand ans Werk legt. (Ein unverbesserlicher Klient der Lotterie wird nicht derselben Ächtung verfallen wie der Hasardspieler in einem engeren Sinn.)

  • ) Das Spiel setzt die Ordnungen der Erfahrung ausser Kraft. Es ist vielleicht

ein dunkles Gefühl davon, was gerade unter Spielern die "pöbelhafte Berufung auf Erfahrung" geläufig macht. Der Spieler sagt "meine Nummer", wie der Lebemann sagt "mein Typ". Gegen Ende des zweiten Kaiserreichs war ihre Verfassung tonangebend. "Auf dem Boulevard war es gang und gäbe, alles auf die Chance zurückzuführen". (Gustave Rageot : Qu'est-ce qu'un evenement? Le Temps, 16 avril 1939.) Dieser Denkungsart leistet die Wette Vorschub. Sie ist ein Mittel; den Ereignissen Chockcharakter zu geben, sie aus Erfahrungszusammenhängen herauszulösen. Für die Bourgeoisie nahmen auch die politischen Ereignisse leicht die Form von Vorgängen am Spieltisch an. 1) Joubert : Pensees. Paris 1882. 11, S. 162. über einige Motive bei Baudelaire 75 Das Immer-wieder-von-vorn-anfangen ist die regulative Idee des Spiels (wie der Lohnarbeit). Es hat daher seinen genauen Sinn, wenn bei Baudelaire der Sekundenzeiger - la Seconde - als Partner des Spielers auftritt. Souviens-toi que le Temps est un joueur avide Qui gagne sans tricher atout coup 1 c'est la loi (1) In einem andern Text vertritt die Stelle der hier gedachten Sekunde der Satan selbst. 2 ) Seinem Revier gehört ohne Zweifel auch die schweigsame Höhle an, in welche das Gedicht Le jeu die verweist, die dem Hasardspiel verfallen sind: Voila le noir tableau qu'en un r~ve nocturne Je vis se derouler sous mon reil clairvoyant. Moi-m~me, dans un co in de l'antre taciturne, Je me vis accoude, froid, muet, enviant, - Enviant de ces gens la passion tenace. 3) Der Dichter nimmt nicht am Spiele teil. Er steht in seiner Ecke; nicht glücklicher als sie, die Spielenden. Er ist auch ein um seine Erfahrung betrogener Mann, ein Moderner. Nur schlägt er das Rauschgift aus, mit dem die Spielenden das Bewusstsein zu übertäuben suchen, das sie dem Gang des Sekundenzeigers ausgeliefert hat.*) Et mon creur s'efIraya d'envier maint pauvre homme Courant avec ferveur a l'abime beant, Et qui, saoul de son sang, prefererait en somme, La douleur a la mort et I'enfer au neant. ') 1) I, S. 94. ') Cf. I, S. 455. 3) I, S. 110.

  • ) Die Rauschwirkung, um die es sich dabei handelt, ist zeitlich spezifiziert wie

das Leiden, das sie erleichtern soll. Die Zeit ist der StolT, in dim die Phantasmagorien des Spiels gewoben sind. Gourdon schreibt in seinen Faucheurs de nuits : .. Ich behaupte, dass die Passion zu spielen die edelste aller Passionen ist, denn sie schliesst sämtliche andern ein. Eine Folge glücklicher coups gibt mir mehr Genuss, als ein Mann, der nicht spielt, in Jahren haben kann... Ihr glaubt, ich sehe in dem Gold, das mir zufällt, nur den Gewinn? Ihr irrt euch. Ich sehe darin die Genüsse, die es verschaITt, und ich koste sie aus. Sie kommen mir zu geschwind, als dass sie mir überdruss, zu mannigfach, als dass sie mir Langweile machen könnten. Ich lebe hundert Leben in einem einzigen. Wenn ich reise, so ist es auf die Art, wie der elektrische Funke reist... \Venn ich geizig bin und meine Banknoten" zum Spielen "behalte, so geschieht es, weil ich den \Vert der Zeit zu gut kenne, um sie anzulegen wie andere Leute. Ein bestimmter Genuss, den ich mir gönne, würde mich tausend andere Genüsse kosten... Ich habe die Genüsse im Geist und will keine andern." (Edouard Gourdon : Les faucheurs de nuits. Paris 18ÜO. S. 14/5.) Ähnlich stellt Anatole France in den schönen Aufzeichnuungen über das Spiel aus dem Jardin d'Epicure die Dinge hin. ') 1, S. 110. 76 Walter Benjamin Baudelaire macht in diesen letzten Versen die Ungeduld· zum Substrat der Spielwut. Er hat es in reinster Beschaffenheit in sich vorgefunden. Sein Jähzorn be sass die Ausdruckskraft der Iracundia des Giotto in Padua. x Es ist, wenn man Bergson glauben will, die Vergegenwärtigung der duree, die dem Menschen die Obsession der Zeit von der Seele nimmt. Proust hält es mit diesem Glauben und hat aus ihm die Exerzitien hervorgebildet, in denen er lebenslang darauf ausgewesen ist, Verflossenes, gesättigt mit allen Reminiszenzen, die während seines Verweilens im Unbewussten in seine Poren gedrungen waren, ans Licht zu heben. Er war ein unvergleichlicher Leser der Fleurs du mal; denn er hat Verwandtes in ihnen am Werk gespürt. Es gibt keine Vertrautheit mit Baudelaire, die Prousts Erfahrung an ihm nicht mit umfasst. "Die Zeit ", sagt Proust, "ist bei Baudelaire auf eine befremdende Art zerfällt; nur wenige seltene Tage tun sich auf; es sind bedeutende. So versteht man, warum Wendungen wie ,wenn eines Abends' und ähnliche bei ihm häufig sind. "1) Diese bedeutenden Tage sind Tage der vollendenden Zeit, mit Joubert zu sprechen. Es sind Tage des Eingedenkens. Sie sind von keinem Erlebnis gezeichnet. Sie· stehen nicht im Verbande der übrigen, heben sich vielmehr aus der Zeit heraus. Was ihren Inhalt ausmacht, hat Baudelaire im Begriff der correspondances festgehalten. Er steht unvermittelt neben dem der "modernen Schönheit." Das gelehrte Schrifttum über die correspondances (sie sind Gemeingut der Mystiker; "'Baudelaire ist bei Fourier auf sie gestossen) beiseiteschiebend, macht Proust darum nicht mehr Aufhebens von den artistischen Variationen über den Tatbestand, die von den Synästhesien bestritten werden. Wesentlich ist, dass die correspondances einen Begriff der Erfahrung festhalten, der kultische Elemente in sich schliesst. Nur indem er sich diese Elemente zu eigen machte, konnte Baudelaire voll ermessen, was der Zusammenbruch eigentlich bedeutete, dessen er, als ein Moderner, Zeuge war. Nur so konnte er ihn als die ihm allein zugedachte Herausforderung erkennen, die er in den Fleurs du mal aufgenommen hat. Wenn es eine geheime Architektur dieses Buches, der viele Spekulationen gewidmet worden sind, wirklich gibt, so dürfte der Gedichtkreis, der den Band eröffnet, einem unwiederbringlich Verlorenen 1) Marcel Proust : Apropos de Baudelaire (Nouvelle Revue Fran~aise. XVI, 1"' juin 1921. S. 652). über einige Motive bei Baudelaire 77 gewidmet sein. In diesen Kreis fallen zwei Sonette, die in ihren Motiven identisch sind. Das erste, überschrieben Correspondances, beginnt: La Nature est un temple Oll de vivants piliers Laissent parfois sortir de confuses paroies ; L'homme y passe a travers des forets de symboles Qui l'observent avec des regards familiers. Comme de longs echos qui de loin se confondent Dans une tenebreuse et profonde unite, Vaste comme la nuit et comme la clarte Les parfums, les couleurs et les sons se repondent. ' ) Was Baudelaire mit den correspondances im Sinn hatte, kann als eine Erfahrung bezeichnet werden, die sich krisensicher zu etablieren sucht. Möglich ist sie nur im Bereich des Kultischen. Dringt sie über diesen Bereich hinaus, so stellt sie sich als ,das Schöne' dar. Im Schönen erscheint der Kultwert als Wert der Kunst.*) ') I, S. 23.

  • ) Das Schöne ist zwiefältig definierbar in seinem Verhältnis zur Geschichte wie

zur Natur. In beiden Beziehungen wird der Schein, das Aporetische im Schönen, zur Geltung kommen. (Die erstere sei nur eben angedeutet. Das Schöne ist seinem geschichtlichen Dasein nach ein Appell, zu denen sich zu versammeln, die es früher bewundert haben. Das ErgrifIenwerden vom Schönen ist ein ad plures ire, wie die Römer das Sterben nannten. Der Schein im Schönen besteht für diese Bestimmung darin, dass der identische Gegenstand, um den die Bewunderung wirbt, in dem Werke nicht zu finden ist. Sie erntet ein, was frühere Geschlechter in ihm bewundert haben. Es ist ein Goethewort, das hier der Weisheit letzten Schluss lautbar macht: Alles, was eine grosse Wirkung getan hat, kann eigentlich gar nicht mehr beurteilt werden.) Das Schöne in seinem Verhältnis zur Natur, kann als das bestimmt werden, was "wesenhaft sich selbst gleich nur unter der Verhüllung bleibt." (Cf. Neue deutsche Beiträge, hrsg. v. Hugo von HofmannsthaI. München 1925. 11, 2, S. 161.) Die correspondances geben Auskunft darüber, was unter solcher Verhüllung zu denken sei. Man darf diese letztere, mit einer freilich gewagten Abbreviatur, als das ,Abbildende' am Kunstwerk ansprechen. Die correspondances ·stellen die Instanz dar, vor der der Gegenstand der Kunst als ein treulich abzubildender, dadurch allerdings durch und durch aporetischer, vorgefunden wird. Wollte man versuchen, im lIIaterial der Sprache selbst diese Aporie nachzubilden, so käme man dahin, das Schöne zu bestim- men als den Gegenstand der Erfahrung im Stande des Ähnlichseins. Diese Bestimmung würde sich wohl mit Valerys Formulierung decken: "Das Schöne fordert vielleicht die servile Nachahmung dessen, was in den Dingen undefinierbar ist." (Paul Valery : Autres Rhumbs. 1934. S. 167.) Wenn Proust so bereitwillig auf diesen Gegenstand zurückkommt (der bei ihm als die wiedergefundene Zeit erscheint), so kann man nicht sagen, dass er aus der Schule plaudert. Es gehört vielmehr zu den dekonzertierenden Seiten seines Verfahrens, dass es der Begriff eines Kunstwerks als eines Abbildes, der Begriff des Schönen, kurz der schlechthin hermetische Aspekt der Kunst ist, den er redselig immer wieder in die Mitte seiner Betrachtung rückt. Er handelt von der Entstehung und den Absichten seines Werks mit der Geläufigkeit und der Urbanität, die einem vornehmen Amateur anstünde. Das findet freilich bei Bergson sein Gegenstück. Die folgenden Worte, in denen der Philosoph andeutet, was sich von einer schauenden Vergegenwärtigung des ungebrochenen Werdestroms nicht alles erwarten lasse, haben einen Akzent, der an Proust erinnert. "Wir können unser Dasein Tag für Tag von solcher Schau durchdringen lassen und derart dank der Philosophie eine 78 Walter Benjamin Die correspondances sind die Data des Eingedenkens. Sie sind keine historischen, sondern Data der Vorgeschichte. Was die festlichen Tage gross und bedeutsam macht, ist die Begegnung mit einem früheren Leben. Das legte Baudelaire in dem Sonett nieder, das La vie anterieure überschrieben ist. Die Bilder der Grotten und der Gewächse, der Wolken und der Wogen, die der Beginn dieses zweiten Sonetts heraufruft, heben sich aus dem warmen Dunst der Tränen, welche Tränen des Heimwehs sind. "Der Wanderer blickt in diese von Trauer umflorten Weiten, und in seine Augen steigen Tränen der Hysterie, hysterical tears "1) schreibt Baudelaire in seiner Anzeige der Gedichte von Marceline Desbordes-Valmore. Simultane Korrespondenzen, wie sie später von den Symbolisten kultiviert wurden, gibt es nicht. Vergangenes murmelt in den Entsprechungen mit; und die kanonische Erfahrung von ihnen hat selber ihre Stelle in einem früheren Leben: Les houles, en roulant les images des cieux, Melaient d'une fac;on solennelle et mystique Les tout-puissants aecords de leur riche musique Aux couleurs du couchant reflete par mes yeux. C'est la que j'ai vecu.2) Dass der restaurative Wille Prousts in den Schranken der irdischen Existenz befangen bleibt, Baudelaires über sie hinausschiesst, kann als symptomatisch dafür begriffen werden, wieviel ursprünglicher und machtvoller die Gegenkräfte sich Baudelaire angekündigt haben. Und ihm glückte schwerlich Vollkommeneres als wo er, von ihnen überwältigt, zu resignieren scheint. Das Recueillement zeichnet gegen den tiefen Himmel die Allegorien der alten Jahre ab vois se pencher les dCfuntcs annees Sur les balcons du ciel CIl robes surannees. 3) In diesen Versen bescheidet sich Baudelaire, dem Unvordenklichen, das sich ihm entzog, in der Gestalt des Altmodischen zu huldigen. Den Jahren, welche auf dem Altan erscheinen, denkt Proust die von Combray schwesterlich zugetan, wenn er im letzten Band ähnliche Befriedigung geniessen, wie dank der Kunst; nur fände sie sich häufiger ein, sie wäre stetiger und dem gewöhnlichen Sterblichen leichter zugänglich." (Henrl Bergson : La pensee et le mouvant. Paris 1934. S. 198.) Bergson sieht das in Reichweite, was der besseren goetheschen Einsicht von VaIery als das ,hier', in dem das Unzulängliche Ereignis wird, vor Augen steht. 1) 11, S. 536. I) I, S. 30. '> I, S. 192. Ober einige Motive bei Baudelaire 79 seines Werkes auf die Erfahrung zurückkommt, von der er beim Geschmack einer madeleine durchdrungen wurde. "Bei Baudelaire... sind diese Reminiszenzen noch zahlreicher; man sieht auch: was sie bei ihm heraufführt, ist nicht der Zufall, und dadurch sind sie meines Erachtens entscheidend. Es gibt keinen wie ihn, der von langer Hand, wählerisch und doch lässig, im Geruch einer Frau zum Beispiel, im Duft ihres Haares und ihrer Brüste, den beziehungsvollen Korrespondenzen nachginge, die ihm dann ,den Azur des ungeheuren, gewölbten Himmels' oder ,einen Hafen, der voller Flammen und Masten steht' eintragen. "1) Die Worte sind ein eingeständliches Motto zum Werk von Proust. Es hat eine Verwandtschaft mit Baudelaires, das die Tage des Eingedenkens zu einem geistlichen Jahr versammelt hat. Aber die Fleurs du mal wären nicht, was sie sind, waltete in ihnen nur dies Gelingen. Unverwechselbar sind sie vielmehr darin, dass sie der Unwirksamkeit des gleichen Trostes, dass sie dem Versagen der gleichen Inbrunst, dass sie dem Misslingen des gleichen Werks Gedichte abgewonnen haben, die hinter denen in nichts zurückstehen, in denen die correspondances ihre Feste feiern. Das Buch Spleen et ideal ist unter den Zyklen der Fleurs du mal das erste. Das ideal spendet die Kraft des Eingedenkens ; der spleen bietet den Schwarm der Sekunden dagegen auf. Er ist ihr Gebieter wie der Teufel der Gebieter des Ungeziefers. In der Reihe der spleen-Gedichte steht Le gout du neant, wo es he isst : Le Printemps adorable a perdu son odeur \') In dieser Zeile sagt Baudelaire ein Äusserstes mit der äussersten Diskretion; das macht sie unverwechselbar zu der seinigen. Das Insichzusammengesunkensein der Erfahrung, an der er früher einmal teilgehabt hat, ist in dem Worte perdu einbekannt. Der Geruch ist das unzugängliche Refugium der memoire involontaire. Schwerlich assoziiert er sich einer Gesichtsvorstellung ; unter den Sinneseindrücken wird er sich nur dem gleichen Geruch gesellen. Wenn dem Wiedererkennen eines Dufts vor jeder anderen Erinnerung das Vorrecht zu trösten eignet, so ist es vielleicht, weil diese das Bewusstsein des Zeitverlaufs tief betäubt. Ein Duft lässt Jahre in dem Dufte, den er erinnert, untergehen. Das macht diesen Vers von Baudelaire zu einem unergründlich trostlosen. Für den, der keine Erfahrung mehr machen kann, gibt es keinen 1) Marcel Proust : A la recherche du temps perdu. VIII. Le temps retrouve. Paris. 11, S. 82/3. I) I, S. 89. 80 Walter Benjamin Trost. Es ist aber nichts anderes als dieses Unvermögen, was das eigentliche Wesen des Zornes ausmacht. Der Zornige ,will nichts hören' ; sein Urbild Timon wütet gegen die Menschen ohne Unterschied; er ist nicht mehr im Stande, den erprobten Freund von dem Todfeind zu unterscheiden. D' Aurevilly hat mit tiefem Blick diese Verfassung in Baudelaire erkannt; "einen Timon mit dem Genie des Archilochus" nennt er ihn. 1) Der Zorn misst mit seinen Ausbrüchen den Sekundentakt, dem der Schwermütige verfallen ist. Et le Temps m'engloutit minute par minute, Comme la neige immense un corps pris de roideur. 2) Diese Verse schliessen unmittelbar an die oben zitierten an. Im spleen ist die Zeit verdinglicht; die Minuten decken den Menschen wie Flocken zu. Diese Zeit ist geschichtslos, wie die der memoire involontaire. Aber im spleen ist die Zeitwahrnehmung . übernatürlich geschärft; jede Sekunde findet das Bewusstsein auf dem Plan, um ihren Chock abzufangen*). Die Zeitrechnung, die ihr Gleichrnass der Dauer überordnet. kann doch nicht darauf verzichten, ungleichartige, ausgezeichnete Fragmente in ihr bestehen zu lassen. Die Anerkennung einer Qualität mit der Messung der Quantität vereint zu haben, war das Werk der Kalender, die mit den Feiertagen die Stellen des Eingedenkens gleichsam aussparen. Der Mann, dem die Erfahrung abhanden kommt, fühlt sich aus dem Kalender herausgesetzt. Der Grossstädter macht am Sonntag mit diesem Gefühl Bekanntschaft, Baudelaire hat es avant la lettre in einem der spleen-Gedichte. 1) Barbey d' Aurevilly : XIX' siec1e : Les reuvres et les hommes. 111 : Les poHes. Paris 18ti2. S. 381. 2) I, S. 89.

  • ) In dem mystischen Dialog zwischen Monos und Una hat Poe den leeren Zeitverlauf, dem das Subjekt im spleen ausgeliefert ist, gleichsam in die durce hineinkopiert,

und er scheint es als Seligkeit zu erfahren, dass dessen Schrecken ihm nun genommen sind, Es ist ein ,sechster Sinn', der dem Abgeschiedenen in der Gestalt der Gabe zufällt, noch dem leeren Zeitverlauf eine Harmonie abzugewinnen. Sie wird freilich vom Takt des Sekundenzeigers sehr leicht gestört. ..Ich hatte den Eindruck, als sei in meinem Kopf etwas eingetreten, wovon ich einer menschlichen Intelligenz auf keine Weise einen, sei es auch nur unklaren Begriff geben kann. Ich möchte am liebsten von einer Vibration des mentalen Regulators sprechen. Es handelt sich um das spirituelle Äquivalent der abstrakten menschlichen Zeitvorstellung. Der Gestimumlauf ist in absolutem Einklang mit dieser Bewegung - oder mit einer entsprechenden - geregelt worden. Derart mass ich die Unregelmässigkeiten der Standuhr auf dem Kamin und der Taschenuhren der Anwesenden. Ihr Ticktack lag mir in den Ohren. Die geringsten Abweichungen vom richtigen Takt ... nahmen mich genau so mit, wie mich unter den Menschen die Verletzung der abstrakten Wahrheit beleidigte." (Edgar Poe, 1. c., S. 336/7.) Ober einige Motive bei Baudelaire Des cloches tout a coup sautent avec furie Et lancent vers Ie ciel un afIreux hurlement, Ainsi que des esprits errants et sans patrie Qui se mettent a geindre opiniätrement.1) 81 Die Glocken, die· den Feiertagen einst zugehörten, sind wie die Menschen aus dem Kalender herausgesetzt. Sie gleichen den armen Seelen, die sich viel umtun, aber keine Geschichte haben. Wenn Baudelaire im spleen und in der vie anterieure die auseinandergesprengten Bestandstücke echter historischer Erfahrung in Händen hält, so hat sich Bergsonin seiner Vorstellung der duree der Geschichte weit mehr entfremdet. "Der Metaphysiker Bergson unterschlägt den Tod. "2) Dass in Bergsons duree der Tod ausfällt, dichtet sie gegen die geschichtliche (wie auch gegen eine vorgeschichtliche) Ordnung ab. Bergsons Begriff der action fällt entsprechend aus. Der ,gesunde Menschenverstand', durch welchen der ,praktische Mann' sich hervortut, hat Pate bei ihm gestanden.l ) Die duree, aus der der Tod getilgt ist, hat die schlechte Unendlichkeit eines Ornaments. Sie schliesst es aus, die Tradition in sie einzubringen. *) Sie ist der Inbegriff eines Erlebnisses, das im erborgten Kleide der Erfahrung einherstolziert. Der spleen dagegen stellt das Erlebnis in seiner Blösse aus. Mit Schrecken sieht der Schwermütige die Erde in einen biossen Naturstand zurückgefallen. Kein Hauch von Vorgeschichte umwittert sie. Keine Aura. So taucht sie in den Versen des gout du neant auf, die sich den vorgenannten anschliessen : Je contempie du haut le globe en sa rondeur Et je n'y cherche plus J'abri d'une cahute.') Xl Wenn man die Vorstellungen, die, in der memoire involontaire beheimatet, sich um einen Gegenstand der Anschauung zu gruppieren streben, dessen Aura nennt, so entspricht die Aura am Gegenstand einer Anschauung eben der Erfahrung, die sich an einem Gegenstand des Gebrauchs als Übung absetzt. Die auf der 1) I, S. 88 .. I) Max Horkheimer : Zu Bergsons Metaphysik der Zelt. in: Diese Zeitschrift. Jhrg. 111 (1934), S. 332. 8) Cf. Henri Bergson : Matl~re et memoire. Paris 1933. S. 11i1i /67 . • ) Die Verkümmerung der Erfahrung bekundet sich bei Proust im bruchloseo Gelingen der Endabsicht. Nichts kunstreicher als wie er beilAußg, nicbts loyaler als wie er sUindig dem Leser gegenWärtig zu halten lucht: die Erlölung Ist meine private Veranstaltung. . ') I, S. 89. 112 Walter Benjamin Kamera und den späteren entsprechenden Apparaturen aufgebauten Verfahren erweitern den Umfang der memoire volontaire; sit' machen es möglich, ein Geschehen nach Bild und Laut jederzeit durch rtie Apparatur festzuhalten. Sie werden damit zu wesentlichen Errungenschaften einer Gesellschaft, in der die Übung schrumpft. - Die Daguerreotypie hatte für Baudelaire etwas Aufwühlendes und Erschreckendes; "überraschend und grausam ,. nennt er ihren Reiz.!) Er hat demnach den erwähnten Zusammenhang wenn auch gewiss nicht durchschaut ~o doeh empfunden. Wie es stets sein Bestreben war, dem Modernen seine Stelle zu reservieren und, zumal in der Kunst, sie ihm anzuweisen, hat er es auch mit der Photographie gehalten. So oft er sie als bedrohlich empfand. sucht er, ihre "schlecht verstandenen Fortschritte" dafür haftbar zu machen. 2 ) Dabei gestand er sich allerdings, dass sie von "der Dummheit der grossen Masse" gefördert würden. "Diese Masst' verlangte nach einem Ideal, das ihrer würdig wäre und ihrer Natur entsprach... Ihre Gebete hat ein rächender Gott erhört, und Daguerre wurde sein Prophet. "3) Unbeschadet dessen bemüht sich Baudelaire um eine konziliantere Betrachtungsweise. Die Photographie mag sich unbehelligt die vergänglichen Dinge zu eigen machen, die ein Anrecht "auf einen Platz in den Archiven unseres Gedächtnisses" haben, wenn sie dabei nur haItmacht vor dem "Bezirk des Ungreifbaren, Imaginativen" : vor dem der Kunst, in dem nur das eine Stätte hat, "dem der Mensch seine Seele mitgibt. "4) Der Schiedsspruch ist schwerlich ein salomonischer. Die ständigl' Bereitschaft der willentlichen, diskursiven Erinnerung, die von der Reproduktionstechnik begünstigt wird, beschneidet den Spielraum der Phantasie. Diese lässt sich vielleicht als ein Vermögen fassen. Wünsche einer besonderen Art zu tun; solche, denen als Erfüllung .etwas Schönes' zugedacht werden kann. Woran diese Erfüllung gebunden wäre, hat wiederum Valery näher bestimmt: "Wir erkennen das Kunstwerk daran, dass keine Idee, die es uns erweckt. keine Verhaltungsweise, die es uns nahelegt, es ausschöpfen oder erledigen könnte. Man mag an einer Blume, die dem Geruch zusagt, riechen, solange man will; man kann diesen Geruch, der in uns die Begierde wachruft, nicht abtun, und keine Erinnerung. kein Gedanke und keine VerhaItungsweise löscht seine Wirkung aus oder spricht uns von dem Vermögen los, das er über uns hat. 1) n, S. 197. I) 11, S. 224. ') 11, S. 223. ') 11, S. 224, Ober einige Motive bei Baudelairl' Dasselbe verfolgt, wer sich vorsetzt, ein Kunstwerk zu machen. "1) Ein Gemälde würde, dieser Betrachtungsweise nach, an einem Anblick dasjenige wiedergeben, woran sich das Auge nicht sattsehen kann. Womit es den Wunsch erfüllt, der sich in seinen Ursprung projizieren lässt, wäre etwas, was diesen Wunsch unablässig nährt. Was die Photographie vom Gemälde trennt und warum es auch nicht ein einziges übergreifendes Prinzip der ,Gestaltung' für beide geben kann, ist also klar : dem Blick, der sich an einem Gemälde nicht sattsehen kann, bedeutet eine Photographie viel mehr das, was die Speise dem Hunger ist oder der Trank dem Durst. Die Krisis der künstlerischen Wiedergabe, die sich so abzeichnet, lässt sich als integrierender Teil einer Krise in der Wahrnehmung selbst darstellen. - Was die Lust am Schönen unstillbar macht. ist das Bild der Vorwelt, die Baudelaire durch die Tränen des Heimwehs verschleiert nennt. "Ach du warst in abgelebten Zeiten meine Schwester oder meine Frau" - dies Geständnis ist der Tribut, den das Schöne als solches fordern kann. So weit ditO Kunst auf das Schöne ausgeht und es, wenn auch noch so schlicht • . wiedergibt', holt sie es (wie Faust die Helena) aus der Tiefe der Zeit herauf.·) Das findet in der technischen Reproduktion nicht mehr statt. (In ihr hat das Schöne keine Stelle.) In dem Zusammenhange, da Proust die Dürftigkeit und den Mangel an Tiefe in den Bildern beanstandet, die ihm die memoirevolontaire von Venedig vorlegt, schreibt er, beim bIossen Wort ,Venedig' sei ihm dieser Bilderschatz ebenso abgeschmackt wie eine Ausstellung von Photographien vorgekommen. 2) Wenn man das Unterscheidende an den Bildern, die aus der memoire involontaire auftauchen, darin sieht, dass sie eine Aura haben, so hat die Photographie an dem Phänomen eines ,Verfalls der Aura' entscheidend teil. Was an der Daguerreotypie als das Unmenschliche, man könnte sageIl Tödliche musste empfunden werden, war das (übrigens anhaltende) Hereiilblicken in den Apparat, da doch der Apparat das Bild des Menschen aufnimmt, ohne ihm dessen Blick zurückzugeben. Dem Blick wohnt aber die Erwartung inne, von dem erwidert zu werden. dem er skh schenkt. W() diese Erwartung erwidert wird (oie 1) Paul VaMry : Avant.propos (Encyclopedie Fran~ais~. X V J : Arts et litterature' dans ,la socicle contemporaine. I, S. 5/6).

  • ) Der Augenblick eines solchen Gelingens ist selbst wiederum als ein einmaliger

ausgezeichnet. Darauf beruht der konstruktive Aufriss des Werks von Prou&t : jede der Situationen, in denen der Chronist vom Atem der verlorenen Zeit angeweht wird, wird dadurch zu einer unvcI·"lelchlichen und aus der Folge der Tage heraus- ~eboben. I) Marcel Proust : A la "",herehe du temp~ perdu. V J/ I , I.e tempI retrouv~ Paris. I. S. 23ft 84 Walter Benjamin ebensowohl, im Denken, an einen intentionalen Blick der Aufmerksamkeit sich heften kann wie an einen Blick im schlichten Wortsinn), da fällt ihm die Erfahrung der Aura in ihrer" Fülle zu. "Die Wahrnehmbarkeit ", so urteilt Novalis, ist "eine Aufmerksam-" keit. "1) Die Wahrnehmbarkeit, von welcher er derart spricht. ist keine andere als die der Aura. Die Erfahrung der Aura beruht also auf der Übertragung einer in der menschlichen Gesellschaft geläufigen Reaktionsform auf das Verhältnis des Unbelebten oder der Natur zum Menschen. Der Angesehene oder angesehen sich Glaubende schlägt den Blick auf. Die Aura einer Erscheinung erfahren, heisst, sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen. *) Die Funde der memoir' involontaire entsprechen dem. (Sie sind übrigens einmalig : der Erinnerung, die sie sich einzuverleiben sucht, entfallen sie. Damit stützen sie einen Begriff der Aura, der die "einm:llige Erscheinung einer Ferne '(2) in ihr begreift. Diese Bestimmung hat für sich, den kultischen Charakter des Phänomens transparent zu machen. Das wesentlich Ferne ist das Unnahbare: in der Tat ist Unnahbarkeit eine Hauptqualität des Kultbildes.) Wie sehr Proust im Problem der Aura bewandert war, bedarf nicht der Unterstreichung. Immerhin ist e.s bemerkenswert, dass er es bei Gelegenheit in Begriffen streift, die deren Theorie in sich schliessen : "Einige, die Geheimnisse lieben, schmeicheln sich, dass den Dingen etwas von den Blicken bleibt. welche jemals auf ihnen ruhten." (Doch wohl das Vermögen, sie zu erwidern.) "Sie sind der Meinung, dass Monumente und Bilder nur unter dem zarten Schleier sich darstellen, den Liebe und Andacht so vieler Bewunderer im Laufe der Jahrhunderte um sie gewoben haben. Diese Chimäre ", so schliesst Proust ausweichend, "würde Wahrheit werden, wenn sie sie auf die einzige Realität beziehen würden, welche für das Individuum vorhanden ist, nämlich auf dessen eigene Gefühlswelt. '(3) Verwandt, aber weiterführend, weil objektiv ausgerichtet ist Valerys Bestimmung der Wahrnehmung im Traume als einer auratischen. "Wenn ich sage; ich sehe das da, so ist damit nicht eine Gleichung zwischen mir und der Sache 1) Novalis : Schriften. Ed. HeiJborn. Berlin 1901. S. 293 . • ) Diese Belehnung ist ein Quellpuhkt der Poesie. Wo der Mensch, das Tier oder ein Unbeseeltes. vom Dichter so belehnt, seinen Blick aufschlägt, zieht es diesen In die Ferne; der Blick der dergestalt erweckten Natur träumt und zieht den Dichtenden seinem Traume nach. Worte können auch ihre Aura haben. Karl Kraus hat sie 10 beschrieben: "Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück." (Kar] Kraus: Pro domo et mundo. München 1912. S. 164.) I) Cr. Walter Benjamin: L'ceuvre d'rrt il l'epoque de sa reproduction mecanlse~. In : Diese Zeitschrift, Jhrll. V (1936), S. 43. I) Marcel Proust : A Ja recherche du temps perdu. VII) : Le temps "retrouv<'. Paris. 11. S. 33. Ober einige Motive bei Baudelaire 85 niedergelegt... Im Traume dagegen liegt eine Gleichung vor. Die Dinge, tlie ich sehe, sehen mich ebensowohl wie ich sie sehe. "1) Eben der Traumwahrnehmung ist die Natur der Tempel, von dem es heisst L'homme y passe A travers des for~ts de symboles Qui l'observent avec des regards familiers. Je besser Baudelaire darum gewusst hat, desto untrüglicher hat der Verfall der Aura seinem lyrischen Werk sich einbeschrieben. Das geschah in der Gestalt einer Chiffre; sie findet sich an fast allen Stellen der Fleurs du mal, wo der Blick aus dem menschlichen Auge auftaucht. (Dass Baudelaire sie nicht planmässig eingesetzt hat, ist selbstverständlich.) Es handelt sich darum, dass die Erwartung, die dem Blick des Menschen entgegendrängt, leer ausgeht. Baudelaire beschreibt Augen, von denen man sagen möchte, dass ihnen das Vermögen zu blicken verloren gegangen ist. In dieser Eigenschaft aber sind sie mit einem Reiz begabt, aus dem der Haushalt seiner Triebe zu einem grossen, vielleicht überwiegenden Teile bestritten wird. Im Banne dieser Augen hat sich der Sexus in Baudelaire vom Eros losgesagt. Wenn die Verse der "Seligen Sehnsucht" Keine Ferne macht dich schwierig Kommst geflogen wie gebannt für die klassische Beschreibung der Liebe zu geIten haben, die mit der Erfahrung der Aura gesättigt ist, dann gibt es in der lyrischen Poesie schwerlich Verse, die ihnen entschiedener die Stirne bieten als Baudelaires Je t'adore A l'~gal de la voßte nocturne, o vase de tristesse, (} grande Taciturne, Et t'aime d'autant plus, belle, que tu me fuis, Et que tu me parais, ornement de mes nuits, Plus ironiquement accumuler les lieues Qui s~parent mes bras des immensites bleues. I) Blicke dürften um so bezwingender wirken, je tiefer die Abwesenheit des Schauenden, die in ihnen bewältigt wurde. In spiegelnden Augen bleibt sie unvermindert. Eben darum wissen diese Augen von Ferne nichts. Ihre Glätte hat Baudelaire einem verschlagenen Reim einverleibt: Plonge tes yeux dans des yeux fixes Des satyresses ou des nixes. I) I) Paul Val6ry : Aralecta. 1935. S. 193/94. S) I, S. 40. S) I, S. 190. 86 Walter Benjamin Satyrfrauen und Nixen gehören der Familie menschlicher Wesen nicht mehr an. Sie sind abgesondert. Denkwürdigerweise hat Baudelaire den von Ferne beschwerten Blick als regard familier ins Gedicht eingebracht.!) Er, der keine Familie gegründet hat, hat dem Wort familier eine von Verheissung und von Verzicht gesättigte Textur mitgegeben. Er ist blicklosen Augen verfallen und begibt sich ohne Illusionen in ihren Machtbereich. Tes yeux, lIlumines ainsi que des boutiques Et des ifs flamboyants dans les fetes publiques, Usent insolemment d'un pouvoir emprunte.l ) "Der Stumpfsinn ", schreibt Baudelaire in einer seiner erstell Veröffentlichungen, "ist oft eine Zier der Schönheit. Ihm hat man es zu verdanken, wenn die Augen trist und durchsichtig wie die schwärzlichen Sümpfe sind oder aber die ölige Ruhe der tropischen Meere haben. "3) Kommt Leben in solche Augen, so ist es das des Raubtiers, das nach Beute Ausschau haltend zugleich sich sichert. (So ist die Hure, auf die Passanten achtend, zugleich auf der Hut vor den Polizeibeamten. Den physiognomischen Typus, den diese Lebensweise erzeugt, fand Baudelaire auf den zahlreichen Blättern wieder, die Guys der Prostituierten gewidmet hat. "Sie lässt ihren Blick wie das Raubtier am Horizont verweilen; er hat das Unstete des Raubtiers ... , doch manchmal auch dessen jähe.s gespanntes Aufmerken. "'» Dass das Auge des Grossstadtmenschen mit Sicherungsfunktionen überlastet ist, leuchtet ein. Auf eine minder zu Tage liegende Beanspruchung desselben weist Simmel hin. "Wer sieht, ohne zu hören, ist viel... beunruhigter als der hört, ohne zu sehen. Hier liegt etwas für die ... Grossstadt Charakteristisches. Die wechselseitigen Beziehungen der Menschen in den Grossstädten... zeichnen sich durch ein merkliches Übergewicht der Aktivität des Auges über die des Gehörs aus. Die Hauptursache davon sind die öffentlichen Verkehrsmittel. Vor der Entwicklung· der Omnibusse, der Eisenbahnen, der Tramways im neunzehnten Jahrhundert waren die Leute nicht in die Lage gekommen, lange Minuten oder gar Stunden sich gegenseitig ansehen zu müssen, ohne aneinander das Wort zu richten. '(6) Der sichernde Blick enträt der träumerischen Verlorenheit an die Ferne. Er kann dahin kommen, etwas wie Lust an ihrer 1) a. I, S. 23. B) I, S. 40. B) 11, S. 622 . . 4) 11, S. 359. ') G. Simmel : M~Jangea da phDoaophle reJaUviltr. Paris 191:.1. S. 2617. Ober einige Motive bei BaudelaIre 87 Entwürdigung zu empfinden. In diesem Sinne dürften die folgenden merkwürdigen Sätze zu lesen sein. Im "Salon von 1859" lässt Baudelaire die Landschaftsbilder Revue passieren, um mit dem Eingeständnis zu schliessen : "lch wünsche mir die Dioramen zurück, deren ungeheure und grobschlächtige Magie mir eine nützliche Illusion aufzwingt. Ich sehe mir lieber ein paar Theaterhintergründe an, auf denen ich kunstfertig; in tragischer Konzision, meine liebsten Träume behandelt finde. Diese Dinge, die so ganz falsch sind, sind eben darum der Wahrheit unendlich viel näher; dagegen sind unsere meisten Landschafter Lügner, gerade weil sie zu lügen verabsäumen. "1) Man möchte auf die "nützliche Illusion" weniger Wert legen als auf die "tragische Konzision ". Baudelaire dringt auf den Zauber der Ferne; er misst das Landschaftsbild geradezu am Massstab von Malereien in Jahrmarktsbuden. Will er den Zauber der Ferne durchstossen wissen, wie sich das für den Beschauer ereignen muss, der zu nahe an einen Prospekt herantritt? Das Motiv ist in einen der grossen Verse der Fleurs du mal eingegangen : Le Plaisir vaporeux fuira vers l'horizon Ainsi qu'une sylphide au fond de la coulisse.l ) XII Die Fleurs du mal sind das letzte lyrische Werk gewesen, das eine europäische Wirkung getan hat; kein späteres ist über einen mehr oder weniger beschränkten Sprachkreis hinausgedrungen. Dem ist zur Seite zu stellen, dass Baudelaire sein produktives Vermögen fast ausschliesslich diesem einen Buch zugewandt hat. Und endlich ist nicht von der Hand zu weisen, dass unter seinen Motiven einige, von denen die vorliegende Untersuchung gehandelt hat, die Möglichkeit lyrischer Poesie problematisch machen. Dieser dreifache Tatbestand determiniert Baudelaire geschichtlich. Er zeigt, dass er unbeirrbar zu seiner Sache stand. Unbeirrbar war Baudelaire im Bewusstsein seiner Aufgabe. Das geht so weit, dass er es als sein Ziel -"eine Schablone zu kreieren" bezeichnet hatB.) Er sah darin die Kondition eines jeden künftigen Lyrikers. Von denen, die sich ihr nicht gewachsen zeigten, hielt er wenig. "Trinkt Ihr Kraftbrühen aus Ambrosia? Esst Ihr Koteletts von Paros? Wieviel gibt man im Leihhaus auf eine Lyra? "')- Der 1) 11, 273. I) I, S. 94. I) Cf. JuJea Lcmattre : Le& contemporains. Iv. PIUb 1895. S. 29, auch 11, S 133. &) 11. S. 422. 88 Walter Benjamin Lyriker mit der Aureole ist für Baudelaire antiquiert. Er hat ihm seine Stelle als Figurant in einem Prosastück angewiesen, das "Verlust einer Aureole" betitelt ist. Der Text ist erst spät ans Licht gekommen. Bei der ersten Sichtung des Nachlasses wurde er als" zur Publikation nicht geeignet" ausgeschieden. Bis heute blieb er in der Literatur über Baudelaire unbeachtet. " ,Was sehe ich, mein Lieber! Sie 1 hier 1 In einem schlecht beleumundeten Lokal finde ich Sie .- den Mann, der Essenzen schlürft, den' Mann, der Ambros,ia zu sich nimmt 1 Wirklich I für mich zum Verwundern!' - ,Sie wissen, mein Lieber, von der Angst, die mir Pferde und Wagen machen. Eben überquerte ich eilig den Boulevard, und wie ich in diesem bewegten Chaos, wo der Tod von allen Seiten auf einmal im Galopp auf uns zustürmt. eine verkehrte Bewegung mache, löst sich die Aureole von meinem Haupt und fällt in derr Schlamm des Asphalts. Ich hatte den Mut nicht, sie aufzuheben. Ich habe mir gesagt, dass es minder empfindlich ist, seine Insignien zu verlieren als sich die Knochen brechen zu lassen. Und schliesslich, .habe ich mir gesagt, zu irgend etwas ist Unglück immer gut. Ich kann mich jetzt inkognito bewegen, schlechte Handlungen begehen und mich gemein machen wie ein gewöhnlicher Sterblicher. So bin ich, wie Sie sehen, hier, ganz wie Sie l' - ,Sie sollten doch den Verlust der Aureole bekanntgeben oder auf dem Fundbüro danach fragen lassen.' - ,Ich denke nieht daran I mir ist wohl hier 1 Nur Sie haben mich erkannt. Ausserdem ist Würde mir langweilig. Und dann habe ich Freude an dem Gedanken, dass irgendein schlechter Dichter sie aufheben und keinen Anstand nehmen wird, sich mit ihr herauszuputzen. Einen Glücklichen machen! darüber geht mir nichts! Und vor allem einen Glücklichen, über den ich lache 1 Stellen Sie sich X. vor oder auch Z. Nein, wird das komisch sein!' "1) - Das gleiche Motiv steht in den Tagebüchern; cer Schluss' weicht ab. Der Dichter hebt die Aureole schnell wieder auf. Nun beunruhigt ihn aber das.GefÜhl, der Zwischenfall sei von böser Vorbedeutung. 2) *) Der Verfasser dieser Niederschriften ist kein Flaneur. Sie legen ironisch die gleiche Erfahrung nieder, die Baudelaire ohne jedwede AusstafIierung, im Vorbeigehen dem Satze anvertraut: "Perdu dans ce vilain monde, coudoye par les foules, je suis comme un homme lasse dont l'reil ne voit en arriere, dans les annees profondes. que 1) I, S. 483/84. U) 11, S. 634. 0) Es Ist nicht unm6gllch. dass der Anlass dieser Aufzeichnung ein pathogener Chock gewesen Ist. Desto aufschlussreicher die Gestaltung, die ihn dem baudelaIreschen Werk anverwandelt. . über· einige Motive bei Baudelairl" 89 desabusement et amertume, et, devant lui, qu'un orage ob rien de neuf n'est contenu, ni enseignement ni douleur. "1) Von der Menge mit Stössen bedacht worden zu sein, hebt Baudelaire unter allen Erfahrungen, die sein Leben zu dem gemacht haben, was es geworden ist, als die massgebende heraus, als die unverwechselbare. Ihm ist. der Schein einer in sich bewegten, in sich beseelten Menge, in den der Flaneur vergafft war, ausgegangen. Um sich ihre Niedertracht einzuschärfen, fasst er den Tag ins Auge, an dem sogar die verlorenen Frauen, die Ausgestossenen, so weit sein werden, einer geordneten Lebensweise das Wort zu reden, über die Libertinage den Stab zu brechen und nichts mehr ausser dem Gelde bestehen zu lasseIl. Verraten von diesen seinen letzten Verbündeten, geht Baudelaire gegen die Menge an ; er tut es mit dem ohnmächtigen Zorne dessen, der gegen den Regen oder den Wind angeht. So ist das Erlebnis beschaffen, dem Baudelaire das Gewicht einer Erfahrung gegeben hat. Er hat den Preis bezeichnet, um welchen die Sensation der Moderne zu haben ist : die Zertrümmerung der Aura im Chockerlebnis. Das Einverständnis mit dieser Zertrümmerung ist ihn teuer zu stehen gekommen. Es ist aber das Gesetz seiner Poesie. Sie steht am Himmel des zweiten . Kaiserreiches als "ein Gestirn ohne Atmosphäre ".2) On some Motifs in Baudelaire. The essay begins with the estrangcment of the great lyrical poetry from the public sinee the middle of the 19th century. It is conceived in terms of an historical change in the structure of human experiencing. That is first demonstrated in Bergson. The autor interprets "Matiere et M~moire" as the attempt to vindicate through the category of memory the possibility of genuine, that is, tradition-forming experience as against the mode of experience in the industrial age. Proust has more closely determined Bergson's notion of memory as involuntary memory. AccOTdingly he seeks to reconstruct the aesthetic form of the narrative. Its industrial counterparts are information and sensation. Through shocks they threaten memory which B., in referring to psyeho-analytlcal theories, eoneeives in terms of "protection against stimuli". Erlebnis becomes the antithesis of experience (Erfahrung). In Baudelaire's lyrical poetry the Erlebnis of shock occupies the center. In· his portrayal of the fenser, Baudelaire identifIes himself with the one who parries the shocks. These shocks occur when the individual is confronted with the amorphous multitude of the metropolis. In one chapter the 1) 11, S. 641. ') Frledrlch NIetzsehe : UnzeltgemAsse Betrachtuugen. Vom Nutzen und NachteU der HIstorie. Leipzig 1893. S. 164. 90 Walter Benjamin author deseribes this clash and the shape it takes in Baudelaire's poetry. Tbe subsequent ehapter presents an analysis of Poe's "Man of the Crowd" • tbe city erowd portrayal which provides the elue for Baudelair~'s and wbich is contrasted with tbe Biedermeier picture of Hotlmann's "Cousin's Corner Window". Tbe shock aS thc dominant form of Erlebnis is shown as grounded in the reified process of production in capitalist society. The diseontinuity of the elements of shock has its basis in the discontinuity of the automatized process of labor which no longer admits of any "experience", "practice" . The experience of shock of the member of a crowd corresponds to the experienee of the worker who operates a machine. The reßectory mechanism of the victim of ·Modern Times appears in Baudelaire's work in the pattern of the hazard game which at the same time is the radieal counterpart of .,experience" . In Baudelaire, time is dissociated. lts power is absorbed by rare, "signlficant" days. In them Baudelaire, through the "correspondances" seeks to save and restore the lost experience. The power of anamnesis is posited against the "swarm of seconds" . But the consolation of anamnesis remains impotent .. In the dissociated shock moments of time, - the "spleen" -, and the anamnesis of the vie anterieure, - the "ideal" -, Baudelaire holds in his hands the debris of genuine experienee. B. subordinates the representations eqnstitutive of "experienee", that is, those of involuntary memory, to his notion of "aura". To experienee the aura of a phenomenon means to endow it with the faeulty of raising tbe eyes. The decay of aura is the foremost subjeet of Baudelaire : be summons eyes who have lost tbe faculty of raising themselves. He has designated the price for which the sensation of the Modem ean be bought : the destruetion of aura in shoek experienee. Apropos de quelques motifs baudelairiens. L'analyse debute par la eonstatation d'une scission entre la grande poesie Iyrique ct le public - scission qui se serait. produite des le mille\! du XIX· slecle. Cette separation est interpretee comme la consequence d'une transformation dans la structure meme de l'experience humaine. Cela est d'abord explique par l'reuvre de Bergson. La theorie de 18 memoire teile qu'elle a ete developpee dans Matiere et memoire se rattaehe it un type d'experience qui, au cours du XIX· siecle, a subi des atteintes profondes. Bergson tend, gräee it la categorie de la memoire, de restaurer le concept d'une experience authentique. Cette experience authentique existeen fonction de la tradition et s'oppose ainsi aux mo des habituelles d'experienee propres a l'epoque de la grande industrie. Proust a defini la memoire bergsonienne comme une memoire involontaire; en son nom il avait essaye de reconstruire la forme de la narration. Le riYal de cette demiere s'appelle, it l'epoque de la grande industrie, I'information. Elle developpe, par le moyen des chocs, une memoire qui, par Proust, a ete opposee it la memoire bergsonienne sous le nom d'une memoire volontalre. n est permis de considt"rer, conformement it Freud, la memoire über einige Motive bei Baudelaire 91 volontaire comme etroitement liee a une conscience perpetuellement aUI aguets. Plus la conscience sera obligee a parer aux chocs, plus se developpera la memoire volontaire, ct plus periclitera la memoire involontaire. L'expcrience eminemment modeme du choc sera la norme de la poesie baudelairienne. Par I'image de l'escrimeur, Baudelaire qui, en flänant, etait . habitue d'etre coudoye par les fou)cs des rues, s'identifle a )'homme qui pare

lUX chocs.

Le choc en tant que forme preponderante de )a sensation se trouve accentue par le processus objectivise et capitaliste du travail. La discontinuite des moments de choc trouve sa cause dans la discontinuite d'un travail devenu automatique, n'admettant plus I'experience traditionnelle qui presidait au travai! artisanal. Au choc eprouve par celui qui fläne dans la foule correspond une experience inCdite : celle de I'ouvrier devant Ja machine. Le reflexe mecanise de I'homme livre au monde moderne se traduit ehez Baudelaire dans I'attitude du joueur. Pour l'homme qui s'est adonne au jeu, l'experience du choc se presente en ce qu'elle a de plus essentiel. c'est-a-dire comme une fa~on d'eprouver le temps. Le spleenetique qui ne peut sc degager de la fascination exercee par le deroulement du temps vidl' est le frere jumeau du joueur. En face du Spleen, l'reuvre baudelairiennt' evoque !'Ideal. L'Ideal, c'est la memoire involontaire, initiatrice aux , correspondances ». Depositaire des images d'une vie anterieure, I'IdeaJ serait le consolateur supreme s'i! n'Ctait tenu en echec par la • beaute modeme» qui est essentiellement spleenetique. Les souvenirs plus ou moins distincts dont est impregnee chaque image qui surgit du fond de la memoire involontaire peuvent etre consideres comme son « aura D. Se saisir de I'aura d'une chose veut dire : I'investir du pouvoir de lever le regard. La decheance de I'aura ades causes historiques dont l'invention de la photo graphie est comme un abrege. Cette decheance constitue le theme le plus personnel de Baudelaire. C'est elle qui donne la clC de ses poesies erotiques. Le poete invoquc des ycux qui ont perdu le pouvoir du regard. Ainsi se trouve fix~ le prix de la beaute et de I'experience modernt> : la destruetion de )'aura par la sensation du ehoc.



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