Rétif de la Bretonne; der Mensch, der Schriftsteller, der Reformator  

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Rétif de La Bretonne: Der Mensch, der Schriftsteller, der Reformator (1906) is a work by Iwan Bloch. It is cited in Otto Rank's The Incest Theme in Literature and Legend (1912).

There is overlap between Rétif de la Bretonne; der Mensch, der Schriftsteller, der Reformator (1906) and Neue Forschungen über den Marquis de Sade und seine Zeit (1904), notably in the passage surrounding Paul Bourget's novel Le Disciple (1889):

"Was bleibt noch übrig, wenn der Mensch als Geschlechtswesen eliminiert ist? Ist nicht die Tatsache, daß der unglückliche Philosoph seine Theorie, ähnlich wie der Held in Paul Bourgets Roman „Le Disciple", mit dem Leben bezahlte, eine traurige, aber leider nur zu gerechtfertigte Antwort auf diese Frage? "


Full text[1]

a.) -


l'-v.


Retif de la Bretonne

Der Mensch, der Schriftsteller, der Reformator


Von


Dr. Eugen Dühren Cf^eud.)




\o


1'


Berlin 1906 Verlag von Max Harrwitz


lölS

ZsBs


Prin ted in Germany


Herrn Fedor von Zobeltitz,

dem tatkräftigen und erfolgreichen Förderer der Bibliophilie in Deutschland


in Verehrung


der Verfasser


Vorwort.

Dieses Buch über Nikolaus Edmund Retif de la Bretonne, den Menschen, den Schriftsteller und Reformator, erscheint, wie ich es bereits vor Jahren mir vornahm, zur Erinnerung an die hun- dertjährige Wiederkehr des Todestages des merk- würdigen Mannes (3. Februar 1906). Ich sage mit Ab- sicht: zur Erinnerung. Denn gerade in Deutsch- land, wo Retif einst in ganz besonderer Schätzung als Schriftsteller stand, wo ein Schiller, ein Goethe, Wilhelm von Humboldt, dann La- vater, Wieland, Hamann und Helmina von Chezy ihm als einem bedeutenden literarischen Phänomene ernste Beachtung schenkten, wo so- gar der jugendliche Ludwig Tieck ganz in seinem Banne stand (wie der „William Lovell", diese fast sklavische Nachahmung des „Paysan perverti" bezeugt), in Deutschland hat man den Menschen und Schriftsteller Retif fast völlig vergessen. Als Rötifs Freund Cubi^res dem berühmten Sebastian Mercier seine Absicht mit- teilte, eine kleine biographische Notiz über Leben und Schriften des Verstorbenen abzufassen, da sagte dieser : „Mein Freund, Sie behandeln da ein schönes Thema, ein Thema, das Ihnen viel Ehre machen


— VIII —

wird, und besonders in Deutschland. Als ich das letzte Mal dieses Land durchreiste, da gab es keine Stadt, ja kein Dorf, wo man mich nicht nach ihm gefragt hätte. Man legte mir die genauesten Fragen über ihn vor, wie man sie gewöhnlich über große Menschen vorlegt, deren Schriften man ge- lesen hat und die man persönlich kennen möchte." (Cubieres in seiner biographischen Notiz bei La- croix, Bibliographie et Iconographie de tous les ouvrages de Retif de la Bretonne, Paris 1875, S. 52.) Damals also war der Schriftsteller Retif durch zahlreiche Übersetzungen in Deutschland allgemein bekannt. Man wollte den Menschen kennen lernen. Der „Monsieur Nicolas" war ja nicht übersetzt und auch in Frankreich kaum bekannt geworden. Uns Deutsche von heute interessiert der Schriftsteller K6- tif erst in zweiter Linie, in erster der Mensch. Die Gründe dafür habe ich in der Einleitung ausein- andergesetzt. i) Demgemäß habe ich auf die genaue Darstellung des Menschen den Hauptwert gelegt; dieselbe nimmt beinahe vier Fünftel des ganzen Buches ein. Kennt man den Menschen, so kennt man auch die Schriften. Sie sind wie bei keinem anderen Schriftsteller autobiographische Dokumente. Und wenn ich daher mit Arsene Houssaye sage : „Je me suis livre avec passion ä cette ^tude de l'homme dans le poete" (Galerie de Portraits du dix-huitieme siecle, Paris 1845, S. m)j so weiß ich, daß ich dem Schriftsteller Retif ebenso gerecht geworden bin wie dem Menschen, in dem jener völlig aufgeht. Das vorliegende Buch ist die erste selbständige

^) Der größere Teil derselben erschien zuerst in der „Zu- kunft" vom 18. November 1905.


IX


größere kritische Monographie über Retif de la Bre tonne. Sein Freund Cubieres gab nur ziem- Hch zusammenhanglose ansprechende Erinnerungen an einen 20jährigen Verkehr, in denen das anek- dotische Element stark überwiegt. Diese Notiz nimmt 75 Seiten in der großen Bibliographie von Lacroix ein. Das längst vergriffene und gesuchte Büchlein von Charles Monselet (Retif de la Bretonne, sa vie et ses amours, Paris 1858, 212 Seiten) ist wenig mehr als eine rein bibliographische Zusammenstel- lung, da der eigentliche Text (S. i — 103) nur eine sehr flüchtige und oberflächliche Skizze des Lebens und der Schriftstellerei Retifs enthält, in der es freilich an einzelnen geistreichen Urteilen und Parallelen nicht fehlt. Das letztere gilt auch von Gerard de Nervals romanhafter Darstellung des Lebens Retifs („Les confidences de Nicolas" in: Les Illumines, Paris 1868, S. 21 — 167). Diese Schriften habe ich, wo sie Wichtiges boten, benutzt, daneben aber außer den Originalen der Schriften Retifs, soweit sie mir zugänglich waren — und fast alle seine Werke sind selten, meist unvoll- ständig und teuer — auch ganz neue Quellen verwertet, wie Paul Cottins unschätzbare Ver- öffentHchung des Tagebuches „Mes Inscrip- cions" (Paris 1889, 338 S.) mit seiner wertvollen Vorrede (CXXV S.) und die seltene anonyme Publi- kation der „Lettres inedites de Restif de la B r e t o n e" (Nantes 1 883, 65 S.). Vor allem aber diente der „M onsieurNicola s", diese wunderbarste aller Autobiographien, mir als Grundlage der folgenden Darstellung, wobei die allein zugängliche L i s e u x sehe Ausgabe benutzt wurde.


— X —

Da der zugemessene Raum für den Text bereits um ein Beträchtliches überschritten wurde, so wird die so umfangreiche und schwierige Biblio- graphie der Schriften Retifs, die ja, wie wir sahen, seit dem Erscheinen des großen Werkes von P. L. Jacob, Bibliophile (= Paul Lacroix) im Jahre 1875, durch wichtige Stücke bereichert wurde, in einem Supplemente folgen, auf das ich die Leser noch ganz besonders hinweise.

Da auch in Frankreich sich neuerdings ein größeres Interesse für die Persönlichkeit Retifs be- merkbar macht, wie die von dem Verlage des „Mer- cure de France" kürzlich herausgegebene und be- reits in dritter Auflage vorliegende Auswahl aus seinen Schriften beweist (Retif de la Bretonne, Collection des plus heiles pages. Avec une Notice et un Portrait. Troisieme £dition. Paris 1905, 8^, VIII + 360 Seiten), so darf die Hoffnung ausgedrückt werden, daß auch das vorliegende Werk als Beitrag zur näheren Kenntnis eines höchst merkwürdigen Mannes und zur allgemeinen Menschenkunde über- haupt willkommen sei.

Für gütige Unterstützung und literarische Nachweisungen habe ich den Herren Dr. jur. Tage E. Bull in Kopenhagen, Geh. Medizinalrat Prof. Dr. A. Eulenburg in Berlin, Kaiserl. Konsul a.D. Dr. jur. Eduard Grisebach in Berlin-Charlotten- burg, Karl Reiskel in Wien und Octave Uzanne in Paris meinen herzlichsten Dank hier öffentlich abzustatten.

Berlin, den 22. November 1905,

Dr. Eugen Dühren (Dr. med. Iwan Bloch).


Inhaltsverzeichnis.


Einleitung S. 1—9

Gegenüberstellung von de S a d e und Retif de la Bre- ton n e S. I. — Retif als Volksschriftsteller S. 2. — Als Reformator S. 3. — Als Mensch S. 3 — 4. — Das Studium des Menschen im 18. Jahrhundert S. 4. — Die Menschenkunde als modernes wissenschaftliches Problem S. 4 — 5. — Die Biographie als Naturgeschichte des Menschen S. 5—6. — Allgemeine Be- deutung autobiographischer Aufzeichnungen (Kierkegaard, Hebbel, Alfieri) S. 6. — Der psychologische Roman als Vorläufer der Autobiographie S. 7. — Rousseaus und R e t i f s autobiographische Romane S. 7 — 8. — R e t i f s Lebenswerk die Geschichte eines einzigen Menschen S. 8 — 9.

Erster Abschnitt.

Der Mensch S. 11—391

Erstes Kapitel S. 13 — 32

Biographische Quellen.

1. Tagebücher und Steininschriften S. 13 — 19

Ursprung der Tagebücher S. 14. — Jugendgedichte S. 14. — Die „Cahiers d'apprentissage", „Codices" und „Memoranda" S. 14 — 15. — Verschiedene Namen der Tagebücher S. 15. — Die Tagebücher als Grundstock seiner Werke S. 15. — Die Stein- inschriften S. 16. — Technik und Geschichte derselben S. 16 — 17. — Entdeckung einiger Tagebuchmanuskripte R e t i f s S. 17. — Die „Dates" oder „I n s c r i p c i o n s" S. 18 — 19. — Das

Tagebuch „M e m e n t o" S. 19.

2. Briefe S. 20 — 21

Die Korrespondenz mit Verwandten und Freunden S. 20. — Mit Grimod de la Reyniere S. 20. — Die „Lettres

i n e d i t e s" S. 20 — 21.

3. Der „Monsieur Nicolas" S. 21 — 29

Hauptquelle für die Lebensgeschichte R e t i f s S. 21. — Die „Enthüllung" des Daseins Zweck dieser berühmten Auto-


— XIV —

biographie S. 21 — 22. — Bewunderungswürdig exakte Lösung dieser Aufgabe S. 22. — Notwendigkeit einer Beurteilung des Werkes vom rein menschlichen Standpunkte S. 22 — 23. — Urteil Wilhelm von Humboldts über den „Monsieur Nicolas" S. 23. — Brief Schillers an Goethe über denselben S. 23. — Darstellung des Menschen als Naturwesens darin S. 24. — Das romanhafte Element in einigen berühmten Auto- biographien des 18. Jahrhunderts S. 24 — 25. — Mehr Wahrheit als Dichtung im „Mons. Nicolas" S. 26. — Cottins Nachweis der Authenticität S. 26. — Benutzung der Tagebücher für dieses W'erk S. 27. — Inhaltsübersicht und Ausgaben S. 27 — 28. 4. Autobiographisches in anderen Schriften . . S. 29 — 32 Der „fonds v r a i" aller Schriften R e t i f s S. 29 — 30. — Das „Drame de la Vie" S. 30 — 31. — Der „Paysan perverti" als auto- biographischer Roman S. 31. — Die „derniere aventure d'un homme de quarante-cinq ans" S. 31 — 32. — Sein Tagebuch in den „Nuits de Paris" S. 32.

Zweites Kapitel S. 33 — 86

Kindheit und Knabenjahre (1734 — 1751).

1. Herkunft und Familie S. 33 — 38

R e t i f s genealogische Phantasien S. 33 — 34. — Die Schreibung „Retif" richtiger als „Restif" S. 34 — 35. — Vornamen S. 35. — Die Bezeichnung „Monsieur Nicolas" S. 35. — Der Zusatz „de la Bretonne" S. 35 — 36. — Die Eltern S. 36. — R e t i f s Hereditätstheorie S. 36 — 37. — Geschwister S. 37. — Der Abbe Thomas S. 38.

2. Die Kindheit S. 38—65

(Erste Epoche, 1734 — Z746.) Die große Bedeutung der ersten Eindrücke S. 39. — Unregel- mäßige Lebensweise S. 39. — Frühes Auftreten erotischer Regungen S. 39 — 40. — Erste erotische Anreizungen S. 40 — ^41. — Sexuelle Eindrücke anderer Art S. 41 — 42. — Entwicklung eines glühenden Phantasielebens S. 42. — Seine „sensibilite physique" S. 42 — 43. — Erster Schulbesuch in Sacy und Vermenton S. 43.

— Erste Freundschaft S. 43. — Erotische Kinderspiele S. 44. — Anfänge des Fuß- und Schuhfetischismus S. 45. — Die erste Verführung S. 45. — Nannette S. 45 — 47. — Der erste Kuß S. 48. — Land- und Naturleben des Kindes S. 49. — Beziehungen desselben zur Charakterbildung S. 49. — Die „Höhle" S. 49 — 5t.

— Das Hirtenleben der Jahre 1745 und 1746 S. 51 — 52. — Wall- fahrten der mannbaren Jugend S. 52. — Das einsame Tal S. 53 — 55. — Erwachen des Freiheitsgefühles S. 54 — 55. — Schul- unterricht, erste Lektüre S. 55. — Die erste Geliebte Q u 1 i e Barbier) S. 56. — Erkrankung S. 57, — Neues Hirtenleben S. 57. — Abenteuer mit Wölfen S. 58. — Eine Beobachtung über Tiersprache S. 58 — 59. — Die Gebrüder Courtcou S. 59. — Ihre cynisch-sadistischen Erzählungen S. 59 — 60. —


XV


Besuch in Nitry S. 60. — Die Mädchen von Nitry S. 61. — Glückliches Jugendtreiben S. 61 — 62. — Unheilvoller Einfluß der Courtcous S. 62 — 63. — Ihre Schilderung sexueller Per- versitäten S. 63 — 64. — R e t i f s Entfernung aus Sacy S. 65.

3. Der Chorknabe von Bicetre S. 66 — 71

(Zweite Epoche, 1746 — 1747.) Reise nach Paris S. (ß. — Schilderung der geistlichen Unter- richtsanstalt Bicetre S. 66 — 67. — Homosexuelle Verhältnisse im Knabeninternate S. 67. — Erotische Beziehungen zu den Nonnen S. 67 — 68. — Charakteristik der Jansenisten S. 68 — 69. — Auf- enthalt in Paris S. 6g. — Lektüre S. 69 — 70. — Erotische Abenteuer S. 70.

4. Beim Pfarrer von Courgis S. 71 — 89

(Dritte Epoche, 1748 — 1751.) Courgis eine zweite Heimat S. 71. — Der Pfarrer S. 71. — Studium des Lateinischen und Griechischen S. 72. — Unter- richtsmethode des Pfarrers S. 72 — 72>- — Katechismusprüfung S. TZ- — Der Ostersonntag 1748 S. 73 — 74. — R e t i f s „Laura", Jeannnette Rousseau S. 74 — 75. — Bedeutung seiner Liebe zu ihr für seine Entwicklung S. 75 — 76. — Äußerungen dieser Liebe S. 76. — Erhöhung des Naturgefühls S. 76 — JT. — Abenteuer mit Marguerite Mine S. Tj — 78. — Polygame Regungen S. 78 — Leidenschaft für Marguerite Paris S. 79. — Reise mit ihr nach Auxerre S. 79 — 80. — Das Diner bei Madame J e u d y S. 80. — Verführung Margueritens S. 81. — Stürmische Pubertät R e t i f s S. 81. — Geistige Ausschweifungen S. 82. — Abfassung erotischer Dichtungen S. 82 — 84. — Zusammenhang seiner geistigen Tätigkeit mit der Sexualität S. 85. — Intrigen der Brüder gegen seine Studien S. 85 — S6.

DrittesKapitel S. 87— 116

Die Lehrlingszeit in Auxerre. Madame Parangon.

(Vierte Epoche, 1751 — 1755.)

1. Das Haus Parangon S. 88 — 94

Bekanntschaft mit Colette Parangon geb. C o 11 e t S. 88 — 89. — R e t i f s Ankunft in Auxerre und im Hause Pa- rangon S. 89 — 90. — Lehrlingsleiden S. 90—92. — Herr P a r a n - g o n S. 92. — Das Dienstmädchen Tiennette S. 92 — 93. —

Die Persönlichkeit der Madame Parangon S. 93 — 94.

2. Der Casanova von Auxerre S. 94 — 105

Piatonismus und Erotismus S. 94 — 95. — Lektüre und Studium S. 95. — Die Art seiner Liebe zu Madame Parangon S. 96. — Erwiderung derselben ihrerseits S. 97. — Kritische Stunden S. 97 — 98. — Kleidungs- und Schuhfetischismus R e t i f s S. 98—99. — Die Liebesinsel S. 99. — Der Casanova von Auxerre S. 100. — Die Schwestern Baron S. 100 — loi. — Erotische Exzesse S. loi — 102. — Skandalöses Treiben in den Tanzsälen


— XVI —

S. 102. — Neue Liebschaften S. 103 — 104. — Lange Liste der- selben S. 104 — 105.

3. Der böse Geist S. 105 — 109

Der Franziskaner Gaudet d'Arras S. 105 — 106. — Ver- mutung von L a c r o i X über die Persönlichkeit desselben S. 106. — R e t i f s Freundschaft mit Gaudet d'Arras S. 107. — Freigeisterei des Franziskaners S. 107. — Seine mate- rialistischen Ansichten über die Liebe S. 108. — Sein böser

Einfluß auf R e t i f S. 108 — 109.

4. Das Attentat S. 109 — 112

Abwesenheit des Herrn Parangon S. 109. — Mißlingen des ersten Attentats S. iio. — Vollendung des zweiten S. iio — iii.

— Idealisierung des Verhältnisses S. iii — 112. — Die abend-

lichen Spaziergänge S. 112.

5. Letztes Jahr in Auxerre S. 112 — 116

Heiratsprojekt der Madame Parangon S. 112 — 113. — R e t i f s Liaison mit Rose Lambelin S. 115. — Seine erotische Graphomanie S. 115 — 116. — Erste Bekanntschaft mit Loiseau S. 115. — Der Abschied von Auxerre S. 115. — Eine Orgie S. 115. — Eine seltsame Liste S. 115^116. — Reise

nach Paris S. 116.

ViertesKapitel S. 117 — 145

Zweiter Pariser Aufenthalt. Die Gesellenzeit.

(Fünfte Epoche, I755— 17590

1. Erste Pariser Erlebnisse und Eindrücke . . S. 117 — 129 Der Petronius von Paris S. 117. — Genrebilder aus dem Leben der niederen Klassen S. 117 — 118. — Retifs Tätigkeit in der Louvredruckerei S. 118. — Sein Bohemeleben S. 118— 119.

— Erster Verkehr mit Prostituierten S. 119. — Eine bisexuelle Messaline S. 120. — Lesbische Frauen S. 120. — Ein reines Liebesidyll S. 120 — 121. — Das Haus der Bonne Sellier S. 121. — Pensionsunsitten S. 121. — Gute und böse Freunde S. 122. — Der Libertin Gaudet de Varzy S. 122. — Exzesse in Bordellen und Tanzlokalen S. 122. — Erster Theaterbesuch S. 123. — Retifs Theaterleidenschaft S. 123 — 124. — Verkehr mit Theaterdamen S. 124. — Ein Ausflug ins Bois S. 124 — 125. — Die Soiree im Hotel de Hollande S. 125 — 126. — Die Schöne vom Pont Saint-Michel S. 126 — 128. — Die Jagd auf Modistinnen S. 128. — Madame Parangons Tod S. 128 — 129. — Venerische Infektion S. 129. — Seelische und moralische Depression S. 129.

2. Zephire S. 129 — 140

Die drei „Verklärungen" seines Daseins S. 129 — 130. — Be- kanntschaft mit Zephire S. 130. — Ihre Erscheinung S. 130 — 131.

— Die Unschuld im Bordell S. 131 — 132. — Retifs Berufs- tätigkeit S. 132. — Seine Erkrankung S. 133. — Idyllisches Liebesleben S. 133 — 134. — Erotische Lektüre und ihre Folgen


— XVII —

S. 134—135. — Zephirens Tod S. 135. — Die Enthüllung Nan- nettens S. 136 — 137. — Ihre Lebensgeschichte S. 137. — Ein „Mode- und Massageinstitut" des 18. Jahrhunderts S. 137—138. — Aufhebung durch die Polizei S. 138. — Ein Bor- dell um 1750 S. 139. — Sadistische und masochistische Klientel desselben S. 139 — 140.

3. Eine englische Episode (Erste Heirat) . . S. 140 — 143 Das merkwürdige Jahr 1759 S. 140. — Bekanntschaft mit Harriet Kircher S. 141. — R e t i f s Anglomanie S. 141. — Die Trauung S. 142. — Flucht und Diebstahl der

Gattin S. 142 — 143.

4. Neue „petits hors-d'oeuvre" S. 143 — 145

L o i s e a u s Freundschaft S. 143. — Die „petits hors-d'oeuvre" der Liebe S. 144. — Das „Keuschheitsschloß" S. 144 — 145. —

Inkonsequenz in der Liebe S. 145.

Fünftes Kapitel S. 146—162

Dijon. Dritter Aufenthalt in Paris. (Sechste Epoche, 1759 — 17650

1. Die Reise S. 146—150

Glückliche Tage im Elternhause S. 146. — Loiseaus Tod S. 146. — Reise nach Dijon S. 147. — Christine S. 147 — Ga- lanterien von Dijon S. 147. — Der „Park" in Dijon S. 147 — 148.

— Rückkehr nach Paris S. 148. — E d m e e und Reine G i r a u d S. 149. — Neue Heiratspläne und Offerten S. 149 — 150.

2. Neue eheliche Leiden (Agnes Lebegue) S. 150 — 162 Die Familie Lebegue in Auxerre S. 150. — Ein Wort Loi- seaus über Agnes S. 151. — Umgarnung R e t i f s S. 151 — 152.

— Korruption der Mutter und Töchter Lebegue S. 152. — Die Hochzeit S. 152. — Erscheinung und Charakter seiner Gattin S. 153 — 154. — Übersiedelung nach Paris S. 154. — Zärt- liche Freundinnen S. 155. — HäusUche Misere S. 155 — 156. — Das Nachbarhaus S. 156. — Gemeinsame Galanterien von Gatte und Gattin S. 156 — 157. — R e t i f s Liebesbriefe an Modistinnen S. 157. — Sein Treiben als „Voyeur" S. 157. — Die Dirne Bat bilde S. 157—158. — Adelaide Nicard S. 158—159.

— Andere „Zerstreuungen" S. 159 — 160. — Chouchou und ihre Freundinnen S. 160 — 161. — Reise nach Sacy S. 161. — Erkrankung S. 161. — Anstellung in der Druckerei Q u i 1 1 a u

S. 162.

Sechstes Kapitel S- 163 — 185

Literarische Anfange.

(Siebente Epoche, 1765 — 1775.) I. Die neue Muse (Rose Bourgeois). . S. 163 — 165 Anfänge der Schriftstellerei S. 163. — Die Schwestern Bour- geois S. 164. — Die neue „Muse" S. 165.


— XVIII —

2. Erste literarische Tätigkeit ....... S. 165 — 175

Vorbilder S. 165. — Gefühl für die Romantik des Lebens S. 165 — 166. — Realistischer Zug seiner Schriftstellerei S. 166. — Die „Familie vertueuse" S. 166. — Nougaret und seine Ge- liebte als literarische Kritiker S. 166 — 168. — Nougarets Vorliebe für schielende und bucklige Frauen S. 168. — Verkauf des ersten Manuskripts S. 169. — Erlebnis mit SaraKrammer S. 169 — 170. — Die Arbeit am „Pornographe" S. 170. — Samm- lung des Materials S. 171. — Aufenthalt in Sacy S. 171 — 172. — Neue Konzeptionen S. 172. — Die „häßliche Schöne" S. 172. — „Fancheltens Fuß" S. 173 — 174. — Erscheinen des „Porno- graphe" S. 174. — Arbeitslust S. 175.

3. Erlebnisse in den Jahren 1768 — 1772 . . . S. 175 — 179 Zwistigkeiten mit Agnes Lebegue S. 175 — 176. — Lite- rarische Verehrerinnen S. 176 — 178. — Elise Tulout S. 176 — 177. — Victoire Londeau S. 177—178. — R e t i f s und Nougarets Konkurrenz in der Liebe S. 178. — Ihre gemeinsamen Leiden S. 178 — 179. — Tod der Mutter S. 179.

4. Louise und Therese, oder Liebe und Freund- schaft S. 179—185

Eine der schönsten Episoden in R e t i f s Leben S. 179. — Be- kanntschaft mit Louise S. 179 — 180. — Die gelesensten Bücher der Zeit S. 180. — Ein glückliches Beisammensein S. 181. — Therese S. 181. — Nachtwache bei der kranken Gehebten S. 182. — Die beiden Sterne S. 182. — Louisens Geschichte S. 183. — Liebe und Freundschaft S. 183 — 184. — Ein Abschied für immer S. 194. — Erinnerungsfeiern S. 184 — 185.

Siebentes Kapitel S. i86 — 217

Freuden des Ruhmes und Leiden der Liebe.

(Achte Epoche, 1775 — 1785.)

1. Erscheinen des „Paysan perverti" . . . . S. 186 — 188 Der „Paysan perverti", Ursache seiner literarischen Celebrität S. 186. — Erscheinen und große Verbreitung des Buches S. 167.

— Urteile darüber S. 187. — Eifrige literarische Tätigkeit S. 188.

2. Virginie S. 188 — 193

Der „Quadragenaire" und seine Rolle in der Liebe S. 188 — 189.

— Eine moderne Kleopatra S. 189. — Virginie S. 189 — 190. — Ihre Cynismen S. 190. — Ein Spaziergang nach Bicetre S. 190 — 191. — Virginiens Untreue S. 191 — 192. — Ein komisches Diner bei Nougaret S. 192. — Theaterszenen

S. 192 — 193. — Trennung von Virginie S. 193.

3. Der Abgott der Modistinnen S. 193 — 197

Drei Jahre der Ruhe S. 193 — 194. — Die „Liebe durch Briefe" S. 194. — Der „neue Abälard" S. 195. — Seine „amuseuses" S. 19s — 196. — Häusliche Unannehmlichkeiten S. 196. — Der

böse Schwiegersohn Auge S. 197.


— XIX —

4. Die treulose Sara S. 197 — 213

Authentizität der Geschichte S a r a s S. 197 — 198. — Thema der- selben S. 198. — Familie und Erscheinung S a r a s S. 198 — 199. — Erster Besuch bei R e t i f S. 199. — Entwickelung ihres Liebes- verhältnisses S. 2(X). — Gemeinsame Diners S. 201. — Theater- besuche S. 201 — 202. — Liebesbriefe S. 202. — Das vollendete Glück S. 202 — 203. — Eine Szene im Theater N i c o 1 e t S. 203. — Ein Kuß im Dunkeln S. 204. — Frühlingsglück S. 204. — Lieder der Liebe S. 204 — 205. — Butel-Dumont S. 205. — R e t i f s Plan S. 205 — 206. — Plötzlicher Zynismus S a r a s S. 206. — Ent- deckung ihrer Beziehungen zu L a v a 1 e 1 1 e S. 207. — Ein Inferno der Liebe S. 207 — 209. — S a r a s Kälte und Treulosig- keit S. 209. — Der dritte Liebhaber S. 210 — 211. — Ein letztes Glück S. 211. — Ein Abend im Freien S. 211 — 212. — Die Tren- nung S. 212. — Die „Derniere aventure" und die „Histoire de

Sara" S. 212 — 213.

5. Bultel-Dumont und sein Kreis S. 213 — 217

Die Häuslichkeit eines reichen Junggesellen S. 213 — 214. — R e t i f s Beziehungen zu Butel-Dumont S. 214 — 215. — Fräulein von Saint-Leger S. 215. — R e t i f s literarische Liaison mit ihr S. 215 — 216. — Das Bordell der Schwestern

L e b 1 a n c S. 216. — Literarische Arbeiten S. 216 — 217.

A c h t e s K a p i t e 1 S. 218 — 292

Verkehr mit der literarischen und vornehmen \Velt. Die Revolutionszeit. (Neunte Epoche, 1785 — 1797.)

1. Familienleiden S. 218 — 224

Die drei „Ungeheuer" im Leben R e t i f s S. 218 — 219. — Der Sadist A u g e S. 219 — 220. — Ein geborener Verbrecher S. 220. — Bündnis wider R e t i f zwischen Agnes Lebegue und Auge S. 220. — Fontanes und Joubert S. 221. — Der Feldzug gegen R e t i f S. 221 — 222. — R e t i f vom Pöbel ver- folgt S. 222. — Seine Töchter S. 222 — 223. — Der „Enkel des

Retif de la Bretonne" S. 223.

2. Das literarische Diner im 18. Jahrhundert . . S. 224 — 230 Doppelter Ursprung des literarischen Diners S. 224 — 225. — Fräulein Q u i n a u 1 1 s „Diner du Bout-du-Banc" S. 225. — Erste literarische Epoche desselben S. 226. — Berühmte Habi- tues desselben S. 226. — P i r o n s Glanzrolle dabei S. 226 — 227. — Voltaires Eifersucht S. 227. — Die philosophische Epoche des „Diner du Bout-du-Banc" S. 227. — Duclos, Diderot, Rousseau und andere S. 228. — Eine Debatte über das Schamgefühl S. 228 — 229. — Ein Brief Voltaires S. 229. — Die literarischen Diners der großen Finanziers S. 229 — 230.

3. Die Beziehungen Retifs zu dem jüngeren

Grimod de la Reyniere S. 230 — 238

Die erste Begegnung im Buchhändlerladen S. 230 — ^231. —


— XX —

G r i m o d s Enthusiasmus für R e t i f S. 231. — Die Totenfeier für Fräulein Q u i n a u 1 1 S. 232. — G r i m o d s Souper vom 9. März 1786 S. 232. — Bildliche Darstellung desselben S. 233. — R e t i f s Schilderung S. 233—234. — Die Dejeuners im Hause LaReyniere S. 235. — Der Künstler A z e S. 235—236. — G r i m o d s und R e t i f s Promenaden auf der Insel Saint- Louis S. 236. — G r i m o d s Verbannung S. 236 — 237. — Spätere Differenzen mit R e t i f S. 237 — 238.

4. Freunde und Feinde S. 238 — 256

Das Verzeichnis der Freunde und Feinde S. 238. — R e t i f s Verkehr mit der vornehmen Welt S. 238 — 239. — Das Souper beim Herzog von Gevres S. 239. — Das „Diner der Aka- demiker von Amiens" S. 240 — 241. — Beim Grafen G e m o n - v i 1 1 e S. 241—242. — Bei SenacdeMeilhanS. 242—243. — Die intimen Diners beim Vicomte de Toustain-Riche- b o u r g S. 243—244. — Beziehungen zu literarischen Cele- britäten S. 244. — Pidansat de Mairobert S. 244. — Beaumarchais und sein Haus S. 244—246. — Die Freund- schaft mit Sebastian Mercier S. 246. — Diensteifer Merciers S. 246—247. — Der Bürger Arthaud S. 247. — Die „Restifomanen" M a r 1 i n , Griset, Marandon u. a. S. 248 — 249. — R e t i f s Beziehungen zu vornehmen und geist- reichen Frauen S. 249—250. — Die Präsidentin d ' O r m o y S. 250. — Madame d e S t a e 1 S. 251. — Die Marquise d e M o n - talembert S. 251. — R e t i f s Indiskretionen S. 252—253. — Ursache vieler Feindschaften S. 253. — Nougarets Angriffe S. 253—254. — R e t i f s Haß gegen den Marquis de S a d e S. 254—255, — Frühere Freundschaft beider S. 255. — Die An- griffe der literarischen Kritik S. 255. — La H a r p e und

F r e r o n S. 255 — 256.

5. Letzte Liebe S. 256—262

Verkehr im Hause des Chevalier deSaint-MarsS. 256—257. — FelicitetteS. 257. — Der Wonnemonat 1766 S. 258. — Die „soirees delicieuses" S. 258. — Das Ende der letzten Liebe S. 259. — Die allerletzte Liebe S. 259. — Briefe und Lieder an Modistinnen S. 259—260. — Exhibitionistische Neigungen S. 261. — Reger Verkehr in Lupanaren S. 261—262. — Seniler

Erotismus S. 262.

6. Literarische Tätigkeit von 1785 — 1789. Das

Palais Royal S. 262—268

Geistesfrische S. 262. — Arbeitskraft S. 263—264. — Seine

„Dramomanie" S. 265 — 266. — Studium der Prostitution im

Palais Royal S. 266—268.

7. Die Revolutionszeit S. 269 — 292

Retifs Rolle als Beobachter der Revolution S. 269 — 270. — Schilderung der Anfänge der Volksbewegung S. 270 — 271. — Der Sturm auf die Bastille S. 271. — Der Zug nach Versailles S. 272—273. — Lektüre der Revolutionsjournale im Cafe


— XXI —

Robert S. 273. — R e t i f als Republikaner S. 273 — 274. — Der Sommer 1792 S. 275 — 276. — Die Septembermorde S. 276. — Der Prozeß des Königs S. 277. — Schilderung des Hin- richtungstages S. 277 — 278. — Wachsende Abneigung gegen die Revolution S. 27&—279. — R e t i f s Leiden durch dieselbe S. 279 — 280. — Sein unfreiwilliger Terrorismus unter der Schreckensherrschaft S. 280 — 281. — Ein Anhänger M a r a t s S. 281. — Seine Sympathien für Charlotte Corday S. 282 — 283. — Seine Angst vor den Robespierristen S. 283 — 284.

— Polizeiliche Haussuchung S. 285. — Schwärmerei für B o n a - parte S. 286. — Kommunistische Ideen S. 286 — 287. — Ver- faßt revolutionäre Pamphlete S. 287. — Besuche bei M i r a - b e a u S. 287. — R e t i f und Villeterque S. 288. — Auges Denunziation S. 289 — 290. — R e t i f s Verhör S. 290. — Die Schandschrift „Dom Bougre aux Etats-Generaux" S. 290 — 292.

Neuntes Kapitel S. 293 — 323

Die letzten Lebensjahre. (Zehnte Epoche, 1797 — 1806.)

1. Lebensnöte S. 293 — 299

Geringer Geschäftsgeist S. 293. — Seine Reklame S. 294. — Beziehungen zum literarischen Publikum S. 295. — R e t i f als Volksschriftsteller S. 295. — Die Bilanz seiner literarischen Ein- nahmen S. 295 — 297. — Finanzielle Verluste durch die Assig- naten S. 298. — Wohltäter S. 298 — 299.

2. Fanny de Beauharnais und ihr Kreis S. 299 — 304 Der Salon der Gräfin Fanny de Beauharnais S. 299. — D o r a t und B u f f on S. 299 — 300. — M e r c i e r und C u - b i e r e s S. 300. — R e t i f s Eintritt in den Kreis S. 301. — Die Freitagabende S. 301. — Schilderung derselben S. 302 — 303.

— Freundschaftliche Beziehungen bis zu seinem Tode S. 303 — 304. 4. Letzte literarische Pläne und Arbeiten . . . S. 304 — 311

Vollendung des „Monsieur Nicolas" S. 304 — 305. — Die Bücher- ballen in seinem Hause S. 306. — Schicksal seiner Manu- skripte S. 306 — 307. — Die letzten Werke S. 307 — 308. — Die „Posthumes" S. 308. — Die „Histoire des Compagnes de Maria" S. 309. — Die „Mille et une Metamorphoses" und „L'Enclos ou les Oiseaux" S. 309 — 310. — Ein Held der Feder S. 311.

4. Krankheiten und Ende S. 311 — 323

Beschwerden der Kindheit S. 311 — 312. — Venerische Erkran- kungen des Jünglings und Mannes S. 312 — 313. — Der neu- zeitliche Ursprung der Syphilis S. 313 — 314. — Gonorrhoen und Folgeerscheinungen derselben S. 314. — R e t i f s medizinische Lektüre S. 314 — 315. — Seine Ärzte S. 315. — Choppart und T i s s o t S. 315. — Der berühmte Dr. Guilbert de P r e v a 1 S. 315. — Seine Charlatanerien S. 316. — Sein Streit mit der medizinischen Fakultät S. 316. — Seine vornehmen ge- sellschaftlichen Beziehungen S. 316 — 317. — Retif von


— XXII —

Pfuschern malträtiert S. 317. — Dr. Chopparts rettende Operation S. 317—318. — Das Hospital „Ecoles de Sante" S. 318. — Verschlimmerung seines Leidens S. 318 — 319. — Häusliche Pflege S. 319. — Tod S. 319. — Das Leichenbegängnis S. 319. — Nekrolog S. 319—320. — Ein offener Brief der beiden Töchter S. 320 — 321. — Cubieres bereitet eine Biographie vor S. 321. — Ein Brief der Witwe Retifs S. 322 — 323.

Zehntes Kapitel S. 324 — 356

Persönlichkeit und Charakter.

1. Äußere Erscheinung S. 324 — ^332

Die Schönheit des Kindes S. 324. — Fehlen eines Jugendbild- nisses S. 325. — Aussehen in reiferen Jahren S. 325. — Die Schilderungen von Cubieres, Wilhelm v. Humboldt und Helmina von Chezy S. 325 — 327. — B i n e t s be- rühmtes Porträt S. 327. — Geschichte desselben S. 328 — 329. — Vernachlässigung der äußeren Erscheinung S. 329 — 330. — Mehr als frugale Lebensweise S. 330 — 331. — Unreinlichkeit Retifs S. 331. — Eine Anekdote S. 331. — Das Kostüm der „Nacht- eule" S. 332.

2. Das Charakterproblem S. 332 — 356

R e t i f mehr als bloß ein Sonderling S. 332. — Eine Ver- einigung von Gegensätzen S. 332. — Die körperlichen Grund- lagen seines Charakters S. 333. — Die Phantome der Kindheit S. 334. — Die Mischung von Wirklichkeit und Phantasie in ihm 335. — Das Leben als naturgeschichtlicher Vorgang S. 335. — Die Rolle der Erinnerung S. 336. — Die Bedeutung der „Gedenktage" S. 336 — 337. — Die Motive der Promenaden auf der Insel Saint-Louis S. 338 — 339. — Die Gefühlsschwelgerei in der eigenen Lebensbetrachtung S. 340. — Die Wahrheit seiner Autobiographie S. 341. — Gegensätze in seinem Gefühls- und Willensleben S. 342 — 343. — Eine Natur von Eisen und Feuer S. 344. — Die Begeisterung für die Arbeit S. 344 — 346. — Mäßigkeit in der Lebensweise S. 346. — Intoleranz gegen Alkohol S. 347. — Konsequenz und Beharrlichkeit seines Strebens S. 347 — 348. — Seine Wohltätigkeit S. 348. — Sein „Despotismus der Erkenntlichkeit" S. 348 — 349. — Eitelkeit und Selbstüberschätzung S. 349 — 350. — Literarischer Größenwahn S. 350 — 352. — Empfindlichkeit gegen Kritiken S. 353 — 354. — Gegen Ironie und Satire S. 355. — Seine optimistische, leben- bejahende Natur S. 356. — Intensive Empfindung des Daseins- gefühls S. 356.

Elftes Kapitel . . . S. 357 — 391

Sein Liebesleben.

I. Die Liebe als Lebenszweck S. 357 — 359

Das Weib als Zweck der Existenz S. 357. — Bedeutung der physischen und seelischen Liebe S. 357. — Die Liebe zum


— XXIII —

„Weib an sich" S. 358. — Sein feines Verständnis für die Eigen- tümlichkeit der weibHchen Natur S. 358 — 359.

2. Sein Erotismus S. 359—302

Intensität des physischen Triebes S. 359. — Das Bedürfnis nach Variation S. 359 — 360. — Ein ,,polyeraste" S. 360. — Leiden- schaftliche sexuelle Erregung S. 360 — 361. — Ohnmacht in coitu S. 361. — Das ideale Moment in der liebe S. 361. — Plato- nische Phantasien S. 362. — Die Verklärung des Weibes S. 362.

3. Die Ars amandi S. 362—371

Ein Meister der Liebeskunst S. 362 — 363. — Seine Vorschriften für den Erfolg in der Liebe S. 363. — Verschiedene Methoden der Anknüpfung S. 364—365. — Andere Mittel der Verführung S. 366. — Seine „remedia amoris" S. 366. — Die Eifersucht S. 367. — Die Suche nach dem Frauenideal S. 367. — Ver- änderungen seines physischen Schönheitsideals S. 368. — Der ..goüt des tailles minces" S. 368. — Die Schwärmerei für kleine Füße S. 369. — Die Passion für Modistinnen S. 369. — Der

„Liebeskalender" S. 369 — 371.

4. Sein Fußfetischismus S. 371 — 380

R e t i f ein typischer Fußfetischist und der erste Hterarische Apostel desselben S. 371. — Geschichtliche Notizen über Schuh- und Fußfetischismus S. 372. — Beispiele aus dem Altertum S. 372. — Brantömes Bemerkungen über die Schönheit der Füße und Schuhe S. 372 — 373. — Die Entdeckung der Reize des weiblichen Fußes im 18. Jahrhundert S. 373. — Die Ateliers der berühmten französischen Fußkünstler S. 373 — 374. — Die künstliche Züchtung des Fußfetischismus S. 374 — 375. — Die Entstehung desselben bei R e t i f S. 375. — Bedeutung der ersten Kindheitseindrücke S. 375 — 376. — Erscheinungen seines Fuß- und Schuhfetischismus S. 376-— 377. — Die Bedeutung der

hohen Absätze S. 377 — 380.

5. Andere perverse Erscheinungen S. 380 — 385

Sadistische Neigungen S. 380 — 381. — Inzestvorstellungen S. 381 — 382. — Die Inzestphantasien der Franzosen im 18. Jahr- hundert S. 382. — Theodor Mundt über die geringe Ab- neigung der Franzosen gegen Inzest und seine Häufigkeit um 1850 S. 382 — 383. — R e t i f s Verkehr mit seinen angeblichen Töchtern S. 383. — Das sinnlich Reizende in der Reinlichkeit des Weibes S. 383 — 384. — Seltsame Manie des Waschens S. 384. — Exhibitionistische Neigungen S. 384. — Abscheu gegen Päderastie S. 384. — Verdammt die harten Strafen da- gegen S. 384. — Milde Beurteilung der Sodomie S. 385.

6. Die „Anti-Justine" S. 385—391

Ein autobiographisches Dokument S. 385. — Beweise dafür S. 385—386. — Kühnste Offenbarung seiner Sexualität S. 386. — Seltenheit der Originalausgabe S. 386 — 387. — Zweck des Buches S. 387. — Ein Gegengift gegen die „Justine" de S a d e s S. 387—388. — Inhalt und Sprache S. 388—389. — Die auto-


— XXIV —

biographischen Details über die eigenen sexuellen Anomalien lind Perversionen S. 389. — Das Ohnmächtigwerden S. 389. — Der Fußfetischismus S. 389 — 390. — Der Reinlichkeitsfanatismus in bezug auf das Weib S. 390. — Die Inzestphantasien S. 390 — 391.

Zweiter Abschnitt.

Der Schriftsteller S. 393—480

Zwölftes Kapitel S. 395 — 416

Rötifs Schriftstellerei und seine Stellung in der Literatur,

1. Die Arbeitsmethode S. 395 — 407

Der reale Kern seiner Schriften S. 395. — Die „Basis", das „Modell" und die „Muse" S. 396 — 397. — Systematische Samm- lung von Material S. 397 — 398. — Einzelnotizen S. 398. — Parallele mit Zola und Dickens S. 398. — Die Belehrung durch andere S. 398. — Graf T i 1 1 y s Schilderung eines solchen Interviews S. 398 — 399. — Mitarbeiter und Mitsammler S. 400 — 404. — Seine „auteuromanie" S. 404. — Schnelligkeit der Produktion S. 404. — Druckt oft ohne Manuskript S. 404. — Mängel der Form und des Stiles S. 405. — Lateinische Zitate S. 405. — Widersprüche S. 405. — Große Zahl der Werke und Manuskripte S. 406. — Die Handschrift R e t i f s S. 406. —

Autographen S. 407.

2. Retifs Stellung in der Literatur S. 407 — 416

Der Begründer der naturalistischen Schule in Frankreich S. 407 — 408. — Kein Sinn für künstlerische Form S. 408. — Liefert nur rohe „documents humains" S. 408 — 409. — Alles selbst ge- sehen und erlebt S. 409. — Der erste Schriftsteller für und über das Volk S. 409 — 410. — Der „R o u s s e a u der Gosse" S. 410. — Bedeutung dieser Tat S. 410. — Andere Beinamen S. 410 — 411. — Verhältnis zu Rousseau S. 411— 412. — Zu Balzac S. 412 — 413. — Zu Zola S. 414. — Urteil des Grafen T i 1 1 y über R e t i f S. 414 — ^415. — Lavater, Schiller. Goethe und W. v. Humboldt S. 415 — 416. — Sein An- sehen in Deutschland S. 416.

Dreizehntes Kapitel S. 417 — 480

Übersicht der Hauptschriften.

1. Fanchettens Fuß S. 417 — 428

Idee und Konzeption des Romans S. 417 — 418. — Thema des- selben S. 418. — Einleitung S. 418. — Angebliche Geschichte eines verlorenen Manuskriptes S. 418 — 420. — Die Geschichte von Fanchettens Fuß S. 420 — 427. — Ist die Geschichte der

durch ihn hervorgerufenen Leidenschaften S. 428.

2. Der „Paysan perverti" S. 428 — 453

Die Ausgaben S. 428 — 429. — Übersetzungen S. 429 — 430. — Das Wort „perverti" S. 430. — Die „Paysanne pervertie" und


— XXV


die adaptierte und kombinierte Ausgabe beider Romane S. 431.

— Der „Paysan" eine Konfession S. 431 — 432. — Auto- biographisches darin S. 432 — 433. — Sonstige realistische Be- standteile S. 433 — 434. — Thema S. 434—435. — Analyse des Romans S. 435 — 445. — Inhalt der „Paysanne" S. 445. — Gaudet d'Arras ein Übermensch S. 446. — La Harpes Urteil S. 446 — 447. — Grimm und Metra über den „Paysan" S. 447 — 448. — T i e c k s „William Lovell" eine Nachahmung des „Paysan" S. 448. — Hasslers Dissertation darüber S. 448 — 449. — Vergleichung beider Romane S. 449 — 453. —

Selbständige Züge im „William Lovell" S. 453.

3. Sittenstudien S. 454—480

Gewaltiger Umfang derselben S. 454. — Die „Vie de mon pere" S. 454. — Das schönste Buch R e t i f s S. 454 — 455. — Inhalt S. 455. — Die „Contemporaines" S. 455. — Ein gigan- tisches Zeitgemälde S. 455 — 456. — Realistische Schilderung der weiblichen Welt S. 456 — 457. — Alle Berufe und Stände darin vertreten S. 457. — Verzeichnis der 272 Novellen in den „Contemporaines" S. 457 — 467. — Mannigfaltigkeit der Frauen- typen, Charaktere und Situationen S. 467. — Stand der fran- zösischen Frauenbewegung nach den „Contemporaines" S. 468.

— Sujets einiger Novellen daraus S. 468 — 471. — Interessante Genrebilder S. 471. — Urteile über die „Contemporaines" S. 471.

— Die „Frangaises" und „Parisiennes" S. 472 — 473. — Die weib- liche Welt des „Palais Royal" S. 473 — 474. — Die „Provinciales" oder „Annee des Dames nationales" S. 475. — Das nächtliche Paris S. 475. — Kulturgeschichtliche Bedeutung der „Nuits de Paris" S. 476. — Die Marquise und Duhameauneuf S. 476 — 477. — Eine Szene aus den „Nuits de Paris" S. 477. — Inhaltsübersicht S. 478 — 485. — Die Geschichte des Philosophen Epimenides S. 480. — Die „Nuits" ein Vorbild von

E. S u e s „Mysteres de Paris" S. 480.

Dritter Abschnitt.

Der Reformator S. 481—515

Vierzehntes Kapitel S. 483 — 515

Die Reform der Gesellschaft.

1. Die Reformmanie S. 483 — 486

Die Idee des „vollkommenen" Menschen im 18. Jahrhundert S. 483. — Reformmanie in Frankreich S. 484. — R e t i f s Reformsucht schon in der Kindheit S. 484. — Die „Idees

singulieres" S. 485 — 486.

2. Der Mensch als Naturwesen S. 486 — 490

R e t i f s Optimismus auf Grundlage einer hylozoistisch- monistischen Weltanschauung S. 486. — Kosmologische An- sichten S. 486 — 487. — Allmähliche Entwickelung der organischen Formen S. 487. — Zwei phylogenetische Stammbäume des


XXVI


Menschen S. 487. — Das individuelle Bewußtsein als Produkt der Weltseele S. 487. — Unmöglichkeit einer persönlichen Un- sterblichkeit S. 488. — Folgerungen daraus für die praktische Lebensphilosophie S. 488 — 489. — Die Existenzbejahung und die Sehnsucht nach dem Wiederleben S. 489. — Parallele zwischen R e t i f und Nietzsche S. 489. — Das Glück der Natur und die Verderblichkeit der Kultur S. 489. — Die Ver- fälschung der Liebe durch die Kultur S. 489. — R e t i f s Polemik gegen die Puristen und Sittlichkeitsfanatiker S. 489 — 490. — Die wahre Moral S. 490.

3. Der Mensch als Gesellschaftswesen . . . . S. 490 — 500 Hedonistische Lebensphilosophie auf Grundlage des Altruismus S. 490 — 491. — Der Mensch als soziales Wesen S. 491. — Der Bauernstand das Fundament des Staates S. 491. — Retifs genaue Kenntnis des Bauernlebens S. 491. — Preis des patriarcha- lischen Lebens der Bauern und der Juden S. 492. — Deutsch als Muttersprache der Pariser Juden S. 492. — Die Ver- nichtung produktiven Bodens durch das Wachstum der Städte S. 492. — Haß gegen Adel und Geistlichkeit S. 493. — Die Kultur- gefährlichkeit des Priesteraberglaubens S. 493. — Stellung zur Arbeiterbewegung S. 493. — Kampf gegen den Despotismus derselben S. 494 — 495. — Vorzug des Bürgertums S. 495. — Das System des Kommunismus S. 495 — 496. — Der Ursprung des Eigentums S. 496. — • Schilderung eines kommunistischen Gemeinwesens S. 496 — 497. — R e t i f als Vorläufer F o u r i e r s S. 497 — 498. — Sein utopischer Roman „La decouverte australe" S. 498 — 500. — Die Idee des Übergangszustandes das Wesent- liche in Retifs Reformideen S. 500.

4. Die Frauenfrage und die Regelung der Pro- stitution S. 500—512

Die „Gynographes" S. 500 — 501. — Individuelle Erziehung der Mädchen S. 501. — Schutz vor Verführung S. 501. — Rassen- veredlung S. 501 — 502. — Die Frau als Sklavin des Mannes S. 502. — Ehe, Ehebruch und Ehescheidung S. 502 — 503. — R e t i f ein Gegner der Frauenemanzipation S. 503. — Die Reform der Prostitution S. 503 — 504. — Eine brennende Zeitfrage S. 504. — Versuche zur Lösung derselben vor R e t i f S. 504 — 505. — Der „Pornographe" S. 505 — 506. — Die Verbreitung und Aus- rottung der Syphilis S. 506. — Die Prostitution als etwas Natür- liches S. 506. — Die polygame Natur des Mannes S. 507. — Einführung polygamer Verhältnisse S. 507. — Der Wert der Liebeskunst für die Verminderung der Prostitution S. 507. — Die Reform der letzteren S. 508. — Das ,,Parthenion" als Staats- einrichtung S. 508. — Einrichtung und Lage desselben — Ein- trittsgelder S. 509. — Wohnungen der Prostituierten S. 509. — Besichtigung der letzteren S. 509. — Lebensweise und Schick- sale S. 510—511. — Die „milice parthenienne" S. 511. — Der Wert der Reinlichkeit S. 511. — Das phantastische Element im


— XXVII —

„Pornographe" S. 511. — Die Idealisierung der Prostituierten S. 511. — Das Verdienstliche des „Pornographe" S. 511. — Forderung einer Lokalisierung und ausgiebigen sanitären Kon- trolle der Prostitution S. 512.

5. Andere Reformpläne S. 512 — 515

,,La Mimographe" oder die Reform des Theaters S. 512. — R e t i f Vertreter des Realismus auf der Bühne S. 512 — 513. — Die Schauspielkunst als Darstellung des Lebens S. 5^3- — Die moralisierende Auffassung der Kunst S. 513. — Die Oper S. 513. — Die Banalität der Operntexte S. 513. — Die Oper als Venustempel S. 513—514- — Gegner des Musikdramas S. 514. — Vorzug der Prosa im Schauspiel vor dem Versdrama S. 514. — Lobredner des Bühnentanzes S. 514. — Wertschätzung Shake- speares S. 514. — Die Reform der Sprache („Glossographe") S. 514. — Idee einer Weltsprache S. 514. — Seltsame Ortho- graphie S. 515. — Retifs Wortschöpfungen S. 515. — Der „Thesmographe" S. 515.


— cf>>^-


Voici bien la figure la plns etrange qui se soit Jamals presentee sur le seuil d'une lilterature.

Mit diesen Worten beginnt Charles Monse- let seine kleine biographisch-literarische Skizze, die erste und eigentlich bisher einzige selbständige Mono- graphie, die über R^tif de la Bretonne ge- schrieben wurde.

Und in der Tat: seltsam ist das richtige Wort für ihn, für den Menschen sowohl, als auch für den Schriftsteller. Eine seltsame, erstaunliche, in ge- wissem Sinne ungeheuerliche Erscheinung war dieser Mann, der so gänzlich von dem Typus des Rokoko- menschen abweicht.

Wie der Marquis de Sa de, so wie ich ihn zu- letzt in meinen „Neuen Forschungen" geschildert habe, in seiner Person und in seinen Schriften alle Tendenzen, alle Strebungen der höheren Gesellschaft Frankreichs im i8. Jahrhundert zusammenfaßt, als äußerster Auswuchs der Korruption derselben er- scheint, so stellt sich uns in Retif de la Bretonne der Geist des Volkes gewissermaßen in einem ein- zigen Menschen verkörpert, lebendig geworden dar, dieses französischen Volkes, dem im .Grunde der Geist des Rokoko immer fremd und feindlich ge- blieben war, dessen unverdorbene, kräftige Instinkte selbst die gefährliche Berührung mit demselben sieg-

Dühren, Retif de la Bretonne. 1


reich überwanden, so daß der elementare Ausbruch einer gewaltigen Volkskraft ermöglicht wurde, wie ihn die erstaunte Mitwelt in den beiden Jahrzehnten der großen Revolution und der Napoleonischen Kriege erlebte.

Dem Aristokraten de Sa de läßt sich Rdtif de la Bretonne, der Mann des Volkes und der Schriftsteller des Volkes, gegenüberstellen. Wenn wir durch die Schriften des Marquis de S a d e einen furchtbaren Einblick in die Welt des Lasters, ge- nannt „Rokokogesellschaft", bekommen, so lehren uns Retifs zahllose Bücher Leben und Leiden, Tätigkeit und Sitten des eigentlichen Volkes, der Bauern, der Arbeiter und Bürger, kennen. Und er schrieb nicht nur über das Volk, er schrieb auch für das Volk. Man kann R6tif de la Bretonne mit Recht als den ersten französischen Schriftsteller bezeichnen, der den Versuch machte, den Geschmack an einer höheren literarischen Bildung und die Kenntnis der in den vornehmeren Kreisen zirku- lierenden Ideen und geistigen Strebungen unter der großen Masse des Volkes zu verbreiten. Er war der erste „peuple-auteur".

Wir werden später noch genauer die Bedeutung der Schriften Rdtifs für die Kenntnis des fran- zösischen Volkslebens im i8. Jahrhundert auf dem Lande und in den Städten zu würdigen haben, hier sei vor allem darauf hingewiesen, daß die Natur- schilderungen Retifs denjenigen Rousseaus gleichwertig wird. Für die Geschichte des Natur- gefühles im i8. Jahrhundert liefern z. B. der „Mon- sieur Nicolas" und die „Vie de mon p^re" die herr- lichsten Belegstücke.


Aber auch von allen denjenigen Ideen und Ten- denzen, die dem Frankreich des i8. Jahrhunderts eigentümlich waren und über die ich in der Ein- leitung zu meinen „Neuen Forschungen über den Marquis de Sade" einen Überblick gab, ließ sich dieser merkwürdige Geist durchdringen, er ver- arbeitete sie in der ihm eigenen originellen Weise. So entstanden seine zahlreichen barocken philo- sophisch-politischen und reformatorischen Schriften. R^tif als „Reformator" beansprucht ein ganzes Studium für sich.

Noch interessanter aber als der Schriftsteller und Reformator ist der Mensch R^tif, sein Leben und sein Lieben. Gerade die Betrachtung dieser merk- würdigen Persönlichkeit hat seit Schillers und Goethes Tagen viele hervorragende Schriftsteller gefesselt und interessante Versuche zur Lösung des schwierigen Charakterproblemes „R6tif" her- vorgerufen. In ihm vereinigten sich zeitlebens die primitivsten Instinkte des Volkes mit einem eigen- tümlich rastlosen Streben nach höherer Kultur. Jene natürlichen Instinkte aber erwiesen sich schließlich immer mächtiger als alle Elemente einer harmo- nischen Bildung, die R^tif in sich aufnahm, sie prägen daher seinem Leben und seinen Schriften den Charakter auf, sie erklären die sonderbare Dis- harmonie und das Bizarre im Wesen dieses Mannes, der es eben nicht fertig brachte, die Natur durch die Kultur zu überwinden, oder auch nur beide ins Gleichgewicht zu bringen.

Der Widerstreit zwischen den natürlichen Leiden- schaften und den Einflüssen und Forderungen einer durch die Kultur bestimmten höheren Lebens-

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auffassung begünstigte von jeher die Neigung zur Selbstbetrachtung, zur kritischen Analyse der eigenen oder auch einer fremden Persönlichkeit. Die Herr- schaft des theoretischen Geistes im i8. Jahrhundert kam besonders, wie ich dies schon in der Einleitung des oben genannten Buches näher ausgeführt habe, in den auf das Anthropologische, auf die Kenntnis des Menschen gerichteten Bildungsinter- essen zum Ausdruck. Das Studium des Menschen in individueller, sozialer und politischer Beziehung nahm einen mächtigen Aufschwung. Die Kon- struktion des „idealen Menschen", seine Schilde- rung in den „Staatsromanen", in den „Erziehungs- romanen", die unendliche Neugierde auf die „Persön- lichkeit" mit all ihren Fehlern, Schwächen und Lastern, wie sie namentlich in der geradezu un- geheuerlichen Skandal- und Klatschliteratur, den Korrespondenzen und der Memoirenliteratur des i8. Jahrhunderts zutage tritt, endlich vor allem die psychologische Selbstzergliederung in den Autobiographien und Memoiren bezeugen dieses intensive anthropologische Interesse im Zeitalter der Aufklärung.

• Die „Menschenkunde" ist ja auch für uns noch das Problem der Zukunft. Auch unsere Zeit dürstet nach der Kenntnis des Menschen, wie er wirklich,, seiner „Natur" nach ist, wie er diese Natur inner- halb der ihn umgebenden Verhältnisse zum Aus- druck bringt. Der Arzt, der Pädagoge, der Jurist und der Philosoph brauchen in gleichem Maße eine solche genaue Kenntnis des Menschen. Hier ist mehr als experimentelle Psychologie, die niemals den Zusammenhang, die innersten Beziehungen auf-


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decken kann, hier ist das wahre Leben selbst, der Mensch, wie er wirklich ist. Und mehr als je sind unsere modernen Diogenesse unterwegs, um diesen „Menschen" zu finden, dessen Entdeckung ihnen den archimedischen Punkt gibt, von dem aus sie die „Anthropologie" (im weitesten Sinne des Wortes) wissenschaftlich begründen können. Der Positivis- mus wird auf dem Gebiete der individuellen Menschenkunde und Charakterologie seine schönsten Triumphe feiern.

Dem i8. Jahrhundert gehören die Anfänge dieser Bestrebungen an, dem Geheimnis der menschlichen Individualität nahe zu kommen. Dilthey hat in seinen kostbaren „Beiträgen zum Studium der In- dividualität" (BerHn 1896) und in den „Ideen über eine beschreibende Psychologie" (1894) auf die Ur- sachen hingewiesen, aus denen im 18. Jahrhundert eine neue Auffassung des Menschen sich herausbildete. B u c k 1 e s und T a i n e s spätere Milieutheorien wurden bereits damals antizipiert, die Lehre von der physi- schen und sozialen Determination des menschlichen Einzelschicksals kam auf. Die Entwicklungs- geschichte eines Menschen inmitten aller dieselbe bestimmenden Einflüsse wurde Gegenstand der Be- trachtung, das menschliche Dasein gewann die Be- deutung eines naturgeschichtlichen Vorganges. So ist die höchste Auffassung der Biographie die als Natur- geschichte des Menschen. „Dieselbe ist in gewissem Verstände die am meisten philosophische Form der Historie, Der Mensch als die Urtatsache aller Ge- schichte bildet ihren Gegenstand. Indem sie das Singulare beschreibt, spiegelt sich doch in demselben das allgemeine Gesetz der Entwicklung." (Dilthey.)


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Auch Sören Kierkegaard weist an einer Stelle seines „Tagebuch des Verführers" auf die große allgemeine Bedeutung des menschlichen Einzel- lebens hin. Er meint, wenn man alles, was man er- lebte, genau aufschriebe, so würde man, ehe man es sich selber versähe, ein Philosoph. Wohl auch aus demselben Gedanken heraus, daß in der Auto- biographie so viele Geheimnisse des Menschen- daseins sich offenbaren, sagt Friedrich Hebbel: „Ich halte es für die größte Pflicht eines Menschen, der überhaupt schreibt, daß er Materialien zu seiner Biographie liefere. Hat er keine geistigen Ent- deckungen gemacht und keine Länder erobert, so hat er doch gewiß auf mannigfache Weise geirrt und seine Irrtümer sind der Menschheit ebenso wichtig wie des größten Mannes Wahrheiten." Endlich hören wir noch den Verfasser einer der berühmtesten Auto- biographien des i8. Jahrhunderts über den Wert solcher Selbstschilderungen für die Menschenkunde im allgemeinen. Vittorio Alfieri erklärt im An- fange seiner Autobiographie: „Ich beabsichtige, mich über viele jener Einzelzüge zu verbreiten, welche, richtig verstanden, zum Studium des Men- schen im allgemeinen beitragen können. Denn von diesem Gewächs können wir nicht besser die Ge- heimnisse irn einzelnen durchschauen, als indem jeder sich selbst beobachtet. So ist denn auf das Studium des Menschen im allgemeinen das Ziel dieses Werkes in erster Linie gerichtet."

Er entwickelt dann den echt philosophischen Ge- danken, daß wir nichts so intim kennen als uns selber, daß von nichts anderem also ein so tiefes Studium möglich ist.


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Was im i8. Jahrhundert noch ganz besonders Veranlassung gab zu der intensiven Beschäftigung mit dem eigenen Ich, das war jene Richtung auf das Gemütsleben, das Hervortreten der Gefühlsseite und dunkler Regungen des Seelenlebens, wie sie heute in dem Worte „Stimmung" zusammengefaßt werden, und damals vor allem in der „Sentimentalität" und einem tiefen Naturgefühl ihren hervorstechendsten Ausdruck fanden. Dieser Zustand empfindsamer Schwärmerei, einer dauernden Erregung des Crefühls- lebens förderte die Selbstbeobachtung und gab den Anreiz zu den den Autobiographien so nahestehen- den „psychologischen Romanen" wie Goethes „Werther" und K. Ph. Moritz' „Anton Reiser" und anderen, in denen sich die „enquete d'äme" auf eine neue und merkwürdige Weise offenbarte. Wir werden bei R^tif de la Bretonne gerade diese „sensibilitd" als treibendes Agens der Selbstbetrach- tung kennen lernen, ebenso wie sie in Rousseaus „Confessions" eine bedeutsame Rolle spielt.

Dieses starke Hervortreten der Gefühlsseite in der Selbstanalyse ist auch der eigentliche Grund, weshalb beide Schriftsteller, R^tif aber gewiß noch weit mehr als Rousseau, nicht nur in ihrer Lebens- beschreibung, sondern auch in ihren Romanen autobiographische Dokumente von größtem Werte geliefert haben. Ja, von Rötif kann man sagen, daß er eigentlich nichts „erdichtet", sondern alles „erlebt" hat. Das berühmte autobiographische Pro- gramm Rousseaus im Anfange der „Confessions": „Ich beginne ein Unternehmen, das bis heute bei- spiellos ist und keinen Nachahmer finden wird: ich wül meinen Mitmenschen einen Menschen in seiner


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ganzen Naturwahrheit zeigen, und dieser Mensch werde ich selber sein," hat Rdtif de la Bretonne vollkommen sich angeeignet, ja in der exakten Ausführung desselben den Schöpfer der modernen Autobiographie noch übertroffen, indem er Diltheys Forderungen, bei solcher Lebens- geschichte die Entwicklung des Körpers, die Ein- flüsse des physischen Milieu und die umgebende geistige Welt gleichmäßig zu berücksichtigen, durch- aus erfüllt hat.

Retifs ganzes Lebenswerk ist die Ge- schichte eines einzigen Menschen. Sein eigenes Ich steht im Mittelpunkt aller seiner geistigen Schöpfungen. Niemals wohl ist so viel Material zur Erforschung einer bestimmten Individualität zu- sammengetragen worden. Bis in die kleinsten Einzel- heiten, bis auf die feinsten Nuancen überliefert er uns die Geschichte seines geistigen und physischen Menschen, offenbart er peinlich genau die geheimsten Zusammenhänge seines Wesens. Gewiß ein bewunde- rungswürdiges Unternehmen! Und in allem mehr Wahrheit als Dichtung. So sehr sind alle seine Werke ein Bild seines Lebens und seiner Erlebnisse, daß, wie Paul Lacroix sehr treffend bemerkt, schon die bloße Bibliographie dieser Hunderte von Bänden uns den Menschen Retif vor Augen bringt.

Dieser erstaunliche Geist, nicht bloß „ein Talent, sondern beinahe ein Genie" (Monselet), lehrt uns zum ersten Male, was das Leben eines einzelnen Menschen für ihn selbst und für die Mitwelt bedeutet, lehrt uns die HeiHgkeit, die Größe der Individualität.


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Wie diese sich in seinem Leben und in seinen Schriften offenbart hat, wollen wir versuchen dar- zustellen, und die wesentlichen Züge im Men- schen, im Schriftsteller und im Reformator ent- wickeln.


Erster Abschnitt.

Der Mensch.


ErstesKapitel. Biographische Quellen.

Für die Darstellung der Lebensgeschichte von R^tif de la Bretonne stehen uns vor allem zwei Gattungen seiner Werke zu Gebote, erstens seine eigentlichen autobiographischen Schriften, die Tagebücher und der „Monsieur Nicolas" und zweitens die Romane und die dramatische Dichtung „Drame de la Vie". Die übrigen theatralischen Werke und die Reformschriften („Id^es singulieres") kommen als biographische Quellen nur wenig oder gar nicht in Betracht. Wenn wir hier kurz die hauptsäch- lichsten Schriften R^tifs, denen eine biographische Bedeutung zukommt, zusammenstellen, so legen wir natürlich den größten Wert auf die eigentlichen Auto- biographien und berücksichtigen die übrigen Werke nur insofern, als sie ergänzendes Material liefern.

I. Tagebücher und Steininschriften. Früh schon begann Retif de la Bretonne, besondere Erlebnisse, Eindrücke, Stimmungen, Ein- fälle und Gedanken für sich aufzuzeichnen, und aus diesen täglichen Niederschriften verschiedene Tage- bücher zusammenzustellen.


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Der Ursprung des ersten Tagebuches war ein poetischer. Als R6tif noch Druckerlehrling in Auxerre war, suchte er sich bei den hübschen Mädchen durch Gedichjte einzuschmeicheln, die er sorgfältig in kleine Hefte eintrug und ihnen heim- lich zusteckte. Das erste dieser Hefte stammt aus dem Jahre 1752 und hatte den Titel:

„Nicolai, Edmundini Annae Augustini Restifii Saxiacensis carmina quae cecinit in vitae suae in- fortuniis. Primus codex, anno 1752."

Nur die Gedichte in diesen Heften sind fran- zösisch, die begleitende Prosa ist in lateinischer Sprache abgefaßt. Diese Eigentümlichkeit hat R 6 1 i f in vielen späteren Schriften beibehalten, wo er sehr häufig die intimeren Erlebnisse, Liebesabenteuer, sentimentale Betrachtungen und anderes lateinisch wiedergibt.

Diese ersten Aufzeichnungen aus der Lehrlingszeit nannte R6tif seine „Cahiers d'apprentissage" oder auch „Codices" und „Memoranda". Sie reichen bis zum Jahre 1754 und haben ihm das Material füi: die Darstellung in den ersten Büchern des „Monsieur Nicolas" geliefert. Gerührt ruft er bei ihrer späteren Lektüre aus: „Da sind sie, diese alten Hefte, die alle meine Gedanken vor 40 oder 45 Jahren treu bewahrt haben, die nur für mich abgefaßt wurden, aber nicht, um andere zu täuschen. Ich verbarg sie vor aller Welt." Er las sie später oft wieder und machte dabei neue Randbemerkungen. So schrieb er 1763 beim Anblick seiner ersten Verse an den Rand: „O glückliche Zeit, wohin bist du entschwunden? Göttliche Trunkenheit der Jugend, nie kehrst du wieder 1"


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In Paris setzte R^tif diese „Memoranda" fort und legte sich Hefte an, denen er besondere Namen gab, ähnlich wie Schopenhauer seine Tagebücher verschieden bezeichnete (z. B. „Senilia", „Cogitata", „Reisebuch"). Aus den Titeln der meisten ersieht man, daß jedes Tagebuch bestimmten Lebensereig- nissen und Lebensbeziehungen gewidmet war. Sie alle Heferten die Grundlage für die Darstellung im „Monsieur Nicolas". R 6 1 i f zählt sie im ersten Bande dieses Werkes (S. 43 6d. Liseux) auf : Mesaffaires, Mes maladies, Ma physique, Ma morale et madoctrine, Mapolitique, Moncalendrier, Mes Contemporains, Mes Dates. Es waren also nach den Titeln Tagebücher über seine ge- schäftlichen Angelegenheiten, sein körperliches Be- finden, seine Natur- und Weltanschauung (physique), seine Morallehre, seine politischen Ansichten, seine Liebesabenteuer (calendrier), Urteile über Zeit- genossen und endlich besonders interessante tägliche Erlebnisse (Dates), denen dann noch ein neuer- dings von Funck-Brentano aufgefundenes Tage- buch „Memento", das ausschließlich Betrach- tungen über die eigenen Schriften enthält, hinzu- gefügt werden muß.

Der Inhalt dieser Tagebücher ist in sämtliche Schriften R6tifs übergegangen. Sie bilden den Grundstock, die Vorarbeit zu diesen. Sie selbst aber wiederum beruhen wenigstens zu einem Teil auf einer anderen sehr merkwürdigen Art von Aufzeichnungen, die uns schon gleich hier im Anfange den Sonderling R^tif kennen lehrt. Er hatte nämlich bei seinen täglichen Spaziergängen auf den Quais der Seineinsel Saint-Louis die seltsame


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Gewohnheit, besonders wichtige Erlebnisse und Ge- danken in die Steine der Seinegeländer einzukritzeln. Unter welchen Umständen und auf welche Weise dies geschah, erzählt er selbst sehr anschaulich in seinem Tagebuche „Mes Dates" (Mes Inscripcions ^d. Göttin S. 4) unter dem i. Januar 1780: „An diesem Tage machte ich in leidendem Zustande einen Spa- ziergang um die Insel, als mir plötzlich der Gedanke kam: Wie viele Menschen erleben wohl noch den Anfang dieses Jahres, aber nicht mehr sein Ende? Werde ich zu diesen Unglücklichen gehören? Ganz erfüllt von diesem Gedanken nahm ich meinen Schlüssel und grub damit in den Stein, am Eingang des ersten der beiden kleinen Gärten, die man sieht, wenn man vom Pont-rouge über den Quai d'Orleans kommt, die Worte ein: ,iO Anni 1780'."

Später bediente er sich statt eines Schlüssels eines nur für diesen Zweck angefertigten eisernen Griffels, den er übrigens auch dazu benutzte, um nächtlicher- weile die verschlossenen Tore des Tuileriengartens zu öffnen (cf. „Les Nuits de Paris" Bd. XVI S. 334). Die ersten Steininschriften dieser Art stammen aus dem Jahre 1776, erst seit 1780, seit Beginn des Liebesverhältnisses mit Sara Deb^e, wurden sie zu einem förmlichen Tagebuche, gewiß dem sonder- barsten Tagebuch, das jemals geführt worden ist, da jede dieser täglichen Inschriften zugleich eine Veröffentlichung war. Sie wurden systematisch bis zum November 1785 aufgezeichnet. Als er dann eines Tages sah, daß eine böswillige Hand sie zu zer- stören versuchte, kopierte er sie sämtlich in dem Tagebuche „Mes Dates" (Mes Inscripcions), dessen §§ I — 551 2,uf ihnen beruhen.


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Natürlich hat sich von diesen Steininschriften nichts bis auf den heutigen Tag erhalten, da erstens die hierzu benutzten Instrumente keine sehr tiefe Ein- grabung der Worte ermöglichten und zweitens seit jener Zeit die Steine sehr oft gewechselt worden sind. Schon Monselet, der Anfang der fünfziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts auf der Ile St. Louis nach diesen Inschriften suchte, konnte nichts mehr von ihnen finden, mit einer einzigen Ausnahme. Auf einem Steine gegenüber dem Hause Quai d'Orleans No. 38 entdeckte er die etwas tiefer eingegrabenen Worte: „Navare, Februar 1793", die ohne Zweifel von R^tifs Hand herrühren, weil die Orthographie des Wortes „Navare" (statt des gewöhnlichen „Na- varre") für ihn charakteristisch ist.

Während also diese Steininschriften spurlos ver- schwunden sind, hat man neuerdings von den eigent- lichen Tagebüchern mehrere im Originalmanu- skript wieder aufgefunden. Das wertvollste ist das- jenige der„Dates'* oder „Inscripcions", das von Paul Göttin unter den in der Bibliothek des Arsenals aufbewahrten Papieren des alten Archivs der Bastille entdeckt wurde. Da R^tif seine Manuskripte aus Furcht vor Diebstahl oder anderen bösen Zufällen stets außerhalb seiner Wohnung bei Buchhändlern, Druckern oder auch Privatleuten unterbrachte, so ist das erwähnte Manuskript wahrscheinlich bei Ge- legenheit einer polizeilichen Haussuchung beschlag- nahmt und wie gewöhnlich in solchen Fällen dem Archiv der Bastille einverleibt worden. Das Manu- skript besteht aus 56 Quartblättern von sehr grobem Papier, paginiert S. 972—1028; der Text enthält 1164 Paragraphen, ist sehr unleserlich geschrieben, mit

Dähren, Reiif de la Bretonne. 2


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vielen Abkürzungen, so daß die Herausgabe eine sehr schwierige war. Auf der ersten Seite stehen die Worte: „VII, Mes Inscripcions".

R6tif selbst gibt im „Monsieur Nicolas", an der Stelle, wo er den Inhalt seines Tagebuches „Mes maladies" kurz wiederholt hat (M. N. XI, 193 — 206), kurze Auskunft über die „Inscripcions" : „Nach dieser Mitteilung über „Meine Krankheiten" wäre es an- gemessen, über das Tagebuch „Mes Affaires'* zu berichten. Aber der Inhalt ist durch den Verlauf meiner Lebensgeschichte zur Genüge bekannt ge- worden. Was meine „Inscripcions" oder „Dates" betrifft, die ich hier einschalten wollte, so würden sie vielleicht manche interessiert haben, aber mein Werk ist schon zu umfangreich. Übrigens haben diese „Niederschriften" oder „Daten" allen den von mir angegebenen Einzelheiten zur Grundlage gedient.'^

In Wahrheit war es, wie Göttin nachweist, Geldmangel und der schlechte Absatz der letzten Eände des '„Monsieur Nicolas", der Rdtif an der Drucklegung der Tagebücher hinderte. Er mußte sich also auf Auszüge aus den Tagebüchern „Mes maladies*^ (M.N.XI) und „Mes affaires" (M.N.XIV) und „Mes Contemporains" (M. N. VIII) beschrän- ken und die umfangreichen „Inscripcions" ganz un- veröffentlicht lassen, obgleich er sie als die wich- tigste Ergänzung des „Monsieur Nicolas" betrachtete und von ihnen sagte, daß sie besser als die be- redtesten Schilderungen den Zustand seines Herzens offenbarten.

Das von Paul Göttin aufgefundene und ver- öffentlichte Manuskript der „Inscripcions" (Paris


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1889) scheint nicht ganz vollständig zu sein. Es reicht von Anfang 1780 bis zum 19. August 1787, während wir wissen, daß R6tif auch noch später ein Tage- buch dieser Art führte. Jedenfalls bilden die In- scripcions" nicht nur eine wichtige Ergänzung des „Monsieur Nicolas", sondern besitzen auch insofern einen großen Wert, als sie uns ermöglichen, die Authentizität des letzteren Werkes zu prüfen (s. unten).

Dem Manuskript der „Inscripcions" lagen zwei Blätter einer anderen Aufzeichnung R6 tif s bei (pagi- niert 1202 bis 1203), nämlich des „Grand etat de mes affaires", des Berichtes über die Schicksale seiner Manuskripte, Bücher und deren buchhänd- lerischen Vertrieb. Göttin hat sie auf S. 316 — 322 seiner Ausgabe der „Inscripcions" reproduziert.

Endlich hat Franz Funck-Brentano, der bekannte Monograph der Halsbandaffäre, im Archiv der Bastille ein Tagebuchmanuskript R^tifs ent- deckt, das Gott in als „Memento" bezeichnet. Es ist ein kleines Bändchen von 142 ungleich großen Blättern, die in einen kalbsledernen Deckel ziemlich lose eingeheftet sind. Es enthält Reflexionen, galante Gedichte, Auszüge aus der „Annde litteraire", aus „Zaire", Gedanken für den „Pied de Fanchette", für die „Nuits de Paris", den „Monsieur Nicolas", die „Physique", den „Glossographe" usw., außerdem auch Notizen über tägliche Beschäftigungen, Erleb- nisse, neue Konzeptionen usw. aus den Jahren 1787 bis 1788, die zum Teil von Gottin (a. a. O. S. 323 bis 327) veröffentlicht worden sind.


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2. Briefe.


Wie den Inhalt seiner Tagebücher, so hat R6- tifdelaBretonne auch vielfach denjenigen seiner Korrespondenz in seine Werke hineinverarbeitet. So führt PaulLacroixals zwei wichtige biographische Quellen an (Bibliographie et Iconographie de tous les ouvrages de Restif de la Bretonne, Paris 1875, S. XV) :

1. „Correspondance originale de Restif, avec ses parents, ses amis, et diff^rentes personnes, jusqu'en 1788."

Diese etwa 200 bis 250 Briefe umfassende Korre- spondenz ist im zweiten und dritten Bande der „Prä- vention nationale" abgedruckt, ferner in der zweiten Ausgabe der „Contemporaines" am Ende der Bände XIX bis XLII.

2. „Correspondance de Grimod de la Reynifere, avec Restif, en 1787— 1791."

Man findet Briefe von Grimod de la Rey- nifere an R^tif in der zweiten Auflage der „Con- temporaines" und auf Seite 1258 — 1396 des „Drame de la Vie", letztere aus der Zeit seines Exils in Domfevre (Lothringen), seiner Schweizerreise und seines Aufenthalts im nördlichen Frankreich bis zum Bruche mit dem alten Freunde.

3. Neuerdings ist', La er o ix und Göttin un- bekannt, eine Sammlung von 1 5 interessanten Briefen R^tifs aus den Jahren 1797 und 1798 bekannt ge- worden und von einem Anonymus veröffentlicht worden :

„Lettres in^dites deRestif deLabretone pour faire suite ä la collection de ses


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Oeuvres. Imprim^ ä Nantes chez Vincent Forest et Emile Grimaud. 1883." (8°, 66 Seiten und Porträt.)

Diese Briefe reichen vom 25. ventose an V (15. März 1797) bis zum Anfang des Jahres VII (Ende November oder Anfang Dezember 1798) und sind an den Kaufmann und Beamten der Militär- intendantur in Grenoble Fontaine und dessen Gattin gerichtet. Sie enthalten wertvolles Material zur Geschichte der letzten Lebensjahre Rdtifs.

3. Der „Monsieur Nicolas",

Die Hauptquelle für die Lebensgeschichte R6- tifs ist seine berühmte Autobiographie, die unter dem Titel:

„Monsieur Nicolas ou le Coeur humain d^voile. Publik par lui-meme", in den Jahren '79 4 — 1797 in 16 Bänden erschien, ein Werk, einzig in seiner Art, ein bisher unübertroffener Ver- such, in das Dunkel des eigenen Lebens vermittelst der genauesten Beschreibung desselben einzudringen, nicht durch geniale Konzeption, sondern durch die sorgfältigste Verknüpfung der einzelnen psychologi- schen Momente den Leitfaden, das Thema dieses merkwürdigen Lebens aufziiifinden. Sua cuique vita obscura est. Jedemlst sein Leben dun- kell So sagt R6tif am Ende der Einleitung zum „Monsieur Nicolas". Das ist aber keine Resignation, darin liegt für ihn der Antrieb, das Dunkle zu er- leuchten, das Geheimnis des eigenen Daseins zu ent- hüllen („le coeur humain d^voile"). So entstand eine der wunderbarsten Autobiographien, ein Riesen-


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werk, das in bezug auf Wahrhaftigkeit, auf exakte Menschenkunde, geschöpft aus der Dar- stellung des eigenen Ich, seinesgleichen nicht hat und darin vor allen anderen berühmten Auto- biographien, die wir kennen, den Vorrang behauptet. Die höchste, schon von uralter griechischer Weis- heit gepredigte Aufgabe des Menschen, sich selbst zu erkennen, ist hier in einziger, bewunderungs- würdiger Weise gelöst worden. Wer den „Monsieur Nicolas" gelesen hat, der kennt den Menschen R^tif de la Bretonne durch und durch, der hat aber auch zugleich über Wesen und Natur des Men- schen überhaupt die bedeutsamsten Aufschlüsse be- kommen, Ce n'est pas ma vie que je fais, c'est l'histoired'unhomme (Monsieur Nicolas, I, 24).

Um den „Monsieur Nicolas" richtig zu würdigen, muß man nur Mensch sein, nichts anderes, man muß dieses Leben hinnehmen als ein kostbares „document humain" und sich dabei an Goethes herrliche Worte über die ^,Geschichte des Fräuleins von Sternheim" der Sophie La Roche erinnern: „Allein alle die Herren irren sich, wenn sie glauben, sie beurteilen ein Buch — es ist eine Menschenseele; und wir wissen nicht, ob diese vor das Forum der großen Welt, des Ästhetikers, des Zeloten und des Kritikers gehört."

Das Leben selbst ist jenseits aller Kritik. Diese Meinung haben schon unsere großen Geister aus der klassischen Periode, die Zeitgenossen R^tifs, auch in bezug auf sein Werk ausgesprochen. Wil- helm von Humboldt, der besonders in einem Briefe an Goethe, datiert Paris, 18. März 1799, auf R^tif zu sprechen kam, erklärte den „Monsieur


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Nicolaus" für das wahrste und lebendigste Buch, das jemals existiert habe. Man sehe und höre einen Menschen darin. Das Buch sei lautere Wahrheit. An dieses Urteil knüpft Wilhelm von Humboldt die sehr feine psychologische Bemerkung, daß der- jenige, der diese Autobiographie nicht gelesen habe, niemals den französischen Charakter verstehen werde.

Bekannter noch ist das Urteil Schillers über den „Monsieur Nicolas" in seinem Briefe an Goethe vom 2. Januar 1798 (Ausgabe von Philipp Stein, Bd. II, S. 219):

„Haben Sie vielleicht das seltsame Buch von Retif: Coeur humain d6voil6 je gesehen oder davon gehört? Ich hab es nun gelesen, soweit es da ist, und ungeachtet alles widerwärtigen, platten und revoltanten mich sehr daran ergetzt. Denn eine so heftig-sinnliche Natur ist mir nicht vorgekommen und die Mannichfaltigkeit der Gestalten, besonders weiblicher, durch die man geführt wird, das Leben und die Gegenwart der Beschreibung, das Charakte- ristische der Sitten und die Darstellung des fran- zösischen Wesens in einer gewissen Volksklasse muß^ interessieren. Mir, der so wenig Gelegenheit hat, von außen zu schöpfen und die Menschen im Leben zu studieren, hat ein solches Buch, in welche Klasse ich auch den Cellini rechne, einen unschätzbaren Wert."

Dieses von Schiller konstatierte „Leben", diese „Gegenwart" war die Hauptabsicht R^tifs bei der Abfassung. Wir müssen daran festhalten, daß- ihm weniger um Selbstbekenntnisse im Sinne Rousseaus, um die Erzählung galanter Abenteuer nach Art des Casanova zu tun war, als um die


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Darstellung eines Menschen als Naturwesens und seiner Beziehungen zur Umgebung und zur Kultur seiner Zeit. Deshalb erklärt er auf S. 2834 der ersten Ausgabe des „Monsieur Nicolas" : „Ich stelle dar, was vor mir niemand, selbst J. J. Rousseau nicht, dargestellt hat: das vollständige Leben eines Men- schen. Es handelt sich nicht um eine hübsche Plauderei nacK Art der Marmontel, Gorgy, La Harpe, d'Alembert, Louvet, sondern um ein nützliches Werk, eine Ergänzung zu Buffons Naturgeschichte, zu Montesquieus Geist der Gesetze und zum Montaigne."

Die Hauptfrage ist die: Haben wir hier das wirkliche Leben eines Menschen vor uns, bietet der „Monsieur Nicolas" mehr Wahrheit als Dich- tung?

Neuerdings hat Dr. Hans Glagau in seiner gediegenen Schrift „Die moderne Selbstbiographie als historische Quelle" (Marburg 1903) die Frage nach dem romanhaften Elemente in einigen be- rühmten Autobiographien des 18. Jahrhunderts genau untersucht und kommt nach Betrachtung von Rousseaus „Bekenntnissen", K. Ph. Moritz' „Anton Reiser", Goethes „Bekenntnissen einer schönen Seele", der Selbstbiographie der Frau Roland zu dem Ergebnis, daß die moderne Auto- biographie eine Tochter des psychologischen Romans sei, und daß neben dem hervorstechenderen psycho- logisch-individualistischen Grundzuge dieser roman- hafte Faktor ebenfalls nachweisbar sei. Als das merkwürdigste Anzeichen dieser engen Wesens- verwandtschaft zwischen dem psychologischen Ro- man und der Selbstbiographie führt Glagau u. a.


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die Neigung Rousseaus an, schon in seine Romane, in die „Heloise" wie in den „Emile" in- time persönliche Erlebnisse wie z. B. sein Liebes- verhältnis zur Gräfin Houdetot einzuflechten, so daß seine Romane gewissermaßen Vorstudien zu den späteren „Bekenntnissen" enthalten. Wir wissen, daß R6tif de la Bretonne in dieser Beziehung noch weiter gegangen ist, daß er nicht nur Episoden seines eigenen Lebens, sondern dieses selbst in Roman- form dargestellt hat, wofür der „Paysan perverti" das wichtigste Beispiel ist.

Wenn man aber seine eigentliche Autobio- graphie, den „Monsieur Nicolas", mit den „Con- fessions" des Rousseau in bezug auf Glaubwürdig- keit und exakte Wiedergabe der Erlebnisse ver- gleicht, so ist die größere Wahrheit ganz ohne Zweifel bei Retif. Wenn neuerdings Haß 1er („Ludwig Tiecks Jugendroman William Lovell und der Paysan perverti des R^tif de la Bretonne", Greifswald 1902 S. 118) dem R6tif auch im „Monsieur Nicolas" einige wahrheitswidrige Angaben nachweist und ihn bisweilen in den Spuren von Augustinus und Rousseau wandeln läßt, die beide die Pose lieben und um ihretwillen sich Korrekturen der Wahrheit gestatten, so steht doch, wenn man von diesen Einzelheiten absieht und den „M. N." als Ganzes betrachtet, derselbe als Darstellung des wirklichen Lebens weit über Rousseaus „Confessions". Hier- für spricht schon ohne weiteres der Umstand, daß Rousseau fast seine ganzen „Bekenntnisse" ohne genauere Anhaltspunkte aus dem Gedächtnisse niederschrieb, während Retif für seine Autobio- graphie seine Tagebücher und sonstigen Aufzeich-


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nungen benutzte. Schon Lacroix erklärte 1875, ohne diese Tagebücher zu kennen, den „Monsieur Nicolas" wenigstens als exakte „anatomie morale du coeur humain" für bedeutender als die „Confessions". Später konnte dann C ottin durch die Herausgabe der „Inscripcions" den Nachweis erbringen, daß der „Monsieur Nicolas", so unglaublich und roman- haft auch manche Partien desselben erscheinen, doch durchweg die authentische Lebens- geschichte eines ganzen Menschen ent- hält. Im einzelnen hat C Ott in das durch zahl- reiche Vergleichungen von Tagebuchstellen mit den entsprechenden Angaben im „Monsieur Nicolas" er- wiesen.

Wir dürfen also R e t i f vollen Glauben schenken, wenn er selbst über die Authentizität seiner Selbst- biographie sagt: „Ich zeige mich hier ohne Schleier; ich bin der „Monsieur Nicolas", ich werde nichts verschweigen, ich werde den gewöhnlichen Menschen sezieren wie J. J. Rousseau den großen Menschen seziert hat, aber ich werde ihn nicht sklavisch nach- ahmen, da ich von ihm nicht die Idee zu diesem Werke empfing, sondern sie selbständig faßte . . * Ich benutze bei der Abfassung zwei Hilfsmittel, die fast allen anderen Menschen fehlen, meine Tagebücher, die bis zum Jahre 1749 zurück- gehen, und Briefe an Freunde beiderlei Ge- schlechts . . . Ich habe nicht nötig, etwas zu erfinden. Mein Leben war voll interessanter Ereig- nisse, weil ich mich immer von drei Lastern fern- hielt, die andere Menschen zugrunde richten, von der Unmäßigkeit im Essen und Trinken, vom Spiel und der Faulheit. All meine Zeit gehörte der Arbeit


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und der edelsten aller Leidenschaften, der einzig und wahrhaft interessanten, der Liebe... Auch lege ich keine „Bekenntnisse" ab, sondern ich ent- hülle die Geheimnisse des menschlichen Herzens. Nikolaus soll verschwinden, damit der Mensch allein übrig bleibe I . . . Ich gebe euch hier ein naturgeschichtliches Werk, das mehr wert ist als Buffon, ein philosophisches Buch, das mich neben Rousseau, Voltaire, Montesquieu stellt, ich werde das Leben eines natürlichen Menschen er- zählen, der nur die Lüge fürchtet und überlasse der Zukunft dieses Vorbild. Seine Nachahmung ist schwierig . . . Indem ich niederschreibe, was ich ge- tan habe, und Rechenschaft gebe über meine Ge- fühle und sehr genau meine Motive darlege, mich sozusagen selbst seziere, werde ich vielleicht durch diese schmerzliche Anatomie meines Ich meinem Volke das nützlichste aller Bücher schenken, mein Jahrhundert aufklären, der Nachwelt nützen, die viel- leicht nicht einen einzigen so mutvoll wahrhaftigen Menschen wieder hervorbringen wird." (M. N. I, 27, 22, 24, 27, 28.)

Der „Monsieur Nicolas" erschien in den Jahren 1794 — 1797 in 16 Bänden, die ersten acht in einer Auflage von 450, die zweiten in einer solchen von 250 Exemplaren. Die Lebensgeschichte wird in ein- zelne „Epochen" eingeteilt. Hiemach umfaßt Bd. I die Jahre 1734 — 1746 (i. Epoche), Bd. II 1746 bis 1749 (2. Epoche), Bd. III 1749 — 1751 (3. Epoche) und 175 1 — 1753 (Beginn der 4. Epoche, die den Titel: „Meine Lehrzeit. Madame Parangon hat und im ganzen die Jahre 175 1 — 1755 umfaßt), Bd. IV 1752— 1754 (4. Epoche), Bd. V 1753— 1755


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(4. Epoche), Bd. VI. das Jahr 1755 (4. Epoche), Bd. VII 1755 (4- Epoche) und 1755— 1758 (5. Epoche: „Mein zweiter Aufenthalt in Paris, oder meine Gesellenzeit"), Bd. VIII 1758— 1759 (5. Epoche), Bd. IX, 1759— 1765 (6. Epoche) und 1765— 1766 (7. Epoche: „Ich werde Schrift- steller", umfaßt die Jahre 1765— 1775), Bd. X 1767 bis 1775 (7. Epoche) und 1775— 1785 (8. Epoche: „Der Paysan perverti und seine Folgen 1775 bis 1785"), Bd. XI 1775— 1785 (8. Epoche) und 1785— 1797 (9. Epoche) und 1797 (10. Epoche: „Meine letzten Schmerzen und mein nahes Ende"), Bd. XII (enthält die „Histoire de Sara"), Bd. XIII („Mon Calendrier"), Bd. XIV „Ma morale et ma religion"), Bd. XV („Ma poli- tique"), Bd. XVI („Mes Ouvrages").

Diese sehr selten gewordene erste Ausgabe diente dem bekannten Pariser Verleger Isidore Liseux als Grundlage für seine im Jahre 1883 veranstaltete 'Neuausgabe des „Monsieur Nicolas" in 14 Bänden, da zwei Bände, nämhch Bd. XIV und XV, der ersten Ausgabe nicht wieder reproduziert wurden. Die Liseuxsche Ausgabe enthält also Bd. I bis XII (die „Epoques"), Bd. XIII (den „Calendrier") und Bd. XVI (das Verzeichnis und die kurze Analyse der Werke) des ersten Druckes.

Nach dieser also bereits verkürzten Liseux- schen Ausgabe wird neuerdings eine noch mehr verkürzte und verstümmelte deutsche Übersetzung in sechs Bänden veranstaltet, von denen bereits zwei unter dem Titel: „R6tif de la Bretonne. Monsieur Nicolas. Das enthüllte Menschen- herz. Deutsch von Julius Nestler und Bd. II


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von Arthur Schurig" (Siena und Berlin, Verlag von Julius Eichenberg, 1905) erschienen sind und bei Übersetzung einzelner Stellen benutzt werden konnten.

Nicht zu verwechseln mit der eigentlichen Autobiographie, dem „Monsieur Nicolas", ist die 1796 erschienene „Philosophie de Monsieur Nico- las, Par l'auteur de Coeur-humain-d^voil6" (drei Teile), ein Expos^ der naturphilosophischen und kos- mologischen Anschauungen R^tifs, dem sogar das philosophische Deutschland die Ehre der Über- setzung zuteil werden ließ (Res tif de laBretonne, Philosophisches System der gesamten Physik, oder die Philosophie des Nicolas, Glogau, Günther d. J. 1801 — 1804).

4. Autobiographisches in anderen Schriften.

Es wurde schon wiederholt darauf hingewiesen, daß fast alle Schriften R ^ t i f s , vor allem die Romane autobiographische Bedeutung besitzen, daß sie alle, wie er selbst sich ausdrückt, „un fonds vrai" haben. Im Beginne der Übersicht über diese seine Schriften, in dem „Mes ouvrages" betitelten Bande des „Mon- sieur Nicolas" (^d. Liseux Bd. XIV, S. 3) gibt er die Erklärung ab: „Nachdem ich alles mitgeteilt habe, was mir im Leben begegnet ist, und die Ge- schichte meines Körpers, meiner Seele und meines Herzens erzählt habe, bleibt mir noch diejenige meines Geistes zu erzählen übrig. Ich will an dieser Stelle über den Ursprung, das Motiv meiner Schriften berichten. Diese Werke sind bedeutungsvoller als man denkt, sie enthalten alle eine Geschichte des


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menschlichen Herzens, die absolut wahr ist." Er hebt dann im einzelnen bei jedem Werke den Anteil hervor, den seine eigenen Lebenserfahrungen daran haben, das, was er aus seinem eignen Leben hinein- verwebt hat, und er legt den größten Wert auf diese der Wirklichkeit und dem eignen Leben ent- nommenen „Grundlagen" (bases) seiner Romane (cf. M. N. XIV, S. i).

An dieser Stelle wollen wir nur diejenigen Schriften, die den größten autobiographischen Wert besitzen, zusammenstellen. Da kommt vor allem das von Retif selbst als Ergänzung des „Monsieur Nicolas" bezeichnete, aber schon vor diesem erschienene „Drame de la Vie" (Paris 1793, 5 Bände) in Betracht, ein Stück in „13 actes des ombres et en 10 pi^ces reguli^res", wohl das selt- samste Drama, das es je gegeben hat. Es ist eine Darstellung seines eignen Lebens. In einem Briefe an Fontaine vom 5. November 1797 sagt Rdtif von diesem Stücke: „Das Drame de la Vie" ist eine Art von Supplement zum „Coeur humain devoile". Diese fünf Bände enthalten einige in dem großen Werke vergessene Tatsachen, genauere Einzelheiten der Entwicklung, die in der Lebensgeschichte keinen Platz fanden, oder endlich Umstände, die mir erst später bekannt wurden" (Lettres inedites S. ^7). In der Vorrede bezeichnet er das „Drame de laVie" als die Skizze zum „Monsieur Nicolas". Das „Drame de la Vie", eine der größten literarischen Selten- heiten, enthält sehr kühne Szenen aus dem Liebes- leben Retif s, wie schon aus den Titeln der zehn Ab- teilungen hervorgeht: I. Madame Parangon; IL Z^phire; III. Agn^s, Adelaide; IV. Rose,


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Eugönie; V. £lise; VI. Louise, Ther^se; VII. Virginie; VIII. Sara; IX. F61icitette; X. Filette.

Auch zum „Paysan perverti" hat diese dramati- sierte Autobiographie innige Beziehungen, wie H a ß - 1er in seiner oben erwähnten Dissertation (S. 92 bis 97) im einzelnen nachweist.

Daß das nächst dem „Monsieur Nicolas" be- rühmteste Buch R^tifs, der „Paysan perverti" (Erste Ausgabe 1775) und seine Ergänzung, die „Paysanne pervertie" (1783) nichts anderes sind als romanhaft umgestaltete Schilderungen aus dem eigenen Leben des Verfassers, ist ja allgemein be- kannt und neuerdings von Haß 1er in seiner Disser- tation sehr eingehend dargetan worden. Da wir im zweiten Abschnitt den „Paysan perverti" näher be- trachten, begnügen wir uns hier mit dieser kurzen Andeutung.

Eine vollständige Autobiographie liegt in dem Romane „La derni^re avanture d'un homme de quarante-cinq ans" (Genf u. Paris 1783, 2 Bde.) vor, dessen Entstehung zugleich in sehr interessanter Weise die Arbeitsmethode R^tifs be- leuchtet. Er behandelt die ersten drei Jahre des Liebesverhältnisses mit Sara Debee und ist voll- ständig in dem 12. Bande des „Monsieur Nicolas" wiederholt worden. Über die Niederschrift sagt R6tif : „Ich verfaßte die Geschichte unmittelbar im Anschlüsse an die Ereignisse, so daß sie beinahe den Eindruck eines Tagebuches macht" (M. N. XIV, S. 152). Schon unmittelbar nach Er- scheinen wies der Abbe de Fontenay in den „Affiches de Province" vom 12. April 1783 auf den


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großen Wahrheitsgehalt des Romanes hin und er- klärte ihn für ein Produkt der eigenen Erlebnisse des Verfassers, wie auch die darin mitgeteilten Briefe nur wirklich so geschriebene sein könnten.

- Auch die i6 Bände der „Nuits de Paris" (Paris 1788 — 1794) enthalten sehr viel autobiographi- sches Material. Es ist gewissermaßen ein „abend- liches Tagebuch", das Verzeichnis der nächtlichen Erlebnisse, Beobachtungen und Betrachtungen R^- tifs während eines Zeitraumes von 20 Jahren. Be- sonders wichtig sind die enorm seltenen Bde. XV und XVI, die ein vollständiges Tagebuch über R^tifs Erlebnisse während der Revo- lution enthalten und die Zeit vom 23. April 1789 bis zum 31. Oktober 1793 umfassen.

Wir begnügen uns mit der Aufzählung der ge- nannten für die Biographie R^tifs wichtigen Schriften, aber auch in allen übrigen Romanen, vom ersten, der„Famille vertueuse" (1767), bis zum letzten, der „Histoire des compagnes ,de Maria" (posthum, Paris 181 1), finden sich unzählige autobiographische Details. Wo man sie aufschlägt, findet man neue überraschende Gesichtspunkte für die Beurteilung dieses merkwürdigen Menschen. Und gerade diese so vielfältige, in tausend Schattierungen sich gebende Erscheinung eines einzigen Menschen- lebens in allen diesen Schriften macht die Lektüre auch der unscheinbarsten so anziehend und genuß- reich.


Zweites Kapitel. Kindheit und Knabenjahre (1734—1751).

I. Herkunft und Familie.

Der größte Teil der Einleitung zum „Monsieur Nicolas" wird durch eine höchst seltsame Tabelle in Anspruch genommen. Es ist die Genealogie unseres R6tif, die ungefähr an diejenige Pantagruels bei Rabelais erinnert. Als Stammvater der R^tifs wird nämlich der — römische Kaiser Pertinax pro- klamiert !

Es war ganz gewiß zuerst ein schliechter Scherz, den sich R^tif mit der Aufstellung dieser tollen Genealogie machte, die er seinem Großvater Pierre R^tif zuschrieb. Deshalb läßt Gerardde Nerval ihn auch diesen Stammbaum gleichsam als eine ironische Hyperbel vor einer Gesellschaft hoher Adliger entwickeln, die soeben mit ihren Ahnen ge- prunkt hat (Les Illumin^s, Paris 1868, S. 27 — 28). Aber es scheint, daß R^tif sich im Laufe der Zeit in den Gedanken dieser hohen Abkunft ernstlich verliebt hat. Er behandelt ihn wenigstens recht oft und mit sichtlicher Vorliebe und wurde darin von einem aufgeblasenen und leichtgläubigen Verwandten in Grenoble bestärkt.

In den „P o s t h u m e s" (Paris 1 802, Bd. IV, S. 304 bis 335) lieferte er dann noch am Ende seines Lebens

Duhren, Retif de la Bretonne. 3


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«ine ähnliche Ausgeburt seiner Phantasie, indem er durch eine Hirschparkgeschichte den Nachweis zu erbringen suchte, daß er mit Ludwig XV. bluts- verwandt sei!

Auch berichtet er am Schlüsse des ersten Buches der „Vie de mon p^re" (Neufchätel 1779, I, 151 bis 152) über eine alte Tradition in seiner Familie, nach welcher ihr ehemaliger Name „Monroyal" oder „Montroyal" lautete und der Beiname „Restif" oder R^tif im Jahre 1309 hinzugefügt wurde, als ,ein Mitglied der Familie, der Templer Jean de Montroyal bei Aufhebung des Ordens denselben tapfer vor den Kommissaren Philipps des Schönen und des Papstes Klemens verteidigte und hierfür den Beinamen „restif" (widerspenstig, stand- haft) erhielt, der auf seine Deszendenz und seine Verwandten überging.

Die spätere Schreibweise dieses Namens war „R6tif", nicht Restif, und ich wähle dieselbe in Übereinstimmung mit Monselet, während alle übrigen neueren Autoren das „Restif" beibehalten haben. Abgesehen aber von dem Umstände, daß „R6tif" durchaus den Grundsätzen der modernen französischen Orthographie entspricht, kann ich mich auf eine allen früheren Autoren unbekannt gebliebene Stelle in den „Lettres in^dites" (S. 27) berufen, in der R^tif selbst erklärt, daß er ganz willkürlich die Schreibweise „Restif" aus einem alten Geschichts- werk wieder hervorgeholt habe, während seine ^anze übrige Familie seit langen Jahren stets „R6tif" vorgezogen habe. Dement- sprechend führt er auch in der „Vie de mon p^re" diese letztere, richtigere Schreibweise durch und


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nennt seinen Vater Edme R6tif, den Sohn von Pierre Retif, wie er auch alle seine Schriften bis zur Revolution als „R^tif de la Bretonne" zeichnet. Erst die um diese Zeit sehr häufige Ände- rung von Namen bewog auch ihn wohl zur Umände- rung in „Restif".

Unser R6tif wurde den 23. Oktober 1734 in dem Dorfe Sacy bei dem Flecken Vermenton (zwischen den Städten Auxerre und Avalion) in Niederburgund geboren. Er selbst gibt im „Mon- sieur Nicolas" hrrtümhch den 22. November 1734 als Geburtstag an. Der Schriftsteller Sylvain Puychevrier wies jedoch aus den Taufregistern der Kirche zu Sacy das obige Datum als das richtige nach (vgl. „Bulletin du Bouquiniste 1864 S. 492).!) Er wurde noch an demselben Tage getauft und er- hielt den Namen Nicolas Anne Edme. Damals war es in den französischen Dörfern Sitte, den Hono- ratioren des Ortes, ihren Söhnen und Töchtern, den Titel „Monsieur" bezw. „Demoiselle" zu geben. So wurde auch R6tif schon als kleines Kind „Mon- sieur Nicolas" genannt, welchen Namen er ja in seiner Autobiographie verewigt hat (vergl. M. N. I, 85). Später legte er sich selbst noch den Bei- namen „de la Bretonne" (oder wie er in der ihm eigentümlichen Orthographie schreibt: „Bretone"), bei, nach einer kleinen, der Familie R^tif gehö- renden Farm dieses Namens nahe bei Sacy. Zur Zeit eines Besuches von Puychevrier im Jahre 1864 war dieselbe noch im Besitze der Retifs und


^) Wahrscheinlich beruht der Irrtum Retifs auf einer Ver- wechslung mit dem Geburtstage seines Bruders Thomas, der in der Tat auf den 22. November (des Jahres 1728) fiel.

3*


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ihrer Verwandten. Es war sogar noch Mobiliar aus dem Besitze des Vaters unseres R^tif dort zu sehen.

Monsieur Nicolas war das erste Kind aus der zweiten Ehe seines Vaters Edme R6tif (geb. 1692), Ackerbauers in Sacy. Derselbe hatte aus seiner ersten Ehe mit Marie Dond^ne sieben Kinder, aus der zweiten mit Barbe Ferlet de Bertro die gleiche Anzahl.

Nikolaus schildert seinen Vater als einen zwar jähzornigen, aber sonst durchaus gutmütigen, sehr fleißigen und arbeitsamen Mann, seine Mutter als eine schöne Blondine von äußerster Lebhaftigkeit, die es aber verstand, ihre Leidenschaft zu unter- drücken und im übrigen anderen voll Sanftmut und Herzensgüte begegnete. Der kleine Nikolaus hing mit schwärmerischer Liebe an ihr und legte ein- mal, ein kleiner Mucius Scävola von fünf Jahren, buchstäblich die Hand für sie ins Feuer, als sein Großvater mütterlicherseits, Nicolas Ferlet, bei einem Besuche scherzhaft diese Probe seiner Liebe zur Mutter von ihm verlangte.

Die durch die Natur der Eltern bestimmte here- ditäre Anlage seines Wesens erklärt R^tif als aus „drei Teilen Feuer" und einem Teil der übrigen Ele- mente bestehend, weshalb eine heftige Leidenschaft- lichkeit der Grundzug seines Wesens sei, die in der Liebe, im Zorn, in der Furcht, dem Mitleide, der Kühnheit mit der gleichen Intensität hervorträte. „Ohne Zweifel", sagt er, „wurde ich von meiner Mutter in einer Umarmung voll feurigster Leiden- schaft empfangen, und diese bildete dann die Grund- lage meines Charakters. Hätte sich bei mir dazu noch eine Anlage zum Laster gesellt, so wäre ich


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ein Ungeheuer geworden. Doch die angeborene Ein- falt meiner Seele ist ein Beweis für die Herzens- reinheit meiner Eltern. Überdies erhielt ich als Still- mutter die temperamentvollste Frau der ganzen Gegend, was meinen Charakter und mein Blut vollends entflammen mußte." Assezat weist in seiner Einleitung zu seiner Ausgabe der „Contem- poraines melees (Paris 1875, S. VIII) auf die Über- einstimmung dieser Hereditätstheorie mit einem 1868 erschienenen Buche „Phr^nyogenie" von Bernard Moulin hin.

Rdtifs Vater war übrigens kein gewöhnlicher Bauer, sondern gehörte zu den Honoratioren des Dorfes. Da er in seiner Jugend in Paris gewesen und dort es beinahe bis zum Notar und Prokurator gebracht hätte, so wählte man ihn in Sacy zum Friedensrichter. Er war ziemlich wohlhabend und Besitzer mehrerer Farmen, aber die große Zahl seiner Kinder hinderte ihn am Erwerb eines größeren Reichtums.

Von diesen zahlreichen Geschwistern R^tifs spielen in seiner Lebensgeschichte hauptsächlich die Kinder aus der ersten Ehe des Vaters eine Rolle. Die älteste Schwester war die 1720 geborene Anne R^tif, die erst am 22. Februar 1825, also im Alter von 104 V2 Jahren starb. Ihr noch existie- rendes Testament enthält ein Verzeichnis sämtlicher R^tifs und ihrer Verwandten in der Gegend von Sacy und Auxerre, der Tillien, Bourdillat usw. (Monselet S. 207.) Der älteste Bruder aus des Vaters erster Ehe war der gute Pfarrer von Courgis, einem Dorfe in der Nähe von Sacy. Er sowohl als auch der zweite Bruder, der Abb^ Thomas, waren


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des kleinen Nikolaus eigentliche Erzieher. Letzterer wird von R6tif folgendermaßen geschildert: „Er war groß, hager, mit länglichem Gesicht, dunkler Farbe und glänzender Haut; er hatte eine Adler- nase und dichte, schwarze Augenbrauen. Ein Un- fall hatte ihm eine nußgroße Geschwulst auf der rechten Wange zurückgelassen. Er war verschlossen und sehr ungestüm, ohne es zu scheinen; heißblütig, leidenschaftlich, dem andern Geschlechte sehr ge- neigt, aber durch die Frömmigkeit Meister seiner selbst geworden. Doch war er nur für eine zweite Stelle geeignet, da er zu wenig entschlossen und zu nachgiebig war, was aber weniger in seinem Naturell begründet war als vielmehr darin, daß er stets durch seinen älteren Bruder (den Pfarrer von Courgis) in den Schatten gestellt wurde. Er hatte weder den Geist noch die Hautfarbe der Rötifs, sowohl jenen als auch die erdige Farbe hatte er nach Art der Don- d^ne, der Familie, aus der seine Mutter stammte." Dagegen war der Pfarrer von Courgis ein echter R6tif, ebenso wie die zweite Schwester Marie Beau- cousin, während die dritte, vierte und fünfte Schwester Marie, Madeleine und Margot häß- lich waren und dadurch ihre Abkunft von den Don- d^nes verrieten. Mit Stolz hebt Nikolaus seine Ähn- lichkeit mit dem Pfarrer von Courgis hervor.

2. Die Kindheit (Erste Epoche, 1734 — 1746).

Die Darstellung der ersten Lebensjahre Rötifs im „Monsieur Nicolas" liefert uns ein klassisches Beispiel für die Wahrheit einer neueren psycholo- gischen und pädagogischen Lehre: der unge-


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heuren Bedeutung der ersten Eindrücke des Kindes für die spätere Entwicklung des Men- schen, für die Ausbildung seines Charakters und be- sonderer Eigentümlichkeiten seiner Natur. Diesen. Kausalnexus hat R^tif durchaus richtig begriffen und kräftig betont. Deshalb müssen wir, wie er es tut, gerade diese ersten Lebensjahre besonders aus- führlich behandeln, da sie uns das Verständnis für sein ganzes späteres Leben ermöglichen.

Zwei Punkte sind da besonders hervorzuheben. Es ist kein Zweifel, daß eine gewisse unregelmäßige,, zusarmnenhangslose Art der Lebensweise, der Er- ziehung die Charakterbildung Retifs ganz außer- ordentlich beeinflußt hat und viele bizarre, paradoxe Züge in seinem Wesen erklärt. Ein zweiter Punkt,, in bezug auf welchen sich maßgebende Einflüsse bis in die erste Kindheit zurück verfolgen lassen, ist die in mancher Hinsicht eigenartige Gestaltung seines Sexuallebens, das auf Grundlage einer angeborenen heftigen Sinnlichkeit äußeren Einflüssen von Anfang^ an sehr zugänglich war und durch sie in gewisse- abnorme Richtungen gedrängt wurde.

Sehr charakteristischerweise berichtet R^tif gleich im Anfange seiner Autobiographie über das frühe Auftreten erotischer Regungen. „Schon in meiner zartesten Kindheit", sagt er, „zog mich mein Instinkt zu dem anderen Geschlechte. Ich zog aber junge Mädchen mit rosigem Teint vor, während ver- heiratete Frauen und die Unannehmlichkeiten des Hauswesens mich abstießen."

So geschah es, daß bei diesem frühen Triebe zum weiblichen Geschlechte die ersten erotischen An- reizungen bereits in die früheste Kindheit fielen^


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Marie Piot, die Tochter eines Nachbarn, weihte den erst 3 — 4jährigen Knaben (!) in diese Geheim- nisse ein. Er erzählt darüber: „Jeden Sonntag lief ich nach dem Mittagessen heimlich zu meiner schönen Marie, weniger der Leckerbissen wegen, die sie mir reichlich spendete, als um ihre stürmischen Lieb- kosungen zu empfangen und mich auf ihren Arm zur Abendmesse tragen zu lassen. Ich glaube auf diese Liebkosungen näher eingehen zu müssen, da sie nicht nur für meine Sitten, sondern auch für meine Gesundheit von schädigendem Einfluß waren, indem sie vor einer hinlänglichen Entwicklung meiner Kräfte meiner glühenden Phantasie zuviel Schwung verliehen. Marie küßte mich ^uf die Wangen und auf meinen Mund, der immer sehr appetitlich ge- wesen ist. Sie ging noch weiter, obwohl ihrerseits alles in größter Unschuld geschah: ihr Hand fuhr unter mein Röckchen, schlug mich aufs Gesäß und kitzelte mich. Dann — ging sie noch weiter und verschlang mich fast mit ihren Küssen. Aber um mich deutlicher ausdrücken zu können, will ich mich der Sprache der Gelehrten bedienen, was meine Leser dann -möglichst anständig ihren Damen über- setzen mögen: Mentulam testiculosque titillabat, quoadusque erigerem; tunc subridebat velatis oculis humore vitreo, et aliquoties deficiebat. Und ich er- widerte ihre Liebkosungen mit einem ausgelassenen Lachen. So trug eine Reihe kleiner Ursachen dazu bei, mein erotisches Temperament, das wohl Staunen erregen kann und mich in so viele Ausschweifungen verfallen ließ, zu entwickeln und zu verstärken I Eine Lehre für alle Eltern, die Kinder mit hübschen Ge- sichtszügen haben I"


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Wer sich an die alte Erfahrung erinnert, daß sogar schon Kinder im ersten Lebensjahre, durch irgendwelche äußeren Reizungen veranlaßt, sich der Onanie hingeben, wird dieser Schilderung R6tifs volles Gewicht beimessen und ihre Bedeutung für die vorzeitige Entwicklung seiner Sexualität nicht verkennen.

Wohl die gleiche, vielleicht eine noch größere Bedeutung hatten sexuelle Eindrücke andrer Art, die schon so früh auf das Kind Retif einwirkten und die er schon unter dem Jahre 1738 erwähnt. Das war der Anblick von sexuellen Akten anderer, von Liebesszenen, wie diejenigen zwischen dem Pächter C o r n e v i n und seiner jungen Frau N a n e 1 1 e Belin, denen der kleine Nikolaus voll Staunen, halb eifersüchtig, halb wütend zusah, oder diejenige zwischen Thomas Carr6 und Polie in einer Scheune, wo es zu einem förmlichen Liebeskampfe zwischen den beiden Verliebten kam, der den tiefsten Eindruck auf unseren kleinen Zuschauer machte. Er erklärt später, daß diese schlüpfrigen Szenen die schrecklichste Wirkung auf seine kaum entwickelten Sinne hatten. Aber es blieb nicht beim Zuschauen. Die erste Berührung der intimsten weiblichen Reize (bei der kleinen Ursule Rameau) war ebenso „delicieuse que dangereuse et profonde" für ihn, und seine 13jährige Schwester Margot versuchte schon im selben Jahre 1739 den kleinen Nikolaus zu einem Beischlaf mit der kleinsten Schwester Marie Louison zu verführen, freilich vergeblich. Diese Reminiszenz gibt Rdtif Veranlassung zu einer auch heute noch zutreffenden Bemerkung über die so- genannte „Unschuld auf dem Lande". „Überall,"


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meint er, „wo Männer und Weiber sich zusammen- finden, gibt es Fäulnis und Verderbtheit. In dieser Beziehung ist es auf dem Lande nicht anders als in den Städten; denn von diesen aus verbreitet sich die Verderbnis durch die Dienstboten beiderlei Ge- schlechtes und durch die Soldaten, die in ihre länd- liche Heimat zurückkehren, nachdem sie sich in der Stadt mit Sündhaftigkeit angesteckt haben, mit der sie wieder die Landbewohner anstecken."

Eine bedeutsame Folge dieser frühen erotischen Reizungen war für R^tif die Entwicklung eines außerordentlich glühenden Phantasielebens, das besonders nächtlicherweile dem Kinde zu schaffen machte, ihm die äußeren Gegenstände in den selt- samsten Formen zeigte und ihm schrecklich grimas- sierende Teufelsgesichter, Prozessionen von Priestern und ähnliche religiöse Visionen vorspiegelte und auch seine exzessive Furcht vor Hunden nährte, die ihn, seitdem er im Jahre 1738 von einem Hunde gebissen worden, zeitlebens beherrschte, während er seltsamer- weise Wölfen beherzt entgegenging. So mächtig sind die Eindrücke der ersten Kindheit, so tief hatte hier z.B. der Hundebiß nachgewirkt. Ähnlich hatte Rötif von früh an eine Idiosynkrasie gegen den Anblick von Menschenblut, nicht aber gegen den des Tierblutes. So ließ er sich gern von merkwürdigen Krankheiten erzählen und nahm begierig alle Einzelheiten in sich auf, sobald aber von einer Gefäßruptur oder einer Hämorrhagie die Rede war, wurde er ohn- mächtig. Durch diese „sensibilit^ physique" war er, wie er sagt, beinahe ein Weib, trotz aller männlichen Stärke. Diese Sensibilität gab auch seiner Art zu lieben die Nuance. Alle seine Leidenschaften emp-


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fingen durch sie einen extremen Charakter, eine Glut, die selbst den 40- und 50 jährigen Mann noch in jugendlichem Feuer aufwallen ließ.

Gegen das Ende des fünften Lebensjahres, im Oktober oder November 1739, fing Nikolaus an, die Schule in Sacy zu besuchen, wo ihm der Lehrer Jacques B^rault den ersten Unterricht erteilte, ihm auch einmal zu Unrecht Stockschläge gab, was einen so tiefen Eindruck auf den Kleinen machte, daß sein Vater ihn eine Zeitlang eine andere Schule in dem nahen Vermenton besuchen ließ, wo Retif bei seiner ältesten Schwester Anna, die mit Mich^ Linard verheiratet war, wohnte und von dieser und den reizenden Töchtern des Notars Collet weid- lich verhätschelt wurde. Namentlich die damals zwölfjährige Colette Collet, die spätere so an- gebetete „Madame Parangon" liebkoste ihn häufig in zärtlichster Weise. Von ihr empfing er den ersten Kuß, der ihm mehr ein süßes Gefühl als sinnliche Erregung einflößte.

Dieser erste Aufenthalt in Vermenton dauerte nur kurze Zeit. Noch in demselben Jahre (1739) kehrte R6tif nach Sacy zurück. Hier knüpfte er den ersten Freundschaftsbund mit Edme B^rault, einem Knaben aus der Nachbarschaft, was ihn aber nicht hinderte, das Spielzeug (jouet) der großen Mäd- chen zu sein, die ihn liebkosten, da er ein schöner Knabe war und sie die großen Knaben dadurch anreizen wollten. Schon damals empfand R6tif jene allgemeine Abneigung gegen das männliche Ge- schlecht, der er oft Ausdruck gibt. Die Knaben in Sacy scheinen besonders frühreif gewesen zu sein und allerlei zweifelhafte Kurzweil getrieben zu haben.


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So erzählt R^tif aus dem Jahre 1741 von einem sehr bedenkHchen erotischen Knabenspiele „La montre" von Jungen in den Anfangsstadien der Puber- tät, einer Art von exhibitionistischer Parade, die er lateinisch so schildert: „Omnes, sine verecundia, men- tulas exhibentes, ad retractionem praeputii certatim ludebant. An ad emissionem usque seminis eruperunt non potui, pro aetate mea, distinguere: sed eru- bescere vidi neminem." Im Anschlüsse hieran plä- diert R6tif mit Recht für rechtzeitige sexuelle Auf- klärung der Kinder, die niemals soviel Schaden an- stifte als die durch die Heimlichkeit und die ge- legentlichen Verführungen entstehende Gefahr.

Ein anderes erotisches Kinderspiel war das „jeu du loup" zwischen Knaben und Mädchen, bei dem es meist zu sehr unzüchtigen Berührungen kam, und bei dem einmal der elfjährige R6tif die kleine Marie Fouard allzusehr entflammte, indem „manus insertae pertractabant inguina, impuberem- que concham."

Kein Wunder, daß unter dem Eindrucke solcher Erlebnisse Nikolaus in seinem „kleinen Kopfe sehr vorgeschrittene Ideen" hatte, daß sein Männlichkeits- gefühl viel zu früh erwachte und er sich förmlich in die Rolle eines Mädchenbezwingers hineinträumte. Er schämte sich seiner Zartheit, wollte lieber groß, häßlich, brutal sein, um den Frauen zu gefallen! Er wollte umarmen, aber nicht sich umarmen lassen. Dabei war er äußerlich scheu, furchtsam, zurück- haltend, ein „Narciß" (nach ihm ein sicherer Index des erotischen Temperamentes), während seine Phan- tasie unaufhörlich mit den Reizen des anderen Ge- schlechtes sich beschäftigte, namentlich mit den-


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jenigen eines schönen Fußes und seiner Bekleidung*. Die Anfänge des bekannten Fußfetischismus Retifs fallen in sein neuntes Lebensjahr (1743). Damals fielen ihm zuerst die reizenden roten und blauen Schuhe einiger Honoratiorentöchter von Sacy, der Agathe Tillien, der Reine Mino und Made- leine Champeaux auf. Namentlich aber reizte ihn die entzückende, mit Steinknöpfen besetzte Chaus- sure des hübschen Fräulein von Noyers, einer Verwandten des Pfarrers von Sacy. „Ich dachte an diese Mädchen mit innerer Aufregung, ich wünschte, ich weiß nicht was, aber ich wünschte so etwas wie ihren Besitz', ihre Unterwerfung."

Doch kam ihm die erste ernsthafte Gefahr nicht von diesen naiven Mädchen aus seiner Heimat, sondern von einer Fremden. Er erlebte mit ihr im Jahre 1745, 10 3/4 Jahre alt, das durch seine Folgen „außerordentlichste Abenteuer" seines Lebens: die erste Verführung. Er schildert dieses Abenteuer fol- gendermaßen (nach der Übersetzung von Nest 1er):

„Madame R a m e a u hatte im August 1745 eine Schnitterin aus Percy le See, wo ihr Mann lebte; obwohl nämlich die Ehe eine sehr glückliche war, wohnten die beiden Gatten getrennt; die Mutter lebte mit den Kindern auf dem Gute in Sacy und der Vater verwaltete die noch ansehnlichere Besitzung in Percy. Diese Schnitterin, ein dickes, hübsches, lustiges Mädchen, sah so verführerisch aus, daß sie die Eifersucht von Madame R a m e a u erregte, wenn auch mit Unrecht, wie ich weiß; ihr phlegmatischer Gatte hatte nur Sinn für seine Felder und das Vermögen seiner Frau und fand an nichts anderem Freude. Die beiden Gatten tauschten ihre Schnitterinnen; M a t h r o n aus Sacy, häßlich wie das Gewissen eines Wucherers, wurde nach Percy geschickt, und die reizende Nannette kam zu der Frau ihres Herrn. Ich sah Nannette an einem Feiertag der heiligen Jungfrau in der Kirche, wo alle Mädchen weiß gekleidet


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waren. Ihr Anblick brachte mich auf eine mir bis dahin un- bekannte Weise in Erregung. Das waren Begierden, nicht mehr Liebe, was ich fühlte; wie glühendes Feuer floß es durch meine Adern; Nannette war das erste Weib nach meinem Ge- schmack. Ich war erstaunt über diese neue, merkwürdige Empfindung! . . . War das die Wirkung ihrer Schönheit, die nur zu den Sinnen sprach, so wie die vieler Frauen, denen ich während der dreißig Jahre meiner vollen Männlichkeit be- gegnete? . . .

Als Nannette die Kirche verließ, folgte ich ihr, um sie besser zu sehen, und sie entflammte meine Phantasie vollends; sie hatte etwas Lüsternes an sich, das ich noch nie gesehen hatte, außer bei der schönen Ursule Lamas aus Vitry, von der ich bald sprechen werde . . . Ich folgte ihr, erfüllt von Wollust, in möglichst großer Nähe bis zum Haustor der R a m e a u. Als ich dann wieder im Garten von La Bretonne war, erinnerte ich mich an die früher erzählte Parade der 15 jährigen Burschen am Niedertor und meine Hand forschte, zwar noch nicht befleckend, aber doch neugierig, nach der Ursache einer neuen Erscheinung . . . Am folgenden Tage ging ich auf dem Wege zur Messe trotz meiner Schüchternheit zu den R a m e a u s , um sie mit ihrer Schwester M a d e 1 o n abzuholen. Ich hörte Fräulein R a m e a u hier zu der schönen Schnitterin sagen: „Da, Nannette, siehst du den großen Burschen da? Wenn du ihn küssen wolltest, würde er davon- laufen." Nannette begann zu lachen, doch wir mußten alle rasch aufbrechen, da die Zeit schon drängte. Nach der Rück- kehr aus der Kirche ließ mich mein Wunsch, Nannette wiederzusehen, meine angeborene Schüchternheit überwinden, die mich so lange veranlaßt hatte, hübsche Mädchen, den Gegenstand meines Wohlgefallens, zu fliehen; ich gab den dringenden Einladungen meiner Freunde und der gewalt- tätigen Höflichkeit M a d e 1 o n s nach.

Übrigens wurde ich in diesem Hause immer so gut auf- genommen, daß ich mich dort schon ein wenig heimisch fühlen durfte. Als wir auf dem Hofe waren, sah ich, daß Fräulein R a m e a u der entzückenden Schnitterin etwas ins Ohr flüsterte. M a d e I o n selbst war ganz anders! Sie war eines jener geschlechtslosen Wesen, die weder schön noch häßlich


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sind, ohne Anmut, ohne jeden Reiz! Ich spielte mit meinen Freunden: als ich allein im Hintergrund eines Stalles für Maulesel versteckt war, Tiere, die Vater R a m e a u für seine Feldbestellung verwendete, trat Nannette leise hinter mich, überraschte mich und faßte mich mit beiden Händen: „Ich werde Sie ganz gemächlich abküssen", sagte sie lachend. Ich suchte mich scheinbar zu befreien, was ihr Verlangen nur noch vermehrte. Sie drückte mich gegen ihren Busen, den schönsten, den ich noch gesehen habe . . . Heftig erregt küßte ich sie selbst. Da schien Nannette wie von Liebeswut ergriffen; sie um- schlang mich und ich umarmte sie . . . doch schien das Mädchen besonders leidenschaftlich zu sein; sie erblaßte, fiel nieder, drückte mich an sich und stieß mich wieder zurück; schließ- lich erfaßte sie die Leidenschaft derart, daß sie besessen sein wollte, und sie traf dazu auch alle Anstalten. Eine neue Sappho, unterstützte sie die Natur und ließ sie wirken, mir aber verursachte sie dadurch eine noch unbekannte Erregung. . . In diesem schrecklichen Augenblick, bei dieser ersten Wirkung meiner Zeugungskraft — wurde ich ohnmächtig! . . . Als ich zu mir kam, fand ich mich mit Wasser Übergossen und von meinen Freunden umgeben. M a d e 1 o n sagte zu Nannette: „Du hast ihn wohl gekitzelt? Ich habe vergessen, dich davor zu warnen; denn ich weiß von seiner Schwester Margot, daß er bewußtlos wird, wenn man ihn kitzelt." Nannette stammelte errötend: „Man hat mir nichts gesagt davon!" Das war ihre ganze Erklärung; ich selbst hatte nur eine unklare Vorstellung von dem, was geschehen war. Dreizehn Jahre verflossen, bevor ich die Folgen erkannte; da erst sollte ich erfahren, daß ich mit zehn Jahren Mann gewesen war. Ich ging traurig nach Hause, fortwährend nahe daran, ohnmächtig zu werden, in einer Stimmung, die das Sprichwort bestätigt: Omne animal post coitum triste."

Die Folge dieses Abenteuers war zunächst ein plötzliches Verschwinden der Schüchternheit unseres Helden. Mehr als einmal mußten die jungen Mäd- chen, die ihn bisher im Punkte der Liebe nicht ernst genommen hatten, vor seiner Kühnheit die Flucht ergreifen.


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Auch in anderer Beziehung lernte R6tif ge- wisse, diesem Alter sonst fremde Geheimnisse des Liebeslebens kennen. Zwei Verwandte aus dem be- nachbarten Joux erzählten von dem skandalösen Leben, das eine Prinzessin von Nassau in einem in der Nähe von Sacy gelegenen Schlosse führte. Auf diese Weise bekam der kleine Nikolaus, wie er selbst sagt, die erste Vorstellung des Lasters und der Name „Nassau" behielt zeitlebens für ihn etwas Abschreckendes.

Trotz aller dieser „Erfahrungen" hatte er eins noch nicht kennen gelernt : die Süßigkeit eines zärt- lichen Kusses. Es war seine Cousine NannonGau- t her in aus Aigremont, die ihm diese neue Wonne offenbarte. „Dieser Kuß", sagt er, „ist mir noch immer gegenwärtig und noch heute glaube ich ihn zu fühlen." Er war ihr sein Leben hindurch dankbar, daß sie ihn die Wonnen des Kusses schätzen gelehrt habe, der gerade durch seinen Gegensatz zu der früher erlebten gewaltsamen Verführung so reizvoll für ihn gewesen sei.


So tiefe Spuren diese ersten erotischen Erleb- nisse, diese ersten Berührungen weiblichen Wesens in der Seele des Kindes zurückließen und für sein ganzes späteres Liebesleben bestimmend wurden, so erfüllten sie glücklicherweise nicht ausschließlich die Phantasie des kleinen Nikolaus. Die Erotik absor- bierte nur einen Teil, den kleineren, seines Wesens. Die Charakterbildung, die ersten Lebensaufgaben und Lebensziele knüpften vielmehr an das Land- leben, an die Beobachtungen der umgebenden Natur an. Hier zeichnet R6tif uns die wunder-


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barsten Idyllen, eines G e ß n e r würdig. Es sind die schönsten Partien im „Monsieur Nicolas**, Schilde- rungen, die um so anziehender sind, um so mehr beglücken, als dies zwanglose Leben und Weben des Kindes in der freien Natur gerade die fruchtbarsten Keime positiven Schaffens in seine Seele legte, ihm zuerst die Vorstellung der freien, selbständigen Arbeit erweckte. Hier, in der Einsamkeit, in dem stillen Verkehr mit der Pflanzen- und Tierwelt, gingern ihm die Geheimnisse des Lebens auf, machte er sich zuerst die Welt zu eigen, fühlte er sich als den Herrn,, den Gebieter der Natur. Die Grundlage des Cha- rakters, der Wille, wurde wach in ihm.

„Das Winkelleben der Jugend," sagt Karl Gutzkow an einer wunderschönen Stelle seiner Autobiographie, „weckt die ersten Regungen des Be- wußtseins, die ersten Regungen der Sehnsucht nach künftigen Zielen. Wer das Auge auf seine Kinder oder seine Zöglinge stets überwachend und sie immer und immer beschäftigend gerichtet hat, wird Ma- schinen erziehen. Die Jugend muß zwar ihre Heimat kennen, wo sie zu Hause ist, aber die kleinen Nester, die sie sich da und dort in der Stille schon selbst aufbaut, muß man ihr nicht stören. Dort brütet sie ihr selbständiges Leben, ihr Bewußt- werden, ihre Zukunft aus."

Einen charakteristischen Beleg für die Wahr- heit dieser Worte liefert eine Episode, die R^tif aus seinem sechsten Lebensjahr erzählt. Damals fing er an die Einsamkeit zu lieben und richtete sich,, wie Kinder auch heute noch so gerne tun, eine „Höhle" als Wohnung ein, wozu er eine kleine Lehm- grube in der Nähe seines Elternhauses benutzte.

D ü h r e n , Retif de la Bretonne. 4


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„Dort zimmerte ich mir mit meinem kleinen Werkzeug eine Bank und eine ganze Wohnungseinrichtung zurecht, ohne Betschemeli und Kruzifix zu vergessen. Als alles fertig war, nahm ich M'lo Berault bei der Hand und führte ihn hin; ich wollte mich seines Staunens und seiner Dankbarkeit freuen, wenn ich ihm erklärte, daß ich ihn zum Miteigentümer meiner Behausung mache, aber er war weder erstaunt noch dankbar, doch gefiel ihm mein Asyl wegen der frischen Kühle, die darin herrschte. Wir wollten alle Tage in unserer Höhle zusammenkommen^ aber niemand ein Wort davon sagen.

Ich war vor Freude außer mir! Welch ein Genuß, hier täglich meinen M'lo bewirten zu können. Die Gänge unserer Tafel waren weder kostspielig noch schwer zu beschaffen; der kleine Bauernjunge bekam zu Hause nur Schwarzbrot, bei uns aber wurde Weißbrot gegessen, und das war schon ein könig- liches Gericht für ihn. Als Zukost gab ich Nüsse oder grüne Erbsen oder Linsen; an den Tagen, wo bei uns Brot gebacken wurde, brachte ich Kuchen oder Fladen, die unter der Asche gebacken waren — eine wahre Götterspeise für uns! Manch- mal gab mir meine Amme, die viele Bienen hatte, Honig oder Met, oft auch Birnen und Haselnüsse; ich trug alles in unsere Höhle und ich aß die Leckereien noch mal so gern, weil ich sie mit Edmlot teilen konnte.

Eines Tages hatten wir rohe Erbsen, und viele, die durch Würmer angenagt waren, warfen wir auf den Lehmboden unserer Höhle. Am nächsten Tage und die ganze folgende Woche regnete esy so daß wir unseren Schlupfwinkel nicht auf- suchen konnten, Als es nach acht Tagen wieder schönes Wetter gab, kehrten wir nach unserer Höhle zurück — und, o Wunder! wir fanden ein ganzes Feld junger Erbsenpflanzen vor. Unsere Überraschung und unsere Freude kannte keine Grenzen, be- sonders als wir; bei einem der Keime, der nicht ganz von Erde bedeckt war, erkannten, daß es unsere wurmigen Erbsen seien, die so herrlich gediehen waren! „Das sind unsere Erbsen?" fragten wir voll Verwunderung. Pflanzen, die dank uns ge- wachsen waren! Wir empfanden eine Art von Vaterstolz: welch ein Ruhm! Nein, ein Feldherr, der einen glänzenden Sieg gewinnt, hat keine so hohe Meinung von sich. In einem unaufhörlichen Freudenrausch betrachteten wir unsere erste


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Schöpfung! Es war unser Acker, unser Garten, unsere Be- sitzung, unser Hab, unser Königreich. Wir empfanden den übermächtigen Wunsch, es mit einem Zaun zu umgeben. So ist die Idee des Eigentums entstanden, eine Quelle von Lastern und Unglück für die unseligen Sterblichen, aber diese Idee mußte entstehen.

Jeden Tag besichtigten wir unseren Acker, die Entfaltung jedes neuen Blattes bedeutete eine neue Freude in unserem Dasein! . . . Im Grunde meines Herzens wünschte ich dem Acker meines Vaters eine Mißernte, damit ich ihm mit meiner Ernte dienen könnte. Denn schon damals war sich nützlich machen der einzig wahre Ruhm in meinen Augen, und deshalb bin ich mein Leben lang so tätig gewesen."

(Übersetzung von J. Nestler.)

Zwar wurde durch den tückischen Freund der kleine Acker in frivoler Weise zerstört, aber Nikolaus fand neue Freude in der Pflege der Bienen, der Lämmer, in der Besorgung des Geflügelhofes oder in der Gartenarbeit. Unvergleichlich tiefere Ein- drücke, ganz andere, herrliche Naturgenüsse und neue, unbekannte Stimmungen brachte ihm das Hirtenleben der Jahre 1745 und 1746.

Sein Vater war Besitzer ausgedehnter Weide- gründe in La Bretonne und hielt große Herden von Schafen, Rindern und Schweinen, die unter der Ob- hut des Hirten Jacques Guerreau standen. Mit dessen zweitem, 15 jährigem Sohne Jacquot durch- streifte der kleine Nikolaus an den Samstagabenden die Felder und ließ sich von ihm Geschichten er- zählen und Lieder vorsingen. Dabei umfaßte er mit liebevollstem Sinn die umgebende Natur, „Ein rauher, steiniger Hügel, eine wüste Gegend, ein Tal, das durch irgendein düsteres Gehölz begrenzt war, erfüllten mich mit einer Art von Schauer, der sich verlor, wenn wir Hügel erstiegen; dort fühlte ich


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mich leicht, und Kühnheit trat an Stelle der Furcht; dann stimmte ich irgendein lateinisches Kirchenlied an, an das ich mich erinnerte. Wenn wir einen Hasen sahen oder ein Nest fanden, erreichte mein Glück den Gipfel."

Damals mußten nach einer unter den Bewoh- nern der Gegend von Sacy herrschenden eigentüm- lichen Sitte die mannbar gewordenen Knaben und Mädchen Wallfahrten nach Saint-Michel in der Normandie bezw. dem näher gelegenen Saint-Reine unternehmen. Ein Bursche, der nicht in Saint- Michel gewesen war, galt nicht als vollwertiger Mann, und das Unterlassen der Wallfahrt zu dem Grabe der jungfräulichen Reine d'Alise von selten eines jungen Mädchens schien beinahe einen Mangel ihrer Virginität mit sich zu bringen. So mußte auch Jac- quot, der Freund unseres Nikolaus, am 21. Sep- tember 1745 die Reise nach Saint-Michel antreten und die Herde ohne Hirten zurücklassen. Eifrig drang Nikolaus in seine Eltern, ihm dieses Amt anzuver- trauen, und erhielt schließlich auch die Erlaubnis unter der Bedingung, sich nicht zu weit von La Bretonne zu entfernen, wegen der Gefahr der Wölfe. Anfangs befolgte er diesen Rat und trieb seine Schafe auf die Gründe in der Nähe der Ruinen eines alten Siechenhauses. Hier empfand er zum erstenmal ganz die „Lust der Freiheit und Einsamkeit", blickte den ziehenden Wolken nach, horchte auf das monotone Kreischen der Holztauben und Krähen und be- trachtete entzückt die blattlosen melancholischen Herbstblumen. Alles dieses brachte ihm das Leben, wie er sich ausdrückt, auf eine ganz neue Art zum Bewußtsein. Er gedachte des abwesenden Freundes.


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Seine Tränen flössen. Wie köstlich waren diese Tränen 1

Bald entfernte er sich weiter vom Orte und nahm zum Schutze gegen die Wölfe drei große Hunde mit. An der in Trümmern liegenden Kapelle Saint- Madeleine vorbei ging es zu den schon im Bereiche der Gemeinde Nitry liegenden Weinbergen um Grand-Pr6, wo der kleine R d t i f eine köstliche Nach- lese der Ernte hielt und im Genüsse der schönsten Trauben, Pfirsiche, Birnen und Äpfel schwelgte. Auch die Herden fanden hier reichliches Futter.

Besonderen Eindruck machte auf das kindliche Gemüt der Anblick eines gegenüber dem Mont-Pr6 liegenden, einsamen, von dichtem Gehölz umsäumten Tales, dessen düsteres Aussehen zunächst vom Be- treten abschreckte. Endlich aber wagte er sich mit seiner Herde hinein. Hören wir die idyllische Schil- derung der Erlebnisse und Stimmungen in diesem unheimlichen „vallon" :

„Im Talgrunde gab es Gesträuch und Gebüsch für meine Ziegen und einen Rasenplatz für meine jungen Kühe. Hier empfand ich ein angenehmes Gefühl des Schauers, wenn ich mich an Jacquots Geschichten erinnerte, in denen auch Leute, die in Tiere verwandelt wurden, eine große Rolle spielten. Meine Schweine fanden wilde Rüben in Menge und wühlten die Erde auf, während ihre Mutter in das Gehölz vordrang. Als ich ihr folgte, gewahrte ich unter einem alten Eichenbaum einen ungeheuren Eber. Ich zitterte vor Furcht und Freude; denn das Tier vervollständigte den Charakter der Wildnis, die für mich so viele Reize hatte. Ich kam möglichst nahe heran, doch das stolze Tier verschmähte es wohl, sich um ein Kind zu kümmern und fraß ruhig weiter. Mein Mutterschwein aber hatte damals gerade Brunstzeit und näherte sich dem Eber, der zu ihm eilte, als er es bemerkte; ich war ganz toll vor Freude über das Schauspiel, das sich mir nun bot, und hielt


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meine Hunde zurück, um den Eber nicht zu stören. Da zeigte sich auch ein Hase und ein Rehbock; ich glaubte ins Land der Feen versetzt zu sein. Als aber noch ein Wolf erschien, stieß ich unwillkürlich einen Schrei aus, und gegen diesen Feind aller mußte ich auch meine Hunde loslassen, damit er meiner Herde nichts antue; da verschwand dann alles im Gehölz, aber der geheimnisvolle Zauber der Wildnis blieb. Ein Wiedehopf hüpfte auf den Zweigen von Birnbäumen, deren Früchte „Honigbirnen" hießen, weil sie so süß waren, daß Wespen und Bienen an ihnen naschten. Ich bewunderte den Wiedehopf, einen Vogel, den ich zum erstenmal sah, aß von den Birnen und füllte meine Taschen mit ihnen, um damit meine jüngeren Brüder und Schwestern zu beschenken.

Verschiedene Gedanken durchkreuztenmeinenKopf: „Dieses Tal gehört niemandem; ich will mir's nehmen und mich seiner bemächtigen, es soll mein kleines Königreich sein. Aber ich will mir hier noch einen Denkstein errichten zum Zeichen, daß ich es in Besitz nehme, was auch die Patriarchen in der Bibel taten, wie mir neulich Vater vorgelesen hat." Sogleich ging ich ans Werk und erstieg dann den Denkstein, um mein Reich zu betrachten. Denn da ich niemand anders sah, hielt ich mich für seinen Herrn und genoß in meiner Einbildung ein Gefühl, das man sonst in Europa nicht keijnt; das konnte der Mensch nur empfinden, bevor es Könige und Gesetze gab . . . Leider ging auch dieser glückliche Tag zu Ende. Doch erlebte ich noch einige solche als glücklicher „Beherrscher" meines Tales; denn als solcher wurde ich auch von den anderen jungen Hirten und Hirtinnen anerkannt, nachdem ich ihnen mein Land und seine Schätze gezeigt hatte."

Hier, in dieser wilden Einsamkeit, lernte R^tif zuerst jenes Freiheitsgefühl kennen, das ihn sein Leben lang beherrscht hat, das ihm in den größten Lebensnöten Mut, Zuversicht, Stolz und Würde gab. Die Erinnerung an dieses freie Menschentum in der Kindheit verklärte sein ganzes Leben. Er rief sie in der größten äußeren Abhängigkeit und Unfreiheit absichtlich herbei, um sich dann wenigstens frei zu fühlen.


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Dieser Freiheitsrausch hinderte nidht/daß er sich bisweilen in seinem geliebten „vallon" geradezu bib- lischen Stimmungen überließ und eimnal sogar in Erinnerung an das Abrahamsopfer des alten Testa- mentes der Gottheit in feierlicher Weise auf einem Altare einen Vogel zum Opfer darbrachte, das von ihm am meisten geliebte Tier.

Köstlich ist endlich die Schilderung, wie der kleine Nikolaus den Knaben und Mädchen der Gegend sein „Königreich" und seine „Schätze" zeigt und wie er eines Tages durch die Rückkehr Jac- quots plötzlich „entthront" wird, nicht ohne vorher allen seinen Freunden ein feierliches Abschiedsmahl gegeben zu haben.

An Stelle des freien Hirtenlebens trat jetzt eine Zeitlang der häusliche und Schulunterricht. Zunächst beschäftigte sich Retif in völlig zwangloser Weise mit dem Lesen des Französischen und Lateinischen und mit religiösen Gegenständen, wobei ihn sein außerordentliches Gedächtnis sehr förderte. Er ver- schlang jetzt, mit elf Jahren, die Bibel, las nach dem alten Testament das neue, die Apokalypse, das Leben der Heiligen, wo ihn nur die Märtyrer fesselten. Dann kamen die tiefsinnigen Meditationen des Mönches P. Buz6e an die Reihe, der „gute Hort" des Jean de Palafox, der Psalter u. a. m. Im Spätherbst 1745 brachte ihn der Vater wieder in die Schule, dieses Mal nach dem Nachbarort Joux, wo Nikolaus einen etwas systematischeren Unterricht im Lesen, Rechnen und Schreiben bekam und dank seinem Lerneifer und seinen Fähigkeiten schnelle Fortschritte machte.

Auch sein allezeit liebebedürftiges Herz fand


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volle Befriedigung im Verkehr mit der 15 jährigen sanften Julie Barbier, die ihn mit Kuchen und Leckereien fütterte, ihm sentimentale Romane vor- Jas und ihn gegenüber den Neckereien und Quäle- reien einer Tochter seines Lehrers und Pensions- vaters Berthier in Schutz nahm. Er fühlte, wie «r sagt, nur das Gefühl zärtlicher Freundschaft, aber keine eigentliche Liebe für sie. Sie war ihm ein „Engel", aber nicht Gegenstand leidenschaftlichen Begehrens. Eines Tages aber bekam er infolge einer Erkältung heftiges Fieber. Julie pflegte ihn mit rührender Zärtlichkeit, brachte ihm Arzneien und weilte fortwährend an seinem Krankenlager, ihn zärt- lich streichelnd und liebkosend. Das Fieber hatte die ohnedies so leicht erregbaren Sinne des Knaben noch mehr in Aufruhr gebracht, und so geschah es, daß die beiden sich fanden. Das junge Mädchen gab sich ihm hin, mit „zärtlicher Miene und vieler Anmut, da ihr Herz und ihre Sinne durch ihre Lektüre beeinflußt und entwickelt waren". Dieser Augenblick leidenschaftlicher Vergessenheit hatte böse Folgen für die beiden jungen Menschenkinder. Julie wurde Mutter und Nikolaus* Krankheit ver- schlimmerte sich. Er sollte zu seinen Eltern gebracht werden, entschlüpfte aber vorher und machte sich im Fieber allein auf den Weg, auf dem er seltsame Visionen hatte.

„Ich war bei der Kreuzung der Wege von Joux und Oudun angelangt, als ich ein großes Tier hinter mir gewahrte. Ich geriet in Furcht und als ich mich umwendete, sah ich es seine langen Pfoten nach mir ausstrecken, um mich zu fassen. Plötz- lich glaubte ich, fünfzig Schritt von mir entfernt statt des Thieres den Lehrer Berthier mit seiner Nachtmütze zu sehen. Ich versteckte mich in einem Gebüsch und meinte, er werde


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vorübergehen. Aber ich hörte nichts; er mochte wohl den Weg nach Joux eingeschlagen haben, um mir dort zu be- gegnen. Eigentümlicherweise erkannte ich auf fünfzig Schritt Entfernung ganz genau die Gesichtszüge und die scharf ge- bogene Nase des Lehrers Berthier, und das war doch un- möglich. Ich setzte meinen Weg fort. Gegenüber meinem Tale in Grand-Pre erblickte ich Julie, die mir lächelnd zu- winkte. Aber da ich gewiß war, daß es Julie nicht sein könnte, erfaßte mich Entsetzen. Ich wandte mich zur Flucht. Ganz von Schweiß durchnäßt, mit heftigem Übelbefinden betrat ich mein Elternhaus. Man legte mich sogleich ins Bett, wo ich wohltuende Ruhe fand."

Den ganzen Winter 1745/46 litt er an Wechsel- fieber, das im 18. Jahrhundert ja auf dem Lande vielfach endemisch war. Im Frühling 1746 aber bekam er die Pocken, die ihn arg entstellten, so sehr, daß sogar eine außerhalb wohnende Schwester ihn nachher nicht wiedererkannte. Dennoch erholte er sich im Sommer wunderbar schnell, namentlich seitdem er zum zweiten Male von seinem Vater die Erlaubnis erhielt, den Hirten Jacquot zu ver- treten. Da gab es wieder so manche idyllische Naturfreuden, so herrliche Erlebnisse, an denen sich die Seele des Knaben berauschte, wie z. B. das Abenteuer mit den Wölfen, das er folgender- maßen schildert:

„Am Abend eines glühend heißen Tages ließ ich meine Herde weiden, während ich mich am Fuße eines Apfelbaumes gelagert hatte. Plötzlich vernahm ich das schrille Geschrei eines Ferkels. Ich erstieg den Baum, um Ausschau zu halten, als ich auch schon an seinem Fuße einen Wolf gewahrte, der mich zu bedrohen schien, und zwanzig Schritt weiter gab es einen seltsamen Kampf! Das Mutterschwein war dem Frisch- ling, das von jenem schwarzen, früher erwähnten Eber her- stammte, zu Hilfe geeilt, hatte sich auf einen zweiten räuberischen Wolf gestürzt und ihn in die Luft geschleudert. Das erfüllte mich mit Befriedigung, indessen wagte ich nicht.


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von meinem Baume herunterzusteigen, da noch immer der Wolf mit funkelnden Augen an dessen Fuße lauerte. Doch schrie ich nach Kräften: „Ein Wolf! Ein Wolf!" Man hörte mich in unserem Hause rufen, und allen voran kamen die Hunde. Friquette hatte mich bald von meinem Belagerer befreit.

Der andere Wolf, der den Frischling angegriffen hatte, war auf der Flucht jenseits des Getreidefeldes, das an die Wiese grenzte, angelangt und wartete den Gang der Dinge ab. Zwei der Hunde setzten ihm nach, während Friquette seinem Genossen die scharfen Zähne zu spüren gab. Da stieg ich herab. Dann kam mein Vater mit einem Gewehr und Bauernburschen mit Heugabeln. Der eine der beiden Wölfe, der mich belagert hatte, suchte sich Friquette zu entziehen und war noch weiter geflüchtet als der andere. Auf diesen hatte sich jetzt die Hündin geworfen. Der erste Wolf kam wieder zurück, als sich die Hunde entfernt hatten, doch stieß er auf meinen Vater, der ihn so glücklich traf, daß er ihm ein Bein zerschmetterte. Da ergriff er die Flucht, wurde aber von den beiden Hunden, die umgekehrt waren, wieder gepackt, so daß ihn mein Vater und die Bauernburschen erreichen und töten konnten. Merkwürdig war die Schlauheit des alten Wolfes, der den jungen zum Angriff vorausgeschickt hatte, während er selbst sich in der Reserve hielt. Nur war der junge Wolf unerfahren genug gewesen, um ein Schwein an- zugreifen; hätte er ein Lamm ergriffen, so würde ich nichts bemerkt und so zum erstenmal eines meiner Tiere verloren haben. Diesmal war der Frischling durch seine Mutter ge- rettet worden. Auch Friquette kam endlich von der Ver- folgung des jungen Wolfes zurück, bedeckt mit grauen Haaren, ein Beweis, daß sie an den Feind geraten war."

(Übersetzung von J, N e s 1 1 e r.)

Bei dieser Gelegenheit glaubte Retif eine in- teressante Beobachtung über Tiersprache zu machen. Die ganze Herde der Schweine gruppierte sich näm- lich um das verwundete Ferkel herum und ant- wortete auf dessen Gestöhne durch ein lautes Grunzen, „si semblable ä une conversation, que j'en


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fus frapp6", und daß es ihm nicht zweifelhaft war, daß sie ihm Trost zusprachen. In der Erinnerung an diese Szene, die auf den Knaben einen tiefen Eindruck machte, bekämpfte R^tif später die Theo- rie des Descartes, daß die Tiere bloße Maschinen seien.

Die Folge dieses Wolfsabenteuers war, daß man Nikolaus die beiden Gebrüder Court cou aus Nitry als Gesellschafter mitgab, zwei rohe, 15- bis 17 jäh- rige Burschen von niedrigster Herkunft, die alsbald den verderblichsten Einfluß auf den jungen Retif ausübten. Zudem stammten sie aus Nitry, wo man „ungebundener lebt, wo die Luft klarer, aber das Herz verdorbener ist als in Sacy". Treffend ver- gleicht R6tif diese jungen Zyniker mit jenem Menschenfresser aus Languedoc, der 1783 in Tou- louse gerädert wurde und besonders gern das Fleisch junger Mädchen gefressen hatte, was er vor den Richtern mit den Worten motivierte: „Ja, wenn ihr wüßtet, wie gut das schmeckt!"

Solch ein brutaler Zynismus durchwehte alle die Erzählungen, die Frangois und Pierre Court- co u unserem Nikolaus zum besten gaben. Frangois wußte Geschichten von „Zauberern, Gespenstern, Teufelspakten, solche von Gebannten, die sich in Tiere verwandeln und Menschen fressen, von Dieben, die morden und Mädchen in ihre Höhlen schleppen und vergewaltigen, dann aber erwürgen und fressen, wenn die beginnende Schwangerschaft ihr Fleisch zarter gemacht hat, von einem Manne, der sich Flügel machte und dann flog, und der dabei nur von Weiß- brot lebte, das er aus den Bäckerläden der Stadt stahl, und von Geflügel, das er in Feld und Dorf


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erbeutete". R6tif, der all diesen ihm so neuen Dingen mit Begierde lauschte, interessierte sich be- sonders für die Geschichte vom „fliegenden Men- schen", ein Motiv, das er später selbst in einer Utopia- Phantasie verwendet hat. Dann erzählte Frangois Courtcou weiter von kleinen Mädchen aus Nitry, die er in einsame Felshöhlen entführte und dort vergewaltigte, wobei er sich an ihren Tränen und ihrem Abscheu förmlich berauschte, namentlich bei dem Gedanken, daß er selbst, der rohe, häßliche, durch die Pocken fürchterlich entstellte Bursche, diese zarten Geschöpfe ganz in seiner Gewalt habe und von ihnen gefürchtet werde. Er kannte nur diese brutale Wollust.

Schon in der nächsten Woche nach dieser Be- kanntschaft mit Frangois Courtcou lernte R^tif bei einem Besuche in Nitry gelegentlich des St. Christophtages, eines Hauptfestes, einige der Hel- dinnen aus Frangois' Erzählungen kennen. Dort wohnte auch seine Tante Madeion Gautherin, die Schwester seines Vaters, die in kinderloser Ehe lebte und deshalb die Kinder ihres Bruders, be- sonders den kleinen Nikolaus, mit zärtlicher Liebe umfing. Mit einem neuen Hute und einem Hemde mit Spitzenmanschetten, einem roten Rock, blauer Weste und Hose, feinen Kotonstrümpfen und Schuhen mit edelsteinbesetzten, funkelnden Schnallen betrat unser unternehmungslustiger Held Nitry und zog sofort die Aufmerksamkeit der beiden schönsten Mädchen von Nitry, seiner Cousine Edm6e Bois- sard und der Ursule Lamas, auf sich. Die reizende Edmde sah er zuerst, wie sie die Enten zum Teiche gegenüber der Kirche führte, sie küßten


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sich und gingen dann zusammen zur Kirche, wo Nikolaus statt zu beten nur den einen Wunsch emp- fand, mit ihr „derartiges zu erleben wie mit Nannette oder Julie". Bald trat auch die große, schöne Ursule Lamas in die Kirche ein. „Sie hatte ein weißes Kleid mit roten Schleifen, und ihre Ge- sichtsfarbe überstrahlte die Rosen, die sie in ihrem Strauße trug. Sie erschien mir schöner als alle die Damen, die ich später in Paris gesehen habe, deren Reize durch Diamanten, Schminke und andere Kunst- mittel gehoben wurden. Sie ließ mich Nannette vergessen, die elf Monate vorher meine ersten Be- gierden erregt hatte; denn sie war eine schöne Menschenblüte in ihrer schönsten Entfaltung." Und doch blieb der Eindruck Edm^e Boissards der stärkere. Ihr „schlanker Wuchs, ihr schüchternes, jungfräuliches Aussehen" entsprachen mehr dem Ge- schmacke des Knaben als die „voll erblühten Reize" Ursules.

Nach dem Mittagessen begann ein loses Treiben der jungen Leute, von dem R6tif eine köstliche Schilderung entwirft. All die reizenden Mädchen umschwärmten ihn, führten ihn in die Gärten, schmückten ihn mit Blumensträußen. „Ich schritt stolz einher, geschmückt mit meinen Sträußchen, und umgeben von der Schar der jungen Mädchen glich ich einem Liebesgotte." O wenn Julie ihn doch so sehen könnte! Welch ein Triumph seiner Männlichkeit! Da erscheint eine neue Schönheit, ein schlankes, großes Mädchen, dunkelfarbig, mit einem wunderbaren Lächeln: seine Cousine Anne Simon. Neues Entzücken seinerseits. Man gibt sich einen Kuß. Vergessen sind alle früheren Er-


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lebnisse, vergessen alle Schönheiten von Sacy, nur die von Nitry, nur die Gegenw^art fesselt ihn. Aber leider war diese Freude nur ephemer. „Der glück- liche Tag verschwand im Fluge. Überhaupt hat mir mein reifes Alter nichts mehr beschieden, was schöner gewesen wäre als manche Tage meiner ersten Jugend! Gleicht das menschliche Leben nicht der Sage vom Paradiesgarten, in dem der Baum der Erkenntnis steht? Ihr armen Menschen seid nur glücklich, wenn ihr nicht wißt, daß ihr es seid! Unglücklich aber, wenn eure Kräfte zur Entfaltung gelangt sind!"

Welch einen Kontrast mit diesen harmlosen erotischen Idyllen bildete der nun folgende tägliche Umgang mit den trotz ihrer Jugend bereits in den schlimmsten Lastern erfahrenen Gebrüdern Court- cou! Sie erfüllten die Phantasie des Knaben mit schlüpfrigen, obszönen Bildern, ihre Geschichten hatten jenes für die Kindesseele so verderbliche Ge- misch von Aberglauben, Grausamkeit, Wollust und wilder Leidenschaft, das auch heute noch in den Kolportageromanen eine so große Rolle spielt und deren Anziehungskraft auf die ungebildeten, der Kindheit näherstehenden Volksklassen erklärt. Die Spuren des Verkehrs des zwölfjährigen Knaben mit den Courtcous lassen sich sehr deutlich in seiner späteren Entwicklung, im Leben sowohl als auch in seiner Schrift- stellerei nachweisen. Deshalb ist diese Episode so wichtig für die Biographie R^tifs.

Frangois Courtcou gefiel sich namentlich in Geschichten, in denen Hexenmeister ihre Zauberei nur deswegen ausübten, imi sich für ihre unkeuschen


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Gelüste junge Mädchen zu verschaffen, oder in ge- waltsamen, von Obszönität strotzenden Entführungs- szenen. Selbst seine Märchen enthielten „Szenen empörender Ausschweifung". Doch diese Ge- schichten waren nichts in Vergleichung mit den- jenigen seines Bruders Pierre, der ihn nach einiger Zeit ablöste. Von Grund aus schlecht, häßlich, tückisch, verstand es dieser rohe Patron sehr ge- schickt, seine Laster zu verbergen, so daß er als ein „guter Junge" galt. Er wußte noch mehr Ge- schichten als sein Bruder Frangois und so inter- essante, daß der kleine Nikolaus darüber seine Schularbeiten vernachlässigte und vergaß. Schon gleich nach seiner Ankunft in Sacy faszinierte Pierre den kleinen Retif dadurch, daß er ihm einen Pakt mit dem Teufel vorschlug. Derselbe sollte ihnen Edmee Boissard, Ursule Lamas, Marie Fouard und andere schöne Mädchen ver- schaffen, imd zwar durch eine Art Stellvertretung, indem er junge, schöne Höllenbewohnerinnen, die den genannten Mädchen sehr ähnlich waren, zur Verfügung stellte. Diese tolle Idee entflammte Retif in höchstem Grade und weckte unbekannte Leidenschaften in ihm. Pierre setzte wirklich eine „Teufelsbeschwörung" mit allem mystischen Zubehör in Szene, wobei er als geschickter Bauchredner den Teufel selbst sprechen ließ. Da Nikolaus die von dem Teufel gestellte Bedingung, jedesmal, wenn er einen Dienst geleistet hatte, einen erwachsenen Men- schen oder ein Kind männlichen oder weiblichen Geschlechts zu einer Todsünde der Fleischeslust zu verführen, nicht annehmen wollte, so suchte Pierre ihn dadurch zu gewinnen, daß er sich von dem Teufel


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die dabei zu erwartenden Genüsse zügelloser Ge- schlechtslust genau schildern ließ I

Ebenso schlimm waren die Geschichten, die Pierre Courtcou dem kleinen R6tif erzählte, und deren Nachwehen wir z. B. in dessen berüchtigter „AntiJustine" deutlich erkennen können. Sie drehten sich alle mehr oder weniger um den physischen Liebesgenuß, den normalen und den perversen, den R^tif durch ihn zuerst kennen lernte. So schilderte Pierre die Wiedergabe einer alten Sage, „Contre le diable il n'est que d'etre hardi", die geschlecht- lichen Rasereien eines schönen verzauberten Schloß- fräuleins, ihren fleischlichen Verkehr mit dem Teufel und ihren späteren Ehebruch, femer in einer ein eignes Erlebnis behandelnden Erzählung „Christine" die Verführung eines anständigen jungen Mädchens zu allen möglichen sexuellen Perversitäten (Fellatio, Irrumatio etc.). Er begnügte sich aber nicht bloß mit eignen Erzählungen dieser Art, sondern ver- langte auch von Nikolaus eine Gegengabe. So wurde dieser zum „Romandichter" und verband die Aben- teuer mit Nannette und Julie zu einer pikanten Ge- schichte, die er selbst erzählte. Interessant ist dabei die Schilderung des Gesichtsausdruckes von Pierre Courtcou während R6tifs Erzählung: „Ich sah auf seinem abscheulichen Gesichte die Gier sich abspiegeln, und er glich dann den unreinen Geistern der Hölle, die sich, wie man meint, in verbreche- rischen Menschen verkörpern. Sein Wunsch war stets, zu vergewaltigen, und alle seine schrecklichen Lüste gingen von dieser Voraussetzung aus. Ge- schrei, Tränen und Schmerzen bildeten einen der Hauptbestandteile seiner Geschichten."


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R^tif meint zwar, dies sei ihm nicht gefährlich geworden, da er sehr zartfühlend gewesen sei, in Wahrheit aber läßt sich der unheilvolle Einfluß dieser obszön-blasphemischen Phantasien auch in späterer Zeit in manchen eigentümlichen Ideen- verbindungen R^tifs auf sexuellem Gebiete deut- lich erkennen. Retifs Eltern erkannten jedenfalls zu spät die große Gefährlichkeit dieses zynischen Burschen, als er eine ihrer Töchter auf die gemeinste Weise verführt und verdorben hatte. Er wurde mit Schimpf und Schande aus dem Hause gejagt, und es wurde beschlossen, Nikolaus endgültig aus Sacy zu entfernen und seinem älteren Bruder, dem Abb^ Thomas, damals Chorleiter in Bicetre bei Paris, zur besseren Erziehung zu übergeben. Man ließ das Orakel der Familie kommen, einen gewissen Jean Restif, einen älteren Verwandten des Vaters, der auch schon bei der Berufswahl des älteren Bruders, jetzigen Pfarrers von Courgis, seinen Rat erteilt hatte. Dieser unterwarf Nikolaus einer eingehenden Prüfung, deren Ergebnis sehr günstig war. Jean Resti f erklärte ihn für tauglich zum Studium, aber nicht für geeignet zum Pfarrer. Denn er hatte sofort während der Unterhaltung die stark erotische Natur des Knaben erkannt. So wurde zunächst kein be- stimmter Beruf ins Auge gefaßt und nur die Über- siedlung nach Bicetre in die Wege geleitet.

Damit war, wie Retif melancholisch erklärt, die glücklichste Zeit seines Lebens vorüber. Wie ein neuer, unerfahrener Ikarus ging er großen Ge- fahren entgegen. Unschuld und Glück der ersten Kindheit waren dahin.

Dühren, Retif de la Bretonnc. 5


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3. Der Chorknabe von Bicetre (Zweite Epoche 1746 — 1747). Am Dienstag, den 15. Oktober 1746 holte Mar- guerite Paris, die Wirtschafterin des Pfarrers von Courgis, die später noch im Leben Retifs eine Rolle spielen sollte, den Knaben aus dem väter- lichen Hause in Sacy ab, um ihn nach Courgis mit- zunehmen, von wo dann in Begleitung des Vaters am folgenden Tage die Reise nach Paris über Auxerre angetreten wurde, nachdem eine Prüfung Retifs durch den Pfarrer äußerst befriedigend aus- gefallen war. Der Anblick des amphitheatralisch gebauten Auxerre, der ersten größeren Stadt, die er zu Gesicht bekam, machte großen Eindruck auf Nikolaus. Wie aber wirkte erst der Anblick des ungeheuren Häusermeeres von Paris auf ihn! Am meisten erfreute ihn seltsamerweise die Vorstellung, wie gut man unter dieser Menschenmenge ver- schwinden und allein für sich leben könne, ohne daß man sich um andere Menschen zu kümmern brauche. In Bicetre, damals einer unter Leitung der Jan- senisten stehenden Unterrichts- und Siechenanstalt, wurde Nikolaus sehr freundlich von seinen gleich- altrigen Kameraden, den „kleinen Pfarrern", wie er sie wegen ihrer geistlichen Mäntelchen nannte, empfangen. Man nannte sich „Bruder" in dieser kleinen Gemeinschaft, deren Leben nach einer strengen Ordnung geregelt war. Die schönsten Stunden waren für unseren Nikolaus diejenigen von 1/25 Uhr nachmittags bis 8 Uhr abends, wo freie Lektüre nach Auswahl aus der kleinen Bibliothek von Bicetre stattfand. Es waren drei Stunden „reinen Genusses" für ihn. Besonders die Lektüre Rollins


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offenbarte ihm eine neue Welt. Die Bibel wurde während des Mittagessens gemeinschaftlich gelesen, während des Abendessens kam ein Werk des hl. Augustinus oder Hieronymus an die Reihe. Nikolaus erregte dadurch das Erstaunen seiner Kameraden und Lehrer, daß er ganze Stücke aus dem Gelesenen frei wiederholte. Bei schönem Wetter unternahm man nach dem Mittagessen Ausflüge, an die Ufer der Bievre nach Gentilly, oder auf die Hügel von Bicetre, oder zu einem der Anstalt ge- hörigen Landhause mit großem Gemüse- und Obst- garten, wo man ein Mahl einnahm. Trotz dieser vernünftigen Erziehung, der weisen Verteilung der Beschäftigung, der drei Erholungspausen am Tage und des häufigeren Aufenthaltes im Freien, war die Anstalt, wie Retif sagt, in anderer Beziehung ein „Abgrund von Heuchelei und Verderbnis". Zunächst kamen, wie in allen solchen Internaten, auch in Bicetre erotische Beziehungen zwischen den Knaben, homosexuelle Verhältnisse, sogar mit Eifersuchts- szenen, vor, wie Retif eine solche zwischen ihm und seinem Freunde Fayel schildert, der auf den hübschen „Bruder" Jean Baptiste mit seinem „weiblich-zarten" Gesicht und „rosigen Farben" eifer- süchtig war. Auch Retif wäre, wie er meint, dem „Laster der Männerliebe" verfallen, wenn er nicht durch die — Schwester Melanie, eine hübsche Brünette von zwanzig Jahren, verführt worden wäre ! Übrigens unterhielt auch der wirklich dem Laster verfallene Fayel nichtsdestoweniger galante Be- ziehungen zur Oberin. Derartige erotische Kloster- szenen zwischen den Knaben und fast allen Nonnen kamen sehr häufig vor, jede Nonne nahm sich einen

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Knaben mit, sogar die blonde 15 jährige Novize Rosali e verführte unter der Obhut der Schwester Melanie unseren Nikolaus.

Rdtif schreibt die Frühreife dieser Jugend hauptsächlich dem Umstände zu, daß sie eben eine jansenistische war.

„Pascal, Racine und andere," sagt er, „die der Schule von Port-Royal angehört hatten, besaßen einen Scharfsinn, eine Klarheit in ihren Schlüssen, zeigten Wahrheit und Tiefe selbst in Kleinigkeiten und eine Reinheit der Diktion, die um so erstaunlicher sind, als die Jesuiten zur gleichen Zeit nur über einige hohle Schwätzer wie Annat, Caussinu. a. ver- fügten. Die Jansenisten sind eben ernst, überlegt und lehren früher und wirksamer ein tieferes Denken als die Molinisten. Sie entwickeln Geist und Herz kräftiger und geben diesen eine starke Stütze zum Widerstand gegen die Leidenschaften. Sie bringen ihre Schüler zur Einkehr bei sich selbst durch Über- legung; kurz ihre Erziehung erzeugt Logiker und Philosophen oder Fromme. Denn der Jansenist hält sich stets Gott gegen- wärtig und ist überzeugt, daß schon ein Nichtdenken an ihn verdammungswürdig ist. So vollführt er alle seine Handlungen gleichsam unter den Augen dieses furchtbaren Zeugen, der selbst dem Gerechten Schrecken einflößt. Deshalb arbeitet seine Intelligenz unaufhörlich; er untersucht, enthüllt und studiert die verborgensten Falten seines eigenen Herzens. Da er seine fortwährende Überlegung auf alles anwendet, ist der Schüler der Jansenisten nicht immer fromm. Im Gegenteil, die allzu große Strenge des Jansenistengottes läßt ihn in der Kindheit fürchten, in der Jugend tiefer ergründen und im reifen Alter seinen Geist mit Gerechtigkeitsgefühl nicht an ihn glauben.

Der Jansenist nun, der studiert, überträgt die Aufmerksam- keit und das tiefe Eindringen, das er an sich selbst geübt hat, auch auf die Wissenschaften und macht dann reißende Fort- schritte in ihnen. Studiert er nicht, bleibt ihm die Selbst- erkenntnis und eine gut ausgebildete Menschenkenntnis, auch ist er oft streng, starrsinnig und streitsüchtig. Ist es demnach


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zu verwundern, daß Racine ein großer Schilderer des menschlichen Herzens war und daß ihm seitdem niemand •darin gleichkommen konnte? Er war stets Jansenist. Ist es zu verwundern, daß Pascal, schon von Natur aus ein tiefer Geist, in gewissen Dingen, wie Racine in anderen, alle Zeitgenossen übertroflfen hat? Daß Boileau diese fein gefeilten Verse dichtete, die unsere Bewunderung und die Verzweiflung unserer Dichter erregen?

Ich hatte hundertmal in meinem Leben Gelegenheit, eine gewisse Überlegenheit des echten Jansenisten zu beobachten. Der Dummen unter ihnen sind es weniger als andere, es gibt -unter ihnen aber auch die unerträglichsten und die vertrock- netsten Leute, sie lassen dich auf langsamem Feuer sterben' oder an Nadelstichen zugrunde gehen. Ich verdanke dem Jan- senismus viel, bin aber nicht mehr Jansenist. Doch die Ge- wohnheit, alles zu überlegen, ist mir geblieben. Diese köst- liche Gewohnheit hat vielleicht meine Lebenstage abgekürzt, aber sie hat mich vor der Langeweile bewahrt, vor der Lange- weile, der langsamen Vernichtung der Seele, die schlimmer ist als der Tod." (Übersetzung von N e s 1 1 e r.)

Der Aufenthalt Retifs in Bicetre sollte nicht lange dauern. 1747 starb der Erzbischof Gigot <ie Bellefons von Paris. Sein Nachfolger war Christoph de Beaumont, der gleich nach seiner Installation den Jansenisten den Krieg erklärte, sie in mannigfacher Weise belästigte, wie z. B. durch eine von Retif sehr ergötzhch geschilderte Biblio- theksrevision in Bicetre, und schließlich ganz ver- trieb. Schon vorher, am 22. November 1747, hatte Abbe Thomas es vorgezogen die Anstalt zu ver- lassen und vorläufig seinen Bruder Nikolaus zu seiner Schwester Marie Beaucousin nach Paris zu bringen. Hier blieb R6tif vierzehn Tage und ver- trieb sich die Zeit mit eifriger Lektüre. Er las u. a. den „Heiligen Hof" des Pater Gauss in, ein mo- ralisches Werk, „Spiegel der Leidenschaften", dann


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mit größtem Entzücken einige Seiten aus dem „Gil Blas" von Lesage, den ihm aber die Schwester fortnahm wie andere Romane, die ihm in die Hände gefallen waren.

Dafür entschädigte sich der Junge durch den Anblick der hübschen Mädchen, die zu seiner Schwester kamen. Er zitterte vor Begierde, denn seit dem Erlebnis mit den beiden jungen Nonnen war er ein „tüchtiger Krieger" geworden. Beinahe hätte er eine verheiratete Frau, Madame Bosse, die besonders verführerisch herausgeputzt war, ver- führt. Mehr Glück hatte er bei einer — Mu- lattin, dem Zimmermädchen einer Amerikanerin. Sie war ihm wegen ihres dunkelfarbigen Aussehens etwas ganz Neues und ihr „süßes Gesicht" war eines der verführerischsten, das er je gesehen hatte. Nament- lich bezauberte ihn ihr liebliches Lächeln, das ihn an eine schwarze Schöne auf einem alten Bilde „Toi- lette Esthers" erinnerte. Der charakteristischen Er- klärung dieses reizenden Mulattenmädchens : „Mein kleiner Weißer! Ich liebe die Weißen, nicht die Schwarzen, du können mit mir kommen", folgte denn auch sofort die Verführung ihrerseits, die in der Ars amandi über eine bedeutend größere „theo- retische Bildung" verfügte als der doch auch nicht mehr ganz unerfahrene Nikolaus. Wie öfter wurde er auch in diesem Falle nach dem Genüsse ohn- mächtig.

Nach 14 Tagen verließ Abbe Thomas mit Nikolaus Paris und kehrte auf Einladung des Pfarrers von Courgis in seine Diözese zurück. Thomas blieb zunächst in Auxerre, während Nikolaus von der Wirt-


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schafterin des Pfarrers, Marguerite Paris, ab- geholt wurde und am 29. Dezember 1747 in Courgis eintraf.

4. Beim Pfarrer von Courgis (Dritte Epoche, 1748 — 1751).

Courgis, ein durch Weinbau ausgezeichneter Ort, lag am Abhang einer dürren, wasserarmen Hügelkette, Retif nennt es seine zweite Heimat, die dritte war Auxerre, die vierte und letzte Paris, sein Grab. Hier in Courgis erlebte er, wie er (M. N., n., 'j']) sagt, die dritte Epoche seines Lebens, die erste der „wirklichen Entwicklung der Leiden- schaften", von der der ganze übrige Rest seines Lebens abhängig sei.

Sein Bruder, der Pfarrer von Courgis, war das Ideal eines aufrichtig gläubigen Seelenhirten. Er hatte ein einfaches Mittel, alle etwa in ihm auf- steigenden religiösen Zweifel zu zerstreuen, indem er — aufhörte zu denken, zu überlegen. Die Bibel wurde ihm dann „Vernunft, Physik und Erfahrung". Er betrachtete es als seine eigentliche Lebensauf- gabe, zu glauben und den Glauben zu lehren und sagt : „Ich wäre kein ehrlicher Mann, wenn ich nicht glaubte." Retif meint, daß etwas „Erhabenes" in dieser Denkungsart liege.

In Courgis begann Nikolaus zunächst das mehr systematische Studium der lateinischen Sprache, das ihn zuerst nicht sonderlich begeisterte, später aber nach Überwindung der schwierigen Anfänge ihm sehr viel Freude machte. In seinen Schriften findet man überall die Spuren dieser Vorliebe für Latein. Frei-


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lieh blieb zeitlebens seine Au^^drucksweise in dieser Sprache paradox und voll von stilistischen Unmög- lichkeiten, ein französiertes oder besser ein aus fiem Patois direkt übersetztes Latein. Doch ver- dankte er dem Studium des Lateinischen die „Ent- wicklung und die Klarheit" seiner Ideen, und das- selbe erschloß ihm die eigentliche Bedeutung von Worten, die er ^üher nur auf Grund des Gebrauches verstand.

Auch machte er bald darauf den Versuch, Griechisch zu lernen, kam jedoch nicht weit damit, weil er „unübersteigliche Hindernisse" fand, was er sehr bedauerte, da das Griechische „eine Bieg- samkeit und Leichtigkeit der Verbindung" besitze wie keine moderne Sprache. Später eignete er sich aber etwas mehr davon an.

Er wurde zusammen mit zwei anderen Knaben, Hu et und Melin, unterrichtet. Die Unterrichts- methode des Pfarrers von Courgis und des Ahh6 Thomas lief auf eine Überlastung des Gedächt- nisses hinaus. Während Retifs Kameraden des Morgens zwölf Verse aus dem Neuen Testamente und zwei Lektionen aus dem Katechismus in drei Viertelstunden auswendig zu lernen hatten, mußte er selbst nicht nur diese Aufgabe, sondern in der- selben Zeit auch noch eine Lektion aus der Lehre von der besonderen Gnade, zwei Kapitel aus dem Katechismus von Fleury, eine Fabel von Phädrus oder eine Ekloge von Vergil oder eine lateinische Epistel des hl, Hieronymus oder ein Kapitel aus „De civitate Dei" des Augustinus bewältigen. Dabei waren andere profane Autoren streng verpönt. Man fürchtete den Polytheismus in denselben, was


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R^tif kindisch findet. Denn ein Mensch, der über- lege, werde doch niemals in Polytheismus verfallen.

An Sonn- und Feiertagen fand nachmittags Kate- chismusprüfung in der Kirche statt, gemeinschaftlich mit den Mädchen, während zwischen ihnen der Pfarrer im Mittelgange auf und ab ging. Diese Kate- chismusprüfung war für Nikolaus ein „köstliches Ver- gnügen". Da sah er die hübschesten jungen Mädchen, hörte sie aufrufen und antworten, und lauschte voll Entzücken dem Ton ihrer sanften, harmonischen Stimmen. „Ach! Wenn die Jansenisten geahnt hätten, was das für eine Wonne für mich war 1" fügt er in Parenthese hinzu.

Der Ostersonntag des Jahres 1748 kam heran. Er sollte unserem Nikolaus dieselbe Offenbarung bringen, wie einst dem Petrarca der berühmte Montag der heiligen Woche (6. April) des Jahres 1327: die erste, einzige und wahrhaftige Liebe seines Lebens. Die „Laura" seines Lebens sollte ihm erscheinen.

Bevor er über diesen denkwürdigen Augenblick berichtet, wirft Retif einen interessanten Rückblick auf seine bisherigen erotischen Erlebnisse, von denen er, gewiß richtig urteilend, sagt: ,Für Marie Fouard hatte mein Herz gesprochen, aber ich hatte mit ihr doch nur an die Heirat gedacht, wie sie auf dem Lande üblich ist; Nannette hatte nur meine Sinnlichkeit erregt, Julie auch von meinem Gemüt Besitz ergriffen. Für Ursule hegte ich nur die beinahe pflichtgemäße Neigung als Cousin, Edm^e Boissard hatte mich mit Bewunderung erfüllt, Me- lanie und Rosalie hatten meine Sinne heraus- gefordert, Esther (die Mulattin) hatte mich er-


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obert, weil sie mir etwas Neues war, aber in Courgis sollte ich die echte Liebe kennen lernen."

Schon 3 1/2 Monate hatte der Aufenthalt Retifs in Courgis gedauert, ohne daß er einem Mädchen begegnet wäre, das ihn Julie hätte vergessen machen. Seine Phantasie malte ihm das Ideal eines Weibes als Quelle seines Glückes. Und wovon man träumt, das findet man bisweilen in der Wirklich- keit, indem der Traum, der Wunsch ihr zu Hilfe kommt. So kam der Ostertag des Jahres 1748 heran mit all seinem Feiertagsgepränge, dessen suggestive Wirkung eine bedeutsame Rolle bei der Genesis dieser einzigen, idealen Liebe gespielt zu haben scheint.

„Die jungen Mädchen waren in ihrem schönsten Staat, das Gotteshaus war von reichlichem Weihrauch durchduftet, das Hochamt gewann, von Diakon und .Subdiakon (dem Kaplan und Abbe Thomas) zelebriert, eine imposante Majestät; ich war in einer Art Rausch. Die Mädchen zogen an mir zur Kommunion vorüber; als die hübschesten unter ihnen er- schienen mir eine junge Polin mit rosiger Gesichtsfarbe, die die Tochter einer hübschen Frau, Madame C h e v r i e r , war, und ein Patenkind Marguerites, Marianne Ta- b o u e. Diese kam meinem Ideal am nächsten. Als der Augenblick der Kommunion herangekommen war, sah ich die Männer sich zurückziehen und die Frauen und jungen Mäd- chen vorrücken, unter ihnen eine, die ich noch nicht gesehen hatte und die alle anderen überstrahlte. Sie war bescheiden, schön, groß, sie hatte ein jungfräuliches Aussehen, eine zarte Färbung der Wangen, die ohne Zweifel eine holde Schamröte und damit ihre Unschuld nur noch mehr hervortreten ließ. Sie war wie eine Nymphe gewachsen, geschmackvoller ge- kleidet als ihre Genossinnen und besaß überdies einen für mich allmächtigen Reiz, dem ich niemals widerstehen konnte, einen schönen Fuß. Ihre Haltung, ihre Schönheit, ihr Ge-


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schmack, ihr jungfräulich zartes Antlitz, kurz alles zeigte mir das angebetete Gebilde meiner Phantasie verwirklicht, zu Fleisch und Blut geworden.

„Das ist sie !" sagte ich ziemlich laut. Denn es war ein so klarer und bewußter Gedanke, daß er sich in Worte um- setzen mußte, sie bemächtigte sich meiner ganzen Auf- merksamkeit, meines ganzen Herzens, meiner ganzen Seele, aller meiner Wünsche. Ich sah nichts mehr als sie — und doch wußte ich ihren Namen nicht,"

Es war Jeannette Rousseau, die „zarteste" Frau, die Venus, die wahre Schönheit (M. N. XIII, 30), von jetzt ab der Schutzgeist, der gute Dämon seines Lebens, sein leidenschaftliches, an- gebetetes Ideal. „Arno statim, dein ardeo, saepeque furo" schrieb er in sein erstes Tagebuch, den „Codex" (Mes Inscripcions 6d. Göttin, S. XXIX). Er hebte sie nicht wie eine Schwester, nicht wie eine Freundin, nicht wie eine Göttin, sondern mit einer „lebendigen, gewaltigen Neigung", weil ihm ein unbewußtes Ge- fühl sagte, daß sie die Ergänzung zu seinem eigenen Sein sei, die Bedingung seines vollständigen, dauern- den Glückes.

Retif kann nicht oft genug die ungeheure Be- deutung dieser Liebe für seine weijiere Entwicklung hervorheben. Noch im Jahre 1794 ruft er aus: „Ich habe alles getan, um dieses Mädchen zu verdienen. das ich niemals besessen, niemals gesprochen habe, dessen Namen heute noch, nach sechsundvierzig- jähriger Trennung, mich im Alter von sechzig Jahren mit tiefer Bewegung erfüllt, obwohl ich es niemals gewagt habe, mich nach ihrem Schicksal zu er- kundigen. Ich bete sie noch immer an, trotz allem, was ich später erlebt habe, und wie ein großes Un- glück fürchte ich die Nachricht von — ihrem Tode !"


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Der Liebe zu Jeannette Rousseau, der ewigen Erinnerung an sie verdankte er seine ganze Lebensenergie, den Mut, gegen widrige Schicksale anzukämpfen. Lange Jahre hindurch war sein täg- liches Gebet : Unam petii a Domino, et hanc re- quiram omnibus diebus vitae meae! Hätte er sie alle Tage gesehen, so wäre er, wie er meint, groß geworden wie Voltaire und hätte Rousseau weit hinter sich gelassen.

Diese leidenschaftliche, unendliche Liebe zu dem fast um drei Jahre älteren (am 19. Dezember 1731 geborenen) Mädchen äußerte sich manchmal auf recht phantastische Weise. So schrieb er das Datum ihrer Geburt auf Täfelchen und benutzte diese als eine Art von Talisman, dessen Betrachtung ihm Mut zur Arbeit und zur Tugend gab. Er suchte in der Kirche den Platz Jeannettes auf, kniete nieder, betastete ihren Sitz, küßte den Stein, den ihre zarten Füße betreten hatten, und ging weg, das Herz voll Freude und Wonne.

Ganz wie Rousseau schildert er die Erhöhung des Naturgefühls durch die Liebe. Oft brach er schon um 2 Uhr 'morgens im Sommer auf, um den Sonnenaufgang zu beobachten. Er durchwanderte ein tiefes, schmales Tal östlich von Courgis, in dem der Vater Jeannettes Pappelbäume stehen hatte, die von einem eisig kalten Bache umflossen wurden. Er liebte diese großen Bäume leidenschaftlich wie ein Stück von Jeannette selbst. Dann erstieg er einen hohen Hügel, genoß voll Entzücken das Er- wachen der Natur und den prachtvollen Aufgang der Sonne und verschmolz das Bild der Geliebten mit dem Zauber dieser Morgenstimmung. Denn man


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muß „jung und verliebt sein, um den ganzen Zauber eines schönen Sonnenaufganges zu empfinden".

Unter dem Einfluß der Liebe verstärkte sich sein Heimatsgefühl. Oft besuchte er von Courgis aus das Elternhaus in Sacy, suchte dort alle Orte auf, wo er Angenehmes erlebt hatte, und vergoß in dem Gedanken anJeannetteRousseau Tränen der Rührung und Freude.

Bei diesen Ausflügen nach Sacy und La-Bretonne hatte er ein Abenteuer mit einem Mädchen Mar- guerite Mine, das er nicht verschweigen will, wie er sagt, obwohl es ihm den Vorwurf zuziehen muß, „unmoralisch" zu sein, ein „neues Wort", das er jetzt von allen Seiten höre.

Marguerite Mine, ein sehr hübsches Mäd- chen, stand vor der Heirat mit einem reichen Bauern- burschen Covin. Es war eine Liebesheirat. Des- halb war es erklärlich, daß das Mädchen „in Wonne und Freude schwamm", als Nikolaus ihr zwei Tage vor der Hochzeit begegnete und sie bat, ihm nach- her zu sagen, was „die Ehe sei". Sie versprach es. Am Sonntag nach der Hochzeit Marguerite Mines fand in La-Bretonne die Einbringung des Heus in die verschiedenen Scheunen statt, an der die ganze Jugend sich beteiligte. Dies geschah nach dem Abendgottesdienste. Man aß dabei Rahm und „Galotes", ein Gebäck aus in Milch geknetetem und dann in einer Art Brühe gekochtem Teig. Nikolaus und Marguerite blieben, während die übrigen, darunter auch ihr eben angetrauter Gatte, essen gingen, allein in einer Scheune zurück, und hier bat Nikolaus um die Erklärung des Begriffes „Ehe", "indem er völlige Unwissenheit heuchelte. Er er-


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wartete zunächst nur Theorie, Marguerite aber begann ihn praktisch in alles einzuweihen, ging von Einzelheit zu Einzelheit, bis zur völligen Lösung der Frage, die für ihn „glücklicher ausfiel" als je- mals zuvor. Retif versichert, daß weder er noch Marguerite irgend etwas Unmoralisches oder vSündhaftes in dieser „Lektion" gefunden hätten. Er habe sogar während derselben mit großer Zärtlich- keit an seine geliebte Jeannette gedacht! Ja, er meint, daß diese Akte frühreifer Mannbarkeit ihn gerade von einem liederlichen Leben zurückgehalten hätten. „Ich fand deshalb das Weib nicht weniger begehrenswert, nur kam dann mein Herz mehr ins Spiel als die Sinne, namentlich gegenüber Jean- nette."

Wie man sieht, hinderte dieser Piatonismus unseren Nikolaus nicht, den Begierden der physi- schen Liebe nachzugehen. Das Abenteuer mit Mar- guerite Mine hatte seinen „Organen ihre volle Entfaltung gegeben" und seine Phantasie wieder ganz aufs Erotische gerichtet. „Ich litt, ein ver- zehrendes Feuer glühte in meinen Adern, ein Sturm von Empfindungen durchtobte mich." Er wurde „Wüstling", ohne seine „Naivetät" zu verlieren. Die polygame Anlage seines Wesens trat hervor, nament- lich da er sein leidenschaftliches Temperament nicht durch den Besitz Jeannettens beruhigen konnte. Sie allein, sagt er, hätte ihn zu einem „Monogynen" machen können.

In dieser Zeit der Gärung fielen ihm die Ko- mödien des Terenz in die Hände, die ihn ent- zückten und alle seine Leidenschaften noch stärker anregten. Ganz von selbst richteten sich seine ero-


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tischen Wünsche auf das erste Weib, das stets in der Nähe war, auf die Wirtschafterin seines Bruders, Marguerite Paris. Während sich seine Phan- tasie glühend für die unerreichbare Jeannette ent- flammte, wirkte die trotz ihrer 40 Jahre noch recht hübsche und trotz ihrer Frömmigkeit ein wenig kokette Marguerite durch ihre ständige Nähe um so stärker auf ihn. Retif sagt, daß die Natur die Jünglinge mit Vorliebe zu solchen reifen Frauen führt, bei denen sie nicht zärtliche Liebe, sondern nur Genuß und Befriedigung ihrer Begierden suchen. Außerdem bezauberten ihn die geschmack- volle Frisur Marguerites und ihre wunderschönen Pariser Schuhe, neue, weiß gestickte Pantoffeln von schwarzem Maroquin mit hohen Absätzen. Darüber waren feine baumwollene Strümpfe mit blauem Ein- satz sichtbar. Dieser reizende Fuß erweckte in Nikolaus, bei dem jetzt die Pubertät völlig einge- treten war — seine Stimme brach sich und er fing an, das Rasiermesser zu gebrauchen — , die heftigste Sehnsucht, von ihr die höchste Gunst zu erlangen. Gelegentliche Berührungen ihres Körpers steigerten dieses Verlangen .bis zur Siedehitze und führten ihn zu „Verirrungen, die man nicht erzählen kann".

Bald aber sollte er sein Ziel erreichen. Er mußte sie auf einer kleinen geschäftlichen Reise nach Auxerre begleiten, wozu sie sich besonders schön herausputzte, so daß sie 10 bis 15 Jahre jünger aussah. Sie ritt auf einem Esel, während Nikolaus an ihrer Seite schritt. Bisweilen stieg sie ab, und er bewunderte ihren verführerischen und unge- zwungenen Gang, wie ihn schön gebaute Frauen mit hohen Knöcheln haben. Die Unterhaltung betraf


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einen beiden teuren Gegenstand : JeannetteRous- seau. Denn ihr Vater war einst die stille Liebe Margueritens gewesen. Nach Erledigung der Ge- schäfte in Auxerre nahmen sie ihr Mittagsmahl bei einer Madame Jeudy, einer Jansenistin, ein, in deren Hause recht eigentümliche Verhältnisse herrschten. Sie hatte eine hübsche Nichte und eine noch schönere Tochter bei sich, die sich kürzlich verheiratet hatte, aber nur durch den Priester, nicht durch die Natur ihrem Manne angetraut war! Das Paar mußte näm- lich bei der Madame Jeudy wohnen, die es streng bewachte und keinerlei intimeren Verkehr zwischen den beiden duldete. Ebenso waren zärtliche Blicke und Gespräche bei Tisch verpönt. Die Schilderung dieses Diners bei Madame Jeudy ist ein ganz köst- liches Genrebild, bei dem auch G^rard de Ner- val in den „Illumines" verweilt. Später kamen Nikolaus und Marguerite Paris noch einmal wieder nach Auxerre und speisten bei Madame Jeudy, wo die junge Frau Buße tun mußte, weil sie inzwischen von ihrem Manne ein — Kind be- kommen hatte. Diesen letzteren hatte die erboste Schwiegermutter als — Wüstling und Verführer zu seinen Eltern zurückgeschickt!

Auf dem Heirnwege von Auxerre rasteten Mar- guerite und Nikolaus in dem Tale von Mon- talery und nahmen dort das Abendessen ein, welches vertrauliche Beisammensein der kecke Niko- laus zu dem ersten Versuche einer Verführung be- nutzte, die dieses Mal noch mißlang, aber nur, trotz der momentanen Ablenkung durch die Erzählung der romantischen Lebensgeschichte Marguerites,^ die Sinnlichkeit des Knaben noch stärker reizte.


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Nach der Rückkehr ins Pfarrhaus schHch er sich noch in derselben Nacht heimlich zu ihr und ver- führte sie im Schlafe. Wenige Monate später mußte sie Courgis verlassen, weil sie die Folgen dieses Überfalles spürte. Sie ging nach Paris, wo sie heim- lich mit einer Tochter niederkam. Sie hatte Niko- laus verziehen und war in Liebe von ihm geschieden. Für ihn war dieses Aber teuer nur der Beginn einer Periode des heftigsten Erotismus. R etif scheint eine sehr stürmische Pubertät durchgemacht zu haben. Er sagt selbst darüber: „Nach diesem Erlebnis wurde mein Geschlechtstrieb, der noch frisch, aber doch vollständig entwickelt war, ein ge- bieterischer. Ich empfand noch stets die gleiche Verehrung für die keusche Schönheit der sittsamen Jeannette. Denn sie erweckte Empfindungen in mir, die über den Zweck der Natur weit hinausgingen. So begehrte ich jetzt andere Frauen und Mädchen, die ich unendlich weniger liebte, nur noch stärker. Meine Phantasie war gegen meinen Willen von wollüstigen Bildern erfüllt. Durch die Religion und durch die Arbeit suchte ich sie zu verscheuchen, doch sie kehrten immer wieder. Infolge meiner Er- lebnisse konnten sie jetzt nicht mehr undeutlich und farblos bleiben. Sie beruhten nun auf einer festen Grundlage, und lebhaft begehrte ich alles, was mir fähig schien, mir die ersehnte Empfindung zu ver- schaffen . . . Ich war verzehrt von Begierden nach allen hübschen Frauen des Ortes. Meine erhitzte Phantasie zeigte mir öfters ein Serail, das aus diesen Schönen zusammengesetzt war, und verstieg sich bis zur Zahl zwölf. Weniger hätten meinem Appetit nicht genügt. Ich verirrte mich in einem Labyrinth

D Uhren, R^if de la Bretonne. ^


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von Unzüchtigkeit, wenn ich mich mit diesen Oda- lisken befaßte."

Da die Gelegenheit zur physischen Befriedigung seiner erotischen Begierde fehlte, trat die geistige Ausschweifung immer mehr an Stelle der körper- lichen. Er suchte sich von dem übermäßigen Drange zu befreien, indem er ihm in poetischen Versuchen Ausdruck gab. So fing er an, in Nachahmung des Terenz, eine lateinische Komödie in Prosa zu schreiben, von stark erotischer Färbung, und in der Mädchen mit ihren Burschen eine sehr freie Sprache führten, die wesentlich den obszönen Erzählungen des Pierre Courtcou nachgebildet war. Unter anderem schilderte Nikolaus darin sein Erlebnis mit Marguerite Paris bis auf die kleinsten Einzel- heiten. Aus Furcht vor Entdeckung zerriß er die Blätter und warf sie zwischen Sacy und Joux fort. Sie fielen aber dem zufällig des Weges kommenden Pfarrer Foudriat von Sacy in die Hände, der die zerrissenen Stücke wieder vereinigte und las, aber nach einer Ermahnung an Nikolaus das Ganze verbrannte, ohne weitere Anzeige zu machen.

Hierauf faßte der unverbesserliche Nikolaus den Plan, die Reize Jeannettes, Marguerites und aller Schönen von Courgis und seine daran sich heftenden Begierden in französischen Versen zu be- singen. Diese Idee gewann greifbare Gestalt nach einem Besuch in Vermenton, wo er zwar die schöne Colette Collet nicht angetroffen hatte, dagegen bei seinem Schwager die galanten Dichtungen des Abb6 von Montreuil entdeckte.

„Immer wieder las ich sie! In wollustiger Verirrung hatte ich oft verheiratete Frauen begehrt, aber das konnte


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ich mir nicht denken, daß in der Hauptstadt meines Vater- landes der Ehebruch als vornehmer Zeitvertreib galt! Diese neuen Erfahrungen, die nicht zur Reinheit meiner Sitten bei- trugen, sog ich gierig in mich ein. Auch machte ich dabei einige Beobachtungen über Verstechnik, namentlich über die des Alexandriners. Die Lektüre des Terenz ließ mir betreffs der schönen Literatur den ersten Schleier von den Augen fallen. Als ich den galanten französischen Dichter las, sank ein zweiter, so daß ich in das Sittenleben meiner Nation, des Hofes und der großen Welt Einblick bekam. Die Galanterie erregte meine Aufmerksamkeit um so mehr, als es ein Abbe war, der sie besang. Bis jetzt hatte ich nur fromme und strenge Abbes gesehen. Ein galanter Abbe war ein Phäno- men für mich! Wenn ich die Liebesgedichte las, die Mon- t r e u i I an Mädchen, namentlich aber an Frauen richtete, zweifelte ich oft, daß Sitten, wie die geschilderten, möglich wären. Er erst gab mir eine leichtfertige Ansicht von der Treue in der Ehe." (Übersetzung von N e s 1 1 e r.)

Dieses Vorbild wurde nun alsbald nachgeahmt. Nikolaus begann die Abfassung einer neuen ero- tischen Dichtung, dieses Mal in französischen Versen, die allerdings sehr schlecht waren. Es war das „schlechtgereimte Produkt" seiner „De- lirien". Der Held dieser Dichtung war er selbst. Das Motiv war seine Belohnung für einen großen, dem Staat geleisteten Dienst. Der König sollte ihm als höchsten seiner Wünsche nicht weniger als — zwölf junge Mädchen gewähren, damit er mit diesen auf einem ihm gleichfalls geschenkten Grundbesitz in seiner Heimat herrliche Tage verleben könne. Und zwar sollten diese zwölf Mädchen nur aus den Dörfern Courgis, Sacy und Nitry stammen.

Die Zahl „12" wählte Retif nach der Zahl der Monate. Für jeden Monat war eine Geliebte bestimmt. Hier spukt bereits sehr deutlich die Idee

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des späteren „Kalendrier" vor. Der Titel sollte „Die zwölf Monate" oder besser noch „Meine zwölf Ar- beiten" lauten. Jedes Mädchen wurde ausführlich geschildert und ein Bild der mit ihr gekosteten oder zu kostenden Wonnen gegeben. Nur der Dezember (der Monat Jeannette Rousseaus) glänzte in reiner Keuschheit . . . „Um mich in ihren Augen zu rechtfertigen, ließ ich sie glauben, daß meine „zwölf Arbeiten" nicht eine Belohnung, sondern eine Strafe seien, die der Neid und die Verleumdungen meiner Feinde über mich heraufbeschworen hätten, daß ich mein Leben verwirkte, wenn ich nicht von all den Mädchen ein Kind erhielt."

In den Erholungsstunden arbeitete er ununter- brochen an dieser seltsamen Dichtung. Er trug das Manuskript und Schreibzeug stets in der Tasche bei sich und lebte und webte eine Zeitlang in diesen ausschweifendein Phantasien, Während er so höchst obszöne Verse dichtete, floh er die jungen Mädchen, besonders die geliebte Jeannette Rousseau, der gegenüber ihn eine unüberwindliche Schüchternheit befiel. Im Juli 1749 beendigte er diese Dichtung, die ihm nun ein Gegenstand beständiger auto- erotischer Genüsse wurde. Er las sie oft, dekla- mierte sie laut vor sich hin und erfüllte so beständig seine Phantasie mit wollüstigen Bildern, Auch fügte er neue schlüpfrige Episoder hinzu wie z. B. die Szene mit Marguerite Min 6.

Da fiel eines Tages dieses kompromittierende Manuskript dem Abb^ Thomas und dem Pfarrer von Courgis in die Hände. Zunächst eisiges Schweigen von selten der beiden geistlichen Brüder. Der Vater in Sacy wurde von ihnen benachrichtigt


— So- und erschien am dritten Tage, um dem Sünder eine Strafpredigt zu halten, die den tiefsten Eindruck auf ihn machte. Seine Brüder behandelten ihn fortan mit außerordentlicher Strenge und verboten ihm sogar die Lektüre sehr harmloser Bücher, wie z. B. des „Theatrum mundi". Ihre offene Feindseligkeit erfüllte den Knaben mit dem Gefühl des Hasses. Heimlich wandte er sich in einem Briefe an den jetzigen Leiter von Bicetre und bat um eine An- stellung, wobei er sich über das Verhalten seiner Brüder beklagte. Der Brief wurde aber an letztere zurückgeschickt. Es kam wieder zu einem großen Skandal. Nikolaus entfloh heimlich, wurde aber wieder zurückgebracht und schlimmer als zuvor be- handelt. Sowohl der Abb6 als auch der Pfarrer suchten auf alle mögliche Weise das weitere Stu- dium Retifs zu hintertreiben. Sie hielten ihn für einen ausschweifenden Menschen, der nur für sexuelle Dinge Interesse hätte, ohne bei ihrer an- geborenen Indolenz den tiefen Zusammenhang zwischen dem Geschlechtstriebe und geistiger Tätig- keit zu ahnen. Gerade diese leidenschaftliche Natur nährte in unserem Nikolaus die Lust und Liebe auch zu geistiger Betätigung, feuerte ihn an zum Weiterstreben und Weiterschaffen. Der Vater, dem die Brüder fortwährend zusetzten, Nikolaus lieber ein Handwerk ergreifen zu lassen, hatte eine viel richtigere Vorstellung von der Natur seines Sohnes und weigerte sich zunächst, in diesen Berufswechsel einzuwilligen, da man vor dem zwanzigsten oder fünfundzwanzigsten Lebensjahre über einen Men- schen überhaupt kein entscheidendes Urteil abgeben könne.


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Ein großes Unglück, das Courgis heimsuchte, nämlich ein fast das ganze Dorf einäscherndes Großfeuer, das Retif sehr dramatisch schildert, unterbrach für eine Weile die Intrigen der Brüder gegen sein Studium. Schließlich aber kam es nach einem neuerlichen unabsichtlichen Fehltritt des Knaben zum Bruche, und man nötigte den Vater, ihn aus Courgis abzuholen und ihn ein Handwerk lernen zu lassen.

Das Verhalten seiner sonst von Natur durch- aus nicht bösartigen Brüder erklärt Rdtif aus dem Umstände, daß Kinder desselben Vaters, aber von verschiedenen Müttern, sich eben niemals aufrichtig lieben können.


Drittes Kapitel.

Die Lehrlingszeit in Auxerre. Madame Parangon.

(Vierte Epoche, 1751— 1755-)

Wir kommen jetzt zu dem interessantesten Ab- schnitt der Lebensgeschichte Retifs, dem Höhe- punkte seiner Entwicklung. Hier, in Auxerre, ward der Knabe, der Jüngling ganz zum Manne. Es war die Zeit der „grandes passions". Und trotz seiner Stellung als Lehrling hatte er unvergleichlich mehr Freiheit als in Courgis und ward mit einem Schlage, wie er sagt, zum „Herrn seiner Lebensführung und Weiterentwicklung". Der gewählte Beruf, die Buch- druckerei, sollte für sein späteres Leben von größter Bedeutung werden. Er bestimmte in gewissem Sinne die ganze Art und äußere Form seiner späteren Schriftstellerei und ermöglichte ihm, wie wir noch sehen werden, das fast momentane Festhalten der Erlebnisse und Eindrücke. Der Druckerberuf war ihm Mittel zum Zweck, nicht der Zweck selbst. „Ich bin," sagt er, „für etwas geboren, das den Lettern verwandt ist, aber nicht für die Lettern selbst,"

Auch das erotische Element trat nun in einem ganz anderen Maße in sein Leben ein. Nicht mehr einzelne Mädchen und Frauen sind es, wie früher, es ist ein ganzer Schwärm, es ist eine wahre „Fülle der Gesichte". Er lebt gewissermaßen beständig in


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einer glühenden Atmosphäre der SinnHchkeit, deren hohe Temperatur durch die große Zahl der ihm tagtäglich vor Augen kommenden schönen und hübsch gekleideten Mädchen bedingt wurde. Und inmitten dieser heißen Erotik, eigentlich beständig sie nährend, entwickelt sich ein merkwürdiges Liebes- idyll, das schönste im Leben unseres Helden. Ma- dame Parangon steht im Mittelpunkte desselben, vielleicht die „süßeste und rührendste Figur" der Zeit, die edle „befleckte Lilie", ein Wesen von ent- zückender Reinheit und Frische. Die Goncourts, die diese Beiworte gebrauchen, betrachten diese Episode aus dem Leben Retifs als ein kultur- geschichtliches Dokument, das die zärtliche, stille Liebe der kleinen Bürgersfrau inmitten der Korruption des Rokoko verewigt (E. und J. de Goncourt, La femme au i8e siecle, Paris 1878, S. 276). Für uns ist es noch mehr. Wir verdanken dem Parangon- idyll das beste und reifste Werk Retifs : den„Paysan perverti".

I, Das Haus Parangon.

Colette, die älteste Tochter des Notars Co 11 et in Vermenton, war seit kurzer Zeit mit einem Buch- drucker in Auxerre verheiratet, dem R6tif den Namen „Parangon" gibt, der aber, wie jetzt fest- gestellt ist, in Wirklichkeit Fournier hieß. Sie hatte Nikolaus seit ihrer ersten Bekanntschaft mit ihm nicht vergessen und gewann auch jetzt, als er öfter im Auftrage seines Vaters von Sacy nach Ver- menton kam und im Hause ihres Vaters, wo sie gerade zum Besuch weilte, vorsprach, von ihm den besten Eindruck, für den gewiß schon damals ein


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leises Gefühl der Zärtlichkeit mitbestimmend war. R^tif hatte bei diesen Besuchen Gelegenheit, durch schlagfertige Abwehr der Hänseleien mehrerer frecher Burschen sich in vorteilhaftem Lichte zu zeigen. Es ist sicher, daß Madame Parangon bald darauf dem Vater unseres Nikolaus den Wunsch aussprach, ihn als Lehrling in der Druckerei ihres Mannes unterzubringen, und auch schon damals die Absicht andeutete, ihn später mit ihrer jüngsten Schwester Fanchette Collet zu verheiraten.

Nikolaus, der über der bezaubernden Erschei- nung Colettens selbst seine geliebte Jeannette Rousseau vergaß, war glücklich in dem Gedanken, bald mit ihr unter demselben Dache leben zu dürfen. Mit verdoppeltem Eifer lag er bis zur Übersiedlung nach Auxerre seinen Studien ob und lernte in diesen wenigen Wochen noch das Lateinische als Umgangs- sprache leicht und fließend sprechen.

Der 14. Juli 175 1 war der Tag, an dem für ihn ein ganz neues Leben beginnen sollte. Nach zärtlichen Abschiede von der geliebten Mutter, und eine Strecke von dem Vater begleitet, machte er sich in der Morgenfrühe auf und kam vor Mittag in Auxerre an.

Er schildert uns die Ankunft und die ersten Leiden des neuen Lehrlings im Hause Parangon in sehr hübschen Genrebildern. Die Herrin des Hauses war gerade abwesend und kehrte erst nach drei Monaten von Paris zurück. Sie wurde während dieser Zeit durch ein Fräulein Manon Gauthier vertreten, eine entfernte Cousine unseres Nikolaus, der trotzdem mit vollkommener Verachtung von ihr behandelt wurde, da sie ihn bei seiner Ankunft sofort


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in die Küche wies und ihn durch herzlose und spöttische Bemerkungen tief verletzte. Dafür nahmen sich die hübsche Köchin Aimde und der Haus- diener Tourangeot seiner mit großer Freundlich- keit an, halfen ihm seine Sachen unterbringen und machten ihn beim Mittagessen in der Küche mit dem Personal der Druckerei bekannt. Sein aus Ver- menton gebürtiger Kamerad Boudard, der ältere Lehrling, führte ihn nach Tisch in die Druckerei, wo alle über seine „verblüffte Neulingsmiene" lachten und rohe Bemerkungen über ihn machten. Er machte auch in seiner Tracht einen ziemlich ein- fältigen Eindruck und sah aus „wie ein junger Land- geistlicher mit einem Stich ins Komische". Die erste Arbeit, die man ihm anwies, bestand darin, als „Auf- leser" zu fungieren, d. h. die auf den Boden ge- fallenen Lettern wieder aufzuheben und wieder in den Kasten zu tun. Er mußte, wie er sagt, die Nase wie ein Pariser Lumpensammler in den Dreck stecken. Im übrigen wurde seine Arbeitskraft in rücksichtsloser Weise ausgenutzt. So viele Gesellen, so viele Herren. Er schildert sehr ergötzlich diese vielfältigen Plackereien.

„Es verging beinahe kein Augenblick am Tage, wo ich nicht allerlei unnütze, ungerechte, lächerliche und bisweilen sogar strafbare Aufträge erhielt. Ich mußte nicht nur der Kommissionär bei allen wirklichen, sondern auch bei allen eingebildeten Bedürfnissen der zweiunddreißig Gesellen, des Meisters, zweier Frauen, meines Kameraden und sogar des Dieners sein. Für jeden hatte ich Gänge zu gehen und Be- sorgungen zu machen. Aber nicht genug, ich mußte auch den Postillon d'amour dieser Herren spielen, ihre Liebesbriefe voll grober und wüster Erotik zu ihren Geliebten tragen, deren ich mich für meine eigene Person geschämt hätte.

Und was das Schönste war, für etliche, die nicht schreiben


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konnten, mu£te ich schreiben oder mündlich ihre plumpen Liebesbeteuerungen ausrichten und darlegen, bald einem Wäschermädel, bald einer Köchin. Boudard war seinerzeit einmal von einer gewissen Babette, einer Plätterin, tüchtig an den Ohren genommen worden, weil er die leidenschaft- liche Botschaft des Vlämen Rüttot allzu wörtlich überbracht hatte. Ein Lehrjunge war in jenen Zeiten vor der Revolution schlimmer daran als ein Sklave, da er weder Seele, noch Ge- fühl, noch Scham haben durfte. Er war ein wortloses Werk- zeug, dessen sich der Geselle nach Belieben bediente. Der Unglückliche konnte sich noch glücklich schätzen, wenn er gelegentlich dieser schuftigen Aufträge der dreifachen Gefahr entrann: entweder von seinen Eltern oder von dem Gesellen oder vom Meister Prügel zu empfangen. Er konnte es sogar mit den Gerichten zu tun bekommen. Alle diese Leute hatten nicht die geringste Ahnung von guten Sitten, und ich wun- derte mich auch nicht, als ich merkte, daß die Lehrzeit mehr dem zynischen Laster und dem Lotterleben als dem Handwerk galt. Mein Kamerad Boudard, der vor seinem Eintritt in die Parangonsche Druckerei ein Mensch von vorzüglichem Charakter gewesen war (später ist er das übrigens als reifer Mann wieder geworden), war damals ein kleines Ungeheuer, der an allen Lastern genascht hatte. Tourangeot hatte als Lehrjunge in Flandern seinem Meister Gehilfe bei Notzucht und Raub sein müssen. Er erzählte uns kaltblütig, wie sein Meister ihm mitunter Mädchen vom Lande überlassen hatte, nach Befriedigung seiner Gelüste, wenn von den Eltern dieser Unglücklichen kein Groschen mehr zu erpressen war. Tou- rangeot war der Günstling des Meisters, weil er sich bereit erklärt hatte, ein früheres Dienstmädchen namens Marie zu heiraten, die jener nur durch diese verlockende Aussicht ver- führt hatte. Boudard wußte das alles und erzählte es mir gleich am ersten Tage. Mein Erstaunen darüber war so groß, daß ich ganz baff war. Aber kaum sah sich dieser junge Mensch der eben noch erduldeten Knechtschaft selbst ledig, so fing er im Verein mit den Gesellen an, mich zu schinden. Er studierte meine Schwächen, meine lächerlichen Seiten, um mich damit aufzuziehen und zu verhöhnen."

(Übersetzung von A. S c h u r i g.)


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So redete man ihm eines Tages ein, er müsse sich — eiserne Handschuhe anschaffen, und Niko- laus ging wirklich zum Schlosser, der ihm lachend ein paar Eisenbleche um die Hände zusammen- lötete. Nikolaus verdarb aber den bereits seiner harrenden Spöttern den Spaß, da er zur rechten Zeit die Intrige merkte und die „Handschuhe" ent- fernte.

Inzwischen hatte er Muße, sich etwas näher mit seinen Hausgenossen zu beschäftigen.

Der Herr des Hauses, Monsieur Parangon, war ein ziemlich roher Patron, ein „toller Weiber- jäger", der beständig hinter allen weiblichen Wesen her war und weder die Dienstmädchen noch die Bürgerstöchter mit seinen brutalen Angriffen ver- schonte. Nikolaus hatte schon gleich im Anfang die Gelegenheit, ihn bei einem überaus rohen Ver- suche, das eben angekommene Dienstmädchen Tiennette zu vergewaltigen, zu überraschen. Auch Fräulein Gauthier sah sich gezwungen, noch vor der Rückkehr der Madame Parangon das Haus zu verlassen, um den sie bedrängenden Gelüsten des Hausherrn zu entgehen.

An ihre Stelle trat Manon Vernier, Paran- gons richtige Cousine, eine pikante, schnippische Pariserin, die unseren Nikolaus recht lieblos und grausam behandelte. Hierfür trösteten ihn die Freundlichkeiten des Dienstmädchens Aim6e, der er einen großen Liebesdienst durch Vermittlung ihrer Korrespondenz mit ihrem Geliebten erwies, und nach ihrem Fortgange diejenigen Tiennettes, als deren Beschützer, wie wir sahen, er gleich aufzutreten Ge- legenheit hatte. Später mußte er sie noch einmal


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gegen die Angriffe des Werkführers Bourgoin schützen und bekam zum Lohn dafür von Tiennette das Angebot ihrer — Jungfrauschaft, das er aber in einer Anwandlung von Tugendhaftigkeit ablehnte. „Mein Verzicht auf die freiwillig gebotene Huld eines reizenden, unbeschreiblich reizenden Mädchens zählt heute zu den köstlichsten Freuden meiner Erinne- rung."

Diese Zurückhaltung, die Nikolaus sich während der ersten Monate seines Aufenthaltes im Hause Parangon auferlegte, erklärte sich hauptsächlich daraus, daß er immerfort an die Herrin des Hauses dachte, mit einer fieberhaften Erwartung ihrer Rück- kehr entgegensah. Endlich kam dieser herrliche Tag. Am 22. November 175 1 kehrte die Meisterin aus Paris zurück. „Madame ParangonI Dieses Wort klingt mir noch heute im Ohr." Es war die schönste Person, die er je im Leben gesehen.

„Madame Parangon war eine stattliche Frau von wundervollen Größenverhältnissen, mit einem Gesicht, in dem sich gleichmäßig Schönheit, Adel und der so pikante Reiz der Französinnen, der die Hoheit mildert, zu einem verschmolzen. Mit einer mehr als alle Farbe belebenden Blässe, mit feinem aschblonden, seidenweichen Haar, mit geschwungenen, stark und dunkel erscheinenden Brauen, mit schönen blauen Augen, die von langen Wimpern verschleiert, ihr jenen engelhaften und schlichten Ausdruck verliehen, der der größte Reiz der Schönheit ist; mit einem weichen, schüchternen, vollen, die Seele bestrickenden Klang der Stimme, mit wollüstigem und doch züchtigem Gange, mit schönlinigem Busen, dessen Run- dungen fast die Höhe der Schulter erreichten, weichen fett- losen Händen, vollkommen geformten Armen, Beinen, so schön wie die schönsten Männerbeine, und einem Fuß, wie ihn zierlicher und wohlgestalteter nie ein schönes Weib ge- habt hat.


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Sie trug sich mit ausgesuchtem Geschmacke, der stets Bewunderung findet. Dem einfachsten Schmuck verlieh sie den siegreichen Zauber des Venusgürtels, dem niemand wider- stehen kann. Sie hätte den auffallendsten Stoff in die Mode bringen können. Diese Reize krönte ein gütiger, aufmuntern- der Zug in ihrem Wesen und erweckte Verehrung selbst da für sie, wo die Gleichheit des Geschlechts nicht zur Anbetung zwang." (Übersetzung von S c h u r i g.)

So sah Colette Parangon aus, als sie von Paris kam. Unbeweglich stand Nikolaus bei der allgemeinen Begrüßung dabei, er sah und hörte nur sie. Und auch sie hatte ihn nicht vergessen, sie hatte ihm aus Paris eine silberne Uhr mitgebracht und bekundete gleich nach ihrer Ankunft in mannig- faltiger Weise ihr großes Interesse für ihn. Vor allem wurde er aus der Küche entfernt, und mußte am Tische des Meisters mitessen. Auch die Lauf- jungendienste hörten auf. Die „Rekrutenzeit" war zu Ende. Die Zeit der großen Leidenschaften be- gann. Nikolaus folgt seinem Herzen, diesem „un- entwirrbaren Irrgarten", den man nur an der Hand seiner Selbstschilderung deutlich übersehen kann.

2. Der Casanova von Auxerre. Eigentümlich ist die Erscheinung im Leben Retif s, daß eine tiefe, echte, leidenschaftliche Liebe zu einer Frau immer dann, wenn sie unbefriedigt, platonisch blieb, selbst wenn sie, wie bei Jeannette Rousseau von ihm selbst gewollter Piatonismus war, doch einen um so imgezügelteren Erotismus gegenüber vielen anderen weiblichen Wesen aus- löste, daß die Liebe zu einem Weibe immer die Begierde nach dem Weibe in ihm wachrief. Das sublime Gefühl verbarg sich hinter heißer Sinnen-


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glut. Dann berauschte ihn, wie er sagt, die Gattung, nicht ein Einzelwesen. Dieser Hang zum Weibe wurde allmächtig, er opferte ihm alle anderen Ge- lüste, das Spiel, den Weingenuß, alle übrigen Zer- streuungen der Jugend.

Sogar seine eifrige geistige Tätigkeit, seine Be- schäftigung mit Literatur und fremden Sprachen war ihm nur das Mittel zu diesem einen Zwecke, die Kraft des geschlechtlichen Begehrens zu steigern, war ihm stets „sexuelles Äquivalent". „Ich war geboren, alles den Frauen zu danken, Lust, Leid und selbst den Tod. Durch wirkliche Vorzüge wollte ich mich ihrer Zärtlichkeit würdig machen. Das war entschieden bei mir nicht verstandesmäßige Überlegung, es war eine Art Instinkt." So blieb er an den Sonn- und Festtagen oft zu Haus, um zu lesen, zu über- setzen und zu studieren. Er übersetzte Terenz und verschlang die Romane der Madame de Villedieu, die ihn drei Monate ins Land der Träume versetzten und ihn mit den leidenschaftlichsten Gefühlen er- füllten. Dann kamen Moliere, Corneille, Boi- leau, Lafontaine, Racine an die Reihe. Auch die rein erotischen Schriftsteller wie Gr^court, Vergier, die „Contes" von Lafontaine usw. wurden eifrig gelesen. In allen Romanen, die er las, erkannte er Abbilder seiner angebeteten Ma- dame Parangon.

Colette wurde jetzt der Mittelpunkt seiner Ge- danken und Gefühle. Sie durchdrang ihn, wo er sie täglich aus der Nähe bewundern konnte, mehr und mehr. Er rannte gleich einem „jungen Stiere, den man an einen Pflock auf der Weide anbindet, nur um einen Mittelpunkt", was ihn freilich nicht


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hinderte, während dieses Rennens gleichsam im Vorübergehen auch andere, fremde Berührungen zu suchen.

Der Leser wird fragen: schon wieder ein Ideal? Erst Jeannette, und jetzt Colette?

Darauf gibt Retif die Antwort: „Hätte ich ehedem, als meine Liebesfähigkeit sich zu regen begann, Colette als erste gesehen, so hätte ich anstatt erst andere, einzig und allein Colette an- gebetet. Aber da ich sie nur flüchtig gesehen hatte, sie immer zu weit entfernt von mir gewesen war, und ich mich ihr erst nähern konnte, als mein Herz bereits berührt war, nicht nur von der Liebe, sondern auch vom Genuß imd besonders von den Lastern der Stadt, so wurde Colette, meine Göttin, nicht mehr rein von mir verehrt. Zu dem Gefühl der Zärtlichkeit gesellte sich die Begierde. Ich sah ihre Reize mehr als ihre Tugenden. Mein Herz ersehnte sich nicht mehr ein reines Herz in ihr, wie ich es stets Jeannette gegenüber gewünscht hatte, von der ich ebensoviel Liebe wie Tugend erhoffte. Der Unterschied lag nicht in dem geringeren Wert Colettes, sondern in dem Umstände, daß sie ver- heiratet und Jeannette noch Jungfrau war. Sonst hätte ich Colette lebhafter, glühender, reiner ge- liebt. Ein Beweis dafür ist, daß ich ihre Frauen- tugend respektiert habe, obgleich mich gerade diese ihre Eigenschaft als Frau in Wut versetzte und in mir bald Eifersucht, bald nicht zu bändigende Wünsche erweckte. Jetzt, wo man sich über die Art meiner Empfindung für dieses himmlische Weib klar ist, wird man mir besser folgen können und sich über nichts mehr wundern."


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Und wie verhielt sich die angebetete Frau selbst ? Man kann auf die Entwicklung dieser Liebe die Worte anwenden: „halb zog sie ihn, halb sank er hin". Ganz offenbar empfand auch Colette Pa- rangon von Anfang an eine heimliche Zärtlichkeit für den hübschen verliebten Jungen, dessen Wesen in so angenehmem Kontrast stand mit demjenigen ihres rohen Gatten, Aber sie blieb tugendhaft, zu- rückhaltend. Nur ab imd zu, blitzartig leuchtete ihre Liebe hervor. Die Seelen berührten sich für Augenblicke.

Solche kritischen Stunden und Tage in dieser Liebe waren besonders diejenigen der gemeinsamen Lektüre. Nikolaus las der geliebten Frau Stücke aus seiner Terenzübersetzung, dann Voltaires „Zaire", Corneilles „Cid", die „Briefe des Marquis de Roselles" u. a. vor. Während er las, ruhten die Augen von Madame Parangon auf ihm, ihr Arm stützte sich auf die Lehne seines Stuhles, berührte oft leicht seine Schulter. Bisweilen lehnte sie sich wie träumend, mit geschlossenen Augen, zurück, die Beine übereinander geschlagen, so daß ihr Fuß, dieser göttliche kleine Fuß sichtbar wurde. Welche Augenblicke, wie gefährlich war diese süße Atmosphäre heimlicher Vertraulichkeit, diese leise seelische und körperliche Berührung 1

Oft auch bekam Nikolaus noch Intimeres zu sehen, wenn nämlich Tiennette ihre Herrin ent- kleidete. Er durfte sogar dabei helfen und hatte vollauf Gelegenheit, alle ihre Reize mit einem „An- schein von Unschuld und Naivetät" zu verschlingen, während seine Sinne tobten. Die Gelegenheit, die Kleidungsstücke der geliebten Frau zu sehen und

Dühren, R£tif de U Bretonne. 7


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zu tragen, scheint damals eine Art von Kleidungs- fetischismus in ihm geweckt zu haben. Er suchte sich oft die getragene Wäsche Colettes zu ver- schaffen, packte sie gierig imd bedeckte sie mit' leidenschaftlichen Küssen. Auch sein Fuß- imd Schuhfetischismus trat stärker hervor.

„Madame Parangon besaß einen Reiz, dem ich zeitlebens nie widerstehen konnte, einen niedlichen Fuß. Ihr Schuh- werk war in Paris gemacht, und zwar im erlesensten Ge- schmack, den eine hübsche Frau beweisen kann. Er besaß jene verführerische Feinheit der Form, die Seele und Sinn- lichkeit in sich zu einen scheint. Bald trug Colette Schuhe von einfacher weißer Seide, oder mit Blumen in Silberstickerei, bald rosafarbige Schuhe mit grünen Absätzen oder grüne Schuhe mit rosafarbigen Absätzen. Ihr geschmeidiger Fuß weitete den Schuh nicht aus, sondern machte ihn im Gegenteil noch graziöser und ließ die Form noch reizvoller zur Geltung kommen.

Als ich eines Tages heimkehrte, um zu studieren, sah ich Madame Parangon in einem eleganten Kostüm und in aus- geschnittenen rosaroten Schuhen, deren Einfassung und Ab- sätze grün und die mit hübschen Rosetten von Edelsteinen besetzt waren. Da sie ganz neu waren, oder vielleicht, weil sie sie schonen wollte, vertauschte sie die Schuhe mit grünen, nicht minder verlockenden Pantoffeln mit roten Absätzen und Spitzengarnierung. Ich stand unbeweglich dabei und verzehrte sie mit meinen Blicken. Toinette setzte die Schuhe ihrer Herrin auf einen kleinen Tisch neben der Tür, und dann be- gaben sich alle beide nach dem ersten Stock, indem sie mir bedeuteten, ich möge bis zu ihrer Rückkehr warten.

Von der heftigsten, ganz abgöttischen Leidenschaft für Colette fortgerissen, wähnte ich sie leiblich zu sehen und zu fühlen, indem ich die Schuhe, die sie eben noch getragen hatte, mit meinen Händen betastete. Ich drückte meine Lippen auf das eine dieser Kleinode, während mir in einem Anfall von Raserei das andere das Weib ersetzte . . .

Als ich mich wieder beruhigt hatte, kritzelte ich in den Gegenstand meiner Wollust ganz klein die Worte: „Ich bete


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dich an" und setzte die eleganten Schuhe wieder an ihren früheren Platz ...

Dieser bizarre, wahnsinnige Genuß schien mich — wie soll ich sagen? — auf geradem Wege zu Colette selbst, zu führen." (Übersetzung von A. S c h u r i g.)

Kein Zweifel, daß Colette die Leidenschaft, die sie eingeflößt hatte, sehr wohl erkannte. Aber kein Wort, kein Bhck verriet es. Ihr Benehmen wies stets unseren Nikolaus in die gebührenden Schranken zurück. Er wagte es nicht, seine Liebe mit Worten zu offenbaren. Oft aber eilte er zu einer kleinen Insel in der Yonne, seiner „Liebesinsel", um hier in der Einsamkeit ganz un- gestört in dem Gedanken an seine Liebe zu schwelgen imd tausend Geständnisse derselben sich zu wiederholen. Oft sah er dort den Abendstern, die Venus, ihren Stern, das Geschenk Gottes an die Geüebte.

Aber diese Träume, diese Phantasien genügten ihm nicht in dieser Frühlingszeit seines Lebens, be- friedigten nicht einen geheimen, unwiderstehlichen Drang, dem ganz neue Empfindungen zugrunde lagen. Die Qualen heimhcher, unbefriedigter Liebe sind gerade in dieser Zeit der Pubertät die Ursachen erotischer Exzesse. „O Colette, ich liebte nur dich," sagt er später, aber es „blieb eine Leere, die ich durch alles, was mir liebenswert erschien, ausfüllte!" Alle anderen von ihm geliebten Frauen waren ihm nur ein „Spiegel", in dem er ihr Bild erblickte. Man muß aber gestehen, daß niemals ein einziges Bild in so vielen und so verschie- denen Spiegeln betrachtet worden ist! Wir haben es in den Jahren 1751 bis 1755 mit dem „Casanova

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von Auxerre" zu tun. Wie Casanova nahm auch R^tif in bezug auf die Liebe oder besser den Liebes- genuß die „Gelegenheit beim Schöpfe"; was ihm in den Weg kam von jungen weibHchen Wesen, schönen und häßlichen, unschuldigen und raffinierten, vor- nehmen und gewöhnlichen, klugen und dummen, wurde sein oder war jedenfalls Gegenstand seiner Begierde, Er suchte nicht, er fand, er flog von einer zur anderen, und träumte von allen zugleich!

Kaum war er in Auxerre angekommen, als ihn schon seine schöne Nachbarin zur Linken, Manon Prudhot, freundlich anlächelte, während von rechts die drei reizenden Schwestern Baron — Madeion, Manon und Berdon — mit ihm kokettierten und ihn zum Zeugen ihrer abendlichen Toilette im „Ge- wände der Grazien" machten. O wie bald liebte er sie alle, am meisten die lebhafte, lustige, kokette Madeion Baron, deren herrlichen Gesang er so oft mit Entzücken lauschte. Mit i8 Jahren ist man noch ein Sophist der Liebe und kann wie Nikolaus mit einiger Gewissensruhe feststellen, daß die eine (Manon Prudhot) „durch das Herz auf die Sinne", die andere (Madeion Baron) „durch die Sinne auf das Herz" wirke, was nicht hindert, daß der glückliche Gegenstand dieser zwiefachen Wirkung auch noch wie „Buridans Esel" zwischen Manon und Berdon Baron hin und her schwankt.

Madeion Baron war das erste Opfer — im wahren Sinne des Wortes — unseres jugendlichen Don Juan. Ausführlich schildert er ihre Verführung, wie er dann jede Nacht zu ihr schleicht, und wie sie plötzlich ihm durch einen tragischen Tod entrissen wird. Nichts blieb ihm von diesem süßen Liebes-


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idyll als — die Schuhe der Gehebten, die er pietät- voll aufbewahrte und einige ihrem Andenken ge- weihte Verse in einem alten Notizbuch.

„Ach, nach einundvierzig Jahren liegt jenes kleine Buch vor mir, meine Hände gleiten über das vergilbte Blatt, das ich damals in der verfallenen Kapelle beschrieben habe! Seine Schriftzüge sind halb verwischt von meinen Tränen, und etwas wie ein keuscher Hauch von verlorener Tilgend schwebt daraus empor. Die Erinnerung durchzittert mich, ich weine wieder wie einst, jene Schmerzenstage steigen wieder vor mir auf und mit ihnen M a d e 1 o n und die, die in meine müde Seele Trost träufelte. Auch sie habe ich längst verloren! Und wieviel Unbill habe ich seit jenen fernen Ta^en erlitten.

Ich weine . . . , aber meine Tränen haben nichts Bitteres mehr, der alte gereifte Schmerz hat sie weich und süß gemacht. Sie glätten mir die runzligen Wangen und verleihen meinem welken Herzen etwas von seiner einstigen Kraft."

(Übersetzung von A. S c h u r i g.)

Doch die Jugend vergißt schnell, und das Herz unseres Nikolaus war so groß und weit. Nach- und nebeneinander finden darin Platz: das Dienst- mädchen Parangons, Toinette Domino, deren Er- oberung in einer mehr als drastischen Verführungs- szene geschildert wird (Mons. Nicolas V, 212—213); die junge, schöne, schwarzäugige Winzerin Edm^e Servigne aus Vaux, lange der Gegenstand seiner Träume, bis es ihm endlich gelang, sich einmal nachts zu ihr zu schleichen und die Schlafende zu verführen; die abschreckend häßliche Magd Jeanneton; die zarte Emilie Laloge und ihre mit volleren Reizen ausgestattete Freundin Therese Lalois, zwei Insassinnen des Mädchenpensionats der Madame Hardouin, mit denen er zusammen Erdbeeren pflückte; die kleine Pariserin Flipote,


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die sich ihm nur aus Versehen hingab, indem sie ihn in der Dunkelheit der Nacht mit ihrem er- warteten Geüebten verwechselte.

Das waren immer noch bescheidene Anfänge in der Ars amandi. Eine ganz neue Welt für dieselbe eröffnete sich ihm im Laufe des Jahres 1754, als er, durch einen holländischen Lehrer in die Tanz- kunst eingeweiht, sich nunmehr an dem lockeren und tollen Treiben in den Tanzsälen von Auxerre beteiligte und dadurch in ganz neue Gesellschafts- kreise hineinkam.

Am Tage hatte er seinen gewöhnlichen Ver- kehr mit der bürgerlichen Welt, am Abend mit den Tänzerinnen, die fast alle Töchter von Ar- beitern und Handwerkern waren. Ebenso ge- hörten die jungen Männer der Tanzsäle dem vierten Stande an.

Nikolaus war ein sehr guter Tänzer und daher von den Mädchen sehr begehrt. Unter den in Auxerre üblichen Tänzen erwähnt er das Menuett, den Bretagner, den Matrosentanz, den Passepied, den Holzschuhtanz, den „Liebessieger", einen sehr obszönen Tanz, den „Negertanz", den wir auch in der „AntiJustine" wieder antreffen u. a. m.

Überhaupt ging es in diesen Tanzsälen sehr roh und unanständig zu. Die Mädchen waren nicht viel mehr als „öffentliche Dirnen", erregten nur die Sinne, so daß er, wie er sagt, andauernd in einer „dissipation extreme" und „effervescence g6n6- ralis^e" bei dem täglichen Verkehr mit einer so großen Menge leichtfertiger Mädchen lebte. Seine Kumpane waren ein gewisser Colombat und Gau-


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det aus Vaxzy (nicht zu verwechseln mit dem später zu erwähnenden Gaudet d'Arras).

Neue zahlreiche Liebschaften wurden in diesen Kreisen angeknüpft, bald von kurzer, bald von längerer Dauer. Zwei freche Geschöpfe, Tonton Lenclos und Manon Ldger, werfen sich ihm an den Hals, um ihn so von der lieben Colombe zu entfernen, die mit zärtlicher Leidenschaft an ihm hängt und ohne den Hintergedanken einer Heirat die Seine wird, weil sie von ihm ein Kind haben will. Und während er noch einmal, das letzte Mal, seine schwärmerisch verehrte Jeannette Rous- seau bei ihrer zufälligen Anwesenheit in Auxerre aus der Ferne bewundern kann, und beinahe noch platonischer eine Korrespondenz mit einer nie ge- sehenen MUe. Potamonin Avignon beginnt, fesseln ihn die körperlichen Reize von Ferdinande Dhall und er schreibt für sie einen Roman „Das Glück", in dem er ihr bis auf die kleinsten Einzelheiten seine „Art zu lieben" schildert.

Aus den Tagebüchern dieser Zeit geht hervor, wie kunterbunt es damals in seinem Herzen aus- sah. So bemerkt er unter dem i6. Oktober 1754: „Ich muß mir über den Zustand meines Herzens Rechenschaft geben. Ich bete Fräulein Fanchette an und ziehe sie allen anderen vor, außer ihrer Schwester. Ich möchte gern Edm^e und Katha- rine mit meinen Vettern verheiraten. Die hübsche Manon L6ger hat mich gestern sehr entzückt. Aber ich darf sie nicht wiedersehen. Die ältere Schwester meines Freundes Dhall ist reizend, verdient aber, daß ihr ein Herz ganz allein gehört. Die jüngere gleicht Mlle. Fanchette. Ich habe von Berdon


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und Manon Baron nichts mehr zu hoffen. Um so besser. Denn beide Schwestern sind sehr hebens- wert und würden mich nur aufregen. Aber ich glaube, daß ich mich gern von Rose anbeten Heße. Muß dafür sorgen. Was die junge Toinette be- trifft, wie geht es zu, daß das Schicksal aus ihr ein Dienstmädchen machte? Sie ist schön wie eine Prinzessin und tugendhaft wie Madame Parangon. Ach, wenn sie Fanchette wäre, wie würde ich sie lieben! So muß ich sie fliehen, jedes Beisammen- sein mit ihr vermeiden, wegen des Teufels und seiner Versuchungen. Was Madame Parangon be- trifft: In albis socculis fallor."

Er fügt dieser Notiz später noch ein weiteres Verzeichnis neuer Eroberungen hinzu (M. N. VI, loi — 102), nämlich Marianne Tangis, die Fräu- lein Coquille, Lemmier- Chbvot, Lenain- Lointron, Debierne, Egl^ Carouge, Philis Hollier, Doris und Dircö Bourdillot und ihre Schwägerinnen, Mamertine H6riss6, Manette H^risson, Eulalie Gremmeret, C^cile Pouillot, Narcisse S6raphine Dhall (die Schwester der Ferdinande), Naturelle Borne, Julie Degurgis, Marianne Geolin, Jean- nette mit dem Beinamen „ä la jolie jambe", £gl6 und Pauline Corbaux, Josephine Fleury^ Luce Drin, Josette und Marianne Gendot und ihre Schwägerin; Jeanne Girard, Frau Ru- miny, Gattin eines Malers, eine lebhafte, hübsche Pariserin, Doroth^e Tangis, die beiden Lacour, Marie RouUot, Aim^e und Manon Julien, ereile Rovet, Marie Belier, Aurette und Suzon Duchamp, Eve Dallis, Nannette


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Chind^, eine Cousine des Herrn Parangon, Manon Duvet, Agn^s Morillon, Madame Choin, endlich die schöne Luidivine.

Eine lange Liste, wie man sieht. Man hat aus dieser und späteren Aufzählungen ähnlicher Art den Schluß auf eine Neigung R6tifs zu phantastischen Übertreibungen gezogen. Wenn man aber den Lebenslauf eines heutigen, selbst nicht so poly- gamisch wie R^tif veranlagten jungen Mannes be- trachtet, so findet man — nicht immer — aber doch recht häufig eine überraschend große Zahl ver- schiedener sexueller Beziehungen, die uns R6tifs Angaben weniger als Hyperbel erscheinen lassen. Außerdem sind wir bei ihm im i8. Jahrhundert, wo sich solche Beziehungen ganz entschieden leichter knüpften als heutzutage, wir sind in einer kleinen Provinzialstadt, auf dem Lande, wo eine gewisse Zügellosigkeit und Ungebundenheit im Geschlechts- verkehr auch in der Gegenwart noch eine charakte- ristische Erscheinung ist. Ich erinnere nur an die modernen Untersuchungen über die geschlechtliche Sittlichkeit auf dem Lande, z. B. an Virchows Schilderung der unglaublichen Promiskuität des Ge- schlechtsverkehrs in den Dörfern des Spessart (in seiner Abhandlung „Die Not im Spessart", 1852).

Wir haben also keinen Grund, die Wahrheits- liebe R^tifs in diesem Punkte anzuzweifeln.

3. Der böse Geist. Wenn wir nach dieser Erwähnung der erotischen Abenteuer R^tifs in Auxerre zu der weiteren Ent- wicklung seines Verhältnisses zu Madame Paran- gon zurückkehren, so wird hier zimächst eine Figur


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in seine Lebensgeschichte eingeführt, die in bezug auf dieses Verhältnis ohne Zweifel die Rolle eines „bösen Geistes", eines Verführers gespielt hat. Es ist Gaudet d'Arras, der Franziskaner.

Paul Lacroix hat die Vermutung ausge- sprochen (a. a. O. S. lo Anmerkung), daß in Gau- det d'Arras der Typus des „Comp^re Matthieu" des Abb^ Dulaurens, vielleicht sogar dieser selbst geschildert sei, und führt zugunsten dieser Auf- fassung die Übereinstimmung der philosophischen Ansichten des Gaudet d'Arras und des Ahb6 Dulaurens, und den Zusammenhang des Namens des ersteren mit der Dichtung des letzteren „La Chandelle d'Arras" an. Sicheres läßt sich aber darüber nicht sagen.

R6tif machte die Bekanntschaft des Gaudet d'Arras, den er seinen „Epikur und Spinoza" nennt, auf eine sehr eigentümliche Weise. An einem Sonntagabend, als er allein zu Hause war, klopfte es an die Ladentür, und herein trat ein Franzis- kaner, ohne Kutte, nur in Unterkleidern, mit Schweiß bedeckt, von recht abgehetztem Aussehen. Es war Gaudet d'Arras, von dessen leichtfertigem Lebenswandel Nikolaus schon gehört hatte. Er bat um die Erlaubnis, von dem Grundstücke Herrn Parangons direkt in den Klostergarten gehen zu dürfen, da der Pförtner das Hoftor des Franzis- kanerklosters bereits geschlossen habe und er einen Skandal vermeiden wolle. Er war nämlich, wie Nikolaus am anderen Tage erfuhr, zusammen mit einem anderen Franziskaner von zwei Männern über- rascht worden, wie sie im Kornfelde intimstem Ver- kehre mit zwei berüchtigten Kokotten oblagen. Es


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gelang Gaudet d'Arras, allerdings unter Zurück- lassung seiner Kutte, zu entfliehen, während sein Kumpan sich gegen ein Lösegeld freikaufte und seine Kutte zurückbekam. Nikolaus begnügte sich nicht mit dem ersten Dienste, den er Gaudet d'Arras erwies, sondern fügte noch den zweiten wichtigeren hinzu, indem er dafür sorgte, daß nichts von dieser Geschichte ruchbar wurde und der Franziskaner die in den Händen der Dirnen verbliebene Kutte zurück- bekam. Von da an entwickelte sich der Freund- schaftsbund zwischen Gaudet d'Arras und R^- tif, der für letzteren von großer Bedeutung werden sollte.

Gaudet d'Arras war eine durchaus welt- männische Natur. Lange schon war er des Kloster- lebens müde. Eine heimliche Liebe verband ihn mit Manon Bourgoin, einer Freundin der Ma- dame Parangon, und er hatte bereits Schritte ge- tan, wieder in die Welt zurückzukehren und sich von seinem Gelübde entbinden zu lassen, um die Geliebte dann heiraten zu können.

Gaudet d'Arras war einer jener freigeistigen Mönche, an denen das i8. Jahrhundert so besonders reich war. Er glaubte weder an den Himmel noch an die Hölle, hielt die Gegensätze von gut und böse für lächerlich und proklamierte die Relativität aller irdischen Dinge, den Skeptizismus in bezug auf die Erkenntnis absoluter Wahrheiten, den Kampf gegen den Aberglauben. Das Christentum, entartet und verdorben wie es sei, hindere die Menschen, ihrer innersten Natur gemäß zu leben und sich zu entwickeln. Das persönliche Interesse sei die Grund- lage der Moral.


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In der Liebe war Gaudet d'Arras bloßer Naturalist. Er verwarf alle „romantischen" Nei- gungen und erklärte für das einzige Mittel, nicht unter die Herrschaft der Frauen zu geraten, die auch physisch zu genießen, die man liebe. Auf diese Weise unterwerfe man sich die Frauen und werde am meisten geliebt. Für diesen Zweck sei auch eine gewisse souveräne Verachtung weiblichen Wesens recht geeignet. Als Beispiele hierfür führte er den schönen Rutot an, der alle Mädchen verächthch behandle und dem sie doch alle nachliefen, oder den Frater Hermann, der dreißig Verehrerinnen habe trotz seiner abweisenden Kälte.

Weiter stellte Gaudet d'Arras die nicht un- richtige Theorie auf, daß Eifersucht für junge Mäd- chen eine Art Wollust sei.

Jedenfalls hatte er sich Buffons Anschauung, daß das physische Element in der Liebe das einzig maßgebende sei, ganz zu eigen gemacht und suchte immer und immer wieder seinen jungen Freund zu überzeugen, daß er diesen Grundsatz auch in der Praxis anwenden müsse, namentlich in bezug auf Madame Parangon.

„Ich habe durch gewisse Worte, die Manon Bour- g o i n entschlüpft sind, herausbekommen, daß Madame Parangon dir nicht gleichgültig* gegenübersteht, daß sie dir öfters aus dem Wege geht, trotz des Vergnügens, das sie bei eurem Beieinander empfindet. Freund, das ist besser als ein junges Mädchen; man braucht sich um die Folgen nicht zu sorgen. Wage, sobald du Gelegenheit hast! Wage, ich wieder- hole es dir, wage mit Zuversicht! Vielleicht ärgert sie sich im heimlichen Grund ihrer Seele, daß du so schüchtern bist. Kein Weib gibt sich ganz von selbst. Und selbst, wenn du abgewiesen wirst: du bist doch keine Gliederpuppe, sondern ein leibhaftes Wesen! Entweder hat eine Frau den Ruhm,


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sich verteidigt zu haben, oder den Genuß ihres Falles! Ge- währe ihr einen dieser Genüsse oder alle beide auf einmal! Es ist grausam, unmenschlich, ja unhöflich, einer Frau solche Freuden vorzuenthalten. Man darf Frauen gegenüber nicht geizen." —

(Übersetzung von A. S c h u r i g.)

Zum besseren Gelingen dieser Verführung empfahl ihm dann Gaudet d'Arras, vorher ähn- liche Versuche bei der hübschen Baron oder der Prudhot zu machen. Wenn diese gelängen, würde er sich vor der ,,verehrten Göttin" um so weniger lächerlich machen.

Allmählich gewannen diese bösen Einflüste- rungen Macht über unseren Nikolaus. Der Gedanke an Madame Parangon blieb nicht mehr rein, seine Träume verloren ihren idealen Charakter, die ge- schlechtliche Begierde, die Vorstellung des Genusses traten an ihre Stelle und wurden durch die Lektüre der erotischen Dichtungen des Boccaccio, Gre- court, Vergier und Lafontaine noch gesteigert. Alles wirkte zusammen, um seine bisherige Schüch- ternheit in der Liebe zu der angebeteten Frau in Kühnheit und Unternehmungslust zu verwandeln.

4. Das Attentat.

Die Gelegenheit zur Betätigung derselben sollte sich bald darbieten. Herr Parangon war am 27. No- vember 1753 nach Vermenton gereist. Gaudet d'Arras besuchte Nikolaus und machte ihn auf die „schöne Strohwitwe" aufmerksam, auch wußte er es am Abend so einzurichten, daß Nikolaus mit Madame Parangon allein blieb. Nach einer ver- traulichen Unterhaltung, bei der Colette ihm sagte,


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daß sie ihn durch Verheiratung mit ihrer Schwester Fanchette enger an sich fesseln wolle, lasen sie zusammen Ra eines „Phaedra". Dann sagte man sich Gute Nacht. Nikolaus glühte. Trunken vor Liebe und Sehnsucht schleicht er sich bald darauf in ihr Schlaf gemach, kniet vor ihrem Bette nieder, horcht entzückt auf die Worte der Träumenden, be- rührt sie leise und — entflieht voll Angst bei dem Gedanken, entdeckt zu werden. Unmittelbar nach seiner Flucht klingelt Colette nach dem Dienst- mädchen und läßt während der folgenden Nächte ihre Freundin Manon Bourgoin bei sich schlafen.

Gaudet d'Arras empfand über dieses Miß- lingen seines Planes einen echt mephistophelischen Ärger tmd suchte, indem er Nikolaus zu anderen Ausschweifungen verlockte, eine „immer größere Bresche" in seine Moral zu legen. „Er behandelte mich wie einen jungen Jagdhund, er bot mir das Cur6e der Liebe, er ließ mich Blut lecken, um die Jagdwut in mir zu entfesseln."

So hatte er denn genau vier Monate nach diesem ersten Versuche die Genugtuung, seinen Rat besser befolgt zu sehen. An einem Sonntagnachmittag, dem 26. März 1754, einem schönen Frühlingstage, fand sich wieder für Nikolaus die Gelegenheit des Alleinseins mit Madame Parangon. Sie über- raschte ihn bei einer Terenzübersetzung und rief ihn dann in die Oberstube hinauf, damit er ihr beim Garnpacken helfe. Sie hatte sich mit bezaubernder Eleganz gekleidet und trug an ihren niedlichen Füßen Schuhe aus weißem Atlas mit schmalen hohen Absätzen, deren Anblick Nikolaus förmlich be- rauschte. Bisweilen berührte sie ihn mit den


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Schuhen, und diese Berührungen wirkten wie „ghm- mender Zunder auf Schießpulver". Seine Sinne tobten, und er faßte augenbUcklich den Entschluß, das leidenschaftlich geliebte Weib im Sturm zu er- obern. Er umschlang sie, trug sie zum Bett hinüber und drückte sie darauf nieder. Nicht auf ihr Flehen hörend, war er ein „Held" an Liebeswut, an Kraft, an stürmischer Begierde, die jedes zärtUche Gefühl unterdrückte. Dreimal wurde sie das Opfer seiner wahnsinnigen Leidenschaft, sie, die, wie er jetzt merkte, noch gänzlich Unberührte. Ihr Flehen, ihre zärtliche Bitten entflammten ihn nur noch mehr.

„Ich weiß ihre Worte nicht, aber ich weiß noch, daß sie lächelte, daß sie sich küssen ließ und wieder küßte. Vielleicht irre ich mich auch ... Ich hing an ^ ihren Lippen und ließ mit meinen Küssen meine ganze Seele ausströmen."

Er sinkt vor der Todblassen auf die Knie, er bittet sie um Verzeihung und benetzt ihre Hände mit seinen Tränen. Dann trägt er die Weinende hinunter in den Lehnstuhl und erlangt die Ver- zeihung der schmerzlich lächelnden jungen Frau, eine Verzeihung, die, wie die nun folgende Unter- haltung der beiden beweist, aus einem zärtlichen Herzen kommt. — Gewiß hat Colette Nikolaus geliebt, aber sie bekämpfte als pflichtgetreue Gattin von Anfang an diese Liebe. Am Abend erfuhr Niko- laus aus ihren Traumphantasien, die er belauschte, die ganze Größe ihrer Liebe zu ihm. Aber auch von dieser Liebe blieb ihm bald nichts als die Er- innerung und ihre reizenden Schuhe, die er bis ans Ende seines Lebens aufbewahrte.


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Am folgenden Mittag sahen sie sich wieder. Madame Parangon trug ein „rosafarbenes Band im Haar, sah blaß aus, aber verführerisch wie nie", noch zitterte die Erregung schmerzlich in beiden nach. Aber alle Abende will Colette jetzt mit ihm plaudern. Sie will seine gute Fee werden. Sie ana- lysiert seine Seele, sie prophezeit ihm sein Schick- sal, sie möchte sein Leben vor aller Not, vor jedem Schmerz behüten. Wenn sie in der Dunkelheit zum Walle gehen und an die Brücke kommen, wenn das laute Rauschen des Wassers durch die Stille der einsamen Nacht hallt und unseren Nikolaus unwider- stehlich in die Tiefe lockt, dann sagt sie ihm, daß sein Leben ihr gehöre. Dann fließen seine Tränen. Dieses eine Wort geht ihm tief zu Herzen. Alle ^ guten Geister werden in ihm wach. Sein ganzes weiteres Leben soll eine einzige Anbetung der Rein- heit und Güte der Geliebten sein.


5, Letztes Jahr in Auxerre.

Doch sie selbst war es, die ihn wieder zu seinen alten Vergnügungen und Zerstreuungen zurück- kehren hieß. Denn je mehr er ihr ans Herz wuchs, um so mehr vermied sie ein vertraulicheres Bei- sammensein. Allmählich fügte sich Nikolaus darein, die ihm von jetzt an gezogenen Schranken zu respek- tieren, und von da an hatte auch Gaudet d'Arras kein Glück mehr mit seinen Bemühungen, wieder einen intimeren Verkehr zwischen den beiden herbei- zuführen.

Colette hatte jetzt ganz andere Pläne im Sinne, nämlich eine Verbindung zwischen ihrer Schwester


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Fanchette und Nikolaus. Gelegentlich eines Be- suches der erst 1 5 jährigen überaus schönen Blondine führte sie die beiden zusammen und verlobte sie mit- einander. Natürlich war Nikolaus begeistert, entzückt, verliebt. Und als er mit den beiden Schwestern spazieren ging, an jedem Arme eine, da war es ihm, als hätte er eine „zweigestaltige" Geliebte ! Als liebe er Fanchette nur, weil sie die Schwester, das Abbild Colettes war, als habe Colette für ihn zwei Körper, aber nur eine Seele.

Merkwürdig, auch Colette fühlt trotz ihres Entschlusses die beiden zu vereinigen, plötzlich wieder die alte heiße Liebe zu dem Jüngling und sie beschließt, ihrer Schwester, die zu ihrer weiteren Ausbildung nach Paris reist, bald zu folgen, um ge- wissen gefährlichen Augenblicken zu entgehen, deren Wiederkehr sie wohl mit Recht fürchtete.

Während der Zeit ihrer Abwesenheit und nach- dem auch Gaudet d'Arras, der inzwischen Manon Bourgoin hatte heiraten dürfen, ihn ver- lassen hatte, fand Nikolaus besondere Befriedi- gung in dem Liebesverhältnisse zu der zwar häß- lichen, aber sehr geistreichen Rose Lambelin. Sie beansprucht eine ganz besondere Bedeutung in der Lebensgeschichte R6tifs, weil sie seine erste Muse war, diejenige, die ihn damals am meisten zu literarischer Tätigkeit inspirierte. Sie war ihm, wie er sich ausdrückt, ein „goüt", aber keine „passion". Er liebte sie weder mit Zärtlichkeit noch mit heftigen Begierden, aber sie flößte ihm die „Reim- und Er- zählungswut" ein. Jeden Morgen machte er ein Ge- dicht auf oder für sie, und jeden Abend schrieb er ihr einen Brief. „Es machte mir ein außerordent-

Dfihren, Rftif de U Bretonne. 8


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liches Vergnügen, ihr zu schreiben, es war für mich in bezug auf sie dasselbe wie der physische Genuß bei anderen Frauen. Indem ich ihr schrieb und ihre Antworten empfing, besaß ich sie auf die für mich wollüstigste Art." Die Briefe gingen später ver- loren. Sie wurden von der Schwester der schon 1765 verstorbenen Rose Lambelin verbrannt. Aber die Gedichte bewahrte R^tif in seinen Tage- buchheften auf und er teilt im fünften, sechsten und siebenten Bande des „Monsieur Nicolas" eine große Zahl von ihnen mit, von deren Natur gleich eins der ersten Couplets eine genügende Vor- stellung gibt:

Ha! eher amant, que me fais tu? . Je meurs, j'expire!

Quel feu! quel plaisir inconnu

Qui fait que je soupire?

Ha! de tes doux embrassements,

Cher amant, je m'enivre!

Ciel! finis de si doux moments!

Ou je cesse de vivre!

Diese freche Schilderung des Liebesgenusses, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigläßt, machte trotzdem den größten Eindruck auf die Empfängerin, die zwar beim Wiedersehen errötete, aber ihm einen Schlag auf die Wange gab. Denn diese Liebkosung berechtigt nach Ansicht Rötifs stets zu den „größten Hoffnungen". Darin hatte er sich denn auch nicht getäuscht. Ja, diese literarische Ge- liebte war leidenschaftlicher als er, und zürnte ihm oft wegen seines „outrierten Piatonismus".

Das Ende der Lehrlingszeit unseres Nikolaus kam heran. Schon vorher hatte er einen Nachfolger erhalten, der ihm später besonders teuer werden


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sollte. Es war der um sechs Jahre ältere Loise au , ein Mann von weltmännischen Umgangsformen und mit großen Kenntnissen auf den Gebieten der Natur- wissenschaften und der Philosophie. Nikolaus ge- wann seine Freundschaft vor allem durch ein nach Art des Lukrez abgefaßtes Gedicht ■ über die „Natur der Dinge". Doch erst später sollte jener innige Freundschaftsbund zwischen ihnen ge- schlossen werden, der sie 4V2 Jahre vereinigte.

Jetzt hieß es zunächst Abschied nehmen. Der 8. Mai 1755 war der letzte Tag seiner Lehrlings- zeit. Madame Parangon war die erste, die ihn zu diesem Ereignis beglückwünschte. Dann gratu- lierte das Personal der Druckerei, auch die Eltern unseres Nikolaus waren aus Sacy gekommen. Es gab ein Festmahl, bei dem Nikolaus feierlich als Geselle proklamiert wurde, und zum Schlüsse, am II. Mai, eine — erotische Orgie schlimmster Art mit drei sehr jungen Mädchen, den Geschwistern Durand, die Nikolaus, dem Hausknecht Touran- geot und dem Drucker J. Lelong als Lustobjekte dienten. „Niemals," sagt Retif, „kam eine Szene bei der Paris, der Montigny, der Gourdan, der Guerin, der Dupont, der Caliche der- jenigen gleich, deren Teilnehmer und Zeuge ich zu- gleich war." Es kam sogar zu sadistischen Exzessen dabeL

Gewissermaßen als das Fazit, als ein sehr be- zeichnendes Ergebnis seines bisherigen Lebens teilt R6tif hier auch das erste Verzeichnis seiner — un- ehelichen Kinder bis zum Jahre 1755 mit, deren Zahl bereits damals bis auf 20 angewachsen warl Es braucht nicht daran gezweifelt werden, daß diese

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Kinder wirklich existierten. Ob sie aber alle gerade ihn zum Vater hatten, ist zweifelhaft, und in diesem Punkte ist R6tif stets sehr leichtgläubig gewesen. Er fühlte sich gern als „Vater des Vaterlandes". Unter diesem Gesichtspunkte müssen wir schon die erste folgende kuriose Kinderliste beurteilen:

I. Zephire von Nannette Rameau; 2. Ju- liette von Julie Barbier; 3. Esth^rette von der Mulattin Esther; 4. Eleonore von Mar- guerite Paris; 5. Marie Jeanne von Marie Jeanne L6v^que; 6. Marguerite von Mar- guerite Min6; 7. Reine (von deren Existenz er lange nichts wußte) von Manön Prudhot; 8. Agathe von Aim^e Chatelain; 9. Therese von Madeion Baron; 10. Sophie von Emilie Laloge; 11. Pauline von der kleinen Marianne;

12, Edm6e Colette von Madame Parangon;

13. Amaranthe von der Erscheinung (fantome) des 14. August (I); 14. einen Knaben von Flipote; 15. Tonton von Tonton Lenclos; 16. Louise Elisabeth von Colombe; 17. Edm6e von Edm^e Servign^; 18. Mariannette von Ma- rianne Tangis; 19. Rosalie von Rose Lam- belin; 20. Marote seconde von Marote Baron.

Nur wenige Monate noch weilte Rötif als Ge- selle in Auxerre. Dann verließ er, nach vorüber- gehendem Aufenthalte bei den Eltern in Sacy, am I. September 1755 diese Stadt und kam den 3. Sep- tember in Paris an. „Mein Frühling ist zu Ende. Ich komme jetzt in die verzehrende Glut des heißen Sommers." So kennzeichnet er den nun beginnenden Abschnitt seines Lebens.


Viertes Kapitel.

Zweiter Pariser Aufenthalt. Die Gesellenzeit. (Fünfte Epoche, i755— 1759-)

I. Erste Pariser Erlebnisse und Eindrücke.

Wir sprachen von dem „Casanova von Auxerre". R^tif selbst nennt sich im Hinblick auf seinen wahrheitsgetreuen Bericht über seine ersten Pariser Erlebnisse in den Jahren 1755 bis 1757 einen „neuen Petronius" (Mons. Nicolas VII, 180). Und in der Tat sind es Sittengemälde nach Art des „Saty- rikon", die er zeichnet. Die Ausschweifungen von Auxerre hatten trotz aller damit verbundenen Ro- heiten und Zynismen doch etwas Gesundes und Naturwüchsiges. Jetzt kommen wir in eine ganz andere, vergiftetere Atmosphäre. Ein übler Hauch von Korruption imd Perversität weht uns an. Es ist nicht mehr Casanova, es ist wirklich Petro- nius.

Unendlich wichtig, weil so überaus gegenständ- lich, anschaulich, sind diese Schilderungen für die Kenntnis des Pariser Lebens vor der großen Revo- lution, eine Fülle von interessanten Genrebildern zieht vor unserem Auge vorüber, aus allen Ge- sellschaftsklassen, ganz besonders aber aus den niederen Klassen, als deren eigentlicher Entdecker R^tif de la Bretonne zu betrachten ist. Er hat


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dadurch den vierten Stand in Frankreich literatur- fähig gemacht, hat zuerst das Malerische, die „Seele", in dieser Welt der Arbeiter und Handwerker offen- bart. Nur durch ihn wissen wir genau, wie es in diesen Kreisen im vorrevolutionären Frankreich aussah.

Zunächst fand Rdtif durch Vermittlung seines dort beschäftigten Freundes Boudard eine An- stellung in der Louvredruckerei, der „Imprimerie Royale". Der Lohn war sehr gering. Er betrug nur 50 Sous für den Tag. Die Regierung hatte zwar 100 Sous bewilligt, aber — ein sehr bezeich- nendes Beispiel für die Beamtenkorruption unter dem „ancien regime" — der Direktor der Druckerei, ein gewisser Arii SS on, imterschlug die Hälfte davon für sich und ließ außerdem die Angestellten noch für seine Rechnung arbeiten, ohne sie dafür zu bezahlen. Auf diese Weise häufte er im Laufe der Jahre ein ungeheures Vermögen an und konnte seiner Tochter bei ihrer Heirat 550000 Livres mitgeben.

R6tif blickte auf die Jalire der Berufsarbeit — im ganzen sollten es zwölf werden — nur mit Melancholie zurück. Er hielt die hierauf verwendete Zeit für eine verlorene, da er sich im Grunde von Anfang an zu etwas Höherem berufen fühlte. Und er begriff später nicht, daß man ihn für den hier betätigten Eifer loben konnte.

Im übrigen führte er nun ein richtiges Boheme- leben. Er bezog gemeinsam mit seinem Freunde Boudard und einem Uhrmacher Chambon (aus Auxerre) eine kleine Wohnung in der nie des Poulies. Man bereitete sich das Essen selbst. Der eine kaufte den BratÄti, der andere die Gemüse ein. Im ganzen


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gab man für die Nahrung nur 3 Livres wöchentlich aus. Alles wurde brüderlich geteilt, das galt auch von dem — weiblichen Verkehr.

R^tif hatte gleich nach seiner Ankunft erotische Beziehungen zu einer Madame Greslot ange- knüpft, einer Freundin seiner in Paris lebenden älteren, verheirateten Schwester und hatte sie gleich in den ersten Tagen verführt. Jetzt bot sich ihm Gelegenheit zur häufigeren Befriedigung seiner un- ersättlichen Gelüste dieser Art. Das Zimmer neben ihnen wurde von zwei gewöhnlichen Freuden- mädchen bewohnt. Die eine, hübschere hieß Arge- ville, die andere, häßliche wird nicht mit Namen genannt. Es war das erste Mal, daß R6tif mit einer Prostituierten zu tun hatte. Er widmet deshalb diesem Ereignis einige pathetische Betrachtungen (Mons. Nie. VII, 78, 79) und nennt den Beginn des Verkehrs (11. Januar 1756) einen „jour malheureux". Die Mäd- chen kamen gewöhnlich am Abend auf das Zimmer der drei Burschen, und es entspann sich dann stets ein Streit um ihren Besitz, den R^tif sehr drastisch schildert und der nicht selten in Tätlichkeiten aus- artete. Der feurigste Liebhaber war unser Niko- laus, Chambon entschädigte sich durch „les dis- cours les plus obscenes" für seine mangelnde Potenz und Boudard beteiligte sich ziemlich gelassen an diesem Treiben. Hier lernte R^tif zuerst die „Dirnenkünste" in ihrem ganzen Umfange und ihrer ganzen abschreckenden Natur kennen.

Dieses wüste Leben nahm bald ein Ende, da Chambon nach Auxerre zurückkehrte und Rdtif eine neue Stellung bei dem Drucker Hörissant gegenüber der Notre-Damekirche annahm. Er zog


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zu einer Madame Lallemand in der nie Saint- Julien le Pauvre. Dies war wieder eine neue Er- fahrung für ihn. Denn diese Frau Lallemand war eine Messaline, aber eine bisexuelle I Diese gegen andere in sexuellen Dingen sehr strenge, in bezug auf sich selbst aber völlig skrupellose Frau ließ sich nicht nur mit allen jungen Männern, die bei ihr wohnten, ein, sondern liebte auch „alle hübschen Frauen", und war auf sie eifersüchtig wie auf einen Geliebten. R6tif überraschte sie sowohl im Verkehr mit Männern (M. N. VII, 177), wie er denn selbst Gunstbezeugungen von ihr empfing, als auch in demjenigen mit Frauen. Namentlich schil- dert er uns eine Kaffeehauswirtin Beugnet als Typus einer Lesbierin, die ihm „d^tailla tous les ^carts de son goüt factice et coupable".

Wie wohltuend berührt inmitten dieser Korrup- tion die liebevolle Schilderung eines reinen Idylls wie des Zusammenlebens mit Jeannette De- mailly.

Das war eine kleine, imschuldige Landsmännin, die in Paris in große Not geraten und gefährlichen Versuchungen ausgesetzt war. Rdtif nahm sie zu sich, und sie lebten, obgleich sie in demselben Zimmer wohnten und sogar in demselben Bette schliefen, wie Bruder und Schwester miteinander.

Es war ein reines, unschuldiges Glück, das die beiden miteinander teilten. R^tif schildert es auf anmutige Weise. Sie wurden im Hause und in der Nachbarschaft eine förmliche Sehenswürdigkeit. Schließlich verliebte sich ein reicher Kaufmann in Jeannette und heiratete sie.

Nicht so gut erging es der 17 jährigen Schwester


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R^tifs, Genevi^ve, die als Pensionärin eines Nonnenklosters von dem Beichtvater desselben ver- führt und verdorben wurde.

Am 9. Juni 1756 zog R6tif von Madame Lalle- mand zu einer Frau Bonne Sellier, in einem Hause der Frau von Courbuisson, die die zweite Etage desselben bewohnte. Ihr Kammermädchen hieß Therese. In dem dritten Stockwerk wohnte ein hübsches Fräulein Fauchex bei ihren Eltern. Bonne Sellier hatte die vierte Etage inne. Die fünfte wurde nach der Vorderseite von der Lehrerin Z06 Delaporte bewohnt, nach der hinteren Seite von den Eltern der schönen Pelerine Berthe.

R^tifs Wirtin war eine herzensgute Frau, bei der er ein sehr gutes Unterkommen fand, aber sie lieferte wieder den „vollständigen Beweis dafür, daß eine Frau keine Pensionäre haben kann, ohne ihre Konkubine zu sein". Es war damals einfach Ge- brauch, erklärt R^tif, daß die Pensionäre, und seien sie auch bis zu dreißig an der Zahl, alle ein Recht auf den Besitz der Wirtin hatten. Er führt hierfür mehrere Beispiele aus seiner Erfahrung an. Diese Besitzrechte erstreckten sich nicht nur auf die Wirtin, sondern auch auf deren sämtliche Töch- ter, ja in einem Falle sogar auf die noch verhältnis- mäßig jugendliche Großmutter! So mußte auch Rdtif seine Pensionsmutter mit sechs oder sieben anderen jungen Männern teilen und suchte daher den Kreis dieser Hausabenteuer etwas zu vergrößern, indem er das Kammermädchen Therese und Pele- rine Berthe für sich eroberte.

Einige alte und neue Freunde spielten in dieser Zeit in dem Leben Rdtifs eine bedeutende Rolle,


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eine gute und böse. In gutem Sinne wirkten auf ihn ein Loiseau, der im September 1756 aus Auxerre nach Paris gekommen war und bald mit R6tif sehr vertraut wurde, und ein gewisser Re- na u d , der mit ihm philosophische Gespräche führte.

Dagegen waren zwei andere alte Bekannte, Gau- det aus Varzy und Boudard, seine ständigen Be- gleiter bei den erotischen Abenteuern, und zwar Boudard bei den „parties fines" mit besseren Mäd- chen aus der Kleinbürger-, Arbeiter- und Theater- welt und Gaudet bei der „libertinage" in den Bor- dellen und mit gewöhnlichen Prostituierten. Zynisch erzählt R6tif, daß er die beiden ersten Jahre seines Aufenthaltes in Paris mehr als 200 gewöhnlichen Dirnen seine „crapuleux hommage" dargebracht habe, wobei Gaudet stets sein Begleiter war. Dieser entpuppte sich dabei als ein durch und durch per- verses Individuum, das nicht bloß in der Pädikation von Frauen und Männern seine Befriedigung fand, sondern auch allen übrigen geschlechtlichen Ver- irrungen huldigte, die R6tif alle einzeln aufzählt, wie er auch eine derartige perverse Szene genau schildert (Mons, Nie. VII, 131 — 132).

Beide, Gaudet und R^tif, besuchten auch an den Sonntagen gemeinsam die niedrigsten Tanz- und Dirnenlokale, schlugen sich mit Soldaten um den Besitz der Mädchen herum, und losten dann darum, wer die betreffende zuerst haben sollte.

Boudard verhalf, wie erwähnt, seinem Freunde zu etwas vornehmeren Abenteuern, wobei das Wort „vornehm" allerdings cum grano salis zu nehmen ist. Sie betrafen meist Theaterdamen oder Modistinnen.

R^tif war bereits fünf Monate in Paris ge-


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wesen, als er zum ersten Male das Theater kennen lernte. Boudard führte ihn am i. Februar 1756 ins Th^ätre Frangais, wo sie den „M^chant" und die „Pupille" sahen. Retif war begeistert, und wurde fortan ein eifriger Theaterhabituö. Es war, wie er sagt, stets ein „entzückender Augenblick" für ihn, wenn der Vorhang sich hob. Das Theater war ihm beinahe so lieb, wie die Frauen. Dieses leiden- schaftliche Interesse hat dann später in der „Mimo- graphe" den markantesten Ausdruck gefunden. Einstweilen nahm er noch mit frischen, unbefangenen Sinnen, mit einer idealen Begeisterung, diese neue Welt in sich auf. Er folgte mit der leidenschaft- lichsten Anteilnahme den Vorstellungen und Opern- aufführungen, oft so intensiv mitfühlend, daß die erotischen Szenen, der Anblick schöner Sängerinnen oder Schauspielerinnen in recht eigenartiger Weise auch körperlich bei ihm zum Ausdruck kamen (M. N. VII, 103—104).

„Schauspieler und Schauspielerinnen," sagt er, „waren in meinen Augen Götter und Göttinnen. Ich wollte selbst Schauspieler werden und auf einem der großen Theater debütieren. Deshalb studierte ich in den Mußestunden gewisse Rollen ein, z. B. die der Knechte in der Komödie, der Könige oder Hauptrollen in der Tragödie. Plötzlich kam ich auf den Gedanken, daß ich am besten für die komische Oper paßte. Das Vaudeville entzückte mich."

Er studierte dann verschiedene Rollen aus komischen Opern ein und stellte sich eines Tages wirklich dem Direktor der „Opera Comique", Mon- net, vor, der ihn zwar in seinen Plänen ermutigte, aber zunächst auf die Provinz verwies^


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Stärker noch als dieser theoretische Theater- enthusiasmus war die mehr praktisch sich betätigende Liebhaberei für die weibhche Theaterwelt. Nach seinem ersten Abenteuer mit einer eleganten Tän- zerin der Italienischen Oper, der er nach der Vor- stellung heimlich in ihre Wohnung gefolgt war, wo sie sich ihm hingab, um ihn, weil er nachher nicht — bezahlte, grob hinauszuwerfen, machte er durch seinen Freund Boudard die Bekanntschaft dreier reizender Mädchen der Komischen Oper, Fräulein M enteile, der Geliebten Boudards, Fräulein Baptiste und der ersten Tänzerin Prudhomme. Man fuhr ins Bois de Boulogne. „Fräulein Prud- homme saß auf meinen Knien, Fräulein Baptiste neben mir, Fräulein M enteile und Boudard nahmen den Rücksitz ein," Dann folgt ein lustiges Treiben im Bois. Unter dem Beifalle einiger des Weges kommenden Libertins spielen R 6 1 i f und seine beiden Schönen wie verliebte Kinder miteinander, küssen sich und treiben die lustigsten Allotria, während Boudard und Mlle. Mentelle mit ihrem großen Hute beinahe so würdig wie „Vater imd Mutter" hinter ihnen einherwandeln. Man singt stark erotische Couplets und übersetzt ihren Inhalt, als man an einen einsamen Platz kommt, in die Wirk- lichkeit. Fräulein Prudhomme, die von zwei Gräsern das längste gezogen hat, kommt zuerst an die Reihe, während ihre Gefährtin „Wache hält". Nach seiner Erzählung erweist sich R6tif hier als ein wahrer Herkules in der Liebe. Man nimmt dann ein exzellentes Diner ein, das drei Stunden dauert. Während und nach demselben neue Zärtlichkeits- beweise von Seiten unseres Don Juan. Fräulein Bap-


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t i s t e singt ein pikantes Lied. Unser Held wird „im Namen der Venus" mit einem Myrtenkranz ge- schmückt und geht wie ein „neuer Anakreon", von den Nymphen umgeben, stolz zum Wagen.

Fräulein Baptiste, auf die, wie es scheint, der hübsche, junge Drucker einen großen Eindruck ge- macht hatte, bot ihm ihre „Freundschaft, Börse und Person" an. Vor dieser zweifelhaften Rolle eines besseren Zuhälters bewahrt ihn nur die größere Liebe zu der Prudhomme.

Ein anderes, noch seltsameres Abenteuer erlebte Rdtif mit der schönen Schauspielerin Gu6ant vom „Th6ätre Fran^ais", in die er sich leidenschaftlich verliebt hatte. Diese phantastische Episode ist auch von Görard von Nerval in den „Illuminös" ver- wertet worden. (S. 20 — 29.)

Gewöhnlich erwartete Retif seine Angebetete beim Verlassen des Theaters, vun sie dann in den Wagen oder die Sänfte steigen zu sehen und ihr bis zu ihrem Aussteigen zu folgen. Eines Abends im Juli 1757 begab sie sich, begleitet von der Prud- homme, zu einem Fest im Hotel de Hollande. Die Prudhomme, unseren Retif bemerkend, nahm ihn mit hinein und stellte ihn vor. Zufällig hatte er seinen besten Anzug an. Es war eine Gesellschaft von Schauspielerinnen und vornehmen Lebemännern, Man nahm ein opulentes Soupier ein. Dann sang Rosalie Levasseur von der Italienischen Oper einige Vaudevilles, Fräulein Hus spielte eine Szene, in der sie im kurzen Röckchen ihren Geliebten ver- folgte, Fräulein Gu6ant spielte die Brief szene aus der „Pupille", Madame Favart gab ein Lied zum besten imd die berühmten Tänzerinnen Guimard,


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Hallard, Prudhomme und die jüngere Ca- margo führten das Ballett „Medea" auf. Dann rezitierten zwei damals sehr berühmte leichtfertige Dichter einige erotische Gedichte, nämlich Robb^ sein pikantes Poem „rOrig^nisme" und Piron seine berüchtigte „Ode ä Priape". Endlich kam auch Rötif an die Reihe und erzählte unter großem Bei- fall eins seiner Liebesabenteuer (bei G6rard de Nerval ist es seine Genealogie). Den Beschluß des interessanten Abends bildete eine vom vene- zianischen Gesandten arrangierte erotische Orgie, bei der man den Saal verdunkelt hatte und bei der R^tif in den Besitz der geliebten Gu6ant gelangte.

Noch seltsamer, noch geheimnisvoller und märchenhafter war das Erlebnis mit der Schönen vom Pont Saint-Michel.

Eines Tages sah er beim Überschreiten des Pont Saint-Michel eine wunderschöne Frau in Be- gleitung eines schwarzgekleideten Mannes. Sie war sehr elegant gekleidet, besonders fesselte ihn ihr reizender kleiner Fuß, der mit einem grünen Schuh bekleidet war. Den ganzen Tag über beschäftigten sich R6tifs Gedanken mit dieser unbekannten Schönen. Und am Abend ging er wieder nach der Brücke, in der Hoffnung, sie zu treffen. Durch die benachbarten Straßen schlendernd, kam er zu dem Hause einer gewissen Mac^, einer Bordellwirtin, die er früher schon öfter besucht hatte, da sie eine Landsmännin von ihm war (aus Nitry bei Sacy). Auch dieses Mal begrüßte sie ihn freudig und ver- sprach ihm gleich ein sehr pikantes, einzigartiges Abenteuer mit einer vornehmen und schönen Frau. Zur Vorbereitung gab sie ihm bis zur Ankunft der-


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selben eines der berüchtigten erotischen „Uvres avec figures" zu lesen. Es war die „Histoire de Dom Bougre, portier des Chartreux, ou M^moires de Saturnin". Gerade war R6tif bei der Lektüre einer der obszönsten Stellen dieser Schrift, als die Tür sich öffnete und der mit einer Fackel vorangehenden Mac^ eine junge Dame folgte. R6tif traute seinen Augen kaimi. Es ist die Schöne vom Pont Saint- Michel! Genau in derselben Tracht und mit den grünen Schuhen! Ehe er sich's versieht, liegt sie in seinen Armen. Ein glänzendes Souper wird auf- getragen. Dann folgen von 9 bis i Uhr die Freuden der Liebe. Er lernt eine für ihn „absolut neue" Gattung Weib kennen, von einer „libertinage ai- mable", der alle „Capricen und Phantasien" in der Ars amandi geläufig sind, so sehr, daß selbst ein Mann von der Leistungsfähigkeit unseres Heldeti erschöpft wird. Er schläft ein und erwacht in den Armen einer — anderen, einer der hübschesten Mädchen der Mac6, der Spirette Laval. Die unbekannte Messaline war verschwunden. Am Morgen, als er noch ganz ermattet auf einer Bank des Pont Saint-Michel sich ausruht, sieht er plötz- lich seine Dame in einer großen Karosse vorüber- fahren, in Gesellschaft mehrerer anderer Damen.

Wer sie war, erfuhr er später. Er teilt aber ihren wahren Namen im „Monsieur Nicolas" nicht mit und erwähnt hier nur, daß sie mit Vornamen „Septimanie" hieß und in den Kreisen der Mace und ähnHcher Personen als „Madame Homo" be- kannt war. Am Schlüsse der vierten Ausgabe seines Romanes „Lucile" oder „La fille entretenue" (Paris 1774) behauptet er, daß es die Comtesse d'Eg-


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mont gewesen sei, die ja, wie wir aus anderen Quellen wissen, eine sehr große Libertine war.

Nach solchen ^Erlebnissen suchte R6tif absicht- lich „kühne und außerordentliche" Abenteuer (Mons. Nie. VII, i66), er wurde ein gefährlicher Weiber- jäger und Verführer, so wie er sich selbst nachher als Edmond im „Paysan perverti" dargestellt hat. Besonders die jungen Modistinnen wurden ein Gegen- stand seiner Verfolgungen. Da er sich sehr geschickt auf „leise, schleichende Bewegungen" verstand, so gelang es ihm oft, völlig imbemerkt seinen Opfern bis ins Haus, ja, bis in ihr Zimmer zu folgen und sie dort meist mit Güte oder Gewalt, manchmal auch unter der Maske eines erwarteten Liebhabers, zu verführen.

Während so sein Leben voll „turpitudes" war, ein beständiger Rausch sinnlicher Genüsse, denen stets eine bittere Reue auf dem Fuße folgte, traf ihn ein Schlag, der die Veranlassung zur Umkehr auf diesem Wege werden sollte und wieder seinen Sinn auf ideale Elemente im Leben richtete. Madame Parangon starb. Noch wenige Tage vor ihrem Tode hatte er von ihr, mit der er in ständiger Korre- spondenz gestanden hatte, einen zärtlichen Brief empfangen. Er erfuhr die traurige Nachricht von ihrem Tode am 15. April 1757, zugleich mit der Botschaft von der bevorstehenden Heirat ihrer einst ihm bestimmten Schwester Fanchette. Sein Schmerz war unbeschreiblich. Das Leben erschien ihm unerträglich. Er fiel in ein „Delirium" der Ver- zweiflung. Nur den vereinten Bemühungen seiner Freunde, besonders des guten Loiseau und dessen Freundin Zoe gelang es, ihn wieder aufzurichten.


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In dieser Zeit empfand er einen Ekel vor rein sinn- lichen Genüssen und trug sich mit dem Plane der Verheiratung mit einem ihm sympathischen, lieben Mädchen Adelaide Desmarais. Aber leider ver- eitelte der frühe Tod Adelaides diese Absicht.

Die seelische und moralische Depression war um so stärker und steigerte seine Selbstverachtung, seinen Lebensüberdruß um so mehr, als er sich bei der Tänzerin Camargo eine venerische Er- krankung zugezogen hatte, die sehr lange dauerte, weil er die Behandlung durch Charlatane derjenigen durch wissenschaftlich gebildete Ärzte vorzog. SchHeßlich wurde er von der — Frau eines solchen Kurpfuschers, die eine sehr eigenartige Prüfung seines Gesundheitszustandes mit ihm vornahm (Mons. Nie. VII, 191— 192), für geheilt erklärt.

Während dieser ganzen Leidenszeit war die innige Freundschaft des ehrenwerten Loiseau ihm größter Trost gewesen. Sie waren unzertrennlich geworden, und Loiseau lehrte ihn wieder das wahre Glück des Lebens, die wahren Werte desselben kennen. Aber er allein war nicht imstande, den Freund gänzlich dem früheren lasterhaften Leben zu entreißen. Dazu mußte eine neue Erscheinung in R^tifs Leben eintreten. Dies war Zephire.

2. Zephire.

Jeannette Rousseau, Madame Par an gon und Zephire sind die drei Verklärungen des Daseins unseres R6tif, von denen die letzte die schönste, zarteste war. Zephire war, wie er er- klärt, der „dritte und letzte Teil" eines seelischen

Dühren, Retif de la Bretonne. Q


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Ganzen, einer „einzigen Leidenschaft" (VII, 226), sie war der „letzte Strahl des Glückes", der seine Jugend verschönte. Und diese rührende, anmutige Erscheinung, diese reizende Fee, dieses zarte Elfen- kind, das nicht nur von den Männern, sondern, was noch bezeichnender ist, auch von allen Frauei. vergöttert wurde, war eine — Prostituierte ! Ja, sie war, was R6tif betrifft, noch mehr, noch Schlimmeres.

An einem Sonntag bemerkte R^tif, wie aus einem Fenster im dritten Stockwerk eines Hauses an der Ecke der rue Saint Honor6 ein kleines, reizendes Köpfchen herausschaute, das einem die Harfe spielenden Mädchen angehörte. Sie lächelte ihm zu und winkte ihn herauf. Oben öffnete sie ihm selbst. R6tif wird nicht müde, immer wieder die entzückende Erscheinung dieses reizen- den Menschenkindes zu schildern. Eine graziöse, schlanke Gestalt, herrliches goldblondes Haar, das in reichen Locken ihr liebliches zartes Gesichtchen umfloß; ein sanftes, zärtlich blickendes dunkelblaues Auge, das bei lebhafterem Glänze oft schwarz zu sein schien, ein entzückendes Naschen, ein Mund blühend und frisch wie eine sich öffnende Rosen- knospe, ein Liliputfuß, der das „Werk der Wollust selbst, der Tochter Amors und der himmlischen Psyche zu sein schien". Ihre sanfte, melodiöse Stimme drang dem Hörer ins Herz. Sie war der Ausdruck eines tiefinnigen Gefühls, einer natür- lichen Liebenswürdigkeit, die alle Menschen be- zauberte und hinriß.

So ungefähr schildert R6tif diese neue Offen- barung reinster Liebe in seinem Leben, ein Kind von


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12 bis 13 Jahren mit dem Aussehen und der Reife einer 16 jährigen.

R^tif wußte nicht, daß ihn Zephire schon früher gesehen und Gefallen an ihm gefunden hatte. Er war von dem liebenswürdigen Empfang, der ihm gleich das erstemal zuteil wurde, ganz entzückt und konnte gar nicht begreifen, daß dieses naive, un- schuldige Naturkind eine gewöhnliche Prostituierte war und daß er sich in einem wirklichen Bordelle befand. Und doch war es, als er nach drei Stunden diesen „mauvais lieu" verließ, eine „seance pure" im wahren Sinne des Wortes gewesen, nichts als die erste innige Vertraulichkeit unschuldiger Liebe hatte ihm Zephire entgegengebracht. Und auch er sah in ihr wieder nach so langer Zeit die Ver- körperung eines längst verloren geglaubten Liebes- ideals,

Als er sie am nächsten Sonntag wieder sah, kam sie ihm freudig mit der Botschaft entgegen, daß ihre Mutter ihr gestattet habe, ihn zum „Freunde" zu nehmen, wie auch ihre Schwester Manon und die übrigen Mädchen des Hauses alle einen solchen Freund hätten. Sie stellte ihn als „Herrn Dulis" — diesen Namen hatte er sich ihr gegenüber bei- gelegt — ihrer Mutter vor, die ihm sofort vorschlug, ihr Töchterchen ganz in Besitz zu nehmen und ihn ihrer Jungfräulichkeit versicherte.

Und Retif fand endhch in Zephires Armen das Glück, er vergaß Welt und Wirklichkeit, bis er am Abend sehr grausam an beide erinnert wurde. Bei einbrechender Dämmerung nämlich gab eine Glocke das Signal, daß alle „Freunde" die Mädchen


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verlassen mußten, damit sie nicht von der sich dann einfindenden BordellkHentel überrascht würden. So mußte auch er sich losreißen und alle Qualen der merkwürdigerweise gerade in bezug auf Prostituierte sich besonders mächtig zeigenden Eifersucht er- dulden, da er beim Weggehen als seinen „Nach- folger" einen widerwärtigen dekrepiden Greis er- blickte. Wie er später erfuhr, empfing Zephir e ausschließlich solche alten impotenten Wüstlinge und mußte deren perverse Gelüste befriedigen. Nach- dem er am nächsten Sonntage wieder dieselben Qualen der Eifersucht erduldet hatte, beschloß er, Zephire nicht wieder zu besuchen. Er wurde in diesem Entschlüsse durch einen inzwischen not- wendig gewordenen Wohnungswechsel bestärkt. Ob- gleich er durch seinen großen Fleiß und seine Tüchtigkeit sich bald die Zuneigung seines Chefs, des Buchdruckereibesitzers Claude Herissant, er- warb — er schildert uns (Mons. Nie. VII, 201 — 203) ausführlich seine Tätigkeit an den einzelnen Wochen- tagen — so kam es doch aus anderen Gründen zu einem Zerwürfnis, und Retif fand eine neue An- stellung in der Druckerei von Andrö Knapen, wo auch sein Freund Loiseau beschäftigt war. Er verließ nun auch das Haus von Bonne Sellier und quartierte sich in einem kleinen, armseligen Zimmer der rue Saint Julien le Pauvre ein, wo er einige Zeit ein sehr melancholisches Dasein führte, das nur durch die Freundschaft Loiseau s einiger- maßen erträglich wurde. Von Zephire hielt er sich absichtlich fern.

Da befällt ihn eine ernste, langwierige Krank- heit, die seine und seines Freundes Loiseau Mittel


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völlig aufzehrt. In dieser Not eilt Zephir e zu dem noch immer schwer Kranken, pflegt ihn mit rüh- render Zärtlichkeit, sorgt für gutes Essen und reich- liche Geldmittel und gibt ihm Liebe und Leben wieder durch die Botschaft, daß sie von ihm ein Kind unter dem Herzen trage.

Nach der nunmehr schnell erfolgenden Ge- nesung R6tifs wird beschlossen, Zephire, die bereits als Frau R6tif s gilt, ihrem schändlichen Be- rufe zu entziehen, und man bringt sie bei der Be- sitzerin eines Modewarengeschäftes in der nie de Savoie unter, einer Madame Guisland, in deren Familie sie eine liebevolle Aufnahme findet. Retif ist nur an den Samstagabenden, an den Sonn- und Festtagen mit ihr zusammen. Aber oft steht er in der Woche vor dem Ladenfenster und sucht einen freimdlichen Blick von der Geliebten zu erhaschen, steckt ihr Liebesbriefe zu, singt von ihm selbst ge- dichtete und in Musik gesetzte Vaudevilles und Kantilenen, und bisweilen bringt er ihr im Verein mit seinen Freunden ein Ständchen, wobei zwei auf der Gitarre und Geige spielen und die beiden anderen singen. An den Sonntagen werden Aus- flüge in die Umgebungen von Paris gemacht, in Begleitung der Freunde und ihrer Geliebten. Man besucht auch gemeinsam das Theater oder liest inter- essante Bücher, und der ehemalige Libertin R6- tif schreibt jetzt moralische Briefe an Zephire und die vier Töchter der Madame Gu Island, wie denn i8 Monate lang sein Leben nur eine Folge idyllischer Szenen aus dem ehrbarsten Philisterleben darstellt, dem selbst das Vaterglück in Gestalt eines ihm von seiner geliebten Zephire im April 1758 geschenkten


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Töchterchens nicht fehlt. FreiHch einmal läßt er sich eine arge Untreue zuschulden kommen. Es ist „ein furchtbarer Sturm inmitten eines ruhigen Wetters", ein „schrecklicher Traum in einer milden und friedlichen Nacht".

Dieser Sturm, dieser böse Traum wurde durch die Lektüre erotischer Werke heraufbeschworen, unter denen als besonders gefährlich R^tif den „Portier des Chartreux", „Thör^se philosophe" und die „Religieuse en chemise" nennt. Die Lektüre des erstgenannten Sotadikums löste eines Tages in ihm den heftigsten Erotismus aus. Er hatte es an einem Sonntagmorgen im Bette gelesen und alles, selbst Zephire darüber vergessen. „Nachdem ich zwanzig Seiten gelesen, stand ich in Flammen." Das erste Opfer dieser erotischen Glut war Manon La- vergne, eine kleine Plätterin, die gerade in diesem Augenblicke ihm seine Wäsche brachte. Hierauf setzte er seine Lektüre fort, um eine halbe Stunde später eine zweite Besucherin, C6cile Decoussy, brutal zu vergewaltigen. Neue Lektüre. Nach weiteren drei Viertelstunden kam Therese Cour- buisson, von Manon Lavergne unterrichtet, um freiwillig den furor eroticus unseres Helden über sich ergehen zu lassen. Diese Erregungen hatten nur seine Leidenschaft gesteigert, seine „rage ^rotique" verlangte schon nach Zephire, mußte sich aber bei ihrer Abwesenheit mit zwei anderen Opfern, nämlich Seraphine Jolon und Agathe Fagard be- gnügen. „Das war," sagt er, „die Wirkung erotischer Lektüre. Aber ich kenne ein Buch, das noch ge- fährlicher ist als die genannten. Das ist „Justine". Es reizt zur Grausamkeit. Danton las es, um sich


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zu erregen. Es ist ein Werk des schändlichen de Sade." (Mons. Nicolas VIII, 55.)

Abgesehen von dieser einen sonntäglichen Un- treue gehörte das ganze Jahr 1758 dem friedlichen, glücklichen Zusammenleben mit Zephire. Es sollte ein furchtbares Ende nehmen.

Bei einem Spaziergange in den letzten Dezember- tagen 1758 geriet Retif in Streit mit einigen vor- nehmen Gecken, die ihn, wie es ja damals sehr häufig geschah, einfach verhaften und ins Gefäng- nis setzen ließen. Er richtete sofort durch Eilboten einen Brief an Zephire, Atemlos, in Schweiß ge- badet, kam sie an und erwirkte durch ihre liebliche Erscheinung und ihre flehentlichen Bitten die Be- freiung des Geliebten. Aber sie selbst sollte das unglückliche Opfer der Affäre werden. Bei dem schnellen Laufen hatte sie sich eine heftige Erkäl- tung geholt, der eine starke Blutung vorausgegangen war. Schon am folgenden Tage war nach dem Auf- treten einer schweren Brustfellentzündung ihr Zu- stand hoffnungslos. In den Armen des Geliebten hauchte sie nach einigen Tagen ihre Seele aus. Er- schütternd und rührend ist die Schilderung ihres Todes und Begräbnisses und seines unendlichen Schmerzes (Mons. Nicolas VIII, 62—69). Nur mit Mühe konnte ihn der treue Freund vom Selbstmorde zurückhalten. Er versank in eine langdauernde Apathie. Als er endlich zum Leben wieder erwachte, sprach er nur die Worte: „Ich habe also endlich Madame Parangon gänzlich verloren." Zephire war sein letztes wahrhaftes Glück gewesen, die letzte Frau, die ihm eine tiefe, reine Liebe entgegen- gebracht hatte, und deren Züge und Wesen ihn an


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Madame Parangon erinnert hatten. Daher diese Worte. G6rard de Nerval schreibt dieses Auf- suchen der Ähnlichkeit der geliebten Frauen einem Lieblingsgedanken Retifs zu, einer Art von heidnischer Vorstellung, nach welcher er dieselbe Frau in drei verschiedenen Personen zu lieben glaubte.

Bald sollte er erfahren, daß die leidenschaft- liche Liebe, die Zephire mit ihm verbunden hatte, noch einen tieferen, natürlicheren Ursprung hatte. Retifs späterer Freund, Cubi^res-Palm^zeaux, nennt die Erzählung Retifs über seine Beziehungen zu Zephire eine durchaus authentische, auf Tat- sachen gegründete (Lacroix a. a. O. S. 9). Sie muß aber unseres Erachtens, w^enn auch ihre Un- möglichkeit nicht dargetan werden kann,i) mit Vor- sicht aufgenommen werden, da er, wie wir sehen werden, in bezug auf seine unehelichen Kinder sehr unkritisch, phantasievoll und leichtgläubig war, vor allem aber eine eigentümliche Neigung zu Vor- stellungen des Incestes hatte, welche Neigung in der „Anti-Justine" den krassesten und widerwärtigsten literarischen Ausdruck gefunden hat.

So läßt er denn hier gleich nach dem Tode Zephires ihre Mutter sich als jene Nannette Ra- meau zu erkennen geben, die einst den noch nicht II Jahre alten Knaben verführt hatte, und jetzt zum Staunen und der Überraschung ihrer Zuhörer erzählt, daß dies damals ihr einziger sexueller Verkehr


^) Klose berichtet über einen Fall von Schwängerung sogar durch einen 9 jährigen Knaben. Vgl. E. v. Hofmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin. 9. Aufl. Berlin und Wien 1903. Seite 57.


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gewesen sei und daß demselben eine Tochter ent- sprungen sei, eben — Zephire!

R6tif malt in lebhaften Farben die erschütternde Wirkung dieses Geständnisses auf ihn selbst und die übrigen Hörer Nannettens, wie er ausruft: „Zephire war also meine Tochter!" und wie die Frauen schreien: „O Gott!"

Die ganze umständliche Schilderung dieser Ent- deckung läßt jedenfalls dieselbe weniger angreifbar erscheinen als die späteren Incestphantasien Retif s. Deshalb haben Cubieres-Palm^zeaux, der sich noch persönlich darüber unterrichten konnte, La- croix und Göttin die Wahrheit derselben ver- treten. Wir lassen es unentschieden, ob hier Wahr- heit oder Dichtung vorliegt, ob in dieser seltsamen Episode Zephire nur Geliebte war, was sicher ist, oder auch zugleich Tochter,

Jedenfalls beansprucht die nach diesem Zwischen- fall ausführlich erzählte Lebensgeschichte Nan- nettes ein weit größeres Interesse, da sie uns mitten in die Geheimnisse der Prostitution und der Bordelle hineinführt.

Nannette erzählt, wie sie nach mannigfaltigen Schicksalen in Paris zuletzt in Beziehungen zur Welt der Prostitution tritt. Zuerst assoziierte sie sich mit einer Frau, die ein ausschließlich den Bedürfnissen der Freudenmädchen dienendes Ausstattungsgeschäft leitete. Diese gibt die folgende kulturgeschichtlich interessante Übersicht über ihre Tätigkeit:

„Ich führe Kleider für Mädchen von jeder Gestalt, in allen Farben und Stoffen, ganze Kostüme bis zu 20000 Francs7 für Herzoginnen, Marquisen, Bürgersfrauen, Schauspielerinnen, und Grisetten. Man zahlt je nach der Einnahme. Auch


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empfange ich zu Hause Besuche, wo ich fünf bis sechs große Badewannen zur Verfügung habe. Da wasche ich, massiere ich, behandle die Haut mit Schälmitteln, beseitige üble Ge- rüche, parfümiere sie, mache sie weiß und trage Schminke auf. Das beste Geschäft aber mache ich mit dem täglichen Wechsel der Kleider .... Wir „massierten" bei uns Per- sonen beider Geschlechter (hier machte Madame Deschamps ein Zeichen, die Einzelheiten zu unterdrücken), die sehr gut zahlten."

Wie man sieht, gab es die modernen der Un- zucht dienenden „Massageinstitute" schon im i8. Jahrhundert, und so berichtet denn auch Nannette über ein heute ebenfalls nicht selten diesen zweideutigen Etablissements widerfahrendes Ereignis : die Überraschung durch die Polizei. Nannette erhielt wegen Betriebes eines heim- lichen Bordelles drei Monate Gefängnis. Sie wurde in demselben von dem Polizeiinspektor Mar et im Auftrage des Polizeipräfekten belehrt, daß sie gut getan hätte, der Polizei nichts zu verbergen und sich von vornherein unter ihren Schutz zu stellen. So wurde Nannette nach ihrer Entlassung „Kupp- lerin von Polizei wegen", unter der Bedingung, je nach der Zahl der von ihr gehaltenen Mädchen eine bestimmte Abgabe an die Polizei zu entrichten. Hierüber erhielt sie ein amtliches Schriftstück, eine „Instruction pour les Dames-chefs de Maisons pu- bliques, tenant des filles", ein sehr interessantes Doku- ment zur Geschichte der intimen Beziehungen zwischen Polizei imd Kupplertum,i) das von R6tif in extenso mitgeteilt wird (Mons. Nicol. VIII, 90—92).

Mit dieser Instruktion versehen, die ihr die


  • ) Vgl. über diese Beziehungen meine „Neuen Forschungen

über den Marquis de Sade", Berlin 1904, S. 150 ff.


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polizeiliche Protektion garantierte, richtete sich Nannette alsbald ein neues Bordell in der rue Saint-Honore ein. Es war ein Haus von sieben Stock- werken, Im ersten waren die Toilettenräume, Bade- zimmer usw., im zweiten die Spielzimmer, im dritten und vierten die Wohnzimmer der Mädchen, im fünften und sechsten die Schlafzimmer und im siebenten die Räume für die Dienerschaft.

Hier stellte sich nun bald eine sehr zahlreiche männliche Klientel ein, und Nannette schildert sehr eingehend die verschiedenen perversen Praktiken, welche die Mädchen namentlich von selten der „hommes brutaux" (der Sadisten und Masochisten) zu erdulden hatten. Es ist diese Stelle eine sehr wichtige Ergänzung zu der ähnlichen Schilderung der Bordellunzucht im i8. Jahrhundert in de Sades neu aufgefundenem Roman „Die 120 Tage von Sodom". Wir finden in beiden das gesamte Register der Psychopathia sexualis. Vor allem berichtet Nannette über sadistische Akte schlimmster Art, Mißhandlungen, koprolagnistische Prozeduren, Fla- gellation, Faustschläge, Ausreißen von Stücken Fleisch im Orgasmus. Das war aber noch gar nichts in Vergleichung mit den perversen Prak- tiken der Prinzen und der hohen Aristokratie. Diese schwelgten in den scheußlichsten sadistischen und masochistischen Akten, deren nicht wiederzugebende Einzelheiten (Mons. Nicol. VIH, 98—99) durchaus die Schilderungen des Marquis de Sade in den „120 Tagen von Sodom" in jedem Punkte bestätigen. Bei dem übermächtigen Einflüsse, den diese korrumpierte Gesellschaft unter dem ancien regime hatte und der die Polizei zu ihrem gefügigen Werk-


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zeuge machte, waren die Inhaberinnen und In- sassinnen der Bordelle der Willkür und den schänd- lichen Gelüsten dieser aristokratischen Wüstlinge völlig preisgegeben, sie waren schütz- und rechtlos, weil die „Protektion" der Polizei in dieser Beziehung gänzlich versagte. Diese Rechtlosigkeit der Prosti- tuierten hatte eine große Ausdehnung des Zuhälter- tums zur Folge, dessen Gefahren und Laster eben- falls von Nannette uns sehr lebhaft vor Augen geführt werden.

3. Eine englische Episode. (Erste Heirat.)

Das Jahr 1759, das so verhängnisvoll mit dem Tode Zephir es begann, sollte für R^tif das in- haltreichste seines Lebens werden. Die erste Reaktion auf den tiefen Schmerz war eine „chute epicurienne", ein Rückfall in das frühere aus- schweifende Leben, die Bevorzugung der physischen Genüsse der Liebe vor den moralischen, wie letztere ihm z. B. durch das nur kurze Zeit dauernde zärtliche Verhältnis zu der reizenden Su adele Guisland zuteil wurden, Sie starb infolge des Bisses eines tollen Hundes. Neben diesen „mo- ralischen Erregungen" durch Su adele hatte er sich gern die „physischen" durch Aurore, ein Freuden- mädchen im Bordell der Mac 6, gefallen lassen. Er entdeckte wieder seinen Hang zum „Weib im all- gemeinen" und fing wieder an, auf die Jagd nach Frauen zu gehen. Aber dem armen Jäger sollte zunächst sehr böse mitgespielt werden. Wie ein Romankapitel liest sich die nun folgende Tragi- komödie seiner ersten Ehe. Und doch ist es ein


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durchaus wahrheitsgetreuer Bericht, mit dem Retif seine Leser treuherzig ergötzt.

Eines Abends erbHckt er in der rue Christine zwei Frauen in Trauerkleidung und Arm in Arm. Es sind zwei Engländerinnen, Tante und Nichte, die Alte sehr häßlich, unfreundlich, das junge Mäd- chen von blendender Schönheit, schlankem Wüchse, herrlichem Teint, mit rotem Haare und großen, strahlenden blauen Augen. Retif, der etwas Eng- lisch radebrecht, macht den Versuch einer An- näherung und folgt den beiden in ihre Wohnung. Hier erfährt er von den Hausbewohnern, daß die Tante eine gewisse Mrs. Macbell sei, ihre Nichte Harriet Kircher heiße. Sie seien wegen einer Erbschaftsangelegenheit in Paris.

R^tif war damals ein großer Anglomane. „La qualit6 d'Anglaise m'enflammait, autant que la beaut6 de la jeune personne." Am folgenden Tage eilt er wieder in die rue Pav^e, wo sie wohnen und spricht die aus dem Hause tretende Mrs. Macbell an, bietet ihr den Arm, um sie zu führen, und be- kommt bei der Rückkehr die schöne Nichte zu sehen, der er gleich auf Leben und Tod den Hof macht. Beim Abschied sagt Miß Harriet: „Fare- well !" Und er antwortet begeistert mit — den Versen von Pope:

Some emanation of th' all beautous Mind! My fancy form'd thee of angelic Kind, Those smiling eyes, attempering every ray, Shone sweetly lambent with celestial day.

Bald wird die Freundschaft inomer inniger. Retif leistet ihnen gute Dienste in ihrem Prozesse und verhilft ihnen zur Kenntnis der gegnerischen


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Prozeßakten, und als man der Tante für einen günstigeren Ausgang des Prozesses die Verheiratung ihrer Nichte mit einem Franzosen empfiehlt, da er- klärt sich unser Held sofort bereit, der schönen Miß fürs Leben anzugehören. Die Sache wird von beiden Teilen in größter Eile und Heimlichkeit betrieben, selbst der treue Loiseau wird nicht eingeweiht. Trotz dieser Eile hat Harri et noch Zeit ge- funden, sich in R6tif zu verlieben und ihm noch kurz vor der Trauung die höchste Gunst zu ge- währen. Die Trauung findet nach doppeltem Ritus, englischem und französischem, statt. Ihr folgt eine „nuit deücieuse". Aber dann trifft den armen neu- gebackenen Ehemann, der sich so gern in seinem Glücke sonnt. Schlag auf Schlag. Sein Vater, dem ein intriganter Verwandter die heimliche Ehe des Sohnes denunziert hat, schreibt ihm einen sehr bösen Brief und droht, ihn nie wieder sehen zu wollen. Inzwischen ist der Prozeß gewonnen worden, bei dem auch ein gewisser Mylord Taaf f , ein täglicher Besucher im Hause des jungen Ehepaares, eine ge- wisse Rolle gespielt hat, und auch jetzt noch immer mit der Tante geheimnisvolle Besprechungen hat. Das Resultat derselben soll der schon längst nichts Gutes ahnende Retif bald erfahren. Als er eines Tages (am 4. April 1759) nach Hause kommt, findet er das Nest leer, seine ganze Habe ist verschwunden, darunter mehr als 15000 Livres an Geld und Schmucksachen. Nur ein Brief mit der Aufschrift: „An Herrn Nikolaus, hierselbst" liegt da. Er ent- hält in kurzen Worten die trockene Mitteilung von Seiten Harriets, daß ihre Ehe ungültig sei und sie mit ihrer „lieben Tante" in die Heimat zurück-


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kehre. Er möge sich trösten. Angefügt ist noch eine höhnische Bemerkung dieser heben Tante selbst. Wie sich bald herausstellt, sind Harriets Zeilen auch von der Tante geschrieben worden. R6tif findet einen zweiten längeren Brief von Harriet selbst, in dem sie ihn ihrer zärtlichen Liebe versichert und ihre Flucht als eine von der Tante erzwungene hin- stellt. Sie solle nach dem Willen der Tante die Maitresse des Mylord T a a f werden. R d t i f ist außer sich vor Wut und Schmerz. Seine Freunde sprechen ihm Trost zu und meinen, er solle sich in den Ge- danken vertiefen, daß die ganze Affäre nur ein böser „Traum" gewesen sei, den er gehabt habe. — Später erfuhr Retif von einem französischen Diener, daß Harriet unter dem Namen einer Madame Res- tifsh (sie!) in London lebe, im Dezember 1759 Zwillinge, zwei Töchter, bekommen habe, die von Mr. Taaf bei seiner Verheiratung mit der Mutter adoptiert wurden.

4. Neue „petits hors-d'oeuvre".

R^tif befand sich nach diesem Schlag, der ihn zugleich seiner Frau und seines Vermögens be- raubte, zunächst m einer bedauernswerten Lage. Die materielle Not wurde zwar einigermaßen durch die Unterstützungen seiner Freunde, besonders des un- ermüdHch für sein Wohl sorgenden Loiseau ge- lindert, aber die psychischen Aufregungen machten ihn ziemlich arbeitsunfähig. In solchen Zuständen erwachte stets sein sexuelles Bedürfnis ganz be- sonders stark und machte ihn fast „toll" (Mons. Nicol. VIII, 172). Und nachdem ihm jetzt, wenn


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man seine eigene Ausdrucksweise weiter ausführen darf, das Liebesmahl der Ehe so schlecht bekommen war, genoß er um so eifriger die „petits hors- d'oeuvre" der Liebe und stürzte sich wieder in die tollsten erotischen Abenteuer. Er nahm den Ver- kehr mit Therese Courbuisson, mit der er eine wirkliche Szene aus dem Dekameron des Boccaccio aufführte (M. N. VIII, 157), und mit Pelerine Berthe wieder auf, daneben aber suchte er neue Anknüpfungen. Er war ja unersättlich im theoretischen und praktischen Studium der ver- schiedenartigsten weiblichen Wesen, deren Indi- vidualitäten er mit ein paar Worten oft glänzend charakterisiert.

Es ist an dieser Stelle unmöglich, auf alle diese galanten Eskapaden einzugehen. Da wechseln die wildesten Bordellszenen mit der Aurore, der Ba- thilde, der jungen Sailly, Mädchen im Hause der Kupplerin Dupont, ab mit ernsteren Liebes- verhältnissen wie z. B. demjenigen mit Isabelle Lefaucheux, die ihn vergeblich durch ein aus ihren Haaren angefertigtes Herz an sich zu fesseln sucht, oder mit der feurigen Madame Doubleton, die etwas energischer vorgeht, um sich der Treue dieses gefährlichen Unbeständigen zu versichern. Sie legt ihm nämlich eigenhändig eine „assurance m^canique", ein veritables „Keuschheitsschloß" um, das ihr während der Zeit der Trennung seine Treue garantiert und nur beim Rendezvous entfernt wird. Lange hält Retif diese „Sklaverei" nicht aus und entflieht bei einem solchen Rendezvous auf Nimmer- wiedersehen. Winken ihm doch so viele andere, sanftere und weniger herrische Genüsse der Liebe.


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Da verheißt ihm die reizende Jarrye Datt6, eine „vraiment Parisienne", durch Kußhände ein nahes Glück, da fängt er die Liebesbriefe der Victoire Versailles an einen anderen auf und versetzt sich, erst in Gedanken, dann in Wirklichkeit, an dessen Stelle, da wird die aus dem Kloster entflohene Ciaire Morizot seine „leichte Beute" und läßt ihn Sophie Wolxem das „Nichtige der Genüsse" empfinden, die nichts mit dem Herzen zu tun haben, während Victoire Darq, eine gewöhnliche „f ille du monde" es versteht, ihm auch diese schmackhaft zu machen. „Ach, ich war damals sehr inkonsequent I Die Sittlichkeit ist wie ein Perlenhalsband, entfernt man das Band, so fällt das Ganze auseinander."

Den Lesern, die ihn deshalb verdammen, ent- gegnet er, daß er doch nur das getan habe, was jene oft zu tun gedacht hätten. Er enthülle auch ihr Wesen, indem er das seinige enthülle. Ist nicht etwas Wahres in diesen Worten?


Dühren, R^f de la Brefonnc. 10


Fünftes Kapitel.

Dijon. Dritter Aufenthalt in Paris. (Sechste Epoche, 1759 — 1765.)

I. Die Reise.

Auf den Rat seiner Freunde trat Retif, nach den mannigfaltigen Aufregungen der ersten Monate des Jahres 1759 sehr erholungsbedürftig, Anfang Mai dieses Jahres eine Reise in die Heimat an, die ihn zunächst zu den Eltern nach Sacy führte. Er ver- lebte hier sehr glückliche Tage. Die Ruhe und der Frieden des Elternhauses taten ihm wohl. Seine Gesundheit kräftigte sich von Tag zu Tag. In diesem stillen Leben kehrte er wieder zu seinen alten Studien zurück, er übersetzte die Metamorphosen des Ovid und beschäftigte sich mit der Lektüre des Tibull, Properz, Martial und anderer lateinischer Dichter.

Diese friedliche Stimmung wurde jäh unter- brochen durch die ihn aufs tiefste erschütternde Nachricht von dem Tode seines treuen Freundes Loiseau, desjenigen, der alle seine „Geheimnisse, Laster und Tugenden" kannte und mit ihm Freuden und Schmerzen brüderlich geteilt hatte, der einzige, dem er sich ganz anvertrauen konnte.

Diese neue schmerzliche Erregung hoffte R 6 1 i f s Vater durch eine Reise und einen längeren Aufenthalt in Dijon wohltätig zu beeinflussen. Er sollte hier


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Beziehungen anknüpfen zu einer sehr angesehenen Familie Coeurderoi, entfernten Verwandten der Familie R^tif. So reiste denn Nikolaus am 29. Juni 1759 ab. Er machte die Reise zu Fuße. In Rouvray stieg er in der Herberge eines Jansenisten ab, mit dem er sehr philosophische Gespräche führte, die später bei der Rückkehr von Dijon wieder auf- genommen wurden. In einem anderen Wirtshaus, in Vitteaux, bezauberte ihn ein zum Hause ge- hörendes, allerliebstes Kind, Christine. Sie be- gleitete ihn eine Strecke Weges und half ihm seinen Rucksack tragen. Auch mit ihr feierte er auf der Rückreise ein Wiedersehen, dem ihre Unschuld zum Opfer fiel.

In Dijon nahm Retif eine Stellung in der Druckerei von Causse an, die ihm genügend Zeit zu einer Menge von galanten Abenteuern ließ, unter denen wir nur dasjenige mit der „fille du Cabaret" Mariejehannin, deren strenge Moral er mit Leich- tigkeit überwand und dann so sehr untergrub, daß sie sich schon bald darauf mit einem anderen einließ, ferner mit den Schwestern Lydie und Clairette, mit dem Dienstmädchen Marianne Milan, mit einer puella publica angustissima erwähnen. Ein noch innigeres Verhältnis, das bis zum Ehever- sprechen führte, verband ihn mit seiner Nachbarin Manette Teinturier und deren Freundin Manon Duveau. Man machte gemeinsame Spaziergänge im „Park" und in den „Tuilerien" von Dijon, be- suchte auch wohl das in der NäJie gelegene Kapu- zinerkloster oder die Karthäuser. Nikolaus wandte jetzt einen neuen Trick bei seinen Verführungsver- suchen an, er erzählte der Betreffenden seine

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früheren erotischen Abenteuer in all ihren drastischen •Einzelheiten, und versichert, daß dieses Mittel die von ihm beabsichtigte Wirkung niemals verfehlt habe.

Im Dijoner Park machte Retif die Bekannt- schaft der ernsten Omphale Coeurderoi, der Erzieherin von Madame Parangons einziger Tochter, als deren Vater natürlich Retif sich selbst betrachtete. Da sein Aufenthalt in Dijon nur als ein vorübergehender geplant war, hieß es schon nach wenigen Wochen Abschied nehmen von all den lieben Gestalten, die hier in sein Leben eingetreten waren. Er sollte die meisten von ihnen nicht wiedersehen. Besonders der Schmerz der schönen Manette Teinturier bereitete ihm aufrichtige Gewissens- bisse.

Auf der Rückreise hatte er noch ein Abenteuer mit einem jungen Mädchen aus Lyon, YonneBelle- cour, das von ihrer älteren Begleiterin nach Paris verkuppelt werden sollte. In Sacy hielt ihn längere Krankheit zurück, von der er schließlich durch eine wahre Pferdekur befreit wurde. Dann kehrte er im Oktober 1759 nach Paris zurück. Er bezog hier wieder seine alte Wohnung bei Frau Bonne Se liier. Am dritten Tage nach seiner Heimkehr traf ihn neuer Schmerz. Loiseaus Geliebte, seine treue Freundin Zoe, starb. Retif suchte sich ver- geblich eine Stellung zu verschaffen. Er machte dabei die Bekanntschaft eines Angestellten der Druckerei Knapen, namens Giraud, Vater zweier hübscher Blondinen, der älteren Edm^e und der jüngeren Reine. Dieser merkwürdige Vater pries ihm gleich die Reize seiner Töchter an und bot ihm


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die ältere zur Frau an, so ganz beiläufig, beim Essen ! Retif, immer gefällig, vergißt alle früheren Heirats- projekte und nimmt sogleich das Anerbieten an. Das bringt ihm „einen Tag, aber auch nur einen Tag" neuer Unterhaltung (divertissement). Edmee, die natürlich längst ihren Geliebten hat, läßt sich gegen das Versprechen, sie nicht heiraten zu wollen, von Nikolaus verführen! Auf ihrer Hochzeit mit jenem anderen wird dann die jüngere Schwester die Beute Retifs. Dann treten neue Heirats vorschlage an ihn heran. In einem Briefe fragt seine alte Liebe, Rose L am bei in, bei ihm in betreff dieses Punktes an. Er antwortet bejahend, lernt aber inzwischen die 30 jährige, noch jungfräuliche Schwägerin seiner "Wirtin, Fräulein Sophronie Sellier kennen, die selbständig ein Kleidergeschäft betreibt. Noch am selben Tage verloben sie sich und verabreden baldige Hochzeit. Es war für R6tif eine glänzende Partie, da Fräulein Sellier sehr wohlhabend war und große Einnahmen aus ihrem Geschäfte hatte. Er hatte es deshalb auch sehr eilig, sie in Besitz zu nehmen und versicherte sich bereits am folgenden Tage ihrer Virginität im wahren Sinne des Wortes (Mons. Ni- colas IX, 60). Aber auch über diesem, vielleicht bestem aller bisherigen Heiratspläne waltete ein böses Geschick. Schon zwei Tage später wurde Sophro- nie von Einbrechern ermordet!

Zwei noch merkwürdigere Heiratsofferten kamen ihm von — Nannette, der Mutter seiner Zephire, die ihm sogar noch ein junges Mädchen von 15 Jahren mit in die Ehe bringen wollte, damit er gelegentlich Abwechslung habe, und von Therese Courbuisson. Diese zudringlichen Anträge er-


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schreckten ihn so, daß er beschloß, Paris zu ver- lassen, wo er ohnedies in größte Not zu geraten drohte. So war er bisher halb freiwillig, halb ohne sein Zutun glücklich den Fesseln und Gefahren der E^he entgangen, um alsbald doch noch gerade in dieser Hinsicht wie ein ahnungsloses Kind sich über- tölpeln zu lassen und ein Eheschicksal schlimmster Art sich aufzuladen. Der geistige Urheber desselben war Herr Parangon.

2. Neue eheliche Leiden (Agnes Lebegue).

Parangon, der wegen der ihm bekannt ge- wordenen Beziehungen Retifs zu seiner ver- storbenen Frau einen geheimen Groll gegen seinen früheren Lehrling hegte, hatte viel von den Heirats- plänen desselben gehört und beschloß nun, diese zu benutzen, um sich auf eigenartige Weise an ihm zu rächen.

In Auxerre lebte eine Familie Lebegue. Der Mann war Apotheker, von ehrenhafter Gesinnung, und begleitete augenblicklich als Leiter einer Feld- apotheke das französische Heer in den Feldzügen des Siebenjährigen Krieges. Eines weniger guten Rufes erfreuten sich die weiblichen Mitglieder der Familie, die Frau und die älteste Tochter Agnes. Sie führten ein sehr verschwenderisches Leben und huldigten heimlicher Libertinage, die ihrem Wesen den Stempel des Verschlagenen und Bösartigen auf- drückte. Parangon beschloß, R^tif durch eine Verheiratung mit dieser schlechten Tochter einer noch schlechteren Mutter ins Unglück zu stürzen. Der Plan ward raffiniert ersonnen und durchgeführt.


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Im Begriffe, von Paris abzureisen, erhielt Retif einen Brief des Herrn Parangon mit der Aufforde- rung, von neuem als Faktor in seine Druckerei ein- zutreten. Er nahm an und traf am lo. November 1759 in Auxerre ein. Parangon brachte ihn bei dem offenbar in das Geheimnis mit eingeweihten Faktotum Rüttot unter, in dessen Hause man ihn alsbald mit Madame und Mlle. Lebegue bekannt machte.

Die ganze nun folgende Intrige wurde nur da- durch überhaupt ermöglicht, weil der sonst so scharfe sichtige Retif sich durch ein einziges suggestives Moment beherrschen ließ. Ein Wort Loiseaus, das dieser vor langer Zeit zu ihm gesprochen, fas- zinierte ihn. Er hatte Agnes Lebegue ein Mäd- chen von „seltenem Werte" genannt! ,, Dieses ver- hängnisvolle Wort meines einzigen und aufrichtigen Freimdes, nicht die Schlauheit Parangons richtete mich zugrunde ... es klang unaufhörlich vor meinem Ohre." So rannte er, „precapte" durch dieses Urteil, blindlings in sein Verderben, zumal da ein letztes kaltes Wiedersehen mit der einst so geliebten Rose Lambelin ihm eine arge Enttäuschung be- reitet hatte.

Nun ließ er sich, wie so oft, durch rein sinnliche Reize verführen, die sowohl die noch männertolle Mutter als die Tochter gegen ihn ausspielten. Bald ließ er sich gern die zweideutigen Zärtlichkeiten der Mutter und die noch schlimmeren der Tochter ge- fallen; sie hatten sich gemeinsam verbunden, um ihn „durch die Sinne zu unterjochen". Das gelang ihnen durchaus. Aus der Gewohnheit entwickelte sich bei ihm ein „goüt factice" und das Bedürfnis,


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täglich dieser physischen Reizungen teilhaftig zu werden. In diesem Zustande der Geschlechtssklaverei, obgleich er bald einen noch erschreckenderen Ein- blick in die ganze Korruption der Familie L e b e g u e erhielt, an der auch die trotz ihrer lo Jahre bereits in alle Mysterien der Venus eingeweihte jüngste Tochter Suzon beteiligt war, ließ sich R6tif dazu bewegen, die Zustimmung seiner Eltern zu einer Heirat mit Agnes Leb^gue zu erbitten. Die Ant- wort lautete in günstigem Sinne. Agnes, deren schönste Reize derjenige der Venus Kallipygos und ein kleiner Fuß waren, wurde nun wie gewöhnlich schon vor der Hochzeit die seinige. Er glaubte sich dabei im Bordell zu befinden und eine „fille de Paris" vor sich zu haben. Bald hörte er von Rüttot, der übrigens mit der Mutter Lebegue vor seinen Augen den zügellosesten Verkehr pflegte, von dem früheren leichtfertigen Lebenswandel seiner Zukünftigen, er glaubte sie sogar bei einer Liebes- szene mit zwei Kommis überrascht zu haben. Aber alles das konnte nur vorübergehende Zweifel in ihm erwecken und wurde ausgelöscht durch den fatalen Ausspruch Loiseaus und seine eigne Begierde.

So ließ er denn mit einer Art von Heroismus und Apathie das unabänderliche Schicksal über sich er- gehen. Die Vorbereitungen zur Hochzeit wurden getroffen, und nach Ankunft seiner Eltern dieselbe am 22. April 1760 gefeiert. Stolz konnte der Bräutigam feststellen, daß mehr als 1500 Menschen den Hochzeitszug auf seinem Wege zur Kirche be- gleiteten. Das war ein schöner Tag, und doch war es der Tag seines „moralischen Todes".

Bald sollte ihm die Binde von den Augen ge-


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nommen werden, und er die wahre Natur derjenigen kennen lernen, an die er nun für das Leben ge- fesselt war.

Monselet (a. a. O. S. 208) sah bei Auge, einem Enkel von RetifdelaBretonne, ein Pastell- bild der Agnes Lebegue, ein schönes, aber streng und hochmütig aussehendes Gesicht mit regel- mäßigen Zügen und stark gekrümmten Augenbrauen. Nach Monselet macht der Gesichtsausdruck einen Teil der Beschuldigungen Retifs verständlich. Es geht aber aus Retifs eigenen Schilderungen seines unglücklichen Ehelebens hervor, daß Agnes von Natur nicht bösartig war, sondern daß ihre Fehler und Vergehen mehr aus einer gewissen Leichtfertig- keit ihres Wesens entsprangen. Bemerkenswert ist, daß Retifs erster Biograph, Cubi^res Palme- zeaux, dem gegenüber R^tif seine Gattin „la plus mechante des femmes" nannte, selbst auf Grund seiner persönlichen Bekanntschaft zu einem ganz anderen Urteile über sie kam. Sie erschien ihm stets „außerordentlich achtbar, durch ihre Sitten, ihr anständiges Wesen, ihren Geist und Charakter" (Cubieres Palmezeaux bei Lacroix a. a. O, S. 1 1 Anm.). Sie selbst spricht in einem Briefe an Cubieres vom 18. Oktober 1806 von dem „Dämon der Zwietracht", der das Gemüt ihres „von Natur guten" Mannes verdüstert habe. Auf der anderen Seite freilich spricht gegen sie und für die Angaben Retifs die bedeutsame Tatsache, daß später ihre beiden Töchter nach der vollzogenen Trennung nicht der Mutter folgten, sondern beim Vater blieben.

Das junge Ehepaar machte zunächst eine Hoch- zeitsreise nach Sacy, wo Agnes die Eltern sehr


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für sich einzunehmen wußte, und blieb dann noch für ein Jahr in Auxerre. In den nächsten zwölf Jahren überließ Retif seiner Frau gänzlich das Hausregiment, ließ sie schalten und walten, wie es ihr beliebte, auch in materieller Beziehung, während er selbst nur seiner Arbeit oder seinen Liebes- abenteuern nachging. Wenn sie alsbald einen schlechten Lebenswandel führte, so war der seinige wahrlich nicht besser.

Das Verhältnis zu seinem Chef Parangon ge- staltete sich sehr eigentümlich. Dieser haßte in ihm den ehemaligen Nebenbuhler, aber liebte ihn als seinen tüchtigen und brauchbaren Angestellten, und es war bisweilen recht amüsant, den Widerstreit dieser beiden so verschiedenartigen Gefühle zu be- obachten. Natürlich war es Parangon ein Hoch- genuß, das einst von Retif ihm Widerfahrene zu vergelten und auch seinerseits denselben nunmehr zum Hahnrei zu machen. Agnes Lebegue — so nennt R^tif seine Frau auch noch nach der Hoch- zeit — war nicht bloß von Anfang an untreu, sondern ruinierte in Gemeinschaft mit ihrer Mutter Retif auch materiell. Glücklicherweise wurde er die Alte bald los, weil sich die beiden Frauen nicht mehr miteinander vertrugen und Agnes selbst ihm daher riet, nach Paris zu gehen, wo sie auch auf größere Einnahmen hofften. Agnes reiste voraus, im Früh- ling 1761.

Die Zeit ihrer Trennung benutzte Retif in der gewohnten Weise. „Ich war allein/* sagt er, „ich war jung, ich war kräftig und an regelmäßigen Ge- schlechtsverkehr gewöhnt." Da er es in Auxerre nicht wagte, wie früher die Mädchen zu verfolgen


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und aufzusuchen, so nahm er das Nächstliegendere. Seine Frau hatte drei intime Freundinnen in Auxerre, Maine Blonde und die beiden Schwestern Roullot, Claudon und Marianne mit Vornamen, Zuerst wurden die beiden letzten sein „Trost", sie waren zwar verlobt, aber das hatte ja niemals seine Unternehmungslust irgendwie beeinträchtigt. Er ver- führte beide, während immer die eine dabei Wache stand! Dann kam die feurig leidenschaftliche Maine Blonde an die Reihe, und zuletzt schlössen alle vier einen ewigen Freundschaftsbund.

„Ich kam zum letzten Male in dieses liebe Haus. Maine stand da, über und über rot, Claudon lag nachlässig aus- gestreckt auf einer Chaiselongue, Marianne saß mit auf- gestütztem Ellenbogen auf einer Fußbank. — Marianne nahm meine Hand: „Du bist nicht unser Liebster, du bist unser Freund. Sei es für immer!" Ich vereinigte die Hände der drei Schönen, küßte sie, und rief: „Für immer!"

Nach vorübergehendem Aufenthalte in Sacy und Abschied von den Eltern — er sollte den Vater nicht wiedersehen — reiste auch Retif im Juni 1761 nach Paris und bezog dort mit seiner Frau eine Wohnung im Quartier latin. Stellung fand er nacheinander wieder in den Druckereien von Knapen, Quillau und der Königlichen Louvredruckerei. Der Lohn war damals gerade ein äußerst geringer. Zudem war ihnen im März 1761 die älteste Tochter, Agnes, geboren worden, und seine Frau verstand es nicht, sich mit dem wenigen einzurichten. Sie gerieten in wirkliche Not. Die Folge war ein beständiger häuslicher Unfrieden. Da konnten schändliche An- erbietungen an Agnes Lebegue nicht ausbleiben. Sie war so zynisch, jedesmal von solchen ihrem Manne Mitteilung zu machen. Intimere Beziehungen


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wurden mit einem Nachbarhause angeknüpft, wo eine kleine hübsche, bucklige Madame Chereau mit ihrem Manne, ein gewisser Johnson-Cahuac und Lafray, ein Freund Chöreaus und Liebhaber seiner Frau wohnten. Chereau hatte Lamber- tine, das Kammermädchen seiner Frau als Mai- tresse. Agnes Leb^gue hatte eine Zeitlang allein bei diesen Leuten verkehrt, und die drei Männer hatten bereits um ihren Besitz gelost. Man beschloß aber großmütig, R e t i f für diese neue Hahnreischaft 2u entschädigen. Am Dreikönigstage, 6. Januar 1762, ließ man ihm, als er nichts zu essen hatte und sich nur geistig durch die Lektüre der „morale d'Epi- cure" (!) sättigte, durch Lambertine Erfrischungen bringen und ihn herüberholen, um an einer großen erotischen Orgie teilzunehmen, bei der ihm Lam- bertine zugefallen war, später aber ein „Aus- tausch" stattfand. Man untersuchte dann in „philo- sophischer" Unterhaltung, ob Chereau als Lieb- haber der Agnes Lebegue seine Frau oder Lam- bert ine dem betrogenen Gatten dauernd überlassen müsse, oder ob Lafray auch etwas dazu zu sagen habe. Agnes selbst fand es am „ehrenhaftesten" für sich, wenn Rötif Madame Chereau als Gegen- gabe erhielte ! Letztere machte dem Streite ein Ende, indem sie, durch den Alkoholgenuß zu einer „kleinen Bacchantin" geworden, Retif in ein halbdunkles Boudoir hineinzog und den Riegel vorschob.

„Fräulein" Lebegue (auch diese Bezeichnung kommt vor) „galantisierte" (galantisait) besonders unter dem Einflüsse gefährlicher Lektüre, die ihr von den Chöreaus gegeben wurde. Auch Rötif regte seine in der traurigen äußeren Lage aus-


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getrocknete Phantasie durch Lektüre an, sowie durch glühende Liebesbriefe, die er an die kleinen Mo- distinnen der Nachbarschaft schrieb und ihnen selbst zusteckte, ohne sich als Verfasser erkennen zu geben. Er unterzeichnete darin als „Musketier Leblanc" oder als „Chevalier de Mirabelle". Diese eigen- tümliche Manie des Briefschreibens, die wir von jetzt an immer häufiger bei ihm antreffen, war gleichsam eine neue Form, seinen erotischen Gefühlen in einer mehr allgemeinen Weise Ausdruck zu geben.

Die Langeweile, der Kummer, der Mangel an anderen Vergnügungen ließen ihn eine andere merk- würdige Art von Zeitvertreib suchen. Er schlich sich heimlich in die Bordelle und Wohnungen der Prostituierten ein und spielte hier die Rolle eines „Voyeurs", namentlich perverser Akte (Mons. Nicol. IX, 1 58). Dabei machte es ihm großen Spaß, allerlei Schabernack zu treiben, die Kleider zu stehlen, zu verwechseln, mit einer lebendigen Maus das Paar zu erschrecken usw. Er erzählt sehr drastische Szenen als Folgen solchen Übermutes. Es war, wie er meint, seine eigne Erniedrigung, Selbstverachtung, die Misere, die ihm solche Malicen eingab.

Doch konnte er gerade in diesem Miheu anders, besser sein. So gab er — ein seltsames Idyll — der Dirne Bat bilde, in die sich ein deutscher Baron leidenschaftlich verliebt hatte, und die er als seine Gattin mit nach Deutschland nehmen wollte, täglich Unterricht im Lesen und Schreiben, damit sie wenigstens nicht ganz ungebildet eine so vornehme Ehe einginge. Er erzählt ihr dabei sein ganzes Leben und feiert mit ihr in sentimentaler Weise, unter heißen Tränen, die traurigen Gedenktage seines


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Lebens, den Tod Madame Parangons, Zephires, Loiseaus usw. Sie werden so vertraut, daß Ba- thilde dem deutschen Baron den Laufpaß geben und mit R6tif zusammenziehen will. Aber er lehnt das ab.

War ja doch eine neue weibliche Erscheinung in sein Leben getreten: Adelaide Nicard. Eine kurze, aber romantische Episode.

Adelaide Nicard war ein liebenswürdiges, gutherziges, reizendes junges Mädchen, das schon früh von ihrer Mutter als Maitresse an den vor- nehmen Präsidenten von Saint -Leu verkauft worden war, ein schändlicher Handel, wie er damals alltäglich war.i)

Sie hatte die Bekanntschaft Retifs und seiner Frau gemacht und beide sehr lieb gewormen. Sie kam meist an den Sonntagen zum Essen. Agnes hatte Adelaidens Neigung zu ihrem Gatten be- merkt und begünstigte dieselbe, um ihren eigenen Abenteuern ungestörter nachgehen zu können. Ja, es war ihr nicht unangenehm, wenn die Rollen ver- tauscht wurden, Adelaide als Gattin, sie dagegen als Freundin Rötifs auftrat. Diese Mystifikation führte man gegenüber einem gewissen Beugnet durch, einem reichen Drucker, in den Agnes sich verliebt hatte. Beim Diner, zu dem er eingeladen war, fungierte Adelaide als Hausfrau — sie hatte auch in generöser Weise alle Kosten solcher opu- lenten Mahlzeiten übernommen — und auf Wunsch Beugnets spät am Abend auch noch als — liebende Gattin, was ihr um so leichter wurde, als sie R^tif

') Vgl. meine „Neuen Forschungen über den Marquis d e S a d e", Berlin 1904, S. 92.


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innig liebte. Es entwickelte sich daraus ein recht zärtliches Verhältnis zwischen den beiden, in dem. R e t i f in materieller Hinsicht der empfangende, Ade- laide der gebende Teil war. Sie ließ neue Möbel herbeischaffen und unterstützte die Familie auch mit barem Gelde, das sie doch wohl nur von ihrem anderen, vornehmen Liebhaber empfing. Damals hatte man nicht eine so schlimme Auffassung von diesen Dingen, wie wir heutzutage. Selbst vornehme Personen scheuten sich nicht, unter Umständen Geld von ihren Geliebten anzunehmen. R e t i f selbst macht einen scharfen Unterschied zwischen den Zuhältern der gewöhnlichen Prostituierten, den „Messieurs", und den Männern der letzteren Kategorie, für die offenbar ein „point d'honneur" nicht in Betracht kam.

Bald schöpfte Adelaiden s erster Liebhaber, der Präsident, Verdacht. Retif behauptet, daß Agnes Lebegue selbst die Verräterin gespielt habe. Jedenfalls mußte Adelaide alle Beziehungen zur FamiHe Retif abbrechen. Der Abschied wurde beiden sehr schwer, aber Adelaide suchte Retif auf eine eigenartige Weise zu trösten. Sie übergab ihm in feierlicher Weise ihre Freundin, die hübsche Coiffeuse Desiree Didier als ihre Nachfolgerin!

Diese, die außerdem noch einen anderen Lieb- haber de Roncy und einen alten Schriftsteller Lefort zum Anbeter hatte, behandelte Retif sehr ungleichmäßig, bald war sie zärtlich, bald kalt. Ein- mal wußte sie Herrn de Roncy so für die R^tifs und ihre traurige Lage zu interessieren, daß er ihnen zwei Louisdor schenkte, welche sie annahmen, ohne sie jemals zurückzugeben.


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Desirees zweifelhaftes Verhalten ließ Retif andere „Zerstreuungen" suchen. „Man hat solche immer in der Jugend, wenn man alt ist, gibt es keine mehr ... Es gibt ja auch nichts Leichtfertigeres als die Pariser Mädchen. Ich bin überzeugt, daß bei weniger Aufmerksamkeit von selten der Mütter keine ihre Jungfräulichkeit bis zur Ehe bewahren würde." Er erklärt seinen blinden Trieb zum Weibe aus seiner damaligen Notlage, die ihn weniger wählerisch machte und gleichsam alle Frauen über ihn stellte. Er begehrte sie, weil sie dem Armen weniger erreichbar waren und genoß sie dann mehr „als ein König". So wurde eine Schülerin der Desiree, eine MUe. Edmet, die seinige, und schenkten ihm Zede Vilpois, die Tochter des Hauptmieters in seinem Hause und Javotte Prud- homme, die im dritten Stock wohnende Tochter eines Kupferstechers ihre Gunst. Dann lernte er noch ein ganz neues „genre de femmes" kennen. Gegen- über seiner Wohnung, in der rue de la Harpe, wohnte eine Demoiselle Talon, „la plus effrontee, la plus lubrique des entretenues", die Maitresse des Parla- mentssekretärs Pidansat und Geliebte eines Stutzers. Diese Schöne hatte zwei Schwestern, die hübsche Madame Desvignes, die Gattin eines Uhrmachers und eine andere häßliche, die die Ver- mittlerin für die beiden machte. Die drei Schwestern hatten eine reizende Freundin namens Chouchou, gewöhnlich nach ihrem Liebhaber, einem reichen Arzte und Lebemann, „Petite Brülee" genannt.

Retif sah Chouchou eines Tages am Fenster der Talons sitzen und eine Katze liebkosen. Seine lebhaften Blicke wurden beifällig aufgenommen.


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Fräulein Talon winkte ihn heran und gab ihm zu verstehen, daß die Gelegenheit günstig sei. Er nahm sie nach Kräften wahr, mehr als zwei Stunden, und fand nachher zu Hause in seiner Tasche — fünf Louisdor. Er eilte sofort ans Fenster und gab durch Blicke der schönen Geberin seinen Dank zu er- kennen !

Chouchou, die schöne Talon und Madame Desvignes teilten sich in der Folge freundschaft- lich in seinen Besitz.

Über alle übrigen „aventures de passade", ebensoviele „Tröstungen" für seine unglückliche Ehe geht er kurz hinweg und gibt nur eine kurze Charakteristik dieser so verschiedenartigen ero- tischen Beziehungen, die er bald als „tours scdlerats", bald als „amusements enfantins", als „arrangements singuliers", als Äußerungen eines „goüt factice" oder als solche einer wirklichen Herzensneigung be- zeichnet. Er nennt 28 Namen von Mädchen (darunter vier Schwestern Decourl) und Prostituierten (Mons. Nicolas IX, 192—193),

Eine wohltätige Unterbrechung erfuhr dieses traurige und ausschweifende Leben durch eine Reise nach Sacy, die er nach dem am 16. Dezember 1763 erfolgten Tode seines Vaters in der Fastenzeit 1764 unternahm. Dort waren auch alle seine Geschwister zur Ordnung der Erbschaftsangelegenheiten ver- sammelt. Er verletzte sich dort beim Tragen seiner Tochter Agnes am Bein und bekam nach seiner Rückkehr die Wundrose. Während er krank da- niederlag, vergnügte sich seine Frau mit anderen Männern und überließ die Pflege des Gatten einer gefälligen Nachbarin.

Dühren, Retif de la Bretonne. U


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Nach der Genesimg: trat er am 2. Juli 1764 in die Druckerei von F. A. Quill au ein, wo er den Druck überwachen, für die Instandhaltung der Lettern sorgen, die ersten Korrekturen und letzten Re- visionen lesen, die Ausstattung der Bücher angeben, die Lohnfrage regeln, kurz, fast den ganzen Betrieb leiten mußte, um den sich der Chef nur einmal in der Woche kümmerte. Dementsprechend besserten sich seine Lohnverhältnisse. Nach getaner Arbeit setzte er sich noch hin und schrieb Briefe an hübsche Frauen, die er selbst hinübertrug. Außerdem be- schäftigte er sich mit der Abfassung seines ersten Buches. Wir treten damit in die Betrachtimg seiner literarischen Anfänge ein.


Sechstes Kapitel.

Literarische Anränge. (Siebente Epoche, 1765 — 1775).

I. Die neue Muse (Rose Bourgeois).

Da wir im zweiten Abschnitte R^tifde laBre- tonne als Schriftsteller zu würdigen haben, so ver- folgen wir im ersten nur kurz die Anfänge und den Fortgang seiner literarischen Laufbahn in ihrem Zu- sammenhange mit seiner Lebensgeschichte, vom bio- graphischen Gesichtspunkte aus. Not, Liebe imd eigener Drang haben R6tif zum Schriftsteller ge- macht. Wie wir sahen, reichen dilettantische Ver- suche auf diesem Gebiete bis in die Kindheit zurück. Sie hatten stets einen Zusammenhang mit einer Liebesaffäre, in der seine Leidenschaft aber mehr platonischer als sinnlicher Natur war. So inspi- rierten ihn Jeannette Rousseau, später Rose Lambelin, die er seine erste Muse nannte. Die neue Muse, die am Anfange seiner schriftstellerischen Laufbahn steht, ist auch eine „Rose": Rose Bour- geois. Sie gab ihm die „Seele" zurück, den für die künstlerische Produktion und Darstellung ge- eigneten höheren Standpunkt, den er in den Niede- nmgen rein sinnlicher Genüsse verloren hatte.

Kurze Zeit nach seiner Rückkehr von Sacy wurde er auf die beiden Schwestern Bourgeois

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aufmerksam, die Töchter eines Seidenwar enhändlers. Besonders die ältere, Rose, machte einen tiefen Eindruck auf ihn. Sie war schön „vom Kopf bis zu den Füßen" und ghch in Gestalt, Wuchs und edler Haltung der vergötterten Madame Parangon. Von heftigster Leidenschaft ergriffen, stellte er sich bald täglich vor ihrem Hause ein, um sie zu sehen, und fing an glühende Liebesbriefe an sie zu schreiben, die er heimlich auf sehr raffinierte Art ins Haus schmuggelte. Meist las der Vater sie dann der Fa- milie vof. Im ganzen richtete Retif zwölf solche Briefe an seine Angebetete. Der längste derselben nahm eine Viertelstunde Niederschrift in Anspruch. Eines Tages wurde der unbekannte Briefschreiber, nach dem die Familie Bourgeois lange hatte fahnden lassen, doch abgefaßt und ins Haus ge- führt, wo ihn der Vater Bourgeois zur Rede stellte, ihm aber Aussicht auf den Besitz seiner Tochter machte, falls er sich durch seine weitere Entwicklimg dessen würdig zeigte. Welch ein Ge- danke für R 6 1 i f ! Erhebend und niederschlagend zugleich. Denn er war ja nicht mehr frei, was die Familie Bourgeois nicht wußte. Allein die bloße Aussicht auf die Möglichkeit eines so großen Glückes gab ihm freudigen Mut, Selbstvertrauen und Energie. Wie sollte er das Vertrauen der schönen Rose und ihres Vaters zu ihm rechtfertigen, wie sollte er beweisen, daß er dessen nicht unwürdig war? Lange dachte er darüber nach, der heftigste Wunsch, die Aufmerksamkeit des Hauses Bour- geois auf sich zu ziehen, beherrschte ihn. Da kam ihm endlich der einleuchtende Gedanke, die Idee, ein Buch, einen Roman zu schreiben, ein berühmter


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Schriftsteller zu werden, in die Reihe der allgemein bekannten literarischen Zelebritäten der Hauptstadt einzutreten.

So wurde Rose Bourgeois seine Muse (M. Nicol, XIV, 6), ihr dankte er die Konzeption seiner ersten Schrift, des Romans „La Familie vertueuse". Und so oft er später an dem Hause der Familie Bourgeois, dieser „tugendhaften Familie" vorbei- ging, grüßte er es mit den Worten: „Salve, o domus, quae me fecisti scriptorem!" (Mons. Nicol. IX, 210).

2. Erste literarische Tätigkeit.

Die ersten Schriften Retifs standen unter dem Zeichen der Nachahmung. Gerade als er mit dem Gedanken, selbst unter die Autoren zu gehen, sich beschäftigte, las er Voltaire, den er „unnach- ahmlich" fand, einen Roman „Elisabeth" der Ma- dame Benoit, der ihn etwas mehr zu eigener Schriftstellerei ermutigte und die Romane der Ma- dame Riccoboni, unter deren Einfluße er wesent- lich stand, als er seine ersten Bücher schrieb (M, N. XIV, 6).

Die größte Schwierigkeit, mit der er im An- fange seiner literarischen Tätigkeit zu kämpfen hatte, war die, ob er in seinen Romanen mehr die Phantasie oder die Wirklichkeit walten lassen müsse. Allmäh- lich merkte er, daß seine Phantasie nur sehr be- schränkt war, daß er aber ein geborener Realist sei, da die Begebenheiten des Lebens wie von selbst sich ihm zu Romanen gestalteten. I)a er wie kein anderer französischer Schriftsteller die Romantik des Lebens begriff und fühlte, so konnte er auch


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dieses Leben in seinem ganzen Umfange und Inhalte zur Basis seiner Romane nehmen.

So bildete sich schon während der Arbeit an der „Familie vertueuse" in den Jahren 1765 und 1766 dieser realistische Zug seiner Schriftstellerei immer mehr heraus. Die beiden Schwestern Bour- geois lieferten ihm nicht nur den Stoff für die wichtigsten Kapitel der „Familie vertueuse", sondern sie tauchen auch in der „£cole des peres", in der 25. und 52. Erzählung der „Contemporaines", in den „Nuits de Paris" wieder auf (M. N. IX, 216—217). Außerdem flocht er noch einige andere Erlebnisse und Beobachtungen in die „Familie vertueuse" ein.

Die Arbeit an diesem ersten Werke bereitete ihm eine ungeheuere Freude, er war von einer wahren „auteuromanie" besessen. Oft sagte er zu sich, wäh- rend er stolz durch die Straßen schritt: Wer sollte glauben, daß ich heute morgen so schöne Dinge geschrieben habe !

Endlich war das Manuskript in den ersten Monaten des Jahres 1766 vollendet. Bevor er es dem Drucke übergab, wollte R^tif dasselbe einem erfahrenen Schriftsteller zur Begutachtung vorlegen. Seine Wahl fiel auf Pierre Jean Baptiste Nou- garet^), den Verfasser von „Lucette ou les Progr^s


^) Nougaret (1742 — 1823) ist Verfasser einer ungeheuren Zahl galanter und erotischer Erzählungen, meist aus dem Pariser Leben. Viele von ihnen wurden auch ins Deutsche übersetzt. Die bekanntesten sind: ,,Ainsi va le monde", „Les astuces de Paris", „Aventures galantes de Jerome, fröre capucin", „Aventures parisiennes avant, pendant et depuis la revolution", „Les faiblesses d'une jolie femme", „Les jolis p6ch6s d'une marchande de monde", „Lucette, ou les Progrös du libertinage", „Les Mille et une folies", „Paris ou le Rideau


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du Libertinage" I Er nennt ihn unter den Pseudo- nymen „Progr^s", „Mamonef',„Gronavet"usw. Er hatte die Bekanntschaft desselben in der Druckerei gemacht, wo Nougaret das erwähnte Werk drucken Heß. R^tif bat ihn also um ein Urteil über sein Buch, ernannte ihn zu seinem„Aristarch". Sie kamen am Abend zusammen und verbrachten einen Teil der Nacht mit Lesen und Verbessern. Am ersten Abend lasen sie etwa 20 Seiten, von denen Nougaret die Hälfte strich. Gegen Mitter- nacht überkam sie der Schlaf. Nougaret schlug R6tif vor, bei ihm zu übernachten und teilte ihm mit, daß er selbst seit gestern eine Maitresse habe, bei der er die Nacht verbringe. „Wir kennen uns seit vier Tagen. Am ersten sah ich sie. Am zweiten sprach ich sie an. Am dritten hatte ich sie . . ." „Da sind Sie ja ein Cäsar", sagte R6tif lakonisch. Am folgenden Abend fand er wirklich diese GeHebte bei Nougaret. Es war eine hübsche, ein wenig schielende Brünette, Ang61ique Nimot, Tochter des berühmten Hof optikers Nimot. Retif gab ihr gleich einen Beweis seiner Galanterie, indem er den Namen „Jeannette" in seinem Roman durch „Ang Clique" ersetzte, imd nun hatte er — zwei Aristarche ! Er war aber sehr damit zufrieden, denn Fräulein Nimot hatte sehr viel Geschmack luid literarisches Verständnis. Sie war eine „lecturomane enrag^e", die Nougaret nicht durch seine äußeren Eigenschaften — er war sehr häßlich und schlecht gekleidet — , sondern nur durch seine Eigenschaft

leve", „Les perfidies a la mode", ,,Les sottises et folies pari- siennes", „Suite de la Pucelle d'Orleans", „Tableau mouvant de Paris", „Le vuidangeur sensible".


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als Schriftsteller erobert hatte. Natürlich verliebte sich auch R^tif in sie und suchte Nougaret aus ihrer Gunst zu verdrängen, zumal da Nougaret, nach dessen Ansicht die Autoren wie die Grand- seigneurs stets mehrere Geliebten zugleich haben müßten, schon eine neue Liebschaft angeknüpft hatte, dieses Mal nicht mit einer Schielenden, sondern mit einer — Buckligen. Derartige Schönheitsfehler schienen eine besondere Anziehungskraft auf ihn auszuüben, R6tif verriet dieses Geheimnis an Ange- lika und wurde dafür auf die von ihm erwartete Weise belohnt. Später vioirde Fräulein Nimot doch noch die Gattin Nougarets, nach bösen, gemein- samen Leiden, die Nougaret sich bei einem ga- lanten Diner von einer Prostitutierten geholt und seiner Geliebten mitgeteilt hatte (M. N. IX, 240 bis 242).

Nachdem R^tif sein Werk mit Berücksichti- gung der Ratschläge Nougarets und seiner Ge- liebten umgearbeitet hatte, unterbreitete er es der Zensur. Der Zensor Albaret, ein alter Bekannter R^tifs, gab ein günstiges Gutachten über dasselbe ab, welche Anerkennung der schriftstellerischen Eitelkeit des Autors nicht wenig schmeichelte. Er eilte, eine begeisterte Widmung an Fräulein Rose Bourgeois abzufassen. Leider wurde dieselbe nicht angenommen. Ebenso sandte man ihm Bücher zu- rück, die er der Angebeteten zum Geschenk machen wollte, und während sein Erstlingswerk erschien, verlor er bald die eigentliche Urheberin desselben und ihre Familie gänzlich aus den Augen.

Das Manuskript der „Familie vertueuse" war Ende 1766 druckfertig. Retif verkaufte es für die


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Summe von 15 Livres den Bogen (es waren 51) an die Witwe Duchesne, und der Druck wurde am 20. Januar 1767 in der Druckerei von Quillau unter Aufsicht R6tifs begonnen. Nach sechs Monaten war er vollendet.

R^tif gab nun im Vertrauen auf große lite- rarische Erfolge leichtsinnigerweise seine gut be- zahlte Stellung auf. Das Honorar von 700 Livres für die „Familie vertueuse" schien ihm unerschöpf- lich zu sein, außerdem glaubte er in fünf bis sechs schlechten Romanentwürfen eine zukünftige Gold- grube zu haben. Diese Sorglosigkeit und Hoffnungs- freudigkeit wurde noch durch den Umstand erhöht, daß auch seine Frau jetzt etwas Geld verdiente. Sie betrieb für einen Kaufmann Moulins ein Ge- schäft mit Musselinstoffen.

In dieser Zeit hatte Retif ein Abenteuer, das ihm die Idee zu einem seiner berühmtesten und berüchtigsten Werke eingab. Eines Abends sah er in der nie Saint-Honore eine sehr schöne Prosti- tuierte, die in höchst indezenter Weise ihre Reize öffentlich zur Schau stellte. Es war ein Mädchen aus dem Bordell einer Kupplerin, die den Spitz- namen „Piron" führte, weil sie einmal die Ehre gehabt hatte, diesen berühmten Dichter bei sich zu sehen. R6tif, den die Schönheit und das edle Aus- sehen des Mädchens sehr gerührt hatte, wußte auch seine Frau für die Idee zu gewinnen, dasselbe seinem schändlichen Berufe zu entziehen und für sie einen ehrenwerten Liebhaber zu suchen. Denn Maitresse und Dirne waren damals in bezug auf das soziale An- sehen himmelweit voneinander getrennte Wesen.


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Jene verlor wenig oder gar nichts von ihrer bürger- lichen Ehre.

So begab sich R^tif denn am folgenden Tage zu der Piron und verlangte die Clermont — so hatte sich das Mädchen ihm gegenüber genannt — zu sehen. Es kamen auf den Ruf der Piron zehn bis zwölf Mädchen, unter ihnen auch seine Bekannte. Sie tat aber, als ob sie ihn nicht kenne, um das Mißtrauen der Alten nicht zu erwecken. Es gelang Rötif dann, Sara Krammer (das war ihr wirk- licher Name) aus dem Bordell zu entfernen und nach Ablösung ihrer Schulden dauernd aus den Klauen der Piron zu befreien. Er nahm sie zu sich ins Haus und gab sie für seine Schwester aus, um leichter einen Liebhaber zu finden. Ein solcher fand sich auch in der Person eines gewissen Imbert de Saint Maurice, auch Herr de Chapote ge- nannt, eines sehr reichen, von seiner Frau getrennt lebenden Herrn. Er machte Sara Krammer zu seiner Maitresse, jagte sie aber trotz glücklichsten Zusammenlebens nach einigen Jahren fort, als er ihre Vergangenheit erfuhr. Sie starb aus Gram kurze Zeit nachher.

Dieses Erlebnis war es hauptsächlich, das R^tif die Idee zur Abfassung seines merkwürdigen Buches über eine Reform des Prostitutionswesens eingab. Im Sommer 1767 begann er die Ausarbeitung des „Por^ographe". Er ließ sich von Sara Krammer und der Prostituierten Sailly viele Aufklärungen über die die Prostitution betreffenden Dinge geben, er verschmähte es nicht, in den Bordellen selbst Studien für seine literarischen Zwecke zu machen und sich über alle Vorgänge in denselben auf das


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genaueste zu unterrichten. Einmal ließen ihn z. B. die Mädchen in einem Bordell eine typische Fla- gellationsszene beobachten, bei der ein alter Gerichts- rat sich von zwei Dirnen mit Ruten auspeitschen ließ, um sie dann seinerseits zu f lageliieren (M. N. IX, 243). So sammelte R6tif „genügende Erfah- rungen" über alle Mißbräuche in den Bordellen, über die Sitten der Prostituierten, die polizeilichen Schikanen usw., auf Grund deren er daran ging, im „Pomographe" neue Vorschläge zu einer Besse- rung auf diesem Gebiete zu machen (M. N. X, 34). Daß diese Vorstudien für den „Pomographe" nicht bloß theoretischer Natur waren, sondern auch prak- tisch ziemlich intensiv und extensiv betrieben wurden, braucht bei dem Charakter Retifs wohl nicht besonders hervorgehoben werden.

Retifs Absicht war, den „Pomographe" und andere Hterarische Arbeiten in Sacy in Angriff zu nehmen, wo er im Hause der Mutter die dazu nötige Ruhe zu finden hoffte. Er reiste daher den 22. Juni 1767 von Paris ab, im Besitz von „10 Louisdor, zwei neuen Anzügen, Büchern" und im „ersten Schriftstellerrausch". Leider verflog der letztere sehr rasch wälirend seines viermonatigen Aufenthaltes in Sacy. Er arbeitete nur wenig und schlecht, weil die äußere Anregung fehlte wie in Paris, wo ihn alles „elektrisierte". Sein Feuer erlosch, eine müde Stimmung überkam ihn. Am liebsten beschäftigte er sich noch mit ländlichen Arbeiten. Ganz unmög- lich war es ihm, einen Gegenstand wie den „Pomo- graphe" in Sacy zu behandeln. Er ließ dieses Werk gänzüch liegen, um hier den Roman „La confidence n^cessaire" anzufangen. In dieser müden, sentimen-


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talen Stimmung gedachte er oft seiner Jugend, die Erinnerung daran rührte ihn bis zu Tränen. Und diese Tränen waren, wie er sagt, der „erste Keim" zum „Paysan perverti" (M. N. X, 3). Er macht an dieser Stelle die treffende Bemerkung, daß es über- haupt nach einem langen Aufenthalte in der Stadt unmöglich sei, auf dem Lande, bei absoluter Ruhe, schriftstellerisch tätig zu sein. Hierfür brauche man keine „absolute", sondern nur eine „individuelle" Ein- samkeit, wie letztere am besten innerhalb der großen Menschenmenge der Städte möglich sei. Deshalb kehrten so viele Schriftsteller, die aufs Land gingen, um dort nun einmal recht Großes zu vollbringen, unverrichteter Sache wieder zurück.

Ende September 1767 trat R^tif die Heim- reise an und bezog dann mit seiner Frau im Oktober eine neue Wohnung in der rue Quincampoix. Im Fenster gegenüber erblickte Rötif oft eine Frau, die ihm aus der Ferne sehr schön erschien. Diese „jolie dame", wie er sie mangels näherer Bekanntschaft nannte, wurde ihm bald eine angenehme Anregung zur Arbeit. Eines Tages aber hatte er Gelegenheit, sie aus der Nähe zu betrachten und war entsetzt über ihre abschreckeade Häßlichkeit. „All meine Illusion war dahin, der Reiz der rue Quincampoix verschwunden, und ich mußte meine Musen anders- wo suchen."

Er fand denn auch, wie wir sehen werden, diese neuen Musen, so daß er fortdauernd zu eifrigster literarischer Tätigkeit inspiriert wurde. Als er für das Manuskript eines Romans ,,£cole de la Jeu- nesse" keinen Verleger und Drucker finden konnte, schrieb er in fünf Tagen seinen zweiten Roman


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„Lucile". War's im ersten Madame Riccoboni, deren Stil er nachahmte, so war es jetzt V'oltaire. Noch im selben Jahre Heß er die „Confidence neces- saire" erscheinen, keine „wahre Geschichte", aber eine „wahre Situation" und ein „treues Gemälde" seines eigenen Herzenszustandes in der ersten Jugendzeit, als er mehrere Mädchen zugleich an- betete.

In das Jahr 1767 fällt auch die Konzeption der berühmten Erzählung „Fanchettens Fuß" (Le pied de Fanchette). An einem Sonntagmorgen sah er an der Ecke der rue Montorgueil vor einem Mode- laden ein hübsches Mädchen in weißem Unterrocke, mit seidenen Strümpfen und rosaroten Schuhen mit hohen, schmalen Absätzen.

Er war bezaubert von diesem Anblicke und dem entzückenden Gange des Mädchens, und schrieb weitergehend in Gedanken sogleich das erste Ka- pitel des genannten Werkes, das mit den Worten be- ginnt: „Ich bin der wahrhaftige Geschichtschreiber der glänzenden Eroberungen des kleinen Fußes einer Schönen". Als am folgenden Tage seine Phantasie etwas erkaltet war, wollte er seine Muse noch ein- mal sehen, bemerkte aber statt ihrer in der rue Saint-Denis eine Frau, deren Fuß ein „Wunder von Zierlichkeit" und mit einem reizenden mit Gold ver- brämten Schuh aus der Hand des ersten Schuh- machers von Paris bekleidet war. Voll Enthusiasmus eilte er schleunigst nach Hause und schrieb in zwei Tagen die ersten 14 Kapitel des „Pied de Fan- chette" (M. N. X, 14).

Ein anderes Werk, der Roman „La Fille natu- relle" beruhte auf einer Erzählung von einem reichen


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Väter, der seiner natürlichen Tochter, ohne sie zu kennen, auf der Straße ein Almosen gibt. Dieses Sujet wurde von R^tif in nxir sechs Tagen zu einem Roman in zwei Teilen verarbeitet, eine Leistung, auf die er sehr stolz war. Der Druck war im Oktober 1768 vollendet. Der „Pied de Fanchette" erschien 1769. Beide Werke fanden sehr viel Anklang, nament- lich „Fanchettens Fuß", und erlebten in kurzer Zeit vier Auflagen.

Anfang 1769 wurde nach wiederholter kritischer Durchsicht das Manuskript des „Pornographe" der Zensur übergeben, die es nach wiederholten Schwie- rigkeiten glücklich passierte. Das Buch erschien im Sommer 1769. Der Absatz desselben war so gut, daß der Buchhändler Delalain dem Verfasser sagte, man habe während des ganzen Sommers fast nur dieses Werk bei ihm verlangt. Sein Freund Renaud beglückwünschte ihn nach der Lektüre mit den Worten: „Endlich doch mal ein Buch, und nicht bloß eine Broschüre I"

R6tif ließ dieser ersten gleich eine zweite reformatorische Schrift, die „Mimographe", ein Werk über die Reform der Theaterzustände folgen, das Ostern 1770 erschien.

Die Druckkosten aller dieser Schriften bestritt R6tif zum großen Teil aus der eigenen Tasche, und Honorar vom Verleger bekam er nie zu sehen. Wohl selten ist ein Autor von seinen Verlegern so betrogen und übers Ohr gehauen worden, wie der Verfasser des „Paysan perverti" (vergl. Mons. Nie. X, 38 bis 40).

Doch das entmutigte ihn nicht. Arbeit, Schaffen war ihm jetzt Leben. „Kummer, Elend, Vergnügen,


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Liebe" waren ihm nur ein Antrieb zur Arbeit. Im Jahre 1770 fielen ihm Richardsons Romane in die Hände; am meisten fesselte ihn „Pamela", welcher Roman ihn in seinem Vorsatze, den „Paysan perverti" zu schreiben, bestärkte (M. N. X, 71). Die Konzeption dieses Romans fällt nach seiner eigenen Erklärung schon ins Jahr 1769 (M. N. X, 117).

Außer am „Paysan perverti" arbeitete er in den Jahren 1770— 1774 an der „£cole des P^res", an der „Femme dans les trois £tats de Fille, d'£pouse et de Mere", an dem „Manage Parisien", den „Nou- veaux M^moires d'un Homme de qualite", in Ge- meinschaft mit Dhermilly an der Übersetzimg des „Gran Tacafio" von Quevedo (imter dem Titel „Le Fin Matois"). Endlich schrieb er noch kleine Dramen für das Theater von Audinot.

Alle die letztgenannten Schriften vermochten es nicht, ihn im großen Publikum bekannt zu machen. Auch der Erfolg des anonym erschienenen „Porno- graphe" und des „Pied de Fanchette" stellte die Per- sönlichkeit des Verfassers nur wenig in den Vorder- grund des allgemeinen Interesses. Das sollte anders werden nach dem Erscheinen des „Paysan perverti".

3. Erlebnisse in den Jahren 1768 — 1772.

Wir hatten die Betrachtung des äußeren Lebens Rdtifs bis zum Ende des Jahres 1767 verfolgt, wo er von Sacy zurückgekehrt war und gemeinsam mit Agnes Leb^gue eine neue Wohnung bezogen hatte. Bis Anfang 1769 wohnten sie zusammen, dann trennte sich R^tif von ihr und nahm eine Wohnung für sich im College de Presle. Bald darauf aber


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kam sie, nachdem in ihrer Wohnung die Möbel ge- pfändet waren, wieder zu ihm. In der Folge kamen aber immer häufiger zeitweilige Trennungen vor.

Noch aber war Retif der Frauenliebling, noch blieb ihm das Glück in der Liebe hold. Seine ersten Schriften wurden hauptsächlich in den Kreisen der Modistinnen, kleinen Bürgersfrauen, der Maitressen und selbst Freudenmädchen gelesen und führten ihm viele platonische Anbeterinnen zu, die sich bei näherer Bekanntschaft gern in wirkliche Geliebte verwan- delten.

Ende 1768 hörte er, daß ein geistreiches Mädchen, Elise Tulout, nach der Lektüre der „Familie vertueuse" den lebhaften Wunsch aus- gesprochen habe, den Verfasser kennen zu lernen. Er besuchte sie und fand sie trotz ihrer Jugend — sie war 18 Jahre alt — sehr klug und in lite- rarischen Dingen bewandert. Sie entzückte ihn durch ihre feinen Bemerkungen über den „Pied de Fan- chette", den er ihr vorlas, über die „Fille naturelle", deren Druckbogen sie mit ihm durchging. Ihre Liaison wurde sehr intim, und sie verlebten köst- liche Stunden miteinander. Nach angestrengter Tagesarbeit ging er zu ihr, sie spielte Harfe und sang dazu. Dann lasen sie zusammen, plauderten und „zergliederten das Menschenherz". Elise war schon eine halbe Ungläubige. Sie wollte eine ganze werden. Ganze Nachmittage brachte man mit solchen metaphysischen Unterhaltungen hin, deren Inhalt in den „Entretiens du curä de Sacy" wiedergegeben ist, die in nur 100 Exemplaren der „£cole des P^res" abgedruckt sind. Aber ganz unmerklich, allmählich vermischte sich die „Materie mit dem Geiste". Elise


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liebte nämlich leidenschaftlich die Unterhaltung über die — Ktinst, einen Mann glücklich zu machen. Und indem sie von den Freuden ihres künftigen Gatten sprach — R^tif konnte das nicht sein, da sie um seine Ehe wußte — „verwirklichte sie fast alles" mit ihm. „Ich war eine Art von Puppe in ihren Händen", ein Versuchsobjekt eigener Art. Eines Abends, in der Dämmerung, war der Versuch, einen Mann glücklich zu machen, vollständig gelungen. Als er beendigt war, sagte Elise harmlos: „Sehen Sie, wie zärtlich ich sein würde!"

Eine andere literarische Verehrerin von ihm war die Demimondäne Victoire, deren Bekannt- schaft er im folgenden Jahre (1769) machte. Er traf sie zufällig in der Nähe der Oper und gab sich im Verlaufe des mit ihr angeknüpften Gespräches als Verfasser des „Pied de Fancliette" zu erkennen, welchen Roman sie kurz vorher mit Entzücken ge- lesen hatte. Natürlich war sie glücklich, den Autor kennen zu lernen. Er verlor sie eine Zeitlang aus den Augen. An einem Sonntag, 8. September 1769, sah er sie in ihrer Wohnung, rue Saintonge, am Fenster stehen und schrieb, bevor er zu ihr hinauf- ging, an die Mauer einer gegenüberliegenden Garten- terrasse die Worte: „1769, 8 7bris, Victoria visa". Sie empfing ihn sehr freundlich und ent- 2Ückte ihn nach längerer Unterhaltung durch ihre Tanzkunst. Sie las gerade den berühmten Roman „Die Prinzessin von Cleve" und lieh ihm denselben. Auch sah er außer dem „Pied de Fanchette" die „Fille naturelle" auf ihrem Tische liegen. Als er nach acht Tagen wieder zu ihr kam und sich als Verfasser auch des letzteren anonym erschienenen

Dnhren, Rdtif de la Bretonne. 12


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Romans zu erkennen gab, da war sie ganz außer sich vor Freude. Endlich stand der Mann vor ihr^ nach dem sie sich so lange gesehnt hatte. Kein Wunder, daß sie ihm ein „himmlisches Glück" gab,, daß sie die „entzückendsten" Künste der Ars amandi entfaltete, und das drei Stunden langl Die olym- pischen Götter konnten keine größere Wonne ge- nossen haben. Das war am 14. September 1769. Folglich vervollständigte er die Mauerinschrift, indem er eine 14 über die 8 setzte. Dann nahm er Ab- schied für immer. Er wollte dieses gefährliche,, dämonische Weib nicht wiedersehen (M. N. X, 57 bis 58).

Ebenso vorübergehend war das Abenteuer mit der nicht minder heißblütigen Madame Lacroix (X, 46—48), mit den lieblichen Backfischen Manon Wallon und Colette Borel, die ihn gemein- schaftüch abküßten (X, 29), während Adelaide Lhuillier, eine reizende Spitzenmacherin, ihm von dem boshaften Nougaret, der sich bald ihm gegen- über als ein noch schlimmerer Konkurrent auf dem Gebiete der Liebe als auf dem der Schriftstellerei zeigen sollte, weggeschnappt wurde, weil R6tif ein- mal ausnahmsweise das Prinzip des Piatonismus in bezug auf sie durchführen wollte. Dafür teilte Nou- garet, als er ein anderes Mal Retif wieder ins Gehege kam — es war im April 1770 — auch dessen Mißgeschick mit ihm. Sie holtön sich beide aus derselben Quelle eine böse venerische Krankheit. Unendlich komisch ist die lateinische Klage Retifs über dieses Unglück (M. N. X, 65—66) und noch komischer sein Besuch bei dem krank zu Bett liegenden Nougaret. Die beiden Pechvögel kon-


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dolieren einander feierlich, und einer klagt dem anderen sein Leid.i)

Die Krankheit und der am 5. Juli 177 1 erfolgte Tod seiner über alles geliebten Mutter, die er noch einmal besucht hatte, waren die Ursache einer tief melancholischen Stimmung. Nie hatte er sich so einsam und verlassen gefühlt. Da wurde ihm auf einmal wieder der süße Trost der Liebe und Freund- schaft. Zwei edle Mädchen wandten ihm gemeinsam ihre Neigung zu, die eine gab sich ihm ganz, beide aber schenkten ihm etwas, was er lange nicht be- sessen: ihr Herz.

4. Louise und Therese, oder Liebe und Freundschaft

Die Geschichte der Louise und Therese ist eine der schönsten Episoden im „Monsieur Nicolas", ein „chef-d'oeuvre incomparable" nach dem Urteile von Paul Lacroix, dem er eine ähnliche Bedeu- tung für die französische Literatur zuweist wie der rührenden Geschichte von der unglücklichen, heißen, durch nichts zu erschütternden Liebe des Chevalier Desgrieux zu der leichtsinnigen, bezaubernden Manon Lescaut.

Es war im Juli 1772, als Rötif die Bekannt- schaft von Louise Elisabeth Alan machte. Bei- nahe 38 Jahre war er alt, sah aber nicht älter aus als 35. In der Gegend der Kirche St. Eustache sah er eines Abends ein auffallend schönes Mädchen


^) Über die ungeheure Verbreitung der venerischen Krankheiten gerade unter den literarischen und sonst be- kannten Persönüchkeiten der französischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts vergl. meine „Neuen Forschungen über den Marquis de Sade" S. 204.

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eiligst davonlaufen, um den Verfolgungen von vier zudringlichen jungen Gecken zu entgehen. Sie wurde aber eingeholt und umringt. Da eilte R6tif herbei, befreite sie und führte sie nach Hause.

Acht Tage später trifft er sie in der Nähe ihrer Wohnung zum zweiten Male und wird eingeladen, näher zu treten, damit er die Bekanntschaft ihres „Bruders" mache. Der ist aber abwesend. Sie stellt ihn dann den Hausgenossen als ihren Retter vor. Es entspinnt sich eine lebhafte Unterhaltung über literarische Gegenstände. Retif muß Auskunft über die gelesensten Bücher geben. Er nennt Buffons Naturgeschichte, Voltaires Tragödien, Rous- seaus „£mile" und „Heloise", die Romane des Abbe Pr^vost, des Lesage, der Madame Riccoboni, die moralischen Erzählungen des Marmontel, die Werke von Mercier, Dorat, der Madame de Beauharnais, die neuen philosophischen Schriften. Der Nachbar, ein braver Spießbürger, ist erstaunt, daß er nie etwas von all diesen Büchern gehört. Er meint, der Geschmack müsse sich wohl sehr verändert haben. „Aber ich," sagt Louise, „ich kenne ein Buch, das mir ein ungeheures Vergnügen bereitet hat. Ich weinte von ganzem Herzen, als ich es las. Aber es ist alt, sehr alt, denn es ist ganz zerrissen. Ich will es holen." Da tritt der „Bruder" herein, bezeugt R^tif "herzlichen Dank für die der Schwester gewährte Hilfe, verrät ihm gleich die Liebe, die im Herzen des jungen Mädchens zu ihrem Retter erwacht ist und verheißt ihm schon jetzt sein nahes Glück. Rötif ist im Laufe des nun sich ent- wickelnden Verkehrs überrascht von der „prompti- tude" und „pr^cipitation", mit der der „Bruder"


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die Heirat der beiden betreibt. Sie ahnen beide nicht, daß er verheiratet ist. Er hat sich ihnen unter dem Namen „Bertro" vorgestellt.

Bald erfährt er, daß Louise eine eigene Woh- nung hat. Dort besucht er sie jeden Abend. Wie gefährlich ist dieses Beisammensein. Louise ist schön. Vor allem aber hat sie einen Reiz, dem R6tif nie hat widerstehen können, einen reizenden kleinen Fuß. Dann kommt sie ihm im entzückendsten D6shabille entgegen. Auch die Glut des Sommers tut das ihrige. Sie nehmen das Abendbrot gemein- sam ein. Dann gehen sie zum Fenster, R^tif um- faßt die liebe Gestalt, er drückt einen Kuß auf ihre Wange, Louise lächelt und — zieht den Vorhang herunter. Sie setzt sich auf seine Knie und er- widert seine Küsse. Welch entzückender Rausch! Nur zu gefährlich. Er springt auf, will sie ver- lassen, bleibt aber auf ihre Bitten bis Mitternacht, ohne weiteren Versuchungen zu erliegen.

Am folgenden Tage ist Louise krank. R^tif bereitet und reicht ihr die Arzneien. Dann sitzt er stundenlang vor ihrem Bette ihre Hand in der seinen haltend. Da erscheint ein großes, schlankes, heiteres Mädchen, eine Nymphengestalt. Es ist Therese, Louisens Herzensfreundin. Erst ist sie kalt gegen den ihr fremden Mann, dann aber um so herzlicher, nachdem Louise sie unterrichtet hat. „Sie sagte mir freundliche Worte, nahm meine Hand, und berührte in dem Augenblicke, wo ich diejenige Louisens küßte, mit ihrem süßen Mund meine Wange, mit den Worten: ,Ich liebe alles, was von meiner Louise geliebt wird'.'*

Alles, was Therese tut und spricht, atmet innigste


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Freundschaft für Louise. Sie willigt auch gern darein, daß R6tif die Nachtwache bei der Kranken übeminünt. „Diese Nacht," sagt er, „war eine der schönsten meines Lebens. Es ist ein köstliches Ver- gnügen, eitle junge, nur leicht kranke Schöne, die man anfängt zu lieben, zu pflegen." Wie „ein Gott" wird nun dieser verliebte Krankenpfleger von den beiden Mädchen verhätschelt. Ther e s e sucht darin Louise noch zu übertreffen. Schon am folgenden Tage fühlt' sich letztere bedeutend besser. Nach Tisch spielen die Drei Domino. Der galante Retif läßt absichtlich die beiden Mädchen immer ge- winnen und antwortet auf die leisen Vorwürfe Theresens, daß Verluste beim Spiel Kranke un- nötig aufregen, was ihm ein reizendes Lächeln der über dieses Zartgefühl Entzückten einträgt. Man nimmt gemeinsam, das Souper ein und sagt sich tausend liebe Worte dabei. Bevor Retif Therese nach Hause geleitet, führt er die beiden Freundinnen ans Fenster und zeigt ihnen einen schönen Stern im Zenit: „Seht ihr diesen Stern?" — „Ja," rufen sie. — „Das ist die ,Vega' aus der , Leier'. Aber ich taufe sie lun und nenne sie von jetzt an den ,LouisensternM Seht ihr das folgende Gestirn? Das wird nicht mehr der , Schwan' heißen, sondern der ,T her esen Stern*. Und wenn wir einmal von- einander getrennt werden, dann werde ich beim An- blick dieser Sterne sagen: Ewige Gestirne, ihr seid immer da, aber Louise und Therese sind nicht mehr!"

Auf dem Heimwege erzählt nun Therese ihm die Geschichte ihrer Freundin. Louise ist keine Jungfrau mehr. Ihr angeblicher Bruder ist ihr Ge-


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liebter, dem sie schon seit ihrem vierzehnten oder fünfzehnten Lebensjahre angehört, der sich aber jetzt mit einer reichen Frau verheiraten will. Wie glück- hch ist Louise da, einem Manne wie R6tif be- gegnet zu sein. Sie möchte ihn lieben, ihm für immer angehören, und sein Glück soll das ihrige sein. Auch ist sie, wie Therese mitteilt, nicht mittellos, und Therese, die wohlhabender ist, will alles mit ihnen teilen, wie sie bisher mit Louise alles geteilt hat.

Hierauf gesteht R6tif ihr, daß er nicht mehr frei sei. Therese, etwas erstaunt, beruhigt ihn aber sogleich. Seine Ehe sei kein Hindernis. Louise und er sollen trotzdem miteinander glücklich werden. „Liebt euch. Seid glücklich. Sei mein Freund, be- reit, mir zu dienen, wie man seinen Freunden dient, so daß ich auf dich zählen kann. Der Preis deiner Freundschaft soll der Besitz Louis ens sein. Sie ist mein anderes Ich."

Zu Hause gibt Therese ihm ein Buch, in dem sie gerne liest. Es ist sein eigenes Werk: die „Fille naturelle". Er errötet. Therese fragt ihn, ob er es vielleicht schon gelesen habe. „Ja," antwortet er, „aber ich werde es noch einmal lesen." Denn für einen Autor gibt es kein größeres Vergnügen, als die spätere Lektüre des eignen Werkes mit Rück- sicht auf die Stellen, die, wie er inzwischen erfuhr, irgendeinen Leser besonders interessiert haben.

Therese ^aßt ihre Aufgabe, einen Liebesbund zwischen R^tif und Louise zu begründen, sehr energisch an, und eines Abends, bei einem besonders vertrauten Beisammensein, legt sie Louise in R6- tifs Arme und erklärt kurz und bündig: „II le faut, ä prdsent", und die beiden müssen sich bei-


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nahe auf Befehl lieben, wobei Therese noch ihre Liebkosungen hinzufügt. Dann nimmt Rdtif Ab- schied von ihnen, in dem traurigen, verzweifelnden Gedanken, daß es ein Abschied für immer sein müsse, da er als Gatte und Vater dieses Verhältnis nicht fortsetzen dürfe. Vorübergehende Verschuldungen sind Zeichen der menschlichen Gebrechlichkeit, sie aber zu einem dauernden Zustande zu machen, das ist wirklich schlecht. In diesem Gedanken erhebt er sich, umarmt dreimal Louise, zweimal Therese und küßt, indem er sich zum Gehen wendet, die Haare Louisens und den auf der Kommode liegenden Handschuh Theresens. Noch ein halb ersticktes „Adieu", dann ist er fort.

Draußen sieht er noch, wie ihm Therese einen Gruß zuwinkt, den letzten. Und als er um die Ecke geht, da ist es ihm, als wenn er den Ozean zwischen sich und die beiden Geliebten gelegt hätte. Erst nach zwölf Jahren sollten sie sich wiedersehen.

In dieser Zeit und auch später noch suchte er jeden Abend die Gegend auf, wo Louise gewohnt hatte. „Dann betrachte ich die ,Lyra' und den , Schwan' und weine um das Glück, das mir zuteil geworden wäre, wenn das erste aller sozialen Ge- setze sich ihm nicht entgegengestellt hätte."

Doch es kommt noch ein seltsam trauriger Epilog.

Nach langer, langer Zeit, im Jahre 1785, trifft er, selbst krank und in bemitleidenswertem Zustande, eines Abends eine große Frau mit zwei Kindern am Arme. Es ist T h e r e s e. Erschütternd ist ihr Wieder- sehen, noch erschütternder die Nachricht, daß Louise im Sterben liegt. Vielleicht kann das


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Wiedersehen mit dem einst so Geliebten sie retten. Sie eilen zu ihr, aber es ist zu spät. Louise stirbt, nachdem sie dem Geliebten verziehen hat.

Fortan besucht R^tif jedes Jahr um diese Zeit Therese, um mit ihr das Andenken an Louise zu pflegen, bis im Jahre 1796 auch ihr Tod diesen gemeinsamen Erinnerungstagen ein Ende bereitete.

Nichts bheb ihm, wie er in einem Epiloge sagt, von der Erscheinung dieser wunderbaren Mädchen als die Erinnerung, der Anblick ihrer beiden Sterne und des Hauses, in dem Louise gewohnt hatte.


Siebentes Kapitel. Freuden des Ruhmes und Leiden der Liebe.

(Achte Epoche, 1775 — 1785.)

I. Erscheinen des ,,Paysan perverti". Es gibt ein Sprichwort: Glück im Spiel, Un- glück in der Liebe. Es ist das Lebensthema R6tifs in den nächsten Jahren. Das „Glück im Spiel" war für R6tif der literarische Erfolg, das Bekannt- werden in den Kreisen der tonangebenden Gesell- schaft. Diese Zelebrität knüpfte sich wesentlich an das Erscheinen seines „Paysan perverti" (Ende 1775). „Dieses Werk," sagt er, „das mir eine Existenz in der Welt gegeben hat, war die Quelle meines Ruhmes und verschaffte mir ein Ansehen, von dem alle hervor- ragenden Geister mir noch jetzt Beweise geben. Aber es war auch die Ursache alles Kummers und all der verzehrenden Unruhe, die mich von Februar 1776 bis März 1785 heimgesucht hat." (M. N.

XIV, ,33.)

Nach der Lektüre von Richardsons „Pamela" begann er die Ausarbeitung des „Paysan perverti" im Jahre 1769, erst 1774 wurde das Werk vollendet. Der Druck begann im Mai 1775 (M. N. X, 120) und war im Oktober dieses Jahres vollendet, wesentlich auf Kosten des Verfassers. Am i. November 1775 konnte er die ersten fertigen Exemplare an die Buch- händler verteilen. Schon in der dritten Woche nach


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dem Erscheinen konnte ihm der Buchhändler Le Jay, einer der Hauptabnehmer, über einen außer- ^ewöhnhch starken Absatz des Buches berichten. Nach sechs Wochen war es vergriffen. Die zweite Auflage wurde in drei Wochen gedruckt. Inzwischen hatte aber ein Drucker aus Toulouse, Delaporte, einen schlechten Nachdruck der ersten Ausgabe ver- anstaltet, mit dem er die Provinz überschwemmte und auch in Paris gute Geschäfte machte, da er das Buch viel billiger verkaufte. Trotzdem machten auch die Buchhändler L e J a y und Esprit, die den Ver- trieb der echten Ausgabe hauptsächlich in die Hand genommen hatten, gute Geschäfte. Der einzige, der dabei schlecht abschnitt, war, wie so häufig, der Verfasser selbst (M. N. X, 135). Auch er hatte sein Leben lang über die „Briganten der Literatur" zu klagen, über Verleger imd Nachdrucker, die mit- einander wetteiferten, ihn um die Früchte seiner Arbeit zu bringen.

Die Urteile der maßgebenden zeitgenössischen Kritik über den „Paysan perverti" waren durchweg sehr anerkennend und sicherten ihm fortan einen dauernden Platz unter den literarischen Zelebritäten. Wir werden später auf dieselben zurückkommen. Es fehlte aber auch nicht an Sittlichkeitsaposteln, die das Buch für sehr gefährlich hielten. Ein Beamter denunzierte ihn sogar bei der Polizei, daß er durch die im „Paysan" vertretene Philosophie die Religion und die Moral zerstöre (M. N. X, 136).

Dies hatte zur Folge, daß die Zensur ihm bei der Veröffentlichung seiner „£cole des Pöres" im folgenden Jahre: (1776) Schwierigkeiten bereitete, die er aber schließlich überwand.


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In diesem Jahre entfaltete er eine sehr eifrige literarische Tätigkeit. Er verfaßte den dritten Band der „Id^es singuli^res", die „Gynographes" (der erste Band der „Id6es" war der „Pornographe", der zweite „La Mimographe") und ließ denselben Anfang 1777 erscheinen. Die Anfänge der „Nuits de Paris" ge- hören ebenfalls dem Jahre 1776 an, ebenso die- jenigen der „Contemporaines". Überhaupt hatte der Erfolg des „Paysan perverti" ihn außerordentlich in seinem Selbstvertrauen gehoben und zum Schaffen angeregt. Alle die großen Werke seines Lebens wurden in diesen dem Erscheinen des „Paysan per- verti" folgenden Jahren im Keime angelegt, um später dann weiter ausgeführt zu werden. Die Liaison mit Virgin ie veranlaßte ihn zur Abfassung des „Quadrag6naire", in dem den jungen Mädchen klar gemacht wird, daß sie besser tun, sich von einem Vierzigjährigen lieben zu lassen als von einem ganz jungen Manne. Bei dieser These war der Wunsch der Vater des Gedankens gewesen. Das lehrt uns die Geschichte seiner Liebe zur schönen Virginie.


2. Virginie (1776). Diese Liebe war nach seiner Erklärung die erste, in der er die Rolle eines Greises spielte. Denn „als solchen behandeln Mädchen von 18 Jahren einen Mann von 42". Stets ist dabei der eigentliche, wirk- liche Geliebte im Hintergrund. So auch hier bei Virginie, so später bei Sara. Und der arme „Qua- drag^naire" muß furchtbare Qualen der Eifersucht er- dulden und sich zuletzt doch mit Resignation ins Un- vermeidliche fügen. Gewiß hat Rötif die Freuden


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der Liebe kennen gelernt, aber vielleicht wurden sie durch die Leiden des Eros doppelt und dreifach auf- gewogen, ein Beweis für die Richtigkeit der An- sichten Schopenhauers von der Nichtigkeit der Illusionen und der Realität der Schmerzen in der Liebe.

In den Jahren 1773 bis 1776, nach der Trennung von Louise und Therese, war Retif in den Banden einer Madame Lacroix, einer „femme tr6s libre", die mit Vorliebe sich mit erotischen Büchern und Bildern beschäftigte, leidenschaftlich und "von ungestümer Initiative „wie eine Kleo- patra" war, sich der indezentesten Ausdrucksweise bediente und die „Figurae Veneris" gern auch in die Praxis übersetzte (M. N. X, 146 — 147).

Mit dem Bedienten dieser Madame Lacroix hatte Virginie, eine große Blondine, deren ele- gante Erscheinung Retif schon längere Zeit vorher -aufgefallen war, Zusammenkünfte, zusammen mit ihrer Freundin Dartois. Bei einem dieser Rendez- vous fand sich für Retif und einen Bekannten Ge- legenheit, mit den beiden Mädchen — es handelte sich natürlich um zwei filles entretenues — ein Zu- sammensein zu verabreden und zwar, da es Sommer, Ende Juni, war, einen Spaziergang im Bois de Bou- logne. Statt der Dartois kam eine jungeWitwe mit. Mourant, R^tifs Bekannter, wählte Virginie, so daß R6tif sich mit der ihm weniger sympathischen Witwe begnügen mußte. Man nahm einen Wagen, fuhr bis zum Bois, ging dann in der Richtung nach Passy zu Fuß in den Wald. Die Unterhaltung, bei der R^tif und Virginie oft verliebte Blicke mit- einander wechselten, war sehr lebhaft und frei. Die


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Männer waren erstaunt, aus dem Munde der Frauen^ besonders Virginiens, so indezente, anstößige Worte zu hören. Mit Bernardin de St. Pierres Heldin hatte diese Virginie, die zynisch erzählte,^ daß sie keine Jungfrau mehr sei, gewiß nichts zu tun. Bei dem in einem Gasthause des Bois ein- genommenen Diner mit reichhchem Weingenuß kam es zu noch freieren Szenen. Aber die Eifersucht der Männer aufeinander hatte zur Folge, daß trotz- dem die beiden Schönen „saines, sauves, et surtout intactes" nach Hause kamen.

Durch ein Billet, das er ihr zusteckte, sicherte sich R^tif ein zweites ungestörtes Rendezvous mit Virginie. Sie aßen erst in einer gewöhnlichen Vorstadtkneipe zu Mittag imd machten dann einen Spaziergang durch die Felder nach Bic^tre, das R6- tif seit der Jugend nicht wiedergesehen hatte. Es war herrliches Wetter. Überall grünte und blühte es. Sie gingen mitten durch die Getreidefelder, es war köst- lich, auf den schmalen Pfaden zwischen den hohen Halmen zu wandeln. Beide fühlten sich ergriffen von dem. reinen, befreienden Hauch dieses sommer- lichen Naturlebens. R6tif sprach zu Virginie wie zu seiner Tochter, und sie antwortete wie ein un- schuldiges Kind. Sie „vergaß ihre Korruption". Und als sie in die Kirche von Bicetre eintraten, da wurde sie sogar ernst. Beide knieten vor dem Altare nieder und beteten inbrünstig. „Was ist das für ein Altar?" fragt Virginie ihn. „Es ist der der Jungfrau," ant- wortet R^tif ernst. Da schlägt sie, das Kind der Sünde, die Augen nieder und bricht in Tränen aus. Diese rührende Szene sollte nach der Absicht K6- tifs durch eines von den Bildern illustriert werden.


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die dem „Monsieur Nicolas" beigegeben werden sollten.

Dann gingen sie zu den Chorknaben von Bic^tre, und Rdtif fand als ihren Lehrer einen Priester, der schon zu seiner Zeit in Bicetre gewesen war. Freudiges Wiedersehen. Der alte Kamerad führte das Paar dann in dem Gefängnis und der Irren- abteilung umher. Die nun folgende Schilderung der Zustände in dieser Abteilung (M. N. X, 167 — 171) ist kulturgeschichtlich von größtem Interesse luid wirft auf die Verhältnisse unter dem ancien regime ein sehr trauriges Licht. Erst der geniale Pinel sollte in Frankreich die unglücklichen Irren aus ihren Ketten befreien.

Seit diesem Ausfluge wurde R6tif unter die Liebhaber Virginiens eingereiht. Er hielt sich allerdings für den einzigen, obgleich er einmal wenige Tage später Virginie mit zwei jungen Männern in einem Hause verschwinden sah. Auch gewann er ihre Gunst und Liebe eigentlich nur gegen Entrichtung einer Geldsumme, die, wie er später erfuhr, von der Treulosen dazu verwendet wurde, um ihre anderen Liebhaber, Personen aus niedrigem Stande, zu regalieren. Namentlich opferte sie alles für einen gewissen Compain, einen gemeinen Zuhälter, der einen geradezu dämonischen Einfluß auf sie aus- übte und durch Prügel ihre leidenschaftliche Liebe zu ihm nur noch verstärkte. Für dieses Individuum prostituierte sie sich in gemeinster Weise und- war eine begehrte Teilnehmerin an „parties" in den fashionablen Bordellen und Absteigequartieren. R^- tif nahm ihre erheuchelte Liebe für Wahrheit und ahnte nicht, daß die Liebkosungen eines so


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jungen und anscheinend so zurückhaltenden Mäd- chens gefährlicher Natur sein könnten, bis er am elften Tage ihrer Liaison durch das Auftreten einer ihm schon längst bekannten Krankheit eines Besseren belehrt wurde. Glücklicherweise wurde er durch die Mittel seines ärztlichen Freundes Guilbert de Pr^- val ziemlich schnell kuriert und war noch zu ver- liebt, um sich durch dieses böse Intermezzo in der Fortsetzung seiner Beziehungen zu Virginie stören zu lassen. Auch Nougaret, dem R^tif stolz seine neue Eroberung zuführte, war entzückt von den Reizen der jungen Courtisane.

Er, der sonst so geizig war, daß er beim Mittag- essen seinen Gästen empfahl, ja nicht zu viel zu essen und der den Wein nur in ganz kleinen Gläsern ver- abreichte, hatte, als Virginie (mit R^tif) zu einem solchen Diner erschien, nichts Eiligeres zu tun, als schnell noch die kostbarsten Delikatessen aus der Nachbarschaft selbst herbeizuholen und sogar noch Billets zur Vorstellung in der Italienischen Oper zu besorgen. Äußerst lustig schildert Retif den Wider- streit der Gefühle, als Nougaret beim Diner sieht, wie seine Gäste ihm alles vor der Nase wegessen und möglichst große Stücke auf einmal herunter- schlucken. Alles lacht über das verdutzte Gesicht des Gastgebers. Nachdem man alles vertilgt hat, begibt man sich ins Theater. Nougaret ist so sauber gekleidet, wie R^tif ihn nie gesehen hat, er trägt einen erst am Abend vorher erstandenen Anzug von grauer Seide und sucht nun nach Kräften R^tif bei Virginien auszustechen, was ihm aber nicht gelingt. Im Theater gibt es wieder eine inter- essante Szene. Die Kupplerinnen umschwärmen


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Virginie und flüstern ihr die verlockenden An- erbietimgen der jungen Lebemänner zu. R^tif vergeht vor Eifersucht. Fortan wird er Zeuge all dieser heimlichen Eskapaden des leichtfertigen Mäd- chens und sieht sie sogar im intimsten Verkehr mit ihren Galanen. Seine Klagen, seine ewigen Vorwürfe ziehen ihm nur den Haß des Mädchens zu. Endlich wird er es müde, seine Liebe und sein Geld an diese Treulose zu verschwendet! ; er trennt sich von ihr, als er sie durch einen neuen, reichen Liebhaber Delaport wohl versorgt sieht. Er glaubt allen Ernstes, der Törichte, daß Virginie sein letztes Abenteuer gewesen sei, er ahnt nicht das schlimmere, das ihm noch bevorsteht.

So schrieb er den „Quadrag^naire", die ein wenig abgeänderte Geschichte seiner Liaison mit Virginie, und glaubte damit diese Epoche seines Lebens und die Liebe überhaupt abgetan.

Vier Jahre später, im Jahre 1780, sollte er Vir- ginie noch einmal sehen. Als er durch die nie de la Harpe ging, fiel auf einmal ein Gegenstand vor ihm nieder. Er blickte empor und sah Vir- ginie. Sie feierten ein zärtliches Wiedersehen. Die Mutter Virginiens offenbarte sich ihm als jene Jarrye Datt^, mit der er einst verkehrt hatte. Natürlich mußte nun Virginie seine Tochter seinl Für eine Tochter muß man sorgen. Deshalb hatte R ^ t i f nichts Eiligeres zu tun, als sie an einen Prinzen von Bouillon zu verkuppeln (M. N, X, 216).

3. Der Abgott der Modistinnen.

Nach den Aufregungen des Liebesverhältnisses mit Virginie folgten in erotischer Beziehimg we-

D fi h r e n , R^f de la Bretonne. 13


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nigstens drei Jahre der Ruhe (1777 — 1779), eines „sanften, aber andauernden Vergnügens" ohne Un- geduld, ohne Eifersucht.

Er verdankte sie dem Verkehre mit seinen Heben Modistinnen. Seine angenehmste Beschäftigung, seine einzige Erholung waren die Liebesbriefe, die er ihnen schickte und die sie meist gemeinsam lasen. Er erzählte darin kleine Geschichten, spielte den Moralischen, gab ihnen durchaus gesunde Anwei- sungen, ihre Jugend zu genießen, kurz, er „amüsierte die hübschen Kinder, ohne daß sie dabei eine Gefahr liefen", er schuf sich und ihnen einen unschuldigen Zeitvertreib. „Ohne Zweifel habe ich ein dauerndes Andenken in den Köpfen dieser jungen Mädchen mir gesichert. Sie werden ihren Kindern von mir erzählen. Und es ist ein so süßes Gefühl: die Hoff- nung, daß so von einem gesprochen wird." (M. N. X, 226.)

Hauptsächlich verkehrte er auf diese Weise mit den Modistinnen des Geschäftes einer Madame Monclar. Amethyste, Victorine, Am^lie, Agathe waren seine angebeteten Adressatinnen. Oft brachte er ihnen nach alter Gewohnheit Sere- naden. Und die Art, wie man seine verliebten Spiele- reien aufnahm, schmeichelte seiner Eitelkeit nicht wenig. Er hatte, wie er sagt, das Geheimnis ent- deckt, das Interesse von sieben oder acht jungen Mädchen zugleich in ganz ungewöhnlichem Maße zu erregen. Sie lasen seine Briefe einander mit Be- geisterung vor. Oft konnte er solche Szenen draußen durch das Fenster beobachten und war dann über- glücklich.

Diese unschuldige „Liebe durch Briefe", diesen


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platonischen Verkehr mit den hübschen Modistinnen hat er in seinem 1779 erschienenen Buche „Le Nouvel Abeilard" verewigt. In ihm findet sich eine große Zahl der Briefe, wie sie wirklich geschrieben wurden. Aber man glaube nicht, daß dieser „neue Abälard" der Modistinnen ein wirklicher Abälard war. Es war nur ein literarischer. Der jetzt so be- rühmte Autor blieb trotz aller Enttäuschungen durch die Liebe immer noch „Mensch" genug, um in phy- sischer Beziehung gewisse „amuseuses", wie er sich ausdrückt, nötig zu haben. Er wählte mit Vor- liebe hierfür verheiratete Frauen, die schon etwas mehr Erfahrung besaßen. Namentlich nennt er drei solche Künstlerinnen der Venus, deren zufällige Be- kanntschaft er nacheinander in den Theatern von Audinot und Nicolet machte^). Die zierliche „federleichte" Madame Dumoulin, die aus der Lektüre des „Pied de Fanchette" die Manie des Autors für kleine Schuhe mit hohen Absätzen kannte, verstand es ausgezeichnet, diese fetischistischen Ge- lüste zu reizen und zu befriedigen. Eine zweite „amu- seuse", Madame Dupont-Lambert, wirkte mehr durch andere Reize auf ihn, die sie ihm, dem Ver- fasser von „Lucile", „Pied de Fanchette" und der „Confidence n^cessaire", willig preisgab, um sich dann ihren Bekannten gegenüber, denen sie seine Werke zu lesen gab, dessen zu rühmen. Sie wurde öfter durch ihre Freundin, Madame Damourette, vertreten, eine hübsche blonde Gemäldehändlerin, die ihm auch aus ihren Erlebnissen und Beobachtungen

') Vgl, über diese sehr anrüchigen Theater und das Treiben daselbst meine „Neue Forschungen über den Marquis de Sade", S. 219 — 220.

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viel Material für die „Contemporaines" und die„Nuits de Paris" lieferte (M. N. XIII, 245). Bisweilen ver- lebte er den Abend mit allen dreien zusammen ! Ein- mal hatte er auch zu einem solchen Zusammensein mit seinen „amies du plaisir" einige Künstler, die für seine Bücher Illustrationen lieferten, eingeladen, wo- bei der berühmte Binet die Madame Damourette bekam.

Daneben befriedigte er natürlich nach wie vor vorübergehende Begierden und erotische Anwand- lungen (vellöites) in den Bordellen oder bei Freuden- mädchen, unter denen ihn besonders eine gewisse Saint-Brieuc fesselte, oder auch bei den zahl- reichen Freundinnen der drei erwähnten Frauen. So verschaffte ihm die Dupont-Lambert allein sechs solche Mädchen (M. N. XI, 32) und die Damou- rette machte eine große Brünette durch die Lektüre seiner Werke in den Verfasser verliebt.

Diese so mannigfaltigen Zerstreuungen hatten oft gewiß auch den Zweck, ihn seine häuslichen Un- annehmlichkeiten vergessen zu lassen, die ihm durch die Heiratspläne seiner ältesten Tochter Agnes be- reitet wurden. Seine Frau hatte eine Zeitlang in der Provinz ein Modegeschäft gehabt, war aber dann 1778 wieder nach Paris zurückgekehrt, ohne daß R6tif mit ihr wieder eine gemeinsame Wohnung bezogen hätte. Jedoch war sie etwas entgegen- kommender ihm gegenüber geworden, da sie sich jetzt ein wenig als Gattin eines berühmten Schrift- stellers fühlte. R6tif nahm bei ihr gegen Zahlung einer Pension seine Mahlzeiten ein. Seine Tochter Agnes hielt sich eine Zeitlang bei ihrer Tante auf, R6tifs Schwester Margot, die einen gewissen Bizet in


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Paris geheiratet hatte. Diese Tante betrieb sehr eifrig eine Heirat zwischen ihrer Nichte und einem Indi- viduum namens Auge, einem hergelaufenen, bald 40 jährigen Subjekt und Habenichts von sehr zweifel- haftem Charakter und bodenloser Unwissenheit. R6- tif , auf den der künftige Schwiegersohn einen höchst ungünstigen Eindruck machte, verweigerte standhaft seine Zustimmung zur Heirat, obgleich auch seine Tochter in der Hoffnung auf eine anständige Ver- sorgung ihn arg bedrängte. Die Tante und Auge fanden bald ein imfehlbares Mittel, um. die Ein- willigung des Vaters zu erzwingen, indem sie seine Tochter zu einem vorzeitigen intimen Verkehre mit Auge veranlaß ten, der nicht ohne Folgen blieb. So mußte denn R^tif mit schwerem Herzen sein Kind den Händen dieses „monstre", wie er Auge später immer nennt, überliefern. Der spätere Verlauf dieser Ehe gab ihm durchaus recht. Agnes R^tif konnte es nur sehr kurze Zeit bei dem rohen und liederlichen Gatten aushalten, sie verließ ihn. Nach 10 Jahren wurde die Ehe geschieden, und sie verheiratete sich wieder mit einem anderen.

Während der Zeit, wo diese Heiratsgeschichte spielte, erlebte Retif selbst die letzte große Liebe seines Lebens, über die man das Motto setzen kann: „Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt". Die Heldin dieses Dramas hieß Sara Debee.

4. Die treulose Sara.

Die „Geschichte Saras", die Retif im zwölften

Bande des „Monsieur Nicolas" erzählt, ist kein

Roman, sondern hat sich wirklich so zugetragen, wie

er berichtet. Wir haben jetzt durch die Veröffent-


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lichung der „Inscripcions", wo die Seiten 6 — 66 diesem Erlebnisse gewidmet sind, den Beweis für die Wahrheit der Angabe Retifs erhalten, daß diese Geschichte nach seinen täglichen Aufzeichnungen niedergeschrieben sei (M. N. XII, 175).

Wie lautet das Thema der „Histoire de Sara"?

„Könnte ich", sagt Retif, „doch nur alle Welt über- zeugen, daß man, wenn man das 45. Lebensjahr überschritten hat, von den Frauen nur betrogen, aber niemals geliebt wird! Oder daß diese Liebe, wenn sie seltsamerweise vorhanden ist, nur ein sehr kurz dauerndes Feuer ist, dessen sicheres und plötzliches Erlöschen die müde Seele um so mehr verdüstert, als ihr vorher der nichtige Glanz eines dauerhaften, beständigen Glückes geleuchtet hat. . . . O du, der du das Alter des Gefallens überschritten hast und dennoch mit Vergnügen ein Mädchen anschaust, fliehe, du Tor! Was glaubst du in ihrem Herzen zu finden? Die Liebe? Nein, nur die Unbeständigkeit, die Verachtung, den Ekel, die Lust dich zu betrügen, die Frechheit, deinen Vor- würfen Trotz zu bieten, die findest du darin! So war Elisabeth Sara Debee-Leeman. So war das Mädchen, das ich für zärtlich, sanft, dankbar, liebenswürdig, aufrichtig, beständig, treu hielt!"

Seit 1776 wohnte R^tif in der rue de Bi^vre bei einer Frau Debee-Leeman, einer noch schönen, aus Antwerpen gebürtigen Frau von recht laxen Grundsätzen, die früher die Maitresse eines hochgestellten Beamten gewesen war. Auch jetzt noch hatte sie einen Geliebten, einen gewissen Flori- mond Lucas, der ihr „Sklave" geworden war, nach- dem sie ihn ruiniert hatte. Als R6tif im Jahre 1776 bei der Deb^e einzog, war ihre Tochter Sara erst 14 Jahre alt und noch eine ganz kindliche Erschei- nung, der er wenig Beachtung schenkte. Im Laufe der nächsten vier Jahre entwickelte sie sich aber


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zu einem entzückend schönen Mädchen. Retif schil- dert sie als eine große schlanke Blondine, die durch ihren wunderbaren Teint, ihren bezaubernden Gang und ihren interessant melancholischen Gesichtsaus- druck gleichmäßig fesselte. Oft sah Retif, der ein Stockwerk höher wohnte, sie auf dem Balkon und bewunderte ihre Schönheit und Grazie. Er wußte nicht, daß Sara, die in den letzten Jahren außerhalb des Hauses wohnte und nur an den Sonntagen die Mutter besuchte, in erotischer Beziehung bereits nicht mehr ein unbeschriebenes Blatt war, daß man sie sogar im Verdacht hatte, mit Liebhabern „petites orgies noctumes" zu feiern imd daß ihre Mutter sie mit alten Libertins bekarmt machte, um sie an einen solchen möglichst teuer zu verkaufen.

Retif gegenüber gab sich diese frühreife junge Dame aber ganz als naives, unschuldiges Kind, als sie an einem Sonntag Morgen im November 1780 ihm ihren ersten Besuch abstattete, um sich einige Bücher von ihm zu leihen. Sie trug ihre Bitte mit einer rührenden Schüchternheit vor und sah dabei so reizend aus, daß R^tif nicht anders konnte als ihr einen Kuß geben, natürlich einen sehr väter- lichen Kuß. Seitdem wiederholte sie ihre Besuche an jedem Sonntage, um die Bücher umzutauschen, und bald noch häufiger, als sie und ihre Mutter die zärtlichen Gefühle Retif s für sie bemerkten. Sie brachte ihm Lieder, die sie ihm mit ihrer sanften, einschmeichelnden Stimme vorsang. „Wenn man mit 45 Jahren weniger erregbare Sinne hat, so ist das Herz um so empfänglicher", sagt Retif. Das Alter steht vor der Tür, da ergreift man noch einmal mit Leidenschaft das Leben, das in der Liebe am schön-


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sten blüht, und je jünger die Geliebte ist, um so leb- hafter und beglückender ist dieses Lebensgefühl. Mit welchem Entzücken hörte Rötif aus Saras Munde ein Lied wie dieses:

Mon coeur soupire des l'aurore; Le soir, mon coeur soupire encore, Le jour un rien me fait rougir Je sens du mal et du plaisir.

Je reve ä, toi quand je sommeille, Ton nom m'agite, il me saisit; Je pense ä toi quand je m'eveille, Ton image partout me suit.

Als Gegengabe für diese Lieder schrieb R6tif eine Novelle für sie. Diese im Dezember 1780 ver- faßte Novelle wurde im März des folgenden Jahres verwirklicht! Sara war die Heldin derselben. Er spielte darin die Rolle ihres Liebhabers.

Als er ihr dieselbe vorgelesen hatte, rief sie aus: „O, Herr Nikolaus, Sie haben doch im Ernst nicht daran gedacht, daß ich mich einem andern hingeben könnte, wenn ich weiß, daß Sie mich lieben?" Und indem sie ihn vorwurfsvoll betrach- tete, gab sie ihm den ersten Kuß.

Am Neujahrstage schwören sie sich ewige Freundschaft. Sara bittet ihn, ihr ein Vater zu sein. R6tif drückt sie an sein Herz: „Meine liebe Tochter!" — „Mein geliebter Papa! Du wirst mein Vater, mein Führer, mein Beschützer sein." — „Ach, liebes Töchterchen, ich fürchte beinahe, auch dein Liebhaber zu sein!" — „Wenn das wäre!" Bei diesen Worten verbirgt Sara ihr glühendes Ant- litz an seiner Brust. Er gibt ihr zwei Küsse auf die Wange und sie ihm einen, aber einen sehr langen.


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O, das ist ein köstlicher Augenblick. Wie entzückend ist aber auch jener, wenn Sara ihren „Vater" ver- läßt und ihm von der Treppe aus noch mit unnach- ahmhcher Grazie einen „baiser Napohtain" zuwirft. Dann ist sie „keine Sterbliche mehr, sondern eine Göttin". In diesen Augenblicken zärtlicher Liebe ist über ihr Wesen ein unaussprechlicher Reiz aus- gebreitet. „C'^tait la plus belle rose! Avec cela un air si tendre, si passionn6!" Wie kann er, mit seiner leidenschaftlichen Natur, da widerstehen!

Am Dreikönigstage, 6. Januar 1781, gab R6tif ein Diner, an dem die Geliebte, ihre Mutter und deren „promari" Florimond teilnahmen. Nichts macht nach R^tifs Ansicht so vertraut wie das ge- meinschaftliche Essen. Dieser eine Tag förderte seine Liaison mit Sara mehr als die sechs Wochen, die seit Sa ras erstem Besuche verflossen waren. Schon am folgenden Tage, bei einem Diner, wo Sara in Nachahmimg einer Szene aus den „Contemporaines" heimhch ihren Fuß auf denjenigen Retifs setzt und so den „fast Fünfzigjährigen" ganz toll vor Liebe macht, legt er ein offenes Geständnis seiner Leiden- schaft ab und — seiner bösen Absichten auf Saras Tugend. „Ich wagte, ihr einen Kuß auf den Mund zu geben. Sie widerstand nur wenig. Auf meine Bitte erwiderte sie ihn, und ich nahm dann tausend, duzte sie wie ein Liebhaber und wollte sie veranlassen, das- selbe zu tun." Das schlug sie aber vorläufig noch ab.

Noch gefährlicher als diese sehr oft wieder- holten Diners erwies sich der gemeinschaftliche Be- such des Theaters. Namentlich auf Sara machten die Rührstücke der damaligen Bühne einen sehr starken Eindruck: „Sie drückte mir die Hand und


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sagte, daß sie vor Verlangen stürbe, mich zu um- armen." Natürlich teilt er diesen Wunsch voll- kommen. — Bald, schon Mitte Januar, kam es denn auch zu größeren Zärtlichkeiten. Noch mehr als ihre Küsse berauschten R^tif die Liebkosungen ihres zarten — Fußes, mit dem sie alles ausdrückte, was sie ihn wissen lassen wollte, er war ein voll- kommenes „erotisches Organ".

R6tif gebärdet sich wie ein richtiger verliebter Narr. Er erzählt ihr aus seiner Vergangenheit und rührt sie durch die traurigen Erinnerungen an Ze- phir e bis zu Tränen. Auch sie erzählt ihm, während sie 'wie ein verzogenes Kind auf seinen Knien sitzt, von den Leiden ihrer Jugend, die er dann später in seinem Werke „La derniere aventure d'un homme de quarante-cinq ans" verwertet hat. Als sie ihm dann gar zärtliche Briefe schreibt, da ist er auf dem Gipfel des Glückes angelangt. Denn der Ver- fasser und Schreiber so vieler Liebesbriefe ist für diese Art der Huldigung und Liebesbeteuerung ganz besonders empfänglich.

So nähert sich denn die Akme, der Höhepunkt dieses Glückes. Nach diesen Zärtlichkeiten wird R6tif „unternehmend", seine Liebkosungen werden kühner, und unter dem 25. Februar 1781 kann er freudestrahlend in sein Tagebuch die Worte ein- tragen: „Felicitas: data tota. An diesem Sonn- tag, 25. Februar, versicherte sie mich, daß sie sich mir ganz hingeben wolle : ,Mach' mit mir, was du willst, lieber Papa. Seele, Körper, Gefühl, alles ge- hört dir. Sprich, und ich überliefere mich dir, oder vielmehr, ich habe mich schon überliefert, ich bin ganz dein!" Dahinter steht in Parenthese noch ein-


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mal: Data tota, als vollendete Tatsache. (Mes Inscripcions 6d. Cottin. S. i8.) Und es folgt dann, in schneller Folge, ein sehr interessantes und amü- santes Verzeichnis der täglichen — intimsten ein- oder mehrmaligen erotischen Erlebnisse derselben Art. Z. B. finden wir unter dem 19. März die la- konischen, aber bezeichnenden Worte: „Bis felix. Je fus deux fois heureux le 19 Mars" (Inscripc. S. 20).

In diesen glücklichen Tagen war er das „Orakel" Saras. Sie vertraute ihm ihre geheimsten Gedanken an. Die schönsten Augenblicke waren vielleicht nicht diejenigen des innigsten Vertrautseins, sondern die im Theater miteinander verlebten Stunden.

Sie gehen zu Nicolet, setzen sich ins Parquet. Gleich sind sie von einer Schar von jungen Leuten umgeben, die alle die entzückend aussehende Sara, eine wahre beaute de diable, bewundern. Und auch R^tif sieht, fühlt und hört nur Sara (Inscripc. S. 19). Und sie nur ihn, sie würdigt die gaffenden Stutzer keines Blickes. „Ich hielt ihre Hand, und da sie einen großen Pelz umhatte, so legte ich meinen Arm um ihre Taille. Sie nahm meuie Hand und drückte sie jedesmal, wenn das Spiel ihr Vergnügen machte. Mein Herz schwamm in Wonne. Ich sah mich geliebt, angebetet. Liebe und Eigenliebe waren in gleichem Maße befriedigt, erfüllten mich mit gleichem Ent- zücken. Stolz, mit dem schönsten Mädchen im Saale zusammen zu sein, berauschte ich mich noch dazu an dem herrlichen Gedanken, der von ihr Bevorzugte zu sein. Ja, das war das größte, das vollkommenste Glück, das Sara mir gegeben hat." (Mons. Nicol.

XII, 70-71).

Nach Hause zurückgekehrt, müssen sie die


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Treppe im Dunklen hinaufsteigen. Da fühlt Rötif plötzlich auf seiner Hand, dieser „glücklichen Hand", den Rosenmund der Geliebten. Ach, es gibt keine Worte, um die Gefühle auszudrücken, die er in diesem Augenblicke empfindet ! Muß sich da das Herz nicht öffnen, um die Geliebte in sich aufzunehmen?

Und welche Freuden gibt dann ein Souper nach solch einem Theaterabend 1 Er bedient sie beim Essen, sie ihn. Sie stecken lachend die Bissen einer dem anderen in den Mund. Alle Sinne genießen zu- gleich, Gesicht, Gehör, Geruch, Tastsinn und selbst der Geschmack, der so wenig für die Liebe ge- macht scheint. Diese und die ihnen folgenden Augen- blicke waren zu große Seligkeit. Die Götter werden neidisch.

Dann kommt der Frühling. Man unternimmt die schönsten Ausflüge und Spaziergänge. „Sara gab mir den Arm. Ich weiß nicht, woher sie immer die angenehmen Dinge nahm, die sie mir sagte." Oder man fährt im Wagen aus, und der Kutscher nimmt, als ob er die Gedanken der Liebenden er- raten hätte, den längsten Weg.

Sind sie zu Hause, aber voneinander getrennt, so verständigen sie sich durch Klopfen an die Wand, sagen sich auf diese Weise guten Tag, gute Nacht, schicken sich Küsse. Bisweilen drückt sie ihre zärt- lichen Gefühle durch Lieder aus, zu denen sie selbst auf der Harfe oder Gitarre die Begleitung spielt. Besonders eine sentimentale Romanze muß sie ihn häufig hören lassen. Sara singt sie ganz wunderbar. Und R^tif lauscht voll Entzücken. Die zärthchen Vorwürfe darin finden einen seltsamen Widerhall in seinen; Herzen. Er kann die Tränen nicht zu-


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rückhalten. Ist's eine geheime Ahnung, die ihn weinen läßt ? Sag' du es, zärtliche Musette, tröste du ihn über die Untreue der kalten Lisette:

O ma tendre Musette,

Console ma douleur;

Parle-moi de Lisette,

Ce nom fit mon bonheur:

Je la revois plus belle,

Plus belle chaque jour:

Je me plains toujours d'elle.

Et je l'aime toujourM

Bald sollte er Grund zur Klage haben und all die bitteren Schmerzen verschmähter Liebe erfahren, die darum doch seine Liebe blieb. War er aber frei von Schuld an der nun folgenden Entwickelung der Dinge? Er selbst ist es, der Sara in Beziehung zu anderen Männern bringt, freilich aus den edelsten Motiven.

Bultel-Dumont, Schatzmeister von Frank- reich, ein sehr reicher Junggeselle, von dessen Be- ziehungen zu R6tif weiter unten noch die Rede sein wird, klagte ihm eines Tages seinen zerrissenen, un- glücklichen Seelenzustand, und der mitleidige, gut- herzige R^tif beschloß, ihm Sara als Trösterin zu überlassen.

Zugleich hoffte er dadurch die Geliebte auf glän- zende Weise zu versorgen, „Man wird vielleicht fragen," sagt er in seinem Tagebuche unter dem 19. März 1781, „weshalb ich, da ich so glücklich mit meiner Sara war, sie einem anderen überlassen wollte. Das geschah aus Zartgefühl, aus übergroßer Liebe." Auf der einen Seite sah er Sara arm, von einer Mutter abhängig, die im Begriffe stand, die Reize ihrer Tochter mn 20000 Francs an einen Libertin


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2U verkaufen, auf der anderen Seite den reichen, aber unglücklichen Dumont, der ihm den Wunsch nach dem Verkehre mit einem jungen, zärtlichen Mädchen aussprach, die seine „Nichtigkeit wieder belebte". Er wolle sie dann zu seiner Erbin machen. Etwas deutlicher drückte er sich denn alsbald gegenüber Sara bei ihrem ersten Zusammentreffen aus, so deut- lich, daß Sara diese Obszönitäten entrüstet zurück- wies. Bultel-Dumont fuhr trotzdem fort, durch die „Sinne den Weg zum Herzen Saras" zu suchen. Aber die Abneigung des Mädchens war selbst nach einem abermaligen Zusammensein noch nicht ge- ringer geworden, und so zerschlug sich die Sache, was R6tif im Grunde sehr angenehm war, obgleich er damit noch weiter in die Notwendigkeit versetzt war, für den Unterhalt der Geliebten aufzukommen, den er bis dahin ganz aus seiner Tasche bezahlt hatte.

Bald nach diesem Zwischenfalle, bei dem Sara sich über die indezenten Reden Dumonts noch sehr ungehalten gezeigt hatte, vollzog sich in ihrem Wesen eine merkwürdige Veränderung, die R6tif in seinem Tagebuch unter dem 27. April 1782 mit den Worten charakterisiert : „Fere lupanaris modo agit." Sie, die bis dahin so sittsam und keusch ge- tan hatte, fing plötzlich an, die obszönsten Worte im Munde zu führen, Sie hatte die „Ungeniertheit lange Verheirateter, die sich auswendig kennen und vor nichts mehr erröten." (M. N. XII, 92.)

Anfangs wußte R^tif nicht,,, welcher Ursache er dieses plötzliche Auftreten indezenter Manieren zuzuschreiben habe. Bald aber sollte er dahinter kommen.


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Seit einiger Zeit hatte nämlich Madame Deb^e ihre Tochter veranlaßt, sich für ihre Spaziergänge besonders schön anzukleiden, und sie führte dann Sara bald in den Luxembourg-Garten, bald in die Tuilerien, ins Palais Royal und auf die Boulevards, um . eine „Bekanntschaft" zu machen. Diese fand sich denn auch bald in der Person eines gewissen Lavalette (so lautet sein wirklicher Name in den „Inscripcions", im M. N. heißt er „Lamontette"), eines 55 jährigen wohlhabenden Advokaten. Die Be- kanntschaft desselben hatte Sara schon im April gemacht und war sogleich in intime Beziehungen zu ihm getreten, von denen aber R6tif erst Ende Mai Kunde erhielt. Der 29. Mai war dieser dies fatalis in der Geschichte seiner Liebe zu Sara Deb^e. Da traf er Mutter und Tochter, wie sie im Wagen zum Palais Royal fuhren, um dort ein Rendezvous mit dem neuen Liebhaber zu haben. Sara war in ele- gantestem Kostüm, aber sie beachtete ihren alten Anbeter kaum, und zeigte sehr deutlich ihre üble Laune über das Zusammentreffen. Am Abend erfuhr er dann den wahren Sachverhalt, und damit be- gann für ihn ein wahres Inferno der Liebe, dessen Schmerzen und Qualen er sehr eindrucksvoll schil- dert. So, wie er nach alter Gewohnheit, an den Abenden auf Sara wartet, und sie nicht kommt und er angstvoll, mit jenem tief schmerzlichen Oppres- sionsgefühl der Eifersucht die Stunden zählt und endhch, weil er es im Hause nicht mehr aushalten kann, hinauseilt, zur Ile Saint-Louis und hier seine Klagen in die Steine eingräbt. Dann eilt er schnell wieder nach Hause, mit der Hoffnung im Herzen, daß sie nun endlich da ist. Aber alles ist dunkel.


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Da überwältigt ihn der Schmerz. Er bricht in Tränen aus, während er mit großen Schritten im Zimmer auf und ab geht. Mittemacht ist längst vorüber. Die ungeheure innere Aufregung treibt ihn wieder hinaus, wieder zu seiner geliebten Insel. Dann legt er sich nieder zu einem unruhigen Schlafe. Und Sara ist, als er sie wieder sieht, eisig, unfreundlich, hartherzig gegen ihn. Die ganze nun folgende Zeit ist eine be- ständige Wiederholung solcher Augenblicke. „Er- wartimg," sagt er, „Schmerz, Furcht, Wut, Mitleid, Liebe, Eifersucht brachten mich an den Rand des Grabes" (M. N. XII, 95), oft muß er dem Körper Bewegung verschaffen, um das Gefühl der inneren Starre zu lösen (Inscripc. S. 27). Diese Leiden stei- gern sich von Tag zu Tag. Bald scheut man sich nicht, ihm den glücklicheren Nebenbuhler in Person vorzuführen und ihn ruhig wissen zu lassen, , wann Sara die Nächte bei demselben zubringt. Dann zieht es ihn seltsamerweise oft mit magischer Gewalt am folgenden Morgen zum Hause Lavalettes, und er liest von den Gesichtern der beiden die Spuren der nächtlichen Freuden ab, die in allzu reichlichem Maße genossen worden sind. Das schlimmste aber ist, daß Mutter und Tochter eine wahre Wonne darin zu finden scheinen, sich über den armen Betrogenen lustig zu machen. Die Mutter foltert ihn mit den Berichten von den Liebkosungen, die sie zwischen Sara und Lavalette beobachtet hat, und dann amüsiert sie sich gemeinsam mit ihrer Tochter über die Entrüstung und leidenschaftliche Wut R6tifs. Und dieser hat Sara „für einen Engel" gehalten! Und findet noch jetzt nicht die Kraft und den Mut, sich aus diesen unAvürdigen Banden zu befreien.


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hängt noch immer mit der alten wahnsinnigen Leidenschaft an ihr, und macht immer wieder die kindlichsten Versuche, seinen Rivalen zu verdrängen. Bisweilen läßt Sara sich ein wenig rühren. Als er einst weinend sie bittet: „Sage mir, nicht daß du mich liebst, sondern nur, daß du mich einst geliebt hast", da antwortet sie : „Ich habe es — geglaubt." Und einmal findet sogar eine vollständige Wieder- aussöhnung statt. Unter dem lo. Juni 1782 steht in Retifs Tagebuch: „Reconciliatio : cubat mecum." Sara tut etwas, was sie sogar zur Zeit ihrer größten Liebe nicht getan hat, sie bringt die Nacht bei ihm zu. Aber der Überglückliche wird auf die schmerz- lichste Weise aus neuen Glücksträumen wieder zur Wirklichkeit zurückgeführt. In der Nacht fühlt er einen zäjtUchen Kuß der noch im Halbschlummer Befangenen. Als sie aber bei seinen leidenschaft- hchen Dankes wort en erwacht imd ihn erkennt, stößt sie ihn zurück. Sie hat ihn für seinen Nebenbuhler gehalten !

Ein anderes Mal zeigt sie ihm ihre ungeduldige Sehnsucht nach diesem bei einer gemeinschaftlichen Fahrt nach St. Denis. Während derselben hält Rötif ihre Hand in der seinigen. Sie hat sie ihm überlassen, aber nicht gegeben. So verhält sie sich auch in allen anderen Dingen passiv und drängt im- gestüm zur Rückkehr, ohne die aufgetragenen Er«  frischimgen zu berühren.

Als R 6 1 i f nun gar noch eine ganze Liebeskorre- spondenz zwischen Sara und einem anderen früheren Anbeter entdeckte, als er sah, daß er nur noch gut ge- nug dazu war, um Mutter und Tochter in Geldverlegen- heiten auszuhelfen, da beschloß er, sich von ihnen

D Uhren, R«if de la Brctonne. 14


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2U trennen, nicht ohne vorher der Treulosen gehörig die Wahrheit gesagt zu haben. Am 15. Juli zog er aus und verewigte diese Tatsache durch die Worte auf einem Steine der Ile Saint -Louis: „la Libertatis 15. Jul." Aber dieses triumphierende Wort war etwas zu früh gesprochen, diese Freiheit sollte nur von recht kurzer Dauer sein. Nur zwei Tage hielt er dieses Leben ohne die GeUebte aus. Am dritten Tage suchte er wieder ihre Wohnung auf und sah sie am Fenster stehen und für seinen Gruß mit einem Lächeln danken. Da war er auch wieder ganz Feuer und Flamme. Und obgleich er an den nächsten Tagen Sara nicht wieder zu Gesichte bekam — sie hatte sich mit ihrer Mutter zu dem Landhause Lava- lettes begeben — machte er wohl zehnmal am Tage Fensterpromenaden vor ihrer Wohnung. Noch ein- mal lächelte ihm das Glück. Sara kehrte zurück. Es war zu einem vorübergehenden Bruche zwischen ihr und Lavalette gekommen, dessen Ursache, wie R^tif bemerkt, „unaussprechlich" war (M. N. XII, 191). Die Folge war, daß R6tif in den nächsten sechs Monaten wieder an den Soupers teilnehmen und bei einer ernsten Erkrankung Saras ihr die Hilfe seines Freundes Pr6val verschaffen durfte, wofür er dann durch eine kurzdauernde Wiederkehr der alten Vertraulichkeit belohnt wurde. Freilich kehrten alle Qualen der Eifersucht in verdoppeltem Maße wieder, als er eines Tages die Entdeckung machte, daß regel- mäßig nach dem Souper der verhaßte Lavalette, der sich inzwischen wieder mit Sara ausgesöhnt hatte, heimlich zu ihr kam und die Nacht bei ihr zubrachte. Schließlich erlebte R6tif aber doch noch die Verdrängung des Lavalette aus Saras Gunst


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durch einen — Dritten, einen Kommis, namens Las, und seltsamerweise erfüllte ihn diese schmähliche Niederlage seines ersten Nebenbuhlers mit größter Genugtuung, imd trotz des neuen Liebhabers suchte er das alte innige Verhältnis zu der mehralsje Ge- liebten wieder herzustellen, und der schöne Sommer des Jahres 1782 brachte ihm noch einmal Momente, in denen die alte zärtliche Liebe zwischen ihnen beiden wieder erblüht zu sein schien, so bei einem herrlichen Abendspaziergange am 20. Juni durch die Wiesen und Felder vor den neuen Boulevards.

Sara und R6tif gehen Arm in Arm durch die blumigen Wiesen und Getreidefelder, während die Mutter und Florimond ihnen in einiger Entfer- nung folgen. Ein süßer, würziger Duft erfüllt die Luft, eine frische, abendliche Brise kühlt die heiße Wange Saras. Nie ist sie so schön gewesen, wie eine Nymphe wandelt sie durch die blühenden Felder. „Ich habe heute nacht von dir geträumt," flüstert sie, „es war nur, als ob wir verheiratet wären. Der Gedanke entzückte mich." Diese zärtlichen Worte werden von einem innigen Händedruck, einem sanf- ten Kusse begleitet. R d t i f ist ganz außer sich, zwölf imselige Monate werden wie mit einem Schlage aus seinem Gedächtnisse ausgelöscht. Er sagt ihr tausend Liebesworte. Überglücklich laufen sie um die Wette einen Hügel hinauf. Eine Lerche schwingt sich vor ihnen in die Lüfte. R^tif findet ihr Nest und die Kleinen darin. Dieser Anblick versetzt Sara in einen wahren Taumel des Entzückens. Sie fällt R6tif um den Hals : „Ach, nur mit dir bin ich glücklich ge- wesen!" Dann geht herrHch der Mond auf, aus der Feme ertönen Liebeslieder, Sara antwortet darauf

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mit ihrer lieblichen Stimme. In dieser Mondschein- Stimmung zieht es sie beide in die Einsamkeit. Sie verbergen sich in einem Roggenfelde, da, wo es am dichtesten ist. Und hier „vergaß ich die Natur neben ihr, hier vergaß ich mich selbst, alle früheren Gelübde, meine Nebenbuhler, Saras Treulosigkeit und Kälte. Ich sah nichts als Sara, nicht die zärt- liche Sara der ersten Zeit, sondern ein lebhaftes, fröhliches, ausgelassenes Mädchen."

Schade, daß die Geschichte Saras nicht mit diesem Idyll schließt. Bald gab das Erscheinen eines vierten Liebhabers, Saint-Aubin, Veranlassung zur endgültigen Trennung, die am 23. Juli 1782 erfolgte. Retif hatte sich nur dadurch zu diesem für ihn so schmerzlichen Schritte aufraffen können, daß er in der jungen Kupferstecherin Leve einen kleinen Er- satz für Sara gefunden hatte. Er verließ aber dieses schöne Mädchen bald, um nicht durch sie die Bilder zu den „Contemporaines" weiter verderben zu lassen, da die ersten vier von ihr gestochenen äußerst schlecht waren 1

Sara selbst sah er nur zweimal noch wieder, im Februar 1789 und März 1790, ohne daß sie mit- einander sprachen. Die letzte traurige Erinnerung an sie war die Steininschrift: „Sara pauper" auf der Ile St.-Louis, die sich auf ihre damalige trau- rige materielle Lage bezog (M. N. XL, 222 — 227).

So endete diese Liebe, vielleicht die tiefste und dauerhafteste im Leben Rötifs, die zu einem dauernden Glücke geführt hätte, wenn Sara die- jenige wirklich gewesen wäre, als die sie sich im An- fange zeigte.

Die Geschichte Saras hat R^tif unmittelbar


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darauf nach seinen Tagebuchaufzeichnungen in der bereits 1783 erschienenen „Derni^re Avanture d'un homme de quarante-cinq ans" dargestellt, und nach dieser später, 1797, die „Histoire de Sara" im „Monsieur Nicolas" verfaßt. Es ist ein Meister- werk, es ist der klassische Eifersuchtsroman, aber ein Roman aus dem wirklichen Leben.

„Ich habe Sara angebetet, ich habe sie gehaßt, verabscheut, verachtet. Gegenwärtig fühle ich nur Zärtlichkeit und Schmerz. Wo findet man das menschliche Herz so gut, so wahr geschildert wie in dieser Geschichte? O, der Abbe Delille hatte recht. Es ist ein Meisterwerk. Aber es ist die Natur, nicht der Autor, der es gemacht hat." (M. N. XII, 239.)

5. Bultel-Dumont und sein Kreis.

In der Geschichte Saras haben wir schon die Bekanntschaft Bultel-Dumonts (oder Butel-Du- mont) gemacht, der für die Lebensgeschichte Re- tifs insofern eine gewisse Bedeutung besitzt, als er sein erster vornehmer Gönner war und ihm zuerst Beziehungen zur höheren Gesellschaft verschaffte.

Bultel-Dumont war, wie erwähnt, ein hoher königlicher Beamter, ein reicher Zölibatär und Ver- fasser mehrerer nationalökonomischer Schriften. Im Besitze einer jährlichen Rente von 30000 Livres ver- wendete er einen Teil derselben zur Pflege einer vor- nehmen Geselligkeit in seinem Hause. Er gab zwei- mal wöchentlich seinen Bekannten ein Diner, an dem literarische Zelebritäten wie Robb6, Goldoni, Ri- varol, der Arzt Guillebert de Pröval, der Vor- steher der Kaufmannschaft Le Pelletier de Mor-


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fontaine, der Herzog von Gesvres u. a. teil- nahmen. Die Honneurs des Hauses machte Fräulein von Sa int -Leu, eine entfernte Verwandte und frühere Geliebte des Gastgebers, eine große, maje- stätische Erscheinung. Außer ihr waren noch zwei Frauen im Hause Dumonts: die reizende C 6 eile, das Kammermädchen der Mlle. Sa int -Leu, das von dem „reichen und wollüstigen" Hausherrn „nicht mit ruhigen Augen betrachtet" wurde, und eine junge Witwe, Madame Lebel, die „alle Empfindungen" wecken mußte, deren ein „erotischer Gourmet" fähig ist. Bei den Diners erschien noch eine große Zahl hübscher Frauen, die meist als Begleiterinnen der Herren kamen. R6tif begeisterte sich besonders für Madame Lebel und für eine Mlle. Aglae, die Tochter eines Freundes von Dumont.

Bultel-Dumont lud R6tif Ende 1777, nach dem Erscheinen des „Paysan perverti" zum ersten Male zum Diner ein, als einen „seltenen 'Gegenstand, den niemand bisher gehabt hatte und den zu zeigen Vergnügen machte". Seitdem war R6tif häufiger Gast bei ihm, und bald bekundete sich die wachsende Intinütät ihres Verhältnisses dadurch, daß der viel- erfahrene Verfasser des „Paysan perverti" dem alternden Junggesellen als Ratgeber in erotischen Dingen diente. Zwar zerschlug sich die von ihm ver- mittelte Liaison mit Sara, doch verschaffte er ihm anderweitige galante Abenteuer.

Die Beziehungen zu Dumont dauerten bis zu dessen im Februar 1789 erfolgtem Tode. In seinem Nekrolog sagt R^tif, daß er zwar nicht ein Freund im eigentlichen Sinne des Wortes gewesen sei, aber eine angenehme Bekanntschaft. „Ich schenkte ihm


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alle meine Werke. Er ließ mich an seinen Diners in einer oft entzückenden Gesellschaft teilnehmen. Wir sind quitt." (M. N. XI, 20.)

Zu dem Dumont sehen Kreise gehörte auch Fräulein von Saint-L^ger (1761— 1824), eine junge, geistvolle Schriftstellerin, Verfasserin von Romanen und Theaterstücken. Nach dem definitiven Bruche mit Sara empfand R^tif das Bedürfnis, in nähere Beziehungen zu diesem hochgebildeten Mädchen zu treten. Er schrieb ihr im Oktober 1782 einen Brief und erhielt eine sehr freundliche Antwort. Dies war der Beginn einer Korrespondenz, die später in toto und imverändert am Ende der „Prevention nationale" veröffentlicht wurde, unter dem Titel „Suite du Qua- rante-cinquenaire". Er nennt Fräulein von Saint- L^ger dort „Minette" oder „Felisette".

Schon ein paar Tage nach dem ersten Briefe besuchte er sie und wurde von ihr gleich sehr zärt- lich empfangen. „Vidi Saint-L6ger quae me deosculata" heißt es im Tagebuch unter dem 10. Oktober 1782 (Inscripc. S. 63). Sie bereitete ihm dann eigenhändig Kaffee mit Rahm und schmei- chelte seiner literarischen Eitelkeit nicht wenig, in- dem sie ihn einen zweiten Jean Jacques Rous- seau nannte. Retif übergab ihr bei diesem Be- suche das erste Exemplar seiner eben erschienenen „Demi^re Aventure d'un homme de quarante-cinq ans". Diese „literarische Liaison" dauerte nur wenige Monate und beschränkte sich auf fünf bis sechs Be- suche und etwa 15 Briefe. Ein hartes, abfälliges Ur- teil der jungen Dame über den erwähnten Roman führte zum Bruche. So sagt R^tif. In Wahrheit hatte sie gerade in ihm nur den Schriftsteller,


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aber nicht den Menschen geliebt, was ihn sehr ver- letzte.

Übrigens spielte bei dieser Affäre auch der be- rühmte Astronom Lalande, ein Freund der Mlle. de St.-L^ger eine nach Retifs Ansicht perfide Rolle (Inscripc. 68, 87). Erst zehn Jahre später er- folgte durch Vermittlung der Mlle. de Saint-Leu eine Aussöhnung zwischen den beiden.

Jedenfalls ging R^tif die Trennung nicht be- sonders nahe, er gab sich nun mehr als je dem bloßen „amusement erotique" hin, er fühlte sich als „demi- vieillard", der besonderer Anreizungen in dieser Beziehung bedarf. Hierfür wurde ihm in dem Hause der beiden Schwestern Leblanc Gelegenheit ge- boten. Bei ihnen verkehrten viele verheirateten Frauen, die „heimlichen Nutzen aus ihren Reizen ziehen" wollten und junge Mädchen aus allen Stän- den. R6tif erwähnt besonders eine junge, reizende Schweizerin, Wilhelmine Würmser (M. N. XI^ 82). Vielleicht war das jene „formosa flava" seines Tagebuches (Inscripc. 95 — 96), an die er eine Zeitlang sehr unangenehm durch eine von ihr empfangene Krankheit erinnert wurde.

Während dieser Zeit sehen wir R^tif Tag für Tag an mehreren großen Werken arbeiten. Die Tagebücher in den Jahren 1782 bis 1785 geben inter- essante Aufschlüsse über die Abfassungszeit und die Art des Zustandekommens der kleinen Erzählungen und Sittenschilderungen, aus denen sich die „Con- temporaines" zusammensetzen. Nachdem er dann

1782 und 1783 das Drama „Prävention nationale" vollendet hat, beginnt er bereits am 14. November

1783 die Arbeit am „Monsieur Nicolas". An diesem


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denkwürdigen Tage schrieb er die ersten sieben Seiten dieses „wichtigsten, interessantesten" seiner Werke nieder, unterbrach aber bald die Arbeit, um ein schon 1777 begonnenes Buch „Les Veillees du Marais, ou Histoire du grand prince Oribeau" wieder aufzunehmen (i. März 1784). Sodann hatte er 1783 die kombinierte Ausgabe des „Paysan und der Pay- sanne i>ervertis" vollendet. Die erste Ausgabe der „Paysaime pervertie" allein war 1782 gleichzeitig mit der vierten Ausgabe des „Paysan" erschienen. Wegen der „Paysanne" und anderer Schriften hatte er übrigens sehr viele Schwierigkeiten mit der Zensur. Eine Frau strengte sogar einen Prozeß gegen ihn an, weil sie sich in einer Novelle der „Contemporaines" allzu deutlich geschildert glaubte (Inscripc. 71).


Achtes Kapitel.

Verkehr mit der literarischen und vornehmen

Welt. Die Revolutionszeit.

(Neunte Epoche, 1785 — 1797.) Die Autobiographie Rdtifs reicht nur bis zum Jahre 1797, und zwar werden die Jahre 1785 bis 1797, die neunte Lebensepoche nach Retifs Einteilung, nur noch in aller Kürze skizziert. Es ist keine fort- laufende Erzählung mehr, es ist ein summarischer Bericht über den wesentlichen Inhalt dieser Zeit. Nur für die Jahre 1785 bis 1787 liegt in den „In- scripcions" eine Art von freilich sehr dürftiger zu- sammenhängender Darstellung vor. Mit dem Jahre 1797 schheßt die Darstellung im „Monsieur Nicolas" ab. Der Verfasser ruft dem Leser ein „Lebewohl" zu. Über die neun letzten Lebensjahre erhalten wir nur noch fragmentarische Nachrichten, teils aus seinen letzten Schriften, teils aus Briefen, namentlich den wichtigen „Lettres in^dites", aus Zeitungsartikeln und den Berichten der Zeitgenossen.

I. Familienleiden.

Wilhelm Raabe sagt einmal (im „Abu Tel- fan"), daß ein Mann nicht bloß seine Frau heirate, sondern auch die Familie derselben als manchmal recht unangenehme Mitgift mit in die Ehe bekomme.


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R^tif hätte, wenn er diesen Ausspruch gekannt hätte, ihn gewiß auf Grund seiner Erfahrungen im Sinne einer ausgleichenden Gerechtigkeit dahin er- gänzt, daß nicht selten auch die Schwiegereltern an dem Gatten ihrer Tochter eine recht zweifelhafte Akquisition machen. Eine solche war auch Aug6, der Gatte seiner ältesten Tochter.

Für R ^ t i f gab es drei menschliche Wesen, deren bloßes Dasein ihm unerträglich war, die ihm Aus- geburten der Hölle, „Ungeheuer" waren. Als diese drei „monstres" nennt er seine Frau Agnes Le- b^gue, seinen Schwiegersohn Aug6 und — den Marquis de Sa de!

Auge war nicht bloß ein brutaler, roher, voll- kommen ungebildeter Patron, i) sondern auch ein durch und durch perverses Individuum. Und in dieser Hinsicht trifft die Vergleichung mit dem Mar- quis de S ade zu. Er mißhandelte seine Frau vom ersten Tage der Ehe an auf die brutalste Weise. In ihrer dem Gericht vorgelegten Klageschrift be- tont sie besonders den sadistischen Charakter dieser Mißhandlungen, die zu einem großen Teil vor, während oder nach dem geschlechtlichen Ver- kehr erfolgten. Aug^ schwelgte in solchen „brutales caresses", in Schändlichkeiten, die „eines Cara- calla, Nero, Commodus und Heliogabal wür- dig" waren (Inscr. 149), er begleitete dieselben mit den obszönsten Reden, „discours infames tenus d'elle et sur eile, ä ses amis, devant eile, d^tails obscenes


  • ) Cottin veröffentlicht einen von ihm aufgefundenen,

ohne jede Kenntnis der Orthographie geschriebenen Brief Auges an Agnes Retif, noch vor der Hochzeit. Vgl. In- scripcions S. 145.


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de ses parties les plus secrfetes, peinture grossi^re des 6bats du monstre s'assouvissant et cherchant des rafinements de volupte de la maniere la plus brutale, la plus contraire ä la nature" (ibidem S. 148). In der „Fertime infidMe" und in „Ing^nue Saxancour" hat R^tif sehr ausführlich die Einzelheiten dieser per- versen Akte geschildert, besonders das letzte Buch enthält die zynischsten Details über die sexuellen Beziehungen Auges zu seiner Frau. In Band III, S. 30 und 35 wird er folgendermaßen charakterisiert: „Er hat kein Vergnügen, wenn er nicht ein Opfer unter seiner Barbarei leiden sieht. Er mißhandelte seine Frauen oder seine Maitressen und empfand nur dann eine abscheuliche Wollust, wenn sein Opfer Schmerzen litt und Tränen vergoß."

Übrigens hatte dieser „geborene Verbrecher" schon vor seiner Verheiratung mit Agnes R6tif mehrere Morde und andere Schandtaten auf dem Ge- wissen gehabt. Er fand später ein verdientes Ende, indem er als gemeiner Mörder während der Revo- lution guillotiniert wurde.

Nach 5 jähriger Ehe sah sich Agnes R6tif endlich gezwungen, sich durch die Flucht den Miß- handlungen ihres brutalen Gatten zu entziehen. Etwas später, im gleichen Jahre 1785, trennte sich Agnes Leb^gue von R^tif für immer. So kam ganz von selbst ein natürliches Bündnis zwischen den beiden „monstres", Aug6 und der Gattin Retifs, zustande.

Agnes Leb^gue hatte, nachdem R6tif seine Wohnung in der rue de Bi^vre aufgegeben hatte, wieder mit ihm zusammengewohnt und war eine Zeit- lang ziemlich „traitable". Das wurde anders, als zwei Männer sich an sie heranmachten, denen R^tif


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die Namen „Scaturin" und „Naireson" gibt, die in Wirklichkeit aber Fontanes und Joubert hießen, zwei Männer von angesehener Stellung. Jou- bert ist der bekannte moralphilosophische Schrift- steller, Diese beiden Liebhaber von Agnes Leb^- gue quartierten sich förmlich im Hause R6tif s ein. Aber sie hatten, wie Retif stolz erklärt, wohl ihre Frau gefunden, aber nicht ihren Mann. Er leistete dem Verlangen seiner Frau, den Dichter Fontanes, der I200 Livres dafür versprach, in Pension zu nehmen, hartnäckigen Widerstand. Agnes Lebe- gue, ganz unter dem Einfluß ihrer Liebhaber stehend, drang auf Trennung und angemessene Ent- schädigung und verließ ihn endlich im November 1785 ganz.

Und nun wurde von ihr, Auge, Fontanes, Joubert, denen sich noch der Advokat Lamar- que^) anschloß, ein richtiger systematischer Feld- zug gegen den unglücklichen Retif organisiert, dessen Schilderung in den „Inscripcions" eines tragi- komischen Zuges nicht entbehrt.

Man überläuft die Gerichte, um einen Verhafts- befehl gegen Agnes R6tif und ihren Vater, der sie verborgen halte, zu erwirken. Man hetzt seine besten Freunde und vornehmsten Gönner gegen ihn auf. Man verbreitet überall, besonders aber unter den weiblichen Wesen der Nachbarschaft, daß er


^) Im „Intermediaire des chercheurs et des curieux", Jahrgang 1888 findet sich ein Brief der Agnes Lebegue an P e t i o n vom 30. September 1792, in dem sie sich bei der Bewerbung um eine Anstellung auf den damaligen Deputierten Lamarque beruft. Vgl. „Mes Inscripcions" ed. C o 1 1 1 n S. 110, Anraerk. 2.


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an einer bösen venerischen Krankheit leide. Geht er aus, so hört er deshalb von allen Seiten die Dienst- mädchen lachen und ihm spöttische Bemerkungen darüber nachrufen. Bei seinen Promenaden auf der Ile St.-Louis lauert ihm beständig der elende Aug6 auf und hetzt den Pöbel gegen ihn auf. Wo er sich zeigt, wird er schon mit lautem Hallo empfangen und grinst ihm das höhnische Gesicht des verhaßten „L'£chine", wie er seinen Schwiegersohn getauft hat, entgegen.

Einmal, als R6tif mit seiner Tochter Agnes und einigen anderen Frauen im „Jardin du roi" spazie- ren ging, trat Aug6 plötzlich auf sie zu und ohrfeigte seine frühere Gattin. Man Heß den die gemeinsten Beschimpfungen und Drohungen ausstoßenden Böse- wicht arretieren, und infolge dieses Skandals wurde denn auch endlich die Ehescheidung zwischen Aug6 und Agnes R6tif ausgesprochen. Die Ehe von Rötif und Agnes Leb^gue wurde aber erst im Jahre 1793 gerichtlich getrennt, und zwar auf Ver- langen der letzteren, welche Bitte R^tif für die „einzige Freude" erklärt, die ihm seine Frau in den dreißig Jahren ihres Zusammenlebens bereitet habe (M. N. XI, 189).

Während dieser Zeit der Verfolgungen durch Frau und Schwiegersohn hielten seine beiden Töchter fest zu ihm. Namentlich die jüngere, Marion, be- wies ihm immer die zärtlichste Liebe und ließ ihm in seinen verschiedenen Krankheiten die auf- opferndste Pflege angedeihen. Sie war sehr gebil- det und leistete dem Vater die Dienste eines Sekre- tärs. Sie philosophierte auch selbst imd schrieb ein- mal an den jüngeren Grimod de la Reynifere


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einen höchst gedankenreichen Brief von zehn eng beschriebenen FoUoseiten, dessen Lektüre ihn drei Stunden in Anspruch nahm 1

Marion heiratete später ihren Vetter Edmond R^tif, Landmann in Sacy, den Sohn von R6tifs Bruder Pierre (M. N. XI, 158). Sie starb um 1836. Ihre ältere Schwester Agnes ging nach der gericht- hchen Trennung ihrer Ehe mit Aug6 eine neue Ehe mit einem gewissen Louis Vignon ein, Ihr Sohn war Victor Vignon-R^tif de la Bretonne, der ebenfalls die schriftstellerische Laufbahn betrat und seine Schriften unter der Autorbezeichnung: „Der Enkel des R^tif de la Bretonne" herausgab. Zur Zeit, alsMonselet sein kleines Buch über R 6 1 i f verfaßte, waren sowohl Louis als auch Victor Vignon noch am Leben und konnten ihm wertvolle Aufschlüsse über das berühmte Haupt der Familie geben. Victor Vignon hatte von den Eigentüm- lichkeiten seines Großvaters die zwei bemerkens- wertesten geerbt : das einsiedlerische Wesen, die Allüren eines Sonderlings und die schriftstellerische Fruchtbarkeit. Monselet erfuhr von ihm, daß er außer seinen zahlreichen im Drucke erschienenen Schriften noch die Manuskripte von 150 verschiede- nen Werken liegen habe! Victor Vignon starb erst 1862. Seine Nachkonmien, Urenkel und Ururenkel Rdtifs, sind zum Teil noch heute am Leben.^)

^) Vgl. Monselet a. a, O. S. 95 — 103; ebendaselbst S. 190 — 192 das Verzeichnis der im Drucke erschienenen Schriften Victor V i g n o n s. Er ist besonders bekannt als Übersetzer der Dichtungen der Nonne Rosvitha von Gandersheim und als Verfasser der „Nouvelles Nuits de Paris" in Nachahmung der berühmten „Nuits de Paris" seines Großvaters. Vgl. auch C o 1 1 i n a. a. O. S. XXV.


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Übrigens hat auch ein Neffe R^tifs, Louis Retif de la Bretonne, sich als Schriftsteller ver- sucht (Verzeichnis seiner zwischen 1840 und 1850 erschienenen Werke bei Monselet S. 192 bis 193).

2. Das literarische Diner im 18. Jahrhundert.

Die Beziehungen Rdtifs zur höheren Gesell- schaft, die besonders in den 80er Jahren sehr rege waren, knüpfen sich wesentlich an eine bestimmte Form des geselligen Verkehrs: an das literarische Diner. In seiner höchsten Ausprägung gehört das- selbe mehr den beiden letzten Dezennien des 18. Jahr- hunderts an, während der „Salon" einer du Def- fand, Lespinasse u. a. einer früheren Epoche des Rokoko angehört.

So hat auch das literarische Diner seine eigene Geschichte, die von der des französischen Salons des 18. Jahrhunderts zu trennen ist. Einen Teil dieser Geschichte hat Rdtif selbst in einigen klassischen Schilderungen solcher Diners überliefert, auf die wir später noch zurückkommen. Uns erübrigt, hier ganz kurz die frühere Geschichte des literarischen Diners darzustellen.

Sein Ursprung ist ein doppelter, auf der einen Seite steht Mademoiselle Q u i n a u 1 1 mit ihrem „Diner du Bout-du-Banc", auf der andern haben besonders die großen Finanziers der Zeit neben dem lite- rarischen auch das gastronomische Interesse an sol- chen Diners gefördert. Der kulinarische C^enuß ver- band sich mit dem literarischen, man „genoß" den Geist wie Speise und Trank, und ein solches Diner als Ganzes betrax:htet war ein wahres Kunstwerk. Stolz erklärt daher der Verfasser eines seltenen


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Buches „Paris, le modele des nations dtrang^res ou l'Europe frangaise" (Paris 1777, S. 232): „Niemand wird bestreiten, daß ganz Europa den Franzosen die unschätzbare Ehre verdankt, nicht mehr die Ver- nunft im Wein zu ertränken, und daß es jetzt den Vorteil hat, mit Geschmack und Verständnis zu essen."

Frankreich ist die Heimat der veredelten Gastro- nomie, wie sie uns im 18. Jahrhundert in der Form des literarischen Diners entgegentritt.

Fräulein Quinault, die berühmte Schauspiele- rin, kann halbwegs auf die Ehre Anspruch erheben, die eigentliche Erfinderin und Schöpferin dieser geist- reichen Mahlzeiten (s. v. v.) zu sein. Als solcher hat Ihr Jacques Ballieu eine sehr interessante kleine Studie gewidmet, die die Geschichte dieses ersten literarischen Diners behandelt.^)

Gleich nachdem sie im Jahre 1741 die Theater- laufbahn verlassen hatte, beschloß Frl. Quinault, für ihre zahlreichen Verehrer, die sich namentlich aus der Schriftstellerwelt rekrutierten, ein regel- mäßiges Diner zu veranstalten, das alsbald als das „Diner du Bout-du-Banc" bezeichnet wurde. Die Gesellschaften bei der Quinault waren nämlich so beliebt, daß alle Welt sich zu ihnen drängte, und sollte man auch mit einem Platze „am Ende der Bank" (au bout du banc) sich begnügen müssen. Nach diesem Ausspruche nannte man diese berühm- ten Diners die „Diners du Bout-du-Banc". Jeder Gast war verpflichtet, irgendeines seiner literarischen Pro-


1) J. Ballieu, Un diner litt^raire au XVIII« si^le. Le Diner du Bout-du Banc, Paris 1887.

Dähren, Räif de U Bretonne. 15


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dukte zum besten zu geben, nach Ablauf des Jahres wurden alle diese Erzeugnisse einer heiteren Tisch- muse gesammelt und im Druck herausgegeben. Die bekanntesten dieser so zustande gekommenen Samm- lungen sind die ,,Etrennes de la Saint- Jean" (Paris 1742) und der „Recueil de ces Messieurs" (Amster- dam 1745). Es sind meist heitere oder erotische Er- zählungen, leichte Lieder, Sonette, Episteln. Die übrige Unterhaltung bei Tische war ebenso geist- reich, voll Witz und Zynismus, die „dekolletierten" Worte flogen nur so hin imd her imd die kühnsten Bemerkungen dieser Art, wenn sie nur witzig, gut erfunden waren, fanden den stärksten Beifall.

Das „Diner du Bout-du-Banc" trug in der ersten Zeit einen mehr literarischen, später einen mehr philo- sophischen Charakter. Die berühmten Habitues des- selben in der ersten literarischen Epoche waren Voltaire, Destouches, Marivaux, Moncrif, Cr^billon fils, Voisenon, Herr von Maure- pas, Herr von Caylus, Alexis Piron, Coll^, der Maler Boucher u. a.

Piron, dieser Klassiker der Erotik im 18. Jahr- hundert, nahm stets den Ehrenplatz rechts von der Gastgeberin ein. Wie horchten alle auf und blickten voll Bewunderung zu ihm hin, wenn er sich am Ende der Mahlzeit erhob, nachlässig die Hand auf den Stuhl der Mlle. Quinault stützend, in ungezwim- gener Haltung dastand, nachdachte, und wie dann plötzlich ein malitiöses Lächeln über sein kühnes, interessantes Antlitz ging, während die stark kurz- sichtigen Augen verständnisvoll zwinkerten. Das war der kritische Augenblick, in dem eines seiner be- rühmten Epigramme entstand, die er in heiterster


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Dessertstimmung für diese Gesellschaft zu Dutzen- den improvisierte und durch die er neben vielen an- deren geistreichen, pikant-sarkastischen Bemerkun- gen stets die Lacher auf seiner Seite hatte. Ihm konnte niemand widerstehen. Er entzückte alle Welt durch Geist, Witz und eine Schlagfertigkeit, die selbst derjenigen eines Voltaire überlegen war.

In der Tat war es ein offenes Geheimnis, daß Voltaire, anfangs ein häufiger Gast bei den Diners der Quinault, Pirons unbestrittene gesellschaft- liche Oberherrschaft nicht ertragen konnte und des- halb sich mehr und mehr von diesen Veranstaltungen zurückzog. Besonders hatte ihn die Tatsache ver- letzt, daß man sich bei diesen Diners ernstlich dar- über stritt, wer mehr Esprit besitze, Piron oder Voltaire. Das war mehr, als die „devote Bewun- derung Voltaires für sein liebes Ich" vertragen konnte, zumal da er bei den persönlichen Attacken des gefährlichen Nebenbuhlers stets den Kürzeren zog, und da die Quinault, die seit langer Zeit einen zärtlichen Liebesbund mit dem bösen Piron ge- schlossen hatte, nur zu deutlich ihre Parteinahme offenbarte.

Bald jedoch hatte Voltaire die Genugtuung, auch Piron einem andern weichen zu sehen. Der philosophische Schriftsteller Duclos gewann das Herz der schönen, flatterhaften Qui'nault, und mit ihm begann die philosophische Epoche des „Diner du Bout-du-Banc". Duclos zog Saint- Lambert und J. J. Rousseau heran, Rousseau bestimmte Diderot, und dieser wieder d'Alem- bert und Grimm, an dem Diner teilzunehmen,

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Viele andere folgten ihrem Beispiele. Die Literaten von ehedem traten ganz in den Hintergrund. Da- gegen erschienen nun auch geistreiche Frauen wie Madame d'Houdetot, die Komtesse de Roche- fort, Madame d'Epinay als Gäste. Da konnte man die interessantesten, lebhaftesten Diskussionen hören, bei denen hauptsächlich Rousseau in seiner pedantischen Weise, der dithyrambische Saint- Lambert und der durch Beredsamkeit und Kraft der Überzeugung alle mit sich fortreißende Diderot das große Wort führten. Duclos, der Zyniker und Lebensphilosoph zog gegen die sentimentale Lite- ratur los und bezeichnete als sein Lebensideal „ein gutes Buch, ein Stück Käse und irgendeine Frau" (un bon livre, un morceau de fromage, et une femme quelconque).

Man sprach über die verschiedenartigsten Gegen- stände, unter anderem hatte man einmal eine sehr lange Debatte über das Schamgefühl. Duclos be- hauptete, daß es wilde Völker gebe, bei denen die Frauen bis zur Pubertätszeit nackt gingen, ohne dar- über zu erröten. Das Schamgefühl sei nur eine Sache der Erziehung. Der Fürst Galitzin pflichtete dieser Meinung bei und erklärte sogar, daß es eine Zeit gegeben habe, in der alle Menschen, nicht bloß die wilden, nackt gegangen seien. „Ja, wahrhaftig, alle wild durcheinander, dick, fett, pausbäckig, unschul- dig und vergnügt." Madame d'Epinay erklärte im Gegenteil das Schamgefühl für angeboren. Duclos aber verfluchte denjenigen, der zuerst auf die Idee der Bekleidung gekommen sei und verbreitete sich in so deutlichen Worten über die Schönheiten der durch das Schamgefühl verborgenen Dinge und


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Handlungen, daß Mlle. Q uinault dem allzu Kühnen Schweigen gebieten mußte.

Während dieser Unterhaltung wird ein Brief Voltaires gebracht. Es sind neue Verse des ge- feierten Dichters darin. Man liest sie vor und alsbald beginnt eine neue lebhafte Debatte über ihren Wert. Duclos und die Q uinault beurteilen sie abfälHg, Madame d'Epinay, Galitzin und besonders Saint-Lambert verteidigen sie eifrig.

So ungefähr war dieses erste, berühmte lite- rarische Diner beschaffen. Die Traditionen desselben wurden von einem Manne aufrechterhalten, der auch in der Lebensgeschichte Rötifs eine große Rolle spielt, Grimod de la Reynifere, dem Sohne. Er ist, wie auch Ballieu am Schlüsse seiner Schrift aus- führt, der direkte Nachfolger der Mlle. Q ui- nault, von der er die ersten Anregungen für seine berühmten Mahlzeiten erhielt, um dann selbst die gastronomischen Entdeckungen, die man beson- ders in den Kreisen der großen Finanziers machte und verwertete, hinzuzufügen. In der Tat erhoben diese über immense Reichtümer verfügenden Finanz- männer, wie die Familien der Grimod de la Rey- ni^re, der Grimod de Beauregard, Grimod du Fort, wie La Popelini^re, de Monville, Beaujon, Samuel Bernard, der 150000 Livres jährlich dafür ausgab, und viele andere, durch pracht- volle äußere mise en scene, durch die mannigfaltigen kulinarischen Genüsse, die Zelebrität der Geladenen, die Vielseitigkeit der Unterhaltung und der lite- rarischen Darbietungen bei Tische diese Mahlzeiten zu wahrhaft glänzenden Schauspielen. Es ist hier nicht der Ort, näher auf diese lukullischen Gast-


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mahle der großen Finanziers des i8. Jahrhunderts einzugehen. AusführUche Mitteilungen darüber fin- det man in dem höchst wertvollen Werke von Thi- rion üher das Privatleben dieser Klasse der vor- nehmen Gesellschaft.^) Übrigens werden wir aus den Schilderungen R6tifs noch einige berühmte Diners dieser Art kennen lernen.


3. Die Beziehungen Rötifs zu dem jüngeren Grimod de la Reynifere.

Es war im Jahre 1782, kurz nach Beendigung der Liebesaffäre mit Sara Deb6e, als R6tif die Be- kanntschaft von Alexander Balthazar Laurent Grimod de la Reyni^re (1758 — 1838) dem Jün- geren machte, dem späteren Verfasser des berühm- ten „Almanach des gourmands" (Paris 1805 — 18 12, 8 Bände) und dem getreuen Erben der gastronomi- schen Neigungen seines Vaters, des bekannten Generalpächters unter Ludwig XV. R6tif rech- net diese Bekanntschaft zu den angenehmsten seines Lebens. „Ich wurde von ihm stets mit offenen Armen aufgenommen und verdanke ihm herrliche Augenblicke und Beziehungen."

R6tif und La Reyni^re trafen sich zuerst am 22. November 1782 im Laden der Witwe des Buchhändlers Duchesne; es war ein Tag, der in beider Gedächtnis fest haftete, denn R^tif, der, wie wir sahen, ihn fälschlich für seinen Geburtstag hielt, war 48 Jahre alt, und Grimod de la Rey-


^) H. Thirion, La vie priv6e des financiers au XVIIIe sifecle, Paris 1895. Vgl. namentlich S. 293 — 297.


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ni^re hatte gerade die Hälfte dieser Lebenszeit erreicht, er war 24 Jahre alt. Sie schlössen sich bald innig aneinander an, und diese Freundschaft dauerte, wenn sie auch zuweilen erkaltete, eigentlich bis zum Tode R^tifs.

Man wird sich fragen, wie es kam, daß La Reyni^re, dieser Typus der verfeinerten Eleganz in der Lebenshaltung und im äußeren Auftreten, sich zu einem Mann wie R^tif, der in jeder Beziehung Plebejer geblieben war, hingezogen fühlen und ihn sogar in seinen auserlesenen Bekanntenkreis ein- reihen konnte. Grimod war eben als Mensch über alle Vorurteile seines Standes erhaben, er begeisterte sich für alle neuen Ideen und originellen Erschei- nungen seiner Zeit und schätzte daher an R6tif be- sonders seine ursprüngliche Natur, die Naivität und das Selbstbewußtsein seines Auftretens. Vor allem aber war er ein leidenschaftlicher Bewunderer seiner Schriften. Er gefiel sich in einer förmlichen Idolatrie, und schon in seinen kurz nach ihrer Bekanntschaft veröffentlichten „R6flexions philosophiques sur le plaisir" (Paris 1783) nennt er Rdtif den „größten Schilderer des Jahrhunderts". Als die Journalisten Royou undGeoffroy inder„Ann6e litteraire"(i787 Nr. 16) R^tifs „Paysan-Paysanne f>ervertis" abfällig beurteilt hatten, schrieb ihm Grimod entrüstet: „Es sind Liliputaner, die dem Herkules den Krieg er- klären, der Bergriese braucht sich nur zu schütteln, um dieses Heer von jämmerlichen Knirpsen zu ver- nichten. Schütteln Sie sich, und es wird nicht weiter die Rede davon seinl" R^tif genoß natürlich dieses übertriebene Lob etwa so, wie sein Spender einen kuHnarischen Leckerbissen.


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Kurze Zeit nach Anknüpfung der Bekanntschaft mit R^tif veranstaltete Grimod de la Reyni^re als Totenfeier für die eben verstorbene Mlle. Qui- nault jenes berühmte Souper, das ungeheures Auf- sehen erregte und lange Zeit das Tagesgespräch in den vornehmen Kreisen und am königlichen Hofe bildete. Es fand am i. Februar 1783 üi dem an den Champs Elysdes, Ecke Place de la Concorde imd Rue Boissy d'Anglas gelegenen, noch heute als Klub- haus der „Union artistique" existierenden Hotel seines Vaters statt. 22 Gäste waren dazu eingeladen, unter ihnen zwei als Männer verkleidete Frauen. Es waren ausschließlich Schriftsteller und Advo- katen. Der jüngere Grimod übte selbst den Beruf eines Advokaten aus. Der Saal war schwarz deko- riert, von Tausenden von Kerzen feenhaft erleuch- tet. In der Mitte der Tafel befand sich ein schwarzer, mit Silber bestickter Katafalk. Die Küchenjungen erschienen in weißen Hemden, zwei Flötenspieler marschierten vor den aufgetragenen Gerichten, man trocknete sich die Hände in den — Haaren einer großen Zahl schöner Mädchen in römischer Tracht. Beim Dessert wurden 300 geladene Zuschauer in den Saal gelassen, die von einer Galerie aus das seltsame Schauspiel betrachten durften.

Nach mehreren Jahren ließ sich Grimod de la Reyniöre auf vielfaches Verlangen dazu be- wegen, eine Art von Wiederholung dieses Soupers zu veranstalten. Dieses zweite, noch glänzendere Abendessen, fand, wie aus R^tifs Tagebuch (Inscr. S. 177) hervorgeht — die Zeitangabe im „Monsieur Nicolas" (XI, 68) ist irrtümlich — am 9. März 1786 Statt, Dieses Mal gehörte R6tif zu den 28 Gästen^


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und er hat uns im „Monsieur Nicolas" und im 13. Bande der „Nuits de Paris" eine sehr interessante Schilderung dieser Nachahmung der „Coena Tri- malchionis" gegeben. Der Einladungsbrief Gri- mods ist ebenfalls im 19. Bande der „Contempo-. raines" abgedruckt. Vor allem wird dieses be- rühmte Souper durch ein bis auf die geringsten Einzelheiten getreues Bild in den „Nuits de Paris" (am Anfange des Bd. XIII, Paris 1789) veranschau- licht. Da sieht man die 28 Gäste an einer kreisrunden Tafel sitzen, R6tif allein mit Kopfbedeckung (seinem bekannten breitkrempigen Hute) — auch dies ist aus Briefen bezeugt — zwischen Mercier und einem der Brüder Trudaine, ferner erkennt man die Dich- ter de Fontanes und Marie Joseph Chenier. Es ist der Augenblick, in dem Grimod de la Rey- ni^re die Prozession der das erste Gericht ser- vierenden Lakaien um den Tisch in feierlicher Weise herumführt. Ein Herold mit einer Lanze schreitet ihm voran. Grimod ist in schwarzer Tracht, die rechte Hand ist in der Hosentasche, die linke unter der Weste verborgen. Angeblich sollte er mit verkrüp- pelten Händen geboren worden sein, die man später durch künstliche ersetzt hatte. Drei über der Tafel hängende prachtvolle Kronleuchter erhellen das Ge- mach, an den Wänden sieht man zahllose andere Lampions.

Doch hören wir Rdtifs genauere Schilderung, wobei wir diejenige im „Monsieur Nicolas" (XI, 68 bis 70) mit derjenigen in den „Nuits de Paris" (XIII, 2928 bis 2932) kombinieren :

„Wir kamen um 2 Uhr nachmittags an, und zunächst wurde das Dejeuner aufgetragen, allerlei Leckereien, die nur


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den Appetit nach einer substantielleren Nahrung erwecken sollten. Von S — 7 Uhr ließ man uns dann durch den Ita- liener C a t a n i o physikalische Experimente, alle die er- staunlichen Phänomene der Elektrizität, vorführen. Dann folgte bis 8 Uhr ein hervorragend ausgeführtes chinesisches Schattenspiel.

Um 8 Uhr trug man die Suppe auf. Denn es mußte ganz genau das erste Souper (von 1783) nachgeahmt werden, das zugleich auch ein Diner war, eine wahre „coena Trimal- chionis" des P e t r o n , nur daß das französische Gastmahl mit unendlich mehr Geschmack veranstaltet wurde als einst das römische.

Auf die Suppe folgten 28 verschiedene Gerichte. Alle wurden mit großem Zeremoniell hereingetragen unter Voran- tritt von zwei Flötenbläsern und einem Zeremonienmeister, der eine Lanze im Takte aufstieß. Junge bartlose Männer in einer Art von weißem Chorhemde schritten vor und neben der Schüssel. Zwei Mädchen von gleichem Wüchse nahmen die leeren Schüsseln wieder in Empfang. Es folgte der Vor- schneider — das war der Gastgeber selbst — dessen hohe Gestalt alle anderen überragte. So ging man dreimal um die Tafel herum. Beim dritten Male wurden die ungeheuren silbernen Schüsseln vom Zeremonienmeister auf die Tafel gesetzt. Der Saal wurde durch 365 Kerzen erleuchtet, ent- sprechend der Zahl der Jahrestage. Die Gäste wurden mit Wohlgerüchen besprengt, und die Haare von Mädchen dienten, wie bei den Römern dazu, um die fettig gewordenen Hände darin abzutrocknen. Die Speisen waren delikat und sehr mannigfaltig. Das Dessert war herrlich und zur Plün- derung bestimmt, die sich aber in sehr ruhiger Form vollzog.

Nach dem Souper umarmte der Gastgeber jeden Gast in herzlicher Weise. Die Unterhaltung wurde sehr lebhaft. Man sprach über literarische Gegenstände, und der Hausherr las einige Abschnitte aus seiner „Lorgnette philosophique" vor, die soeben erschienen war.

Um Mitternacht war das Ganze zu Ende. Ich bin weit davon entfernt, dieses Gastmahl als ein sehr deliziöses zu be- trachten. Es war nur etwas ganz Außerordentliches. Seitdem hatten wir andere, deren Reiz noch heute nachwirkt.


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Dieser intime Reiz, den R^tif hier bei dem großen Diner vermißte, haftete den Dejeuners an, zu denen der jüngere LaReyni^re seine Bekannten einlud. Da gab es nur Milchkaffee, Tee und Butter- brote mit Anchovis. Sie fingen um ii Uhr vormit- tags an und endigten um 4 Uhr mit einem Lenden- braten oder einer Hammelkeule von 15 bis 18 Pfund. Man trank beim Braten nur Apfelwein. Die Unter- haltung war ziemlich frei, jedoch nicht obszön. Jeder konnte mitbringen, wen er wollte, zwei, drei oder vier Personen. Da der Kaffee sehr schwach war, konnte man ohne Schaden viel davon trinken. Durchschnitt- lich trank jeder 22 Tassen ! Kaffee und Milch kamen — das erinnert an unsere Automatenrestaurants — heiß aus Röhren, die man durch Umdrehen eines Hahnes öffnete. Die Unterhaltung betraf alle mög- lichen Gegenstände. Man las auch Manuskripte vor, die Dichter rezitierten ihre Verse, die Dramatiker deklamierten ihre Stücke. Es war, wie R^tif sagt, ein „wahres Museum". Man lachte bis zu Tränen über Fardeaus Epigramme, die niemanden ver- letzten, und man hörte mit Entzücken die ersten Ge- sänge einer hübschen Dichtung von Pons de Verdun. Dabei knüpfte man eine Menge von angenehmen Bekanntschaften an (M. N. XI, 168—169).

An dem Souper vom 9. März 1786 nahm auch der Künstler Aze teil, der später R^tif einen Teil der Kupfer zu den „Parisiennes" lieferte. Dieser Aze, ein sehr vielseitiger Mann, dazu Vater von 20 Kindern, war die rechte Hand G r i m o d s in allen gesellschaftlichen Angelegenheiten. Dieser tat nichts, ohne ihn vorher zu befragen oder wenigstens ein


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dickes Manuskript in vier Quartbänden, betitelt : „Reglement de M. Aze" zu Rate zu ziehen, Aze empfing bei den Diners im Hause La Reynifere die Gäste am Eingange und machte in feierlich schwarzer Tracht für den Gastgeber die Honneurs, i)-

Grimod de la Reyni^re war vielleicht der einzige, der an R^tifs origineller Idee der Spazier- gänge auf der Insel Saint-Louis und den Stein- inschriften Gefallen fand. Er begleitete häufig seinen Freund auf diesen Wanderungen, bald waren ihm alle Vergnügungen von Paris nichts gegen diesen „philosophischen Aufenthalt", Auch machte er die Beobachtung, daß R6tif auf seiner geliebten Insel zehnmal so offen, vertrauensvoll und liebenswürdig sei als anderswo. Mit dem größten Interesse be- trachtete er die alten Inschriften von der Hand seines Freundes und feierte mit ihm die Gedenktage seines Lebens, denen sie bald diejenigen ihrer Freundschaft hinzufügten, (Vgl, Inscripc. S. 294.)

Leider führten unliebsame Angelegenheiten Gri- mods eine längere Trennung herbei, Grimod liebte leidenschaftlich seine Cousine, Fräulein Ang^lique de Bessy. Da die Familie gegen die Heirat war, hatte man sie mit einem gewissen Mitoire ver- heiratet. Die Folge war, daß Grimod, um seine „himmlische Cousine" zu vergessen, die tollsten Extravaganzen beging, sich eine Maitresse hielt und so seinen Verwandten den Wunsch eingab, ihn für einige Zeit aus Paris zu entfernen. Willkommenen


') Vgl. über Aze und sein famoses Reglement: Des noiresterres, Grimod de la Reyniere etc. S. 68 — ^2.


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Anlaß dazu bot ein von Grimod gegen den Mar- quis de la Salle veröffentlichtes Pamphlet. In- folge einer „lettre de cachet" wurde der Verfasser 1786 für längere Zeit nach Dom^vre in Lothringen in die Verbannung geschickt. Von hier aus unterhielt Gri- mod de la Reyni^re in den Jahren 1787 und 1788 einen sehr regen Briefwechsel mit R6tif, der im „Drame de la vie" (S. 1258 — 1344) und in der zweiten Ausgabe der „Contemporaines" (am Ende von Bd. 27 — 30) abgedruckt ist. Auch später, in den Jahren 1789 und 1790, wälirend einer Schweizer- reise Grimods wurde diese Korrespondenz fort- gesetzt. Freilich war die beginnende Revolution Ur- sache eines Erkaltens der innigen Freundschaft. Denn Retif wandelte sich unter dem Drucke der Verhältnisse zu einem radikalen Republikaner um, Grimod war zwar ein liberaler Anhänger weiser und gemäßigter Reformen, aber ein entschlossener Gegner der Demokratie. In einem Brief vom 15. August 1790 sprach er nach der Lektüre des 15. Bandes der „Nuits de Paris" R 6 1 i f seine schärf ste Mißbilligung über die darin sich findende Verherr- lichung der „ex^crable revolution" aus. Und bald war sein früher so vergöttertes Idol in seinen Augen nur noch ein Septembermann und Terrorist. So konnte R^tif bereits im 16. Bande der „Nuits de Paris" (S. 312) La Reyniöre für seinen Feind er- klären, und er spielte dem einstigen Freunde einen schlimmen Streich, indem er seinen Briefwechsel mit ihm veröffentlichte und dadurch eine Anklage Grimods bei dem Revolutionstribunal und seine Verurteilung zum Tode, freilich nur in contumaciam, herbeiführte. Nach der Revolution erfolgte aber eine


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Aussöhnung zwischen den Feinden, wenn auch die alte intime Freundschaft nicht wiederkehrte. i)

4. Freunde und Feinde.

Im XI. Bande des „Monsieur Nicolas", am Be- ginne der 9. Epoche, gibt R^tif de la Bretonne ein genaues Verzeichnis der Freunde und Feinde, die er um das Jahr 1785 hatte. Er zählt 26 Freunde und 15 Feinde auf. Es ist bezeichnend, daß die ersteren größtenteils der vornehmen Gesellschaft an- gehören, die letzteren sich aus Polizeibeamten, Druckern, Journalisten und Kritikern rekrutieren. Einige Namen, die wir noch erwähnen, kommen erst in der späteren Zeit hinzu, wie z. B. der Marquis de Sade, eines der drei „Ungeheuer" im Leben R6tifs.

Der Ende 1775 erschienene „Paysan perverti" hatte R6tif zuerst in der literarischen Welt bekannt gemacht. Aber erst nach dem Erscheinen der 42 Bände der „Contemporaines" in den Jahren 1780 bis 1783 wurde er, wie man zu sagen pflegt, „Mode" und vor allem der Held des Tages in der aristokrati- schen Gesellschaft. Alle Welt sprach von ihm, aber n-ir wenige konnten sich rühmen, ihn gesehen zu haben. Besonders die Frauen, als deren leidenschaft- lichen Bewunderer er in seinen Werken sich zeigte und die er in den „Contemporaines" so unvergleich- lich geschildert hatte, waren höchst begierig, dieses neue Phänomen der zeitgenössischen Literatur kennen zu lernen. Von allen Seiten ergingen Einladungen


') Vgl. noch zu diesem Abschnitt das wertvolle Werk von Gustave Desnoiresterres, Grimod de la Reyni^re et son groupe. Paris 1877.


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zu Diners und Soupers an R^tif. In Bd. 19 — 22 der „Contemporaines" (2. Ausgabe) hat er eine große Zahl der Einladungsbriefe von Mitgliedern der vor- nehmen Gesellschaft veröffentlicht. Die meisten wollten ihn natürlich nur als eine neue Sehenswürdig- keit ihren Gästen präsentieren. R6tif nahm nur einige wenige dieser Einladungen an.

So nahm er am 30. Januar 1785 an einem Abend- essen beim Herzog von G^vres, Generalgouver- neur von Ile de France teil. Die Gesellschaft war sehr zahlreich, außer dem Herzog und einer schönen deutschen Baronin vom diplomatischen Korps waren die Nichte des Schauspielers Pr^ville und eine schöne Sängerin von der Italienischen Oper, mehrere bekannte Ärzte, unter ihnen der bekannte Gui He- bert de Pr^val, femer der berühmte Goldoni, der Moli^re Italiens, und Robb6 de Beauveset (17 14 — 1794), der nicht weniger bekannte Verfasser erotischer Dichtimgen, anwesend, die er bei solchen Gelegenheiten vorzulesen pflegte. R6tif war für diesen Abend der Löwe der Gesellschaft. Er war, was selten vorkam, in ausgezeichneter Stimmung und überraschte und entzückte die Anwesenden durch seine geistreiche Unterhaltung, seine glücklichen Ein- fälle und Gedankenblitze. Später gestand ihm sein Freund Pr6val, daß er an diesem Abend „glänzen- der als Rivarol, dabei gediegener" gewesen sei. Als Robb 6 dann sein kühnes Gedicht „Origenisme", für dessen Nicht Veröffentlichung ihm der Herzog von Conti 20000 Livres zahlte, vorgelesen hatte, machte R6tif unter Ausdrücken seiner Bewunde- rung mit so feinem Verständnis auf einige Schön- heiten desselben aufmerksam, daß er selbst bei der


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Gesellschaft mehr Beifall als der Verfasser bekam. Besonders die Damen sagten ihm die angenehmsten, schmeichelhaftesten Dinge, wurden sogar zärtlich bis zur Bitte um ein Rendezvous. Als dann gar noch Pr6val einen der schönsten Briefe aus der „Pay- sanne pervertie" und R6tif eins seiner dramatischen Stücke vorlasen, da war alles begeistert. Sogar Gol- doni applaudierte. Welch glorreicher und glück- licher Abend! Welch eine Genugtuung, in solch erlesenem Kreise gefeiert, bewundert zu werden. (M. N. XI, 82 — 85; Mes Inscripcions S. 104 — 105.)

Noch glänzender verlief ein anderes zu R^tif s Ehren veranstaltetes Gastmahl, das sogenannte „Diner der Akademiker von Amiens" am 29. Januar 1787, eine kleine Mystifikation, die sich die Gast- geber, der Herzog von Mailly und der Graf von Gemonville erlaubten, indem sie sich für zwei Akademiker aus Amiens ausgaben, die nur zu dem Zwecke nach Paris gekommen seien, um den berühm- ten R^tif de la Bretonne zu sehen. Natürlich ließ da R6tif sich nicht zweimal bitten. Er traf bei den beiden „Akademikern" — das Diner fand im Hause des Grafen von Gemonville statt — noch andere Zelebritäten, den Abb6 de Fontenay, den Herausgeber der „Affiches de Province", die Schriftsteller Legrand d'Aussy, Baculard d'Ar- naud und den berühmten Mercier, den Verfasser des „Tableau de Paris". Die Speisen waren auser- lesen. Hier aß R6tif zum ersten Male Austern, femer gab es delikat zubereitete Rebhühner, Lerchen- pasteten und anderes feines Geflügel, als Getränke den besten Bordeaux und perlenden Champagner. „Mir kam der Gedanke," sagt Rötif, „daß der


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ehemalige kleine Hirt des „Vallon" an diesem Tage wirklich wie ein König behandelt wurde. Es fehl- ten ihm nur neun Sinne und — MarieFouard oder deren Äquivalent, die himmlische Letort oder die hübsche Simar."

Nach dem Diner stellte man die Fauteuils im Halbkreise vor dem Kamin auf und forderte R6tif auf, etwas zum besten zu geben. Er begann darauf sein System der Naturphilosophie („Physique") aus- einanderzusetzen. Man hörte ihm voll Spannung zu und spendete am Schluß begeisterten Beifall. Der Graf nannte ihn nur noch „excellent homme", und der Herzog umarmte ihn sogar zweimal. R^tif war auf diese „akademische" Anerkennung besonders stolz, bis er am andern Tage den wahren Sachverhalt erfuhr, zugleich mit der Nachricht, daß man ihn bald wiedersehen wolle und auch die Schwester Gemon- villes, die Prinzessin von Chalais, und ihre Freun- din, die Gräfin Argenson, den Wunsch ausge- sprochen hätten, ihn kennen zu lernen. Bei diesem zweiten Gastmahl war R^tif sehr lustig und auf- geräumt, besonders den Damen gegenüber, und er- zählte einige seiner interessanten Liebesabenteuer, später kam er dann wieder auf seine Naturphilosophie zu sprechen. Nach Tisch machte man einen gemein- schaftliöhen Spaziergang zum Palais Royal, wo man einige Originale in Augenschein nahm, u. a. einen ehemaligen Kammerdiener Ludwigs XV., der jetzt die Rolle emes „papa de toutes les filles du Jardin" spielte.

Später wurde R^tif noch einmal, im Februar 1793, beim Grafen Gemonville eingeladen, in Ge- sellschaft von MUe. de Saint-Brice, der früheren

Dührcn, R6tif de la Bretonne. 16


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Kammerfrau des kleinen Dauphin, des Dichters De- lille und des Astronomen La lande. Die Saint- B r i c e mußte alle Einzelheiten der Flucht des Königs schildern, an der sie teilgenommen hatte, und De- lille machte R^tif viele Komplimente über die Darstellung seines Erlebnisses mit Sara, mit dem Bemerken, daß er selbst genau dasselbe von einer Geliebten erfahren habe.

Noch einmal sollte R6tif das Opfer einer ähn- lichen Mystifikation werden, wie beim Grafen Ge- monville. Seit 1787 verkehrte er im Hause von Gabriel Senac de Meilhan, dem Intendanten von Valenciennes und bekannten Schriftsteller und wurde öfter von ihm zu Tisch geladen, bei welcher Gelegenheit er u. a. eine eifrige Leserin seiner Schrif- ten, die Marquise de Clermont-Tonnerre kennen lernte, die sich besonders für die Sara Deb^e interessierte. (Inscr. 224, M. N. XI, 151.) Im Novem- ber 1789, nach einer Sitzung der Nationalversamm- lung, fand wieder einmal ein großes Diner bei Senac de Meilhan statt. Außer R^tif waren anwesend: eine große Amazone von männlichen Allüren, die man ihm als eine Mlle. Denis, eine Tuchhändlerin aus Cambrai, vorstellte, eine andere mehr zurück- haltende Dame, ein kleiner, sehr elegant und sauber gekleideter Mann, der aussah wie Jean Jacques, ein hübscher Jüngling von 20 bis 25 Jahren, ein etwas lahmer Mann, einer mit einem sehr offenen, an- genehmen Gesicht und ein tauber Schauspieler, der lustige Geschichten erzählte. Es entspann sich eine lebhafte Unterhaltung, deren Mittelpunkt R 6 1 i f war, der besonders von der Amazone und dem Elegant mit der weißen Wäsche mit Beschlag belegt wurde


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und über Einzelheiten seines „Paysan perverti" Aus- kunft geben mußte.

Am nächsten Tage erhielt er folgen4en Brief des Herrn von Meilhan:

„Fräulein Denis, die „Tuchhändlerin", ist die Herzogin von Luynes, die andere Dame die Gräfin von Laval, der Herr, der Sie mit so viel Interesse über den „Paysan perverti" ausgeforscht hat, ist der Vicomte de Laval, der schöne Jüngling der Herzog von Montmorency, der etwas lahme und sar- kastische Mann der Bischof von Autun, Talleyrand (der später so berühmte Diplomat), der Elegant mit der weißen Wäsche der Abb^ Si^yesl Die Persön- lichkeit des Tauben haben Sie erraten. Diese ganze Gesellschaft kam nur Ihretwegen. Man hatte mich gebeten, Sie einzuladen."

Gleichzeitig mit diesem Briefe erhielt der Er- staunte sämtliche politischen Werke des Ahb6 Si6y^s, und die Herzogin von Luynes machte ihm sogar nach drei Wochen einen Besuch, den sie in der Folgezeit öfter wiederholte, zuletzt am 27. Juli 1793. (M. N. XI, 151— 154.)

Ein langjähriger, getreuer Freund und Gönner Rdtifs war Charles Gaspard, Vicomte de Toustain-Richebourg, Dichter und Geschicht- schreiber, der in seiner Eigenschaft als Zensor Re- tifs Bücher sehr wohlwollend beurteilte, während ein anderer Zensor, der Abb6 Terrasspn, vieles nicht durchgehen ließ. Bei Toustain-Riche- bourg war R6tif unzählige Male ein stets willkom- mener Gast, es waren mehr intime Diners, bei denen die beiden sich meist über ihre Schriften unter-

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hielten, wie z. B. aus einem Einladungsschreiben für den 30. Juli 1785 hervorgeht. (Inscripc. 117.)

Dieser Verkehr in den Häusern der Aristokratie und die ihm von so vielen vornehmen Männern be- wiesene Freundschaft brachte R 6 1 i f auch in mannig- faltige Beziehungen zu den literarischen Celebritäten der Zeit. Mit einigen derselben verband ihn bald innige Freundschaft, auch sie luden ihn häufig zu Tische und leisteten ihm in literarischer und gesell- schaftlicher Beziehung große Dienste.

Einer seiner ältesten Freunde war der Zensor Pidansat de Mairobert, der berühmte Ver- fasser der vier ersten Bände des „Espion anglais". Er hatte die Bekanntschaft R6tifs bei der dritten Aus- gabe des „Pied de Fanchette" gemacht, ließ alle seine weiteren Schriften ohne Schwierigkeit passie- ren und war ihm in jeder Weise behilflich, auch mit Geldunterstützungen. Er endete schon 1779 durch Selbstmord und wurde von R6tif aufrichtig be- trauert. (M. N. X, 240; XI, 64; Inscr. 180,)

Von einem noch früheren Bekannten, dem be- rüchtigten Scharlatan, Dr. Guillebert de Prdval, wird weiter unten die Rede sein.

Als aufrichtige, treue Freunde bewährten sich R ^ t i f zwei höchst angesehene Schriftsteller : Beaumarchais und Mercier. Den ersteren be- zeichnet R^tif selbst als den „berühmtesten Mann", den er jemals kennen gelernt habe. Schon im Jahre 1778 schlug ihm Beaumarchais vor, in seiner Druckerei in Kehl Faktor zu werden, dort sollte gerade die schöne Ausgabe des Voltaire gedruckt werden. R6tif konnte das Anerbieten nicht an-


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nehmen. Seitdem hatte er stets einige Beziehungen mit dem berühmten Manne gehabt. Beaumar- chais leistete ihm z. B. im Jahre 1780 in einem gegen ihn wegen einer allzu realistischen Darstel- lung einer noch lebenden Person angestrengten Pro- zesse gute Dienste und schrieb ihm, daß seine Tür ihm jederzeit offenstehe. In den Jahren 1785 und 1786 dinierte R6tif oft im Hause des Beaumar- chais, worüber er in seinem Tagebuöhe öfter be- richtet (z. B. Inspripc. S. 118, 188—189, 191). Rötif berichtet uns im „Monsieur Nicolas" (XI, 164) von einem eigenartigen Tischgespräch während eines solchen Diners bei Beaumarchais. Eine Dame erzählte die Geschichte vom Furor eroticus eines — Affen. Sie war die Heldin dieser Geschichte. „Aussi eile mettait de l'action dans le röcit". Man dis- kutierte dann sehr lange über diese Tatsache der geschlechtlichen Neigung eines Affen zu einem menschlichen Weibe. — Bei diesen Zusammen- künften machte R6tif auch die Bekanntschaft von Madame de Villers, der Geliebten des Beau- marchais und von dessen reizendem Töchterchen Eugenie, die er ganz besonders in sein Herz schloß. Die freundschaftlichen Beziehungen R6tifs zu Beaumarchais wurden durch des letzteren Ver- bannung auf drei Jahre unterbrochen, aber nach seiner Rückkehr in der alten Weise wieder auf- genommen. In einem Briefe vom 7. Frimaire des Jahres 5 (1797) an R^tif klagt Beaumarchais über den Verlust seines Vermögens, der es ihm jetzt unmöglich mache, seinen Freunden aus der Not zu helfen. Der interessante Brief ist im M. N. (XI, 65) abgedruckt. Auch im fünften Teile des „Drame de


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la Vie" firtddn sich noch einige weitere Mitteilungen über die Beziehungen zwischen R6tif und Beau- marchais.

Einer der eifrigsten und begeistertsten Bewun- derer von R^tif war Sebastian Mercier, der bekannte Verfasser des „Tableau de Paris", in dem er sich auch sehr beifällig über Retif s „Paysan per- verti" ausgesprochen hatte, was R6tif ihm mit einem enthusiastischen Lob des ersteren Werkes in seinen ,>Nuits de Paris" vergalt (S. 2900 ff.). Jenes beifällige Urteil über den „Paysan" erfreute R6tif um so mehr, als Mercier damals den Verfasser noch nicht persönlich kannte. Er schrieb ihm im August 1782 einen Dankbrief, den Mercier unter dem 31. dieses Monats beantwortete, mit der Ver- sicherung, daß R6tifs Name hauptsächlich in der Schweiz bereits den allerbesten Klang als eines der großen zeitgenössischen Schriftsteller habe. Zugleich forderte er ihn auf, ihn auf seinem Landsitze zu be- suchen. Diesen ersten Besuch zählt Retif zu den glücklichsten Ereignissen seines Lebens ... Es war eine „himmlische Reise, ein reizendes Landhaus in- mitten blühender Gärten, in der Ferne die wogen- den Felder, die angenehmste Gesellschaft", und bei Mercier eine zweite „sanfte, naive, unschuldige, aber später ebenso treulose Sara" (M. N. XI, 168).

Hieraus entwickelte sich dann ein lebhafter Ver- kehr und Briefwechsel zwischen R6tif und Mer- cier. Mercier ist wohl derjenige, der am lau- testen, nachdrücklichsten und erfolgreichsten den Ruhm s6irtes neuen Freundes verkündet hat, in Zeit- schriften, z. B. im „Journal de Neufchätel", in Briefen,


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in der Gesellschaft, gegenüber der Pariser Akademie usw. Auch war er allezeit gütig gegen seinen anspruchs- vollen Freund, er schenkte ihm sehr häufig Theater- billetts (Inscripc. 192 — 193), lud ihn oft zu Tische (ibidem S. 213 — 214, 264) und ließ es an nichts fehlen, um dem „großen Maler der nationalen Sitten", dem ideenreichen Schriftsteller seine Bewunderung und Freundschaft auszudrücken. Im Jahre 1796 machte er sogar den schon damals genau wie heute aus- sichtslosen Versuch, einem Schriftsteller von der Art R^tifs, also einem „Naturalisten" vom reinsten Wasser Aufnahme in die französische Akademie zu verschaffen. R6tif erhielt nur eine Stimme, die Merciers! Der Undankbare ließ letzteren seine Niederlage entgelten und zog sich schmollend von ihm zurück. Ja, er veröffentlichte sogar im „Journal de Paris" bittere, hämische Angriffe gegen seinen einstigen Freund und Wohltäter. Cubieres-Palm6- zeaux hat in seiner Biographie R6tifs diese un- angenehme Episode geschildert (bei Lacroix a. a. O. S. 60 — 62). Er war es auch, der nach einigen Jahren, als sie alle drei sich bei einem Spaziergange zufällig trafen, eine Versöhnung zwischen ihnen her- beiführte.i)

Im Jahre 1788 machte R^tif die Bekanntschaft des Bürgers Arthaud aus Lyon, eines sehr unter- richteten und philosophisch gebildeten Mannes. Sie dinierten im Anfange der Revolution öfter zusammen


^) Vgl. die ausführliche Schilderung der Beziehungen zwischen M e r c i e r und R e t i f in dem neuen Buche von Leon Beclard, Sebastien Mercier. Sa vie, son oeuvre, son temps. D'apres des documents inedits. Paris 1903, Bd. I, S. 724—742.


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in einem Restaurant des Tuileriengartens, mit Mer- cier und einigen anderen Bekannten, Ein Jahr später hatte dieser Arthaud auch eine „Sara" und schrieb Rötif darüber. Er hielt diese Geliebte für eine Nachkommin der Stuarts. Später, 1792, unterstützte er den in Not geratenen R6tif sehr freigebig (M. N. XI, 165—166).

Noch eine ganze Schar von „R6tif-Enthusiasten" ließe sich hier anführen, wir begnügen uns mit der Aufzählung der markantesten Persönlichkeiten. Da ist zuerst der unermüdlich für ihn tätige Marl in aus Dijon, der in R6tif s Schriften unter dem Pseudo- nym „Mi Iran" oder „Milpourmil" figuriert, Ro- manschriftsteller und Historiker. R6tif brachte es fertig, eine Zeitlang selbst diesen geradezu fanati- schen Bewunderer sich zu entfremden, indem er nach dem He in eschen Worte: „Und wenn du meine Verse nicht lobst, laß' ich mich von dir schei- den", nach einer kritischen Bemerkung Marlins über einige Novellen aus den „Contemporaines" und über die „Femme infidele" die Beziehungen zu ihm kurzerhand abbrach. Der treue Marl in fuhr trotz- dem fort, dem großen Naturalisten R^tif und dem ersten Apostel der Arbeit, wie er sich ausdrückt, seine Bewunderung zu bezeugen, und machte wieder- holte Versuche einer Aussöhnung, die dann schließ- lich auch von Erfolg begleitet waren.

Unter den übrigen „Restifomanen" verdienen eine Erwähnung: Griset oder Grisel aus Rouen, der R^tif nach der Lektüre des „Paysan perverti" um Übersendung seines Bildnisses bat und seine „tiefste Verehrung für den wahren Philosophen der Menschheit ausdrückte" (Inscr. 134), der Advokat


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Marandon aus Bordeaux, der Verfasser des folgen- den, seine übertriebene Bewunderung bezeichnend zum Ausdruck bringenden Vierzeilers unter dem be- kannten von Binet gezeichneten, von Berthet ge- stochenen, zuerst im „Drame de la vie" veröffent- lichten Porträt R ^ t i f s :

Son esprit libre et fier, sans guide, sans modele, Meme alors qu'il s'egare etonne ses rivaux; Amant de la nature, il lui dut ses pinceaux, Et fut simple, inegal et sublime comme eile,

femer ein anderer Advokat, der Genfer Mallet, der R^tif mit Rousseau vergHch, Dr. Monet, der Arzt des Grafen von Artois, für den Retif der „große Mensch" schlechthin war (Inscr, 8, i6i), Du- tartre de la Bourdonne, auf den wederRichard- sons „Pamela" und „Clarissa", noch Rousseaus „Neue Heloise", sondern einzig und allein R^tifs „Paysan" Eindruck machten, und der R^tif mit seiner herrlichen Gemäldesammlung bekannt machte, \md als ein moderner Pygmalion ihm auch allmäh- lich zum Leben erwachende Gälatheen vorführte (M. N. 175 — 178), endlich der General Beiair, mit dem R^tif seit 1793 näher bekannt wurde und bei dem er die letzten schönen Diners mitmachte.

Gleich Schopenhauer unterhielt auch R6tif mit allen diesen Anhängern und Verehrern einen Briefwechsel, den er zum Teil selbst in verschiedenen Schriften, namentlich in den „Contemporaines", als- bald veröffentlichte.

Von großem Interesse sind R e t i f s Beziehungen zu vornehmen Frauen der Aristokratie und der litera- rischen Welt. Er ist ja im allgemeinen in seinen Schriften auf die „femmes savantes" nicht besonders


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gut zu sprechen. Einmal meint er sogar, daß die ganze Weisheit einer Frau nicht so viel wert sei wie die Narrheit eines Mannes. Im Leben aber ließ er sich von diesen Damen sehr gern den Hof machen und betrachtete diese literarischen Liaisons rein plato- nischer Natur als eine angenehme Zugabe zu seinen zahlreichen Liebesabenteuern, bei denen das Geistige Nebensache war.

Eine seiner frühesten literarischen Freundinnen war die Präsidentin d'Ormoy, ein Blaustrumpf im schlinmisten Sinne des Wortes, seitdem sie als „Laurilla" Mitglied der „arkadischen Akademie" in Rom geworden war. Rousseau teilt im zweiten Kapitel seiner „Reveries d'un promeneur solitaire" allerlei kuriose Details über diese von der literari- schen Tarantel gestochene Dame mit. Ihr Salon stand allen Schriftstellern offen. Retif fand erst Zutritt, als er selbst berühmt geworden war. Vorher hatte er aber schon die Korrektur ihrer Romane lesen dürfen. Ihre Tochter, die ebenfalls zweifelhaften literarischen Neigungen huldigte und den Dichter M^rardde Saint-Just geheiratet hatte, verbannte nach dem im Jahre 1791 erfolgten Tode der Mutter den schlecht gekleideten und als allzu krassen Natura- listen übel verrufenen R^tif aus ihren Salons. (La- croix a. a. O. S. 24 — 25.)

Der Beziehungen Rdtifs zu Mlle. de Saint- Löger ist schon oben gedacht worden; zeitlich früher wohl noch sind diejenigen zur Baronin von Montanclos, der Verfasserin von Gedichten und Theaterstücken, zu deren glänzendem Salon auch R^tif Zutritt fand. Cubiferes erzählt, daß auf R^tifs dringende Bitten Mercier ihn einmal so-


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gar zu der berühmten Madame de Stael mitnahm, und daß R6tif über diesen Besuch mit „Bewunde- rung, Liebe und Enthusiasmus" sprach (Cubiöres bei Lacroix, S. 26 — 27). Er mußte in diesen Salons aus seinen Büchern vorlesen, und die Damen der Aristokratie gehörten bald zu seinen eifrigen Leserin- nen. So schrieb ihm die Gräfin Rivarol nach der Lektüre der „Paysanne pervertie" einen überaus schmeichelhaften Brief (Inscr. 133).

In den „Nuits de Paris" spielen besonders zwei Frauen eine große Rolle, die eine ist die Marquise de Montalembert, die andere Madame Chätel.

Die Bekanntschaft der Marquise Marie de Montalembert machte Retif laut Notiz in seinem Tagebuche am 30, April 1784 bei einem Souper bei Le Pelletier de Morfontaine (Inscr. 86). Er sah sie überhaupt nur dieses einzige Mal, wo sie ihm so viele Liebenswürdigkeiten erwies, daß er sich in sie verliebte. Sie beschäftigte unaufhörlich seine Gedanken, und alle diese von ihr ausgehenden „Suggestionen" sind in den „Nuits de Paris" als wirk- liche Erlebnisse dargestellt (M. N. XI, 81). Sie wurde als Marquise de M*** seine „Muse", die Heldin der „Nuits de Paris". In der „Ann^e des dames natio- nales" (Bd. V, S. 13 12) hat er ihre anziehende Per- sönlichkeit sehr begeistert geschildert.

Eine andere „ungenannte Heldin" der „Nuits de Paris" ist Madame Chätel, eine jansenistische Retterin gefallener Mädchen, die sich auch für R6- tifs ähnliche Bestrebungen lebhaft interessierte (M. N. XI, 158—160).


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Wir haben die mannigfaltigen Gründe kennen gelernt, aus denen sich Angehörige der höheren Ge- sellschaft, Schriftsteller und Aristokraten, zu einer so originellen Persönlichkeit wie der R6tifs hin- gezogen fühlten und ihm dauernde Freundschaft entgegenbrachten. Der ursprüngliche Charakter, der kühne Realist besaß in der Tat für manche, selbst feiner organisierte Naturen, etwas Anziehendes, Interessantes. Auf der andern Seite aber war die Art von R6tifs schriftstellerischer Tätigkeit ganz danach angetan, ihm eine Menge von persönlichen Feinden zu schaffen, die ihm zeitweilig das Leben arg verbitterten.

Wohl kein Schriftsteller hat so rücksichtslos wie Rötif seine Feder zu Enthüllungen wirklich ge- schehener intimer Vorgänge im Leben seiner Mit- menschen benutzt. Was er sah und hörte, was um ihn geschah, schrieb er sofort nieder und — ver- öffentlichte es! Namentlich in den „Contempo- raines" findet man hierfür die krassesten Beispiele. Er schildert z, B. die intimsten häuslichen Verhält- nisse in den Straßen La Harpe und Saint-Jacques, berichtet genaue Einzelheiten über die Untreue eines Gatten, die geheimen Liebschaften der Frau, die erotischen Begierden der Tochter, druckt wört- lich galante Briefe ab, die ihm in die Hände ge- fallen sind, ohne eine Erlaubnis dazu eingeholt zu haben. Wenn er auch die Personen unter anderem Namen einführt, so waren sie oft so deutlich ge- schildert, daß die ganze Nachbarschaft sie erkennen konnte. Ja, bisweilen ging R^tif so weit, die Namen von Frauen, deren Reize er sehr offenherzig schil- dert, ruhig stehen zu lassen 1 Cubiferes berichtet.


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daß Streitigkeiten, Prozesse und Ehescheidungen eine regelmäßige Folge dieser dreisten Enthüllungen waren (Lacroix S. 59). Da ferner R^tif auch das Publikum zur Mitarbeit an seinen Schriften auf- forderte und von ihm geeignete „Stoffe" und Er- lebnisse zur literarischen Verwertung erbat, so kann man sich denken, welche neue ergiebige Quelle von Unzuträglichkeiten durch reichlich dargebotenen Klatsch und Verleumdung hier eröffnet wurde. Kein Wunder, daß der rücksichtslose Naturalist, der die Wahrheitsliebe bis zum Fanatismus übertrieb, mit dem jedesmaligen Erscheinen eines neuen Bandes die Zahl seiner Feinde vermehrte. Nach seiner eigenen Erklärung hatten ihm zeitweilig mehr als 200 Personen den Tod geschworen (Lacroix 58). So begegnete er im Jahre 1781 bei seinem Freunde Bultel-Dumont einem Herrn de Beauregard, der sich in einer Novelle der „Contemporaines" all- zu drastisch geschildert glaubte und nur mit Mühe von den Anwesenden daran verhindert wurde, sich tätlich an Retif zu vergreifen.

Unter dieser großen Zahl der persönlichen Feinde R^tifs befinden sich auch zwei bekanntere Namen: Nougaret und der Marquis de Sade.

Nougaret, der einstige Freund, hatte sich später, wohl hauptsächlich aus literarischem Neide, in einen erbitterten Gegner R^tifs umgewandelt, der öffentlich gegen ihn schrieb und noch mehr heim- lich alle Welt gegen ihn aufhetzte. Retif richtete schließlich im November 1786 einen offenen Ab- sagebrief an ihn (Inscr. 258 — 260). Einmal trafen sie sich in Gegenwart des Schauspielers Favart bei einem Buchhändler, wo Nougaret von beiden


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Männern mit offenkundiger Verachtung behandelt wurde (Inscr. 259 — 260). Außerdem rächte R6tif sich noch auf andere Weise an Nougaret, indem er ihn als „N^gret" im „Paysan" und als „K6- gret" in den Contemporaines gebührend charakteri- sierte (M. N.XI,72). Und für den 14. Band der„Nuits de Paris" trug er sich gar mit dem Plane einer heftigen Satire gegen Nougaret, den er unter dem Namen „Nihil" anklagt, gegen seine eigene 16jährige Tochter sich vergangen zu haben (La- croix 260).

Zu den persönlichen Feinden Retifs scheint allem Anschein nach auch der Marquis de Sade gehört zu haben. Dies läßt sich schon aus der Be- zeichnung „monstre" schließen, mit der R^tif, wie wir sahen, die drei Individuen belegte, die ihm per- sönlich am meisten zu nahe getreten waren. Mit Recht vermutet Lacroix, der den Beziehungen zwischen dem „divin marquis" und R6tif eine be- sondere Aufmerksamkeit gewidmet hat (vgl. seine Bibliographie S. 416 — 424), daß die Äußerungen eines leidenschaftlichen Hasses gegen de Sade un- möglich auf bloße literarische Antipathien zurück- geführt werden können. Wenn auch R^tif öfter seinen Abscheu vor den spezifisch „sadistischen" Ele- menten in der Schriftstellerei des berüchtigten Ver- fassers der „Justine" ausspricht, so erklärt dies nicht die persönliche Gehässigkeit, mit der er überall de Sade verfolgte. Welche spezielle Ursache die- selbe hatte, ist nicht bekannt. Lacroix meint, daß R6tif beim Sammeln des Materials für seinen „Porno- graphe" in irgendeinem Bordelle mit dem Marquis de Sade, der damals, Ende der 60 er Jahre, die


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Pariser „mauvais lieux" unsicher machte, ein Ren- kontre gehabt habe. Wahrscheinlicher ist, daß die persönlichen Beziehungen zwischen beiden erst in der Revolutionszeit begannen, wo der aus dem Ge- fängnisse befreite Marquis wieder anfing, eine ge- wisse Rolle in der Gesellschaft zu spielen. Damals muß es dann wohl zu einem Bruche gekommen sein, der die heftige Feindschaft zur Folge hatte, der wir außer verschiedenen Schilderungen der Monstrosi- täten de Sades (hauptsächlich in den „Nuits de Paris") auch die „Anti-Justine" verdanken, das be- rüchtigte „Gegengift" gegen die „Justine".

Daß es vor diesem Bruche eine Zeit gab, in der R6tif mit de Sade auf ziemlich intimem Fuße stand, beweisen seine in meinen „Neuen Forschun- gen über den Marquis de Sade" (Berlin 1904, S. 384 ff.) mitgeteilten Äußerungen über die berüch- tigte „Theorie du Libertinage" des Marquis de Sade, die dieser R6tif im Manuskript zu lesen gab. Der Haupttitel dieses Bordellromans wurde später etwas verändert und lautete „L'dcole du liberti- nage". (Vgl. auch M. N. XI, 207—208).

Endlich ist noch einer besonderen Klasse von Feinden R^tifs zu gedenken, der literarischen Kri- tiker, die bereits damals genau so in den großen Journalen die öffentliche Meinung zu beeinflussen verstanden wie heutzutage. Besonders schmerzlich war es R^tif, daß der berühmte La Harpe, das Haupt der zeitgenössischen Kritik, R^tifs schrift- stellerische Leistungen sehr abfällig beurteilte und in der ersten Nummer des „Mercure de France" von 1777 den „Paysan" und die „£cole des P^res" böse mitnahm. Hierfür läßt ihm R^tif im „Mon-


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sieur Nicolas" (XI, 79 — 80) eine scharfe Abfertigung zuteil werden.

Ein anderer scharfer Kritiker von Ruf war Fr^ron. Er gab in seiner Zeitschrift „L*ann6e lit- töraire" Analysen von mehreren Schriften R6tifs, wie dem „Paysan", der „Prävention nationale" usw., die alle mit einem sehr ungünstigen Urteile über den Wert derselben schlössen (vgl. Inscripc. loi, 132, 295). Die Anhänger Fr^rons, die „Freronistes", bliesen in dasselbe Hörn, zu ihnen gehörten Royoux, Geoffroy, Terrin u. a. (M. N. XI, 78), und R 6t if seinerseits füllt in den „Contemporaines" ganze Seiten mit den Polemiken gegen diese „sous-feuil- listes", diese „feilen Automaten" und „literarischen Insekten".

5. Letzte Liebe. Es scheint, als ob R^tif in dieser leidenschaft- lichen Anteilnahme an den literarischen Kämpfen seiner Zeit einen Ersatz gesucht habe für den durch das Erlebnis mit Sara verloren gegangenen Glauben an die Liebe. Als daher noch einmal, im Jahre 1786, eine anziehende Frauengestalt ihm für kurze Zeit nahe trat und ihm das Glück einer letzten Herzens- neigung verhieß, da war er von vornherein skep- tisch. Die Leidenschaft triumphierte nicht wieder über den Verstand. Sie war deshalb nicht minder heftig. Diejenige, der er dieses „letzte große Abenteuer" verdankte, hieß Fölicit^ Mesnager und war die Schwester eines höheren Beamten. Im „Monsieur Nicolas" nennt R^tif sie „Fölicitette Prodi- guer". Er machte ihre Bekanntschaft im Hause des Chevaliers de Saint-Mars („Saint-Sarm" im


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M. N.), wo er seit Anfang 1786 ein gern gesehener Gast war. Retif , der in Begleitung seiner beiden Töchter erschienen war, war überrascht von der Anmut und Liebenswürdigkeit der jungen Dame. Sie scherzte mit den beiden anderen Mädchen und dem ChevaUer, einem schönen alten Manne: Anakreon, der mit den Grazien spielte! Nach Tisch plauderte Retif mit Felicitette, die ihre beiden reizenden Füß- chen vor dem Kamine wärmte. Sie sagten sich gegen- seitig die größten Schmeicheleien. Und dieses „Gift der Schmeichelei machte Felicitette koketter, Re- tif zuversichtlicher". Er spielte den Schwerenöter und glaubte einen Augenblick wirklich, daß er noch imstande sei, einem Mädchen wahre Liebe einzu- flößen. Freilich war Felicitette eine Schöne von bereits 35 Jahren, aber sie war durch ihre Eleganz, ihr modisch kokettes Wesen eine Frau, wie Retif sie noch nicht unter der großen Zahl seiner Ge- liebten gehabt hatte. Er fühlte sich „wie ein Tithon gegenüber einer neuen Aurora" und träumte sich in die schönsten Zeiten seines Lebens zurück. Bald entwickelte sich ein recht lebhafter Verkehr zwischen den beiden. Sie trafen sich beim Chevalier de Saint - Mars, sehr häufig auch bei R6tifs Busenfreunde, dem Dr. Preval, wo man oft die lustigsten und merkwürdigsten Debatten hatte; einmal z. B., als auch der berühmte Rivarol anwesend war, wurde über die sexuelle Kraft der beiden Geschlechter ge- sprochen. Der Doktor versicherte, daß diejenige der Frau sich zu der des Mannes verhalte wie 14:1! Außerdem bejahte Preval Retifs Frage, ob man durch Liebe ein Brustleiden heilen könne, an dem er zu leiden glaubte. Und am folgenden Tage bewies

Dühren, Retif de la Bretonne. 17


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ihm Felicitette ihre „Sorge für sein Glück und seine Gesundheit", indem sie sich ihm bei seinem Besuche zuerst in einem sehr starken NegHg^ zeigte und ihm sehr deuthch ihre BereitwilHgkeit zu er- kennen gab, seine Gesundheit bis zur „UnsterbHch- keit" wiederherzustellen. Der Mai 1786 war dann wirklich ein „Wonnemonat" für den glücklichen Retif. Sehr amüsant ist das ausführliche Verzeich- nis der einzelnen Fortschritte im Liebesglücke, die Retif in seinem Tagebuche sehr gewissenhaft an- gibt. So heißt es unter dem /.Mai: „MUe. Mesnager charmante ; caus^ le soir; baiser sur la bouche deux fois" (Inscr. 198), und die Zärtlichkeiten werden dann im Laufe der nächsten Wochen immer kühner (vgl. besonders die drastische Notiz unter dem 21. Mai, Inscr. S. 202), in Nachahmung ähnlicher Schilderungen des Martial (Inscr. 203 — 204). Diese „soirees d^licieuses", die Felicitette ihm Abend für Abend gewährte, waren aber leider, wie sich bald herausstellte, keine Geschenke der Liebe, son- dern wohlberechnete Mittel, um den schriftgewandten R6tif zur Abfassung einer Denkschrift für ihren in einen Prozeß mit den Generalpächtern verwickel- ten Bruder und zur Verwendung für denselben bei seinen einflußreichen Freunden zu bestimmen. Dazu kam noch eine andere Intrige von ihrer Seite. Ein ge- wisser de Rosieres hatte sich in die jüngere Tochter R^tifs, Marion, verliebt, die er im Hause des Herrn von Saint-Mars kennen gelernt hatte. Auch wollte er der Schwiegersohn des „einzigen Man- nes, der J. J. Rousseau ersetzen könnte", werden. R6tif aber, der auf den alten Chevalier als eine bessere Partie für Marion spekulierte, wies den


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jüngeren Bewerber ab. Auf der anderen Seite suchte Fräulein Mesnager, da sie selbst Absichten auf Saint-Mars hatte, eine Entfremdung zwischen diesem und Marion Retif herbeizuführen, was ihr auch durch Inanspruchnahme des bösen Aug^ ge- lang. Bald erfuhr Retif auch, daß F^licitette einen wirklichen Geliebten habe. Aber dieses Mal ließ er sich nicht von einer „zweiten Sara" und einem „zweiten Lavalette" düpieren. Er blieb ruhig und kühl und nahm mit Gelassenheit eine Untreue hin, auf die er von vornherein gefaßt gewesen war (M. N, XI, 92 — 112).

Dieser „letzten" Liebe folgte in den Jahren 1789 bis 1796 noch eine „allerletzte", die zu Filette, mit welchem Namen Retif eine hübsche Uhr- machersfrau, Madame Folin, aus der nie Saint- Honore bezeichnet. Es war mehr eine väterliche Liebe, die ihm diese reizende junge Frau einflößte, nur noch ein schwacher Abglanz der früheren Leiden- schaft (M. N. XI, 134 — 137). „Les passions achevaient de mourir dans tnon coeur" sagt er schon von der Zeit um 1788 (M. N. XI, 115), die Musendienste, die ihm einige junge Damen, z. B. die hübsche Maris (M. N. XI, 115 — 117), leisteten, waren sehr platonische. In dem Tagebuche „Memento" finden sich noch einige Briefe an die Modistinnen der rue de Grenelle und der rue des Bons-Enfants. Einer davon möge als Beispiel für die übrigen mitgeteilt werden :

„Mein Fräulein, das folgende Lied ist die Übersetzung eines Liedes aus Cochinchina, das ich Ihnen eines Abends vorsang. Sie werden sicher neugierig darajif sein, Cochin- chinesich zu lesen (es folgen einige angebliche cochin- chinesische Worte). Ich lernte diese Sprache" vor etwa zehn

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Jahren, als ich eine Reise auf einem holländischen Schiffe machte. Ich habe viele Länder gesehen, habe viele Schönen kennen gelernt, aber die Schönste von all den Schönen ist doch diejenige unter ihnen, die ich anbete."

Das angeblich cochinchinesische Lied lautet: Jeune poulette Sage et discrette De ce sejour Le plus beau jour De ma conquete C'est ma defaite. Le plus beau tour D'une abat-jour Ah! quel contour etc.

Der zweite darauffolgende Vers ist eine sehr zynische Schilderung des Liebesgenusses. Wir erkennen den Verfasser der früheren „moralischen" Episteln an die Modistinnen nicht wieder. Diese senile Erotik ist zynisch, pervers, brutal. „Mit der Abnahme der Lebenskraft", sagt Retif, „schwindet auch jedes Zartgefühl in physischer und moralischer Hinsicht, und wenn nicht alle Greise Verbrecher werden, so macht dies nicht der Wille, sondern die Unfähigkeit." (M. N. XI, ii8.)

So waren auch die „quelques aventurettes Isoldes" (M. N. XI, 117), die R^tif noch am Abend seines Lebens hatte, durchweg Beziehungen rein sinnlicher Natur, wie z. B. das Erlebnis mit Madame Maillot, mit der ihn der Gatte im zärtlichsten Tete-ä-T6te überraschte (Inscr. 120, M. N. XI, 133), die Lieb- schaft mit Rosalie Compoin (Inscr. 127), das Abenteuer auf der Ile Saint-Louis (Inscr. 132).

Daneben befriedigte er jetzt seine erotischen In- stinkte in ungeniertester Form, die vielfach den Ge- danken an das Auftreten eines senilen Exhibitionis-


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mus nahe legt. So machte es ihm Vfefgnügen, im Theater die vor ihm sitzenden Mädchen in indezenter Weise zu berühren (Inscr. 184) oder gar andere zur Masturbation zu verführen (Inscr. 237) bzw. selbst ähnlichen Versuchungen zu unterliegen (Inscr, 219). Mit einer geradezu fanatischen Aufrichtigkeit ver- zeichnet er in seinen Tagebüchern Tag für Tag seine Bordellbesuche. Die Worte „Lup. magn." (Lupanar magnum) oder „Sero lup." mit Angabe der Straße und der Bordelhvirtin kehren immer wieder (z. B. Inscr. 133, 159, 163 u. ö.). Die am meisten von ihm besuchten Freudenhäuser waren diejenigen einer ge- wissen Catiche (Inscr. 179, 185, 225) und der schon genannten Leblanc (Inscr. 95, 97, 1^4, 185, 197, 269 u. ö.). Nach einer Angabe in dem Werke „Le Palais Royal" (Neudruck Bd. I, S. 80—81) waren es zwei Schwestern Leblanc, die dieses Bordell in der nie Saint-Jacques leiteten und daraus große Einnahmen hatten. Retif gehörte jedenfalls zu ihren eifrigsten Klienten.

Übrigens besuchte er nicht selten mehrere Lupa- nare oder auch mehrere allein wohnende Dirnen an demselben Tage. Über dieses Auftreten einer Art von Satyriasis senilis geben die Tagebuchnotizen genügenden Aufschluß. Z. B. heißt es unter dem 18. Juni 1786: „Lief zu Mlle. Mesnager, die zum Diner beim Chevalier Saint-Mars ging. Danach bei Madame Bizet. Lief dann zur Leblanc. Sah die reizende Merlin, die jüngere. Dann war ich zweimal bei der Dumoulin, vergeblich. Grüßte Madame Laruel. Sah Charlotte usw." (Inscr. 214.)

Ein anderes Mal verzeichnet er gewissenhaft sämtliche erotischen Erregungen an einem einzigen


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Tage und deren Folgen, wie sie z. B. beim Anblicke aller hübschen Mädchenfüße und Schuhe auftraten, die ihm bei seinen Spaziergängen in die Augen fielen. Unter dem i. Oktober 1786 findet sich in den „In- scripcions" eine hierauf sich beziehende äußerst drastische Notiz (Inscr. 246 — 247).

Bei diesem senilen Erotismus hörte zuletzt jede individuelle Beziehung auf. Jedes ihm begegnende weibliche Wesen war ihm gut genug für die Be- friedigung seiner Gelüste. In seinen Tagebüchern und im „Calendrier" finden wir denn auch ein ge- naues Verzeichnis von unzähligen Mädchen und Frauen, unter denen auch Bucklige (Inscr. 287) und Hinkende (Inscr. 302) nicht fehlen.-

6. Literarische Tätigkeit von 1785 — 1789. Das Palais

Royal.

Während also in dieser Zeit in sexueller Be- ziehung eine gewisse Decadence bei Rötif deutlich zu konstatieren ist, bewahrte der Geist dieses merk- würdigen Mannes nach wie vor die alte Frische und Energie. Wir sehen ihn gerade jetzt, am Vorabend der Revolution, mit Eifer und erstaunliclier Arbeits- kraft mit der Abfassung mehrerer gigantischer Werke sich beschäftigen, die durch Konzeption, Umfang und Inhalt gleich bemerkenswert sind, wie z. B. der „Monsieur Nicolas", dessen Anfänge wir schon oben (S. 216) berührt haben, und die „Nuits de Paris".

Wie gewaltig allein die physische Arbeitskraft dieses unermüdlichen Schriftstellers gewesen sein muß, beweist die erstaunliche Tatsache, daß er ein großes Werk von vier Bänden, die „Frangaises", laut Notiz in seinem Tagebuch in der Zeit vom 24. Mai


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bis zum 19. Juni 1785 niederschrieb, also in 26 Tagen! (Inscr. 114). Ihnen folgten die „Parisiennes", an denen er allerdings viel länger arbeitete, nämlich vom 28. Dezember 1785 (Inscr. 158) bis zum 20. De- zember 1786 (ibid. 270). Im März 1786 begann er die Abfassung der berüchtigten „Ingenue Saxancour ou la Femme separee" (Inscr. 179), die aber erst 1789 bei Maradan im Drucke erschien (3 Bände), so daß er noch die Geschichte einer gewissen Ma- dame Laruelle, deren Bekanntschaft er im Jahre 1788 machte, mit hineinverweben konnte. Diese Frau hatte ein ähnliches Eheschicksal erlebt wie Retifs Tochter Agnes. Ihr Mann war ein zweiter Auge, der aber noch scheußlicheren Perversitäten frönte als dieser. „Qu'il suffise de savoir," erzählte die un- glückliche Gattin, „qu'aucune partie de mon corps n'etait respectee : il m'avilissait au dessous des catins." Auf Wunsch der Laruelle übernahm Retif diese „horreurs" in den erwähnten Roman und verschmolz ihre Ehegeschichte mit derjenigen seiner ältesten Tochter (M. N. XI, 122—124).

Der Druck dieser verschiedenen Werke war noch nicht vollendet, als R6tif schon Ende 1786 (vgl. die Notiz in den „Inscripcions" 261 unter dem 11. No- vember 1786) und im Beginne des Jahres 1787 sich mit der Idee und den Vorarbeiten zu den „Nuits de Paris" beschäftigte, für die er anfangs den Titel „Le hibou spectateur noturne" geplant hatte. Er er- zählt selbst im „Monsieur Nicolas" (XI, 112 — 113) sehr anschaulich die Art und Weise der Konzep- tion dieses berühmten Gemäldes des nächtlichen Paris.

„Eines Abends, als ich in sehr gerührter Stimmung von meiner jährlichen Wallfahrt nach der rue Saintonge (vgl. oben


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S. 177 — 178) zurückkehrte, nahm ich anstatt durch die schöne rue Louis meinen Weg durch kleine, unbekannte Straßen, und befand mich auf einmal in der rue Payenne, die schon am Tage, noch mehr aber bei Nacht einsam ist. In der Mitte der Straße, hörte ich über mir auf einem der kleinen Balkone, die man dort sieht, jemanden tief seufzen. Ich drehe mich um und sehe eine Frau, die ich dann ansprach. Es war nicht die Marquise de Montalembert. Aber damals schon amalgamierte sich ihre ausgezeichnete Idee mit dem, was ich sah, und meine Einbildungskraft wurde rege. Ich hatte den Zweck und die Entwicklung der „Nuits" klar vor Augen und faßte den Gedanken, sie aus allen wirklich geschehenen Vorfällen, deren Augenzeuge ich im Laufe meines Lebens während meiner nächtlichen Spaziergänge gewesen war, zusammenzustellen. Kaum war dieser neue Plan er- wogen, so lächelte mir auch schon mein Werk und war zu drei Vierteln fertig."

Am 19. Dezember 1786, um 7 Uhr abends, be- gann er in der Tat die Arbeit an den „Nuits de Paris" (Inscr. 271), die ihn über sieben Jahre in Anspruch nahm, da der letzte, der 16. Band, erst im Jahre 1794 erschien.

Unter dem 11. März 1787 gedenkt er eines anderen Werkes (Inscr. 288), der „Mille et une M6ta- morphoses", d. h. der Darstellung der verschiedenen Veränderungen, denen Mann und Weib von der Ge- burt bis zum Tode unterliegen. „Es sollte nicht eine Schilderung der Leidenschaften, Gefühle und Sitten sein, sondern ein rein entwicklungsgeschicht- liches Werk, eine Analyse der „D^veloppements physiques" in Form von „tibetanischen Erzählungen". Die Einleitung zu diesem seltsamen Werke und die acht ersten Erzählungen hat er dann später in die „Nuits de Paris" (Bd. IX, S. 2072 ff.) eingefügt (vgl. Lacroix, 444 — 445).


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Die Zeit von 1784 bis 1791 wird nach R6tifs eigener Erklärung (M. N. XI, 114) noch durch eine besondere Art seiner schriftstellerischen Betätigung charakterisiert, nämlich durch seine „Dramo- manie", die Abfassung von Theaterstücken. Die ersten Anfänge seiner dramatischen Schriftstellerei reichen sogar schon, wie er später in der Vorrede zum ersten Bande des Sammelwerkes „Theätre de R^tif de la Bretonne" mitteilt, bis ins Jahr 1770 zurück. Aber die oben angegebenen Jahre bezeichnen den Höhepunkt seines dramatischen Schaffens.

Unter diesen Theaterstücken sind zu erwähnen: „La fille naturelle ou la m^re imperieuse", nach seinem gleichnamigen Romane (Beginn Ende April 1785, Inscr. in), ferner die beiden „Epimenides", den alten oder den „griechischen" und den neuen, mit dem Untertitel „La sage journee", den „Pere Valet" nach einem Sujet aus den „Contemporaines". Dieses Stück wurde auch zur Aufführung angenommen, was Retif zur Abfassung der „£pouse com^dienne" nach einem Motiv der „Mimographe" ermutigte. Ferner versuchte er sich an einem dramatischen Zu- kunftsbilde ä la Bellamy, dem er, wohl in An- lehnung an Merciers 1770 erschienene Phantasie „L'an 2440" den Titel „L'an 2000" gab. In der „Marchande de mode" (mit dem Untertitel „Le loup dans la bergerie") schilderte er seine abendlichen Vergnügungen mit den jungen Modistinnen Mon- clar. Im Jahre 1786 erlebte er die Genugtuung, daß sein Drama „Les fautes sont personnelles" mit Erfolg von Desessarts der Direktion des „Theätre Fran- gais" vorgelesen wurde. Leider gelang es dennoch dem Einflüsse der Schauspielerin Bellecour, die


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an gewissen allzu gewagten Situationen Anstoß nahm, eine Aufführung des Stückes zu verhindern. Am 8. November 1786 erhielt Retif den Be- scheid der definitiven Ablehnung (Inscr. 261). Er ließ sich aber hierdurch nicht entmutigen und ver- faßte gleich darauf ein neues Stück „La Cigale et la Fourmi", eine dramatische Fabel in 5 Akten (No- vember 1786, Inscr, 262), deren Aufführung am Theater von Audi not (Ambigu-Comique), schon bei- nahe gesichert, diesmal durch die Intrigen des eifer* süchtigen Nougaret verhindert wurde. Eine Gön- nerin R6tifs, Madame de Montesson machte dann noch den freilich auch vergeblichen Versuch, das Stück auf eigene Kosten im Theater Popin- court aufführen zu lassen.

Einige andere dramatische Werke aus dieser Zeit sind: „Le libertin fixe" (nach der „£cole de jeimesse"), „L'amour muet" (nach dem „Nouvel Abei- lard"), „Edmond ou les Tombeaux" (nach dem „Pay- san perverti").

Nachdem dieses Interesse für die dramatische Schriftstellerei so ziemlich erloschen war, wandte sich R^tif wieder seinem eigentlichen Berufe, der Be- obachtung des wirklichen Lebens zu, und wählte dieses Mal einen bisher von ihm fast gänzlich vernachlässig- ten Gegenstand, nämlich die Zustände und das Treiben der Freudenmädchen im Palais Royal, Das ganze Jahr 1789 wurde den Sitten- studien in dieser großen Liebesbörse gewidmet, wo nicht weniger als 1 500 Freudenmädchen jeden Alters sich täglich versammelten. In meinen „Neuen For- schungen über den Marquis de Sade" habe ich über die von anderen Autoren geschilderten Zustände da-


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selbst ausführlichere Mitteilungen gemacht (S. 137 bis 143). Retif nahm sich bei seinen Wanderungen und Streif Zügen durchs Palais Royal Mercier zum Vorbilde, dessen anschauliche Schildeiiing dieser Ört- lichkeit im „Tableau de Paris" er auch zum Teil im „Monsieur Nicolas" wieder abdruckt (M. N. XI, 173 bis 174). Er trat im Palais Royal unter dem Namen „Aquilin des Escopettes" auf.

„Man weiß," erzählt er in seiner Lebensgeschichte, „daß das neue Palais Royal der allgemeine Mittelpunkt aller poli- tischen Bewegungen, der Geschäfte, Vergnügungen, der \\'^ollust, der Unzucht, des Spiek, der Agiotage, des Geld- und Assignatengeschäfts, und folglich der Tempel oder das Prosti- bulum der Beobachtung geworden ist. Dieser berühmte Basar lockte mich also allein schon durch sein Äußeres und durch die Annehmlichkeiten, die ich in demselben fand, an. Ich sah dort zuerst D a e 1 i e oder Adele, Madame T e s a u - menu. Filette oder A 1 a n e 1 1 e , die Töchter von Leonore Ebor, Cerisette, Prunette und D a - p i e 1 1 e — diese Namen hatte ihnen ihr Onkel, der Dichter (Robbe de Beauveset), gegeben — , die Tochter der Limonadenhändlerin P e t r o n i 1 1 e von der Ecke der nie de Grenelle, Adelaide Tipetin und endlich einige junge Mädchen, die mich außerordentlich interessierten. Zuerst be- schäftigte ich mich wie alle Welt mit der Politik, versuchte in das Wesen der damals sich abspielenden Bewegungen ein- zudringen und erfuhr nicht ohne Erstaunen, daß sie fast alle vom Auslande her inspiriert waren. Ich hörte C a m i 1 1 e (D e s m o u 1 i n s) stottern. Aber schon damals haßte ich ihn. Ich nahm keinerlei Anteil an diesem politischen Treiben, da ich keinem Klub, keiner Partei angehörte und gegen meine Überzeugung hätte handeln müssen, wenn ich der guten Sache einen Dienst leisten wollte. . . . Aber kehren wir zum Palais Royal zurück und zeichnen wir ein Gemälde, das die Nachwelt mit Erstaunen und Schrecken erfüllen wird. Ich Unglücklicher! Angezogen durch die reizenden Gesichter, durch die schlanken Gestalten, entfernte ich mich von den politischen Gruppen und folgte den Lockungen der Wollust,


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bald einer Victorette, bald einer Septimanette, einer Seraphine, Estelle-Henriette, Cäcilie, Rosette, Lutine, Friederike, Sophiette, Eleorine, Yvette, Celeste, Dorothea, Nina, Reine, Alzacette, Issine usw. . . . Das waren die Zerstreuungen, die mich von der Politik fernhielten. Aber ich hatte noch andere. Bald suchte mich ein Bauernfänger zum Spielen zu verlocken, bald wurde ich von einem jungen Pä- derasten angesprochen, oder von einem Schurken, der diese Art zu fühlen erheuchelte. Bald drängte mich ein Markt- schreier, in seine Bude einzutreten, um dort die Diebe in Wachsfiguren zu sehen, die in natürlicher Gestalt im Garten und unter den Arkaden umherlaufen."

Fortan war R^tif jeden Abend im Palais Royal, um hier im regsten Verkehr mit den Kupplerinnen und Freudenmädchen das Material für seine berühmte Sittenstudie „Le Palais Royal" zu sammeln. Er ar- beitete, wie Lacroix sagt, „in anima vili wie der Anatom am Leichnam". Hierbei unterstützte ihn der Rat seines Freundes Guillebert de Preval, durch den er auf die verschiedenen Arten der geschlecht- lichen Genüsse in Paris aufmerksam gemacht wurde. So machten die Einzelheiten dieses seltsamen Buches es zu einem französischen „Satyrikon" (M.N.XIV, 162). Das Werk erschien 1790.

Im Jahre 1789 veröffentlichte R6tif noch als fünften Band der „Id^es singulieres" den „Thesmo- graphe", eine Schrift über die Reform der Gesetz- gebung, und schrieb den Text zu Moreaus großem Kostümwerke „Monument du costume physique et moral de la fin du dix-huitieme si^cle", nachdem er kurz vorher zu desselben Künstlers „Tableaux de la bonne compagnie" (Paris 1787, 2 Bde.) ebenfalls einen sehr anmutigen Text geliefert hatte.


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7. Die Revolutionszeit.

Dief ranz ÖS i sehe Revolution, dieses „merk- würdige Ereignis, dessen Lärm noch lange im Laufe der Jahrhunderte nachhallen wird" (M. N. XI, 170) übergeht Retif in seiner Lebensgeschichte mit Still- schweigen und verweist auf die beiden letzten Bände der „Nuits de Paris", wo er ausführlich seine Be- obachtungen und Erlebnisse in dieser stürmischen Epoche mitgeteilt habe. Diese beiden Bände (XV und XVI), deren außerordentliche Seltenheit ja be- kannt ist, enthalten in der Tat eine Art von vollstän- digem Tagebuch während der Revolutionszeit, das vom 23. April 1789 bis zum 31. Oktober 1793 reicht, und das später noch durch den 15. Band des „Mon- sieur Nicolas" ergänzt wurde. Paul Lacroix hat in seiner Bibliographie alles Wichtige aus diesen Quellen zusammengetragen (S. 277 — 297).

Im allgemeinen beschränkte sich Retif während dieser Epoche einer allgemeinen politischen und sozialen Umwälzung auf die Rolle eines stummen Beobachters und Registrators der Ereignisse, die er allerdings mit lebhafter Unruhe und Neugierde ver- folgte. Mit Vorliebe mischte er sich bei den Volks- aufläufen unter die Menge, ohne mit seiner Person irgendwie hervorzutreten, für die er geflissentlich ein ständiges Inkognito bewahrte. Er gehörte wahrlich nicht zu den Helden der großen Revolution. Die Angst vor der Guillotine beherrschte ihn auf Schritt u?id Tritt, im Traume sah er oft das Fallbeil in seiner schauerlichen Tätigkeit und wohl niemand hat vor den Schergen der Revolution so gezittert wie ge- rade er. Diese Angst war wohl die einzige Ursache


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seiner politischen Heuchelei, die ihn, den früheren Monarchisten, zu einem fanatischen Apologeten der Republik machte, und wenn er wirklich in seinen Schriften gegen die Grausamkeiten der Schreckens- herrschaft protestierte, so geschah dies entweder ano- nym oder erst nach dem Sturze der Jakobiner.

Retifs Mitteilungen über die große Revolution bieten auch insofern noch ein ganz besonderes Inter- esse dar, als er auch hier vorzugsweise ein „spectateur nocturne" war und mit Vorliebe abendliche und nächtliche Szenen aus dieser bewegten Zeit schildert.

In den ersten Monaten des Jahres 1789 hatte Rdtif eine Reise nach der Schweiz unternommen, um wegen des Verlages seiner Schriften mit Buch- händlern in Genf und Neuchätel zu unterhandeln, weil er das Erscheinen im Ausland für die Ver- breitung seiner Schriften für zweckmäßiger hielt und so auch die französische Zensur vermied. Bei seiner Rückkehr nach Paris am 23. Juni 1789 fand er die Geister in voller Bewegung, denn am 23. April waren die Generalstaaten zusammengetreten. Retif wurde Zeuge der Anfänge der Volksbewegung. Er wohnte den bekannten Ereignissen der Julitage bei. So war er am 12. Juli zugegen, als in den Tuilerien ein Stein nach dem Kopfe des Kommandierenden der Gardetruppen, Prinzen von Lambesc geschleudert wurde, der darauf durch einen tätlichen Angriff mit dem Säbel antwortete und hierdurch die Volksleiden- schaft aufs höchste erregte. Retif schildert sehr an- schaulich die tumultuösen Gruppen im Palais Royal und in den Tuilerien, und das Treiben derselben in dieser „ersten Nacht der Revolution" (vom 12. zum 13. Juli 1789), in der mit Säbeln und Stöcken bewaff-


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nete Briganten die Straßen durchzogen. „O mein Vaterland," ruft er damals noch aus, „du wirst durch diese Bastardkinder zugrunde gerichtet werden, sie werden deine legitimen Söhne ermorden."

Während des 13. Juli zogen „die Banditen der Vorstadt Saint-Marcel vor meiner Tür in der rue de Bievre vorbei, um sich mit denjenigen der Vorstadt Saint- Antoine zu vereinigen . . . Alle diese bildeten eine furchtbare Masse, die den Gedanken auszu- drücken schien : Heute ist der letzte Tag der Reichen und Glücklichen gekommen. Morgen kommen wir an die Reihe, morgen werden wir auf Eiderdaunen schlafen." R^tif selbst sagte sich, daß jetzt oder nie der Augenblick zur Bildung einer Volks- miliz gekommen sei. Er eilte zu den ihm bekannten Arbeitern und Artisten, unter anderem zu seinem Zeichner Bin et und dem Kupferstecher Berthet und beauftragte sie, die anständigen Bürger zu den Waffen zu rufen, um sich gegen die Briganten und den Pöbel zu schützen. In der Tat organisierte sich die Nationalgarde, als deren Schöpfer Retif sich betrachtete. Die Patrouillen derselben durchzogen die Stadt. Aber schon am folgenden Tage (14. Juli) geschah der Sturm auf die Bastille, der sich so schnell abspielte, daß Retif ihn nicht mehr mit ansehen konnte und erst hinkam, als die wütende Volksmenge mit den auf Piken aufgespießten Köpfen von Fles- selles und Delaunay ihm entgegenkam. Als er den Platz der Bastille betrat, war alles vorbei. „Rasende warfen die Papiere, für die Geschichte wert- volle Papiere oben von den Türmen in die Lauf- gräben. Der Geist der Zerstörung wütete in der Stadt." Im Palais Royal, wohin Retif dann eilte.


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waren alle Läden geschlossen. Man sprach nicht mehr innerhalb der Gruppen von Politik. Man sprach nur noch von Töten, Hängen, Enthaupten. „Die Haare sträubten sich mir," sagt R6tif, der nicht ohne eigne Lebensgefahr nach Hause zurückkehren konnte.

Am 17. Juli verbreitete sich das Gerücht, daß der König nach Paris komme, um dadurch der Stadt zu zeigen, daß er ihr wegen der Erstürmung der Bastille nicht zürne. R^tif ruft voll Freude aus: „O König, Haupt der Nation. Indem sie dich ehrt, ehrt sie sich selbst, indem sie dich liebt, gibt sie das mäch- tigste Zeichen der allgemeinen Verbrüderung. Sei ge- segnet, guter Ludwig XVLI" Indem er so enthu- siastisch die Ankunft des Königs begrüßte, klagte er den Adel und die Geistlichkeit an „diese Busiris in der Soutane", alles Übel durch die Opposition gegen die großmütigen und liberalen Pläne der Nationalversammlung verschuldet zu haben.

Am 23. Juli war R6tif unfreiwilliger Augen- zeuge der schauderhaften Ermordung von Foulon und Bert hier. Heftig erregt eilte er nach Hause, wo er vor Angst von einem heftigen Unwohlsein be- fallen wurde.

Am 5. und 6. Oktober begleitete er zwar nicht die nach Versailles ziehende Menge, aber er sah sich den Vorbeizug derselben an und erkannte darunter als Frauen verkleidete Spione, gewerbsmäßige Zu- hälter und als Fischweiber verkleidete Prostituierte. Er berichtet merkwürdige Einzelheiten über den Einbruch in das Schloß von Versailles, wo Marie- Antoinette beinahe ermordet worden wäre. Dann war er Zeuge der Ankunft der königlichen Familie


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im Pariser Stadthaus. Die nun folgenden Greuel der weiter vorschreitenden Revolution nötigen Retif eine treffende Vergleichung der verschiedenen daran beteiligten Gesellschaftsklassen mit wilden Tieren wie Wölfen, Tigern, Hyänen, Krokodilen, Ratten, Schlangen usw. ab.

Während der nun folgenden Zeit ging Retif zweimal täglich ins Caf6 Robert (früher Manoury) auf der Place d'Ecole, um die Zeitungen zu lesen und Neuigkeiten zu hören. Jedoch schränkte er aus Furcht vor unangenehmen Erlebnissen seine abend- lichen und nächtlichen Spaziergänge bedeutend ein. Man hatte ihn nämlich schon einmal auf eine De- nunziation des infamen Auge hin als „espion du roi" bei einer solchen Promenade verhaftet. „Meiner Treu", sagte er, „ich bin der Spion des Lasters, aber nicht derjenige des Königs. Ich hatte niemals die Ehre, Beziehungen zu dem Haupte der Nation ge- habt zu haben." Trotzdem wäre er gehängt worden, wenn nicht durch die Vermittlung einer seiner Gön- nerinnen, Savinienne Froment, einer Freundin der Mlle. Maris, die Sache beigelegt worden wäre. Später denunzierte ihn Auge noch einmal als Ver- fasser dreier berüchtigter antirevolutionärer Pam- phlete. Man verhaftete ihn zum zweiten Male, ließ ihn aber wiederum frei.

Wohl unter dem Einflüsse dieser unangenehmen Erlebnisse wandelte sich Retif aus einem eifrigen Royalisten zu einem fanatischen Republikaner um und erging sich fortan in den heftigsten Anklagen gegen den Adel, die Geistlichkeit und besonders die Emigranten. Er beschuldigte den König, alles Unheil verschuldet zu haben, weil er nicht an der Kon-

D Uhren, R6tif de la Bretonne. 18


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stitution, diesem „Rettungsanker" festgehalten habe, und die Königin, durch ihre Einmischung vollends alles verdorben zu haben. Am 2. April 1791 eilte R^tif zu den Tuilerien, um den König nach Saint- Cloud abfahren zu sehen und wurde so Zeuge der Gewalttätigkeiten der aufgeregten Bevölkerung, die den unglücklichen Monarchen zwang, diese Fahrt aufzugeben und aus dem Wagen zu steigen. Diese Szene veranlaßte R6tif zu der Prophezeiung, daß die Fürsten und Adligen nicht bloß Frankreichs, sondern von ganz Europa dem sicheren Untergange geweiht seien, der sich im Laufe des 19. Jahrhunderts vollenden werde.

In der Nacht vom 20. auf den 21. Juni 1791, die „diejenige des 21. Januar 1793 vorbereitete", war R6tif bei der Flucht des Königs und der könig- lichen Familie zugegen. „Ich fühlte", sagt er, „eine lebhafte Bewegung. Es war, als ob die Aufregimg der Flüchtlinge mich elektrisierte." Ebenso sah er die Rückkehr der in Varennes aufgehaltenen könig- lichen Familie. „Ich sah die Rückkehr Ludwigs, den ich von diesem Augenblicke an als entthront betrachtete." Am 17. Juli versammelte sich das Volk auf dem Marsfelde, um eine Petition für die Pro- klamation der Republik zu unterzeichnen. Auch La Fayette war auf seinem Schimmel erschienen und ließ auf das Volk schießen, als es die Truppen be- schimpfte und tätlich angriff. R^tif, Augenzeuge dieser Szene, vergleicht das Volk mit einem Hunde, der den Stock beißt an Stelle der Hand, die ihn gebraucht. Unter dem 26. und 27. September 1791 lesen wir in R^tifs Tagebuche: „Die Verfassung ist revidiert. Sie ist ganz zum Vorteile Ludwigs. Er


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besteigt wieder den Thron in neuer Glorie. Marie- Antoinette empfindet ein leises Gefühl der Freude, aber ihr erbittertes Gemüt ist nicht zufrieden." R 6tif verflucht die Gegenrevolution, die jetzt an Boden ge- winnt. „Der ganze Stand der Kaufleute," sagte er, „die Schneider, Perrückenmacher, Buchhändler und besonders die alten Druckereibesitzer, alle die- jenigen, die nur den reichen Leuten etwas verkauften und nur diesen, sind hoch aristokratisch gesinnt."

Erst im Juni 1792 nahm Retif seine Tage- buchaufzeichnungen über die Revolution wieder auf. Die Emigration dauerte an. Man drängte Ludwig XV L, Frankreich zu verlassen und sich unter den Schutz der fremden Souveräne zu begeben. Die Jakobiner planten einen Ein- bruch des Volkes in die Tuilerien unter dem Verwände, dem Könige eine Petition gegen das Veto zu überreichen. Diese angebliche Deputation der Vorstädte, unter der sich „zahlreiche verkleidete Bri- ganten" befanden, drang bewaffnet am 20. Juni 1792 ins Innere des Palastes ein. Retif war ebenfalls dort. Er erzählt, daß man den König nicht beschimpfte und ihm nichts zuleide tat, sondern daß einzig und allein einige rohe Patrone ihn aufforderten, die rote Mütze aufzusetzen und ein Glas Wein zu trinken. „Er tat es mit Heiterkeit, und ich bewunderte ihn." Nach dreistündigem Aufenthalt in den Tuilerien zog sich die Menge zurück. R^tif erklärt, daß diese Deputation zwar ungesetzlich gewesen sei, aber daß sie in passenderer Form nur als der Vollzug der legi- timen Beziehungen zwischen Volk und König zu be- trachten sei.

R^tif hütete sich sehr wohl, nachdem er dieser

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Lärmszene beigewohnt hatte, noch einmal wieder in den Tuilerien zu erscheinen, namentUch nicht während des Kampfes vom lo. August 1792. Er kam" erst an, als die letzten Schüsse abgefeuert wurden. Der König war jetzt nur noch ein „Verräter" für ihn. R6tif trat ganz im Marat sehen Geiste für eine schnellere und schärfere Verwirklichung der revolutionären Prinzipien ein, freilich wohl mehr aus Furcht als aus Überzeugung, da die Schreckens- herrschaft auch ihm sich fühlbar machte. In der Nacht vom 27. auf den 28. August 1792 wurde er durch eine Haussuchung geweckt. Seitdem verdoppelte sich seine Angst und verließ ihn nicht mehr. Trotzdem war er Augenzeuge der entsetzlichen September- morde, von denen er in den „Nuits de Paris" (XVI, 371 — 394) einen wahrheitsgetreuen, in seinen Einzelheiten entsetzenerregenden Bericht gibt. Er hatte alles gesehen. „Man muß mit Unparteilich- keit diese grausigen Ereignisse schildern, und der Schriftsteller muß kalt bleiben, wenn er schaudern macht. . . . Habe ich etwas aus dieser verhängnis- vollen Nacht, dem Werk der Petion und der B ris- set und ihrer Clique (trotz ihrer heuchlerischen Ab- leugnung) vergessen? Ich weiß es nicht. Es ist mir zu lästig, mein Gedächtnis wegen dieser schreck- lichen Einzelheiten anzustrengen. Die Feiglinge, die sie angestiftet haben, haben sich versteckt und wagen nicht, sich öffentlich zu zeigen." Auch als Lud- wig XVI. sich im Gefängnisse des Temple befand, konnte R^tif es sich nicht versagen, dem Mute und der Resignation des hohen Gefangenen seine Anerkennung zu zollen. Aber er wies trotzdem jede mitleidige Regung für den unglücklichen Monarchen


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weit von sich. Am 26. Dezember 1792 begann der Prozeß des Königs. R 6 1 i f erzählt : „Wir sahen Lud- wig vorbeifahren. Wir gingen zum Konvent, wo der Sekretär mir den Eintritt gestattete. Ich wohnte dem Verhöre Ludwigs bei, hörte ihn antworten und überzeugte mich, daß er eine Kaltblütigkeit besaß, die ich nicht gehabt haben würde."

Am 15. Januar 1793, um 5 Uhr nachmittags, war R^tif gerade im Palais Royal, als der Gardist Paris das Konventmitglied Michel Lepelletier, der für den Tod des Königs gestimmt hatte, er- mordete. Retif sah den Mörder fliehen, versuchte aber nicht, ihn aufzuhalten oder festnehmen zu lassen. Am 16. Januar begab R^tif sich zum Konvent, um die Verteidigungsrede des Deseze für Lud- wig XVL zu hören. Am Abend vorher erklärte er noch ganz im Geiste der Revolution den König für hundertmal schuldig, weil er eben blind und unwissend gewesen sei und sich von seiner Um- gebung in allen seinen Handlungen habe beeinflussen lassen. Als er aber den König vor seinen Richtern sah und aufmerksam das Plaidoyer von Deseze an- gehört hatte, wurde er wieder Royalist, beklagte den König und weinte, als er beim Ausgange des Tuileriengartens ein Billett von der Erde aufhob, auf dem die Worte standen: „Der arme Mann ist ver- loren, verloren ! Man darf ihm nicht mehr Hoffnung machen."

Am 20. Januar verließ Retif um die Mittagszeit (gegen 2 Uhr) seine Arbeit und ging durch die Stadt mit „jener Erregung, die mit allen großen Ereig- nissen untrennbar verknüpft ist". Es war alles ruhig wie an anderen Tagen. Der König war verurteilt.


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man sprach nur noch von der Ermordung Lepelle- tiers. Retif besuchte mehrere Kaffeehäuser, um den Zustand der Geister zu studieren. Er erklärt : „Man sprach kaum noch von Ludwig.... Das Volk war bereits auf der Höhe der Revolution." In der Nacht zum 21, Januar ging R^tif nicht zu Bette, da er mit seiner Kompagnie der National- garde bereits um 5 Uhr früh Spalier bilden mußte. „Ich nahm meine Pike", erzählt er, „und begab mich an meinen Platz, obgleich ich vor Ermüdung ganz matt war. Unser Hauptmann erschien um 6 Uhr. Meine Blässe und mein Zittern veranlaßten ihn, mich nach Hause zu schicken." An dieser Stelle sind vier Druckseiten entfernt und durch einen Karton ersetzt worden, in dem er, nach dem Bericht eines Augenzeugen, einige Details über den Tod des Königs mitteilt, die wohl nur ein notdürftiger Ersatz für seine ursprünglichen, eigenen Eindrücke sind.

In der Nacht vom 27. zum 28. Januar 1793 befand sich Retif im Palais Royal, dessen Ausgänge ge- sperrt wurden, weil das Überwachungskomitee des Konvents dort eine poHzeiliche Untersuchung vor- nehmen ließ, in der Hoffnung, den Mörder Le- pelletiers zu entdecken. Viele Personen wurden als verdächtig verhaftet. Auch Retif wäre diesem Schicksale nicht entgangen, wenn er nicht seine Legi- timationskarte als Bürger vorgezeigt hätte. Schon damals war er zu seinen früheren gemäßigten An- schauungen wieder zurückgekehrt. Die Menschen und die Ereignisse der Revolution stießen ihn in gleichem Maße ab, erfüllten ihn mit gleichem Ab- scheu. Als er am 26. Februar gegen 5 Uhr nach- mittags sein Haus verließ, war er Zeuge der Plün-


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derung der Kolonialwarenläden, und er rühmt sich, die Verhaftung mehrerer solcher Banditen bewirkt zu haben. Jetzt wagte er es schon, seine kühnen gegenrevolutionären Ideen zu formulieren, er hatte die traurigen Ergebnisse der Revolution klar vor Augen und verdammte sie. „Ich habe immer ge- sehen, gedacht, geschrieben daß das niedere Volk ohne Bildung der größte Feind jeder Regierung ist. An dieses, an diese stupiden Individuen wendet sich der wie sie gekleidete Agitator. Ich kenne nur ein Heilmittel gegen dieses Übel, in einem Lande, wo das Volk die Herrschaft hat. Das ist nicht die gleiche Verteilung der Güter, die ist unmöglich, und man müßte jeden Tag von neuem damit anfangen, son- dern der Kommunismus, wie ich ihn schon 1782 in meinem „Anthropographe" vorschlug." 1793 war also R6tif nicht mehr Republikaner, noch weniger Jakobiner, aber er blieb Kommunist.

Am 28. Februar 1793 schreibt R^tif : „Wir sind am Vorabend des größten Unglücks. Bewaffnete Banden waren in die Druckerei der Zeitung „La Chronique" eingedrungen und hatten die Pressen zerstört. Sie versuchten dasselbe bei Panckoucke, dem Drucker des „Moniteur universel" und bei Prudhomme, dem Redakteur und Herausgeber der „R6volutions de Paris", aber die Arbeiter bewaff- neten sich und verteidigten ihre Werkstätten." R^tif selbst war ebenfalls seit Beginn der Revolution sehr schwer heimgesucht worden. In einem melancholi- schen Rückblick auf seine Lage in diesen Jahren heißt es : „Zuerst kam die Halsbandaffäre, dann die Notabein, dann Calonne, Necker, endlich die Generalstaaten, die Nationalversammlung, die erste,


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zweite und nun bald dritte Revolution. Alles wurde erschüttert. Ich verlor alles, was ich besaß, durch Entwertung, durch Nichtkauf, und durch die Ab- nahme der Zahl meiner Leser. Ich mußte alle Arbeiter entlassen und ganz allein zu gleicher Zeit den Autor, Drucker, Papierzusammenleger (assem- bleur), Bücherhefter, Buchhändler, Zettelanschläger und Kolporteur spielen. Nun übt aber ein Mensch, der so viele Berufe hat, sie alle schlecht aus. So ging es mir. Ich wäre verloren gewesen, wenn nicht im Januar 1793 ein großmütiger Mann mir zu Hilfe gekommen wäre. Er sei gesegnet. Es war Herr Arthaud."

Bei solchen Erinnerungen gerät R6tif in eine leidenschaftliche Aufregung und wendet sich in heftigen Worten gegen die Mißbräuche unter dem ancien regime als den Ursachen dieser Ereignisse.

Die Schreckensherrschaft machte auch R6tif zu einem unfreiwilligen Terroristen, der aber eine selt- same Rolle in der Beurteilung der Ereignisse spielte. So ruft er angesichts der Niederlagen der französi- schen Heere vom 2. bis 4. April 1793 aus: „Den Untergang allen Verrätern, allen Aristokraten im Lande, die sich über das Unglück ihres Vaterlandes freuen, aber auch den Untergang jenen Anar- chisten und Verblendeten, die da glauben, daß wir in einem Zustande existieren könnten, der nur ihnen Vorteil bringt." Er spricht sich dann sehr scharf gegen das Verlangen der Arbeiter nach einer maß- losen Steigerung der Löhne aus. Denn „wenn die Handarbeit in einem Lande zu teuer ist, sinken alle Künste und Handwerke, die Bürger gehen ins Aus- land und niemand kann von einer Nation etwas


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kaufen, die eine zu kostspielige Produktion hat. Das begreift aber der stupide Arbeiter nicht." Noch härter urteilt R6tif über das niedere Volk: „Die Kanaille, die es eigentlich seit der Revolution nicht mehr geben dürfte, existiert noch. Sie ist sogar gefährlicher. . . . Ich kann gar nicht meine ganze Verachtung für diese Taugenichtse ausdrücken, die die besten Dinge be- schmutzen, entehren, vergiften, in Unnatur ver- kehren. Man glaubt allgemein, daß die Selbstsucht der Könige und Mächtigen den Despotismus hervor- gebracht habe. Nein, das war die Frechheit des Pöbels. O wie sehr müssen wir diese Kanaille ohne V^erdienst, ohne Fähigkeit, ohne Tüchtigkeit hassen, die uns in diese grausame Not gebracht hat!"

Nach diesen Ausfällen ist es kaum verständlich, daß Retif sich bereits unter dem 24, April 1793 für einen fanatischen Anhänger des blutdürstigen Marat erklärt. Es geschieht dies aber wieder in einem Ersatzblatt für den ursprünglich vorhandenen und wohl aus politischen Gründen entfernten Text. Später erklärte Retif, daß ein Freund von ihm seinen (Retifs) Tadel Marats durch Lob, seine Entrüstung durch Ausdrücke der Bewunderung er- setzt habe. Der Triumph Marats, dieses „be- rühmten Patrioten", wird auf sehr seltsame Weise ge- schildert. Alles was Marat seit Beginn der Re- volution geschrieben und getan habe, sei durch die Ereignisse gerechtfertigt worden. Er sei ein Phä- nomen ohne Beispiel ! Retif, der „Maratist" ist, weil er sich einredet, daß Marat ebenfalls wie er kom- munistischen Ideen huldigte, spricht sogar von dem „bewunderungswürdigen" Leben seines Idols.

Am Abend des 6. Mai 1793 sah man überall


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Gruppen stehen. Die Regierung verlangte 12000 Freiwillige für den Krieg in der Vend^e. Die Konimis und die Schreiber der Notare und Anwälte weigerten sich, sich in die Aushebungslisten einzeichnen zu lassen, R6tif stand dieser Weigerung sympathisch gegenüber. In der Nacht des 31. Mai bewaffnete sich die Nationalgarde und umgab das Konvent- gebäude. Die Anhänger Brissots wurden aus der Versammlung ausgeschlossen und trotz ihrer Un- verletzlichkeit unter Anklage gestellt. R^tif sagt von ihnen : „Sie, die wir für wahre Patrioten und die festesten Stützen der Freiheit hielten, haben uns getäuscht. Ihr späteres Verhalten hat ihre Felonie bewiesen. Sie haben den Busen ihrer Mutter zer- fleischen wollen und dem Vaterlande unzählige Übel zugefügt." Mehr sagt er nicht von den „Brissotins", sie werden das Schafott besteigen, und damit basta. Aber plötzlich verbreitet sich die Nach- richt von der Ermordung M arats. „Was war nötig," sagt R^tif mit feierlichem Ernst, „um Marat, dem geschickten Naturforscher, dem intelligenten Arzte, dem glühenden Patrioten, die ganze Reinheit seines Rufes wiederzugeben ? Der Tod, der Tod fürs Vater- land, den er am 13. Juli 1793 zwischen 7 und 8 Uhr abends erlitt." Trotzdem verheimlichte R6tif nicht seine Sympathien für Charlotte Corday in einem Augenblicke, wo die Kundgebung derselben Sympathien den unglücklichen Adam Lux aufs Schafott führte. R^tif spricht von ihr als einer „jungen, interessanten Person", als einem Mädchen, deren Tugend weit diejenige anderer Frauen über- troffen habe, so keusch und rein sei sie gewesen. Diese Vorstellung begeistert ihn zu dem Ausrufe :


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„Es scheint, daß dieser vom heiligen Feuer der Vater- landsliebe ergriffene Mann seine Tage nur durch die Hand einer Jungfrau beschließen sollte!" R^tifs Bericht über die Ermordung Marats und die Hinrichtung der Charlotte Corday, der er allerdings nicht persönlich beiwohnte, enthält sehr wichtige, von anderen nicht erzählte Einzelheiten. R6tif scheint übrigens nur ein einziges Mal den Hinrichtungen während der Revolution beigewohnt zu haben.

Das „Fest der Republik" am lo. August 1793, zu dem alle französischen Städte mit Ausnahme des aufrührerischen Lyon Deputationen entsandt hatten, war nach der Schilderung R^tifs herrlich.

Fortan vermeidet Retif jede Einmischung in die Politik und berichtet nur als einfacher Erzähler über die Ereignisse, wie die Hinrichtung des Generals C ustine am 27. August, der Verschwörer von Rouen am 6. September 1793, wobei er die Bemerkung macht, daß die meisten Todeskandidaten schon während des Weges zum Schafotte halbtot waren.

Unter dem 9. Oktober 1793 zählt er ohne irgend- welche Reflexion die Ereignisse seit dem 7. Sep- tember bis zum Prozeß der Girondisten auf. Dann kommt die Herrschaft des „Berges". Robespierre und seine Genossen erklärten die Guillotine und das Revolutionstribunal in Permanenz. Die Schreckens- herrschaft ist auf ihrem Gipfel angelangt.

R^tif war entsetzt über diesen Zustand der Dinge. Er zittert vor Denunziation, Verfolgung, Ver- haftung und Verurteilung. Schleunigst bekennt er sich in seinem Buche zu den politischen Anschau-


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ungen des Berges, in dem er die „wahre National- vertretung" erblickt. Die Jakobiner sind ihm die einzigen Patrioten. Die P^tion und Genossen, die er ein Jahr vorher so sehr gelobt hatte, sind ihm. jetzt Verräter. Marat und Robespierre haben allein das Vaterland gerettet. Die Hinrichtungen vom 2. — 5. September waren notwendig als Kampfmittel gegen die widerspenstigen Priester, die Gegen- revolution der Laien usw. Der Tod des Louis C a p e t war gerecht und notwendig, damit der letzte Tyrann der Franzosen den Untergang fände. Das Verbrechen der Marie Antoinette, Brissots und anderer sei erwiesen und die Kommune von Paris habe sich durch ihren Eifer, ihren glühenden Pa- triotismus und ihre Tatkraft um die ganze Republik wohlverdient gemacht.

Er erwähnt dann die Verhaftung und Ver- urteilung von Gorsas (7. Oktober), eines halben Freundes, für den er aber kein Wort des Mitleids oder Bedauerns übrig hat. Ausführlicher beschäftigt er sich dagegen mit dem Prozeß der Marie An- toinette. Sehr bemerkenswert ist die Schilderung der letzten Stunden der unglücklichen Königin, mit welcher der 16. Band der „Nuits de Paris" schließt. (Vgl, Lacroix, S. 291 — 292.)

Während der Schreckensherrschaft wagte sich Retif weder bei Tag noch bei Nacht aus seinem Hause heraus und hielt sich bald bei seiner Tochter Marion, bald bei seiner älteren Tochter, Frau Aug^, verborgen, die noch immer von ihrem von ihr geschiedenen Gatten verfolgt wurde. Einmal in der Woche speiste er bei seinem Wohltäter Arthau d, dessen Gattin die Rolle der „Marquise" der ersten


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14 Bände der „Nuits" übernommen hatte. Eines Tages sah er voll Schrecken den Polizeikommissar H u e mit zwei Polizisten in seine kleine Druckerei in der Rue de la Bucherie 27 eintreten und glaubte seine letzte Stunde schon gekommen. Glücklicher- weise handelte es sich aber um einen gerichtlichen Akt in seiner Ehescheidungsangelegenheit. Trotz- dem steigerte sich seine Angst immer mehr, da er wußte, daß das „Comit6 de salut public" ihm ge- wisse Handlungen und Worte zum Vorwurf machen konnte. „Ich hatte," sagt er, „von der Tribüne des Pantheon herab gesprochen, ich hatte den Minister Roland verteidigt, dem das souveräne Volk sein Vertrauen entzogen hatte. Ich fürchtete, daß man sich daran erinnerte, und dann war ich verloren." Seit- dem er sich selbst vor der wütenden Demagogie nicht mehr sicher wußte, verabscheute er die Revolution und wünschte das ancien regime wieder zurück. Er blieb zwar Sozialist und Kommunist, aber nicht mehr Republikaner. Erst nach dem 9. Thermidor atmete er wieder auf. Diese Änderung seiner politischen Anschauungen wird ausführlich im 15. Bande des „Monsieur Nicolas" dargestellt. Dort läßt er die Hauptereignisse der Revolution Revue passieren und stellt sie als ein bemerkenswertes Beispiel einer Po- litik des Zufalls dar, die oft allen Regeln der Klug- heit zuwider war, aber zu der die Franzosen als neue Phaetons durch die Ereignisse ebenso ge- drängt wurden, wie das dem Sohn des Apollo und der Klimene durch die allzu feurigen Rosse des Son- nengottes geschah.

Als aber der Terror und damit die ihm von selten des Revolutionstribunals drohende Gefahr endgültig


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geschwunden war, da wurde R^tif im Jahre 1797 plötzUch wieder Repubhkaner und der erbitterte Feind des Adels und der Geistlichkeit. Da rief er auf einmal wieder kühn aus: „Möge die perfide Aristokratie sich nur ja nicht einbilden, daß ich den Tod aller derjenigen für ungerecht halte, die die Terroristen und die Blutdürstigen haben guilloti- nieren lassen! Die meisten waren Schuldige. Wer auch immer bei einer Revolution gegen die Re- gierung und die allgemeine Richtung auftritt, ist des Todes oder wenigstens der Verbannung schul- dig." Die Aristokraten haben die Hungersnot, die RoyaHsten die für ihn so verhängnisvolle Entwertung der Assignaten verschuldet. Er richtet an den Rat der Fünfhundert die dringende Aufforderung zu neuen terroristischen Maßregeln gegen die Urheber der Wertherabsetzung des Papiergeldes und schlägt ein neues, mehr naives als praktisches System zur Wiederherstellung des Vertrauens auf die Assignaten vor. Der „Held Buonaparte" wird ihm jetzt vor- bildlich für eine tatkräftige Initiative, die er dem Direktorium eifrig empfiehlt. Für die Organisation des Kommunismus schien ihm jetzt der richtige Augen- blick gekommen zu sein, und er folgte begeistert jenem Fanatiker, der den Versuch dazu unternahm: Babeuf. Dessen Zeitschrift „Le Tribim du peuple" hatte keinen eifrigeren Leser als R6tif. Als aber Babeufs Lehre als umstürzlerisch und antisozial ver- urteilt und ihr Urheber nach dem Versuche der In- szenierung einer zweiten Bartholomäusnacht der Reichen und Aristokraten am 17. Mai 1797 hin- gerichtet worden war, da wurde es auch R 6 1 i f müde, über politische Dinge zu schreiben, und gab die Hoff-


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nung auf Verwirklichung seines geliebten Kommunis- mus endgültig auf.

Es ist hier zum Schlüsse noch einiger spezifisch revolutionärer literarischer Produkte Retifs zu ge- denken, das sind erstens die gegen den Ahh6 M a u r y, den Gegner Mirabeaus, gerichteten Pamphlete aus den ersten Revolutions Jahren 1789 — 1791. Cubieres teilt in seiner biographischen Notiz über Retif mit, daß dieser einer der Verfasser der zahlreichen po- litischen Pamphlete gegen den Abb6 M a u r y ge- wesen sei, die zusammen nicht weniger als drei Bände ausmachen. Maury war Gegner Mirabeaus und aller demokratischen Redner der Nationalversamm- lung. Retif, der damals einen heftigen Feldzug gegen die Religion und die Priester führte und die Prinzipien der Revolution mit einem glühenden Eifer verteidigte, sich zudem in großer Not befand und von seiner anderweitigen literarischen Tätigkeit nicht leben konnte, ergriff gerne diese Gelegenheit, sich durch Abfassung von Pamphleten sein Brot zu ver- dienen. Wahrscheinlich hat er im Solde Mirabeaus gearbeitet, der am meisten daran interessiert war, auf diese Weise einen Gegner zu bekämpfen, dessen er auf der Rednertribüne nicht Herr werden konnte. Man muß daher wohl mit diesen anonymen Pam- phleten die geheimnisvollen Besuche Retifs bei Mirabeau in Zusammenhang bringen, über die er auf S. 4249 — 4305 des 15. Bandes des „Monsieur Nicolas" berichtet. Bei diesen historisch so inter- essanten Unterhaltungen war sehr oft die Rede vom Abb6 Maury, und Mirabeau ließ es nicht an bit- teren, herabsetzenden Worten gegen seinen gefähr- lichen Rivalen fehlen.


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Übrigens erzählt Rdtif selbst im i6. Bande der „Nuits de Paris" (S. 425 ff.), wie man ihm noch im Jahre 1793 Geld für die Abfassung politischer Pam- phlete anbot.

Unter den 50 bis 60 Schmähschriften gegen den Abb6 Maury hat Paul Lacroix (a. a. O. S. 324 bis 326) 38 als wahrscheinlich aus Retifs Feder stammend zusammengestellt. Außerdem schreibt er ihm noch die „Vie privde de l'abb^ Maury" (1790, 80) zu.

Lacroix hat ferner sehr mühevolle Nach- forschungen über andere Pamphlete und „Straßen- publikationen" angestellt, die Retif in den Jahren 1789 bis 1797 vielleicht verfaßt hat. So sah er einmal eine von R^tif mit vollem Namen gezeichnete Broschüre gegen Villeterque, den Herausgeber des „Journal de Paris" und des „Journal des arts". Sie hatte den Titel „A Villeterque, vil pamphletaire". Leider gelang es Lacroix nicht, dieses höchst seltene Stück behufs genauer bibliographischer Be- schreibung noch einmal wieder in die Hände zu bekommen. Villeterque hatte Retifs Schriften mit äußerster Schärfe kritisiert und besonders hart seine politischen und moralischen Anschauungen mit- genommen. Schon früher hatte R6tif in einem am Schlüsse des 19. Bandes der „Contemporaines" (2. Auflage) abgedruckten Briefe darauf geantwortet,, ehe er, durch neue Schmähungen dazu veranlaßt, sich zur Abfassung des erwähnten Pamphletes entschloß.

Ohne Zweifel ist R^tif auch der Verfasser eines anderen wohl kaum noch auffindbaren Pamphlets „Le plus fort des Pamphlets. L'Ordre des Paysans aux Etats-g^n^raux" (ohne Ort und Verlagsangabe,


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1789, 8^, 8o Seiten). Bisher kam dasselbe nur in einem Kataloge der Buchhandlung der Witwe H^naux vom 19. Juli 1869 vor. Es wurde daraus sofort zum Preise von 7 Francs verkauft, so daß La- croix es nicht näher prüfen konnte.

Schon in der Vorrede zum „Thesmographe" hatte er auf die in dieser Schrift entwickelte Idee angespielt und den Generalstaaten den Vorschlag ge- macht, außer den Ständen der Geistlichkeit, des Adels und der Bürger noch einen vierten Stand der Bauern zu schaffen, welcher Gedanke in dieser Broschüre weiter ausgeführt wird.

Es ist kaum zweifelhaft, daß R ^ t i f während der Revolution noch andere Broschüren politischen und sozialen Inhalts verfaßt hat, die er alle anonym in die Welt schickte, um sich nach keiner Seite hin zu kompromittieren. Jedenfalls kam er in den Ver- dacht, der Autor der drei folgenden politischen Schmähschriften zu sein.

Auf eine Denunziation Auges hin mußte sich R6tif am 28. Oktober 1789 vor dem Polizeiausschuß der Pariser Kommune wegen angeblicher Abfassung eines Pamphletes „Moyen sür ä employer par les deux ordres, pour dompter et subjuguer le Tiers- Etat et le punir de ses exactions" (1789) verant- worten. Retif leugnete die Autorschaft ab und be- hauptete sogar, daß die Schrift seinen Grundsätzen zuwiderlaufe. In seinem Bericht über dieses Ver- hör sagte er später (Nuits de Paris XV, 213): „Ich behaupte, daß dieser dumme Titel von Aug^ stammt, er allein konnte einen solchen erfinden." Möglicherweise hatte A u g e in der Tat den Titel einer von R6tif wirklich verfaßten Broschüre so entstellt.

Dühren, Retif de la Bretonne. IQ


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Auch das folgende zweite Pamphlet : „Domine sal\Aum fac regem. Sur les bords du Gange, 21 octobre 1789." (8^, 31 S.) war Gegenstand einer Denunziation Auges und eines Verhörs Retifs an ebendemselben 28. Oktober 1789. Auch in diesem Falle bestritt Retif die Urheberschaft und deutete ziemlich offen auf den wirklichen Verfasser hin. Dies war wahrscheinlich Peltier, der Herausgeber der „Actes des Apotres". Lacroix vermutet aber, daß dies Pamphlet, in dem Mirabeau und der Herzog von Orleans beschuldigt werden, für die Ereignisse des 5. Oktober 1789 und die Exzesse in Versailles verantwortlich zu sein, zwar von Retif nicht verfaßt, aber heimlich gedruckt worden sei. Er hatte damals in der Wohnung seiner Tochter Marion eine kleine Druckerei, in der er seine Werke und auch andere heimliche und verbotene Schriften druckte. Dieser gegen Mirabeau gerichteten Broschüre folgten mehrere andere in royalistischem Sinne gehaltene wie das „Credo du Tiers-£tat", „Veni Creator Spiritus", „Le De Profundis de la Noblesse et du Clerge" usw., die sehr wohl ebenfalls von R^tif gedruckt sein konnten. Denn erst im folgenden Jahre trat er wohl durch die Vermittlung von Arthaud in Beziehungen zu Mirabeau, um sich nun ganz in dessen Dienst zu stellen.

Endlich wurde an dem erwähnten Tage Retif auf Veranlassung seines erbärmlichen Schwieger- sohnes noch wegen eines dritten, sehr obszönen Pamphletes, dessen Autorschaft Aug^ ihm zuschrieb, verhört. Der Titel desselben lautete :„DomBougre aux £tats-G6neraux, ou Dol^ances du Por- tier des Chart reux, par Tauteur de la Foutro-


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manie", mit dem Epigraph: Latet anguis in herba (A Foutropolis, chez Bracquemart, libraire, nie Tire- Vite, ä la Couille d'Or. Avec permission des Su- p^rieurs. Sans date [1789], 8^, 16 S.).

Auge hatte ein Exemplar dieser Schandschrift in dem Bureau des Pohzeikommissariats niedergelegt, Retif als unzweifelhaften Verfasser derselben be- zeichnet und besonders auf die häufigen Erwäh- nungen der Ideen Retifs mit dessen Namen als Beweis dafür aufmerksam gemacht. Im Verhör ver- wahrte sich Retif sehr energisch gegen diese Be- hauptungen, und da Auge dieselben nicht beweisen konnte, wurde er zur größten Genugtuung seines Schwiegervaters zu 5 oder 6 Tagen Haft verurteilt. Er verließ das Gefängnis nur um so wütender und hörte nicht auf, überall öffentlich R6tif als den Verfasser des „Dom Bougre aux Etats-generaux" zu bezeichnen. Lacroix ist geneigt, sich der An- sicht Auges anzuschließen, da der Inhalt dieser obszönen Schmähschrift ohne Zweifel vielfach ganz die Gedanken und die Ausdrucksweise Retifs er- kennen läßt. So heißt es z. B. ganz im Geiste des „Pornographe" : „Ich will Euch die Mittel zeigen, um die Sitten zu reinigen, die Entartung des Men- schengeschlechts zu verhindern und den Ehebruch, die Päderastie, Bestialität und andere Laster, die seit fünf oder sechs Generationen die Franzosen er- niedrigen, auszurotten. Das Heilmittel würde, wie ich glaube, die Annahme des Systems des verstor- benen (sie) Herrn de la Bre tonne, des großen Moralschriftstellers, sein. Er hat in seinem „Porno- graphe" den Vorschlag gemacht, alle Freudenmäd- chen nach Klassen einzuteilen und sie in verschie-

19*


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denen Häusern unterzubringen. Die verschiedenen Preise müßten auf den Türen bezeichnet, von 12 Livres bis zu 3 Livres, außerdem müßten dort noch andere Einzelheiten wie „kleiner Wuchs", „Blondine" etc. mitgeteilt werden." Wie R6tif später die- „Anti-Justine" dem Advokaten Linguet zuschrieb, so ließ er hier den Verfasser der „Fou- tromanie", S^nac de Meilhan, als Autor figu- rieren. Damals stand er ja, wie wir oben (S. 242) sahen, in direkten Beziehungen zu diesem berühmten Schriftsteller und wurde gelegentlich eines großen Diners am Anfange der Revolution das Opfer einer gelungenen Mystifikation. Möglich, daß er seinem Gastgeber jetzt mit dieser weniger harmlosen Ver- geltung antwortete.

Das Pamphlet, in Form einer Adresse an die Generalstaaten, enthält sechs Kapitel: I. Von den Freudenmädchen; II. Von den Päderasten; III. Von der Sodomie; IV. Vom Inzest; V. Vom Cunnilingus ; VI. Von einigen anderen für die Fortpflanzung schäd- lichen Lastern.

U. a. wird darin empfohlen, daß den Männern gestattet werden solle, bei eintretender Schwanger- schaft ihrer Frauen eine Konkubine zu nehmen und diese, falls der gleiche Fall bei ihr eintreten sollte, wieder mit einer anderen Maitresse zu vertauschen. Die Kinder der Konkubinen sollte dann der Staat adoptieren !

Lacroix meint, daß Retif, wenn er nicht der Verfasser dieser schmutzigen Broschüre gewesen sei, jedenfalls sehr wohl fähig gewesen wäre, sie ge- schrieben oder doch gedruckt zu haben.


Neuntes Kapitel. Die letzten Lebensjahre.

(Zehnte Epoche, 1797 — 1806.)

I. Lebensnöte.

Retif hat niemals sehr viel geschäftlichen Geist in seinen ökonomischen Angelegenheiten entwickelt. Dieser große Beobachter und naturalistische Sitten- schilderer war gegenüber den Verlegern und Buch- händlern von einer geradezu naiven Vertrauensselig- keit. So kam es, daß er sogar von seinen besten Büchern für sich selbst nur sehr wenig übrig behielt. „Ich verstehe nichts von Geschäften," sagt er sehr aufrichtig in einem Briefe, „nicht aus Unwissenheit, sondern meinem Charakter gemäß. Man sollte die Vormundschaft über Schriftsteller verlängern, die wirklich bis zum hundertsten Lebensjahre derselben bedürfen. Ich habe nicht wie andere mein Ver- mögen verschwendet, ich bin im Gegenteil sparsam, nüchtern, ordnungsliebend. Aber ich verstehe die Kunst nicht, aus meiner Arbeit einen Vorteil zu ziehen" (Lettres inedites S. 6 — 7).

Nur in einer Beziehung war er seiner Zeit weit voraus. Er setzte nämlich für das Bekanntwerden und die Verbreitung seiner Bücher eine echt moderne


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Reklame in Szene. Nicht nur zeigte er im Anhange seiner Bücher die bereits erschienenen und die zu- künftig erscheinenden sehr ausführhch mit Analyse des Inhalts, Wiedergabe der zeitgenössischen Kritik usw. an, sondern er ging auch so weit, direkt im Text seiner Schriften oft auf recht naive Weise seine früheren Werke anzupreisen, oder wenigstens darauf hinzuweisen. Am drolligsten und erheiterndsten wirkt in dieser Beziehung eine Stelle im dritten Bande des „Palais Royal" (S. 17 des Neudrucks). Da läßt er die „converseuse" Rose zu ihrer Gefährtin Aurore sagen :

„Wir hatten alle Erzählungen der Städte und aus den Provinzen erschöpft, wir hatten der Prinzessin alle „Con- temporaines', des N.-E. Retif, seine „Fran^aises", seine „Parisiennes" erzählt, die ihr durch ihre Naturwahrheit wie wirkliche Erlebnisse vorkamen, während Marmontels Er- zählungen weiter nichts sind als eben hübsche Erzählungen. Ich hatte als neue Tatsachen die „Nuits de Paris" wiederholt und war am Ende meiner Weisheit, als ich einen wahren Schatz entdeckte! Das sind die 434 von Retif gesammelten ,,liistoires provinciales" über Stoffe, die aus allen Teilen des Königreichs ihm zugeschickt worden waren. Sie sind noch im Manuskript. Du und ich, wir werden täglich jede eine lernen und sie der Prinzessin wiedererzählen! Aurore war von dieser Entdeckung ganz entzückt. Sie erhielt aus Rosas Hand ihre erste vorzutragende Geschichte und las sie. Es war die „zweite Provinziale".

So bekam die Prinzessin jeden Tag bei der Toilette eine Geschichte zu hören und eine zweite nach dem Mittagessen. Man gab dieselben für eben geschehene Ereignisse aus und hierdurch wurde sie auf sehr wirksame Art unterhalten."

Ermutigt durch diesen Erfolg faßt Rose den Gedanken, in Gemeinschaft mit 17 anderen „con- verseuses" neue Erzählungen auszuarbeiten, die „Mille et une mötamorphoses" Rötifs!


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Eine andere nicht weniger wirksame Art der Reklame Retifs war die öffentliche Aufforderung an das Publikum, selbst ihm Stoff für seine Schriften einzusenden oder sonst daran mitzuarbeiten. In anderem Zusammenhange werden wir auf diese selt- same literarische Gewohnheit noch zurückkommen.

Auch war er mit Freiexemplaren recht freigebig. So sandte er z. B. Ende 1798 an den Bürger Fon- taine in Grenoble ein Paket mit nicht weniger als 98 Bänden seiner Schriften! (Lettres in^dites 34 — 35.)

Erst diese riesige Reklame machte in Verbin- dung mit dem Inhalt seiner Schriften Retif zu einem Volksschriftsteller im wahren Sinne des Wortes. Denn die niederen Volksklassen sind alle- zeit für solche sensationellen Mittel am meisten empfänglich gewesen. Und ihm selbst kam es vor allem auf Popularität an, auf möglichste Ver- breitung seiner Schriften in weiten Volkskreisen, weniger auf geschäftliche Ausbeutung seiner Schrift- stellerei. So erlebte er denn in letzterer Beziehung sehr viele Enttäuschungen und ging häufig gänzlich leer aus, wenn er nicht gar noch bei einem Buche zusetzte. An vielen Stellen seiner Werke macht er interessante Mitteilungen über diese pekuniären Ver- hältnisse. Schließlich hat er in dem „Grand etat de mes affaires" am Schlüsse der „Inscripcions" (316 — 322) eine interessante Zusammenstellung seiner schriftstellerischen Einnahmen und Ausfälle gegeben, die wir ohne die beigegebenen Erläuterungen hier folgen lassen:

Familie vertueuse 750 l(ivTes)

Lucile 72 „

Total 822 l(ivres)


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Report 822 l(ivres) . . . 00 „ \


Pied de Fanchette

Fille naturelle 00

Confidence n6cessaire .... 00

Pomografe 00

Mimografe 00

Lettres d'une fille ä son p6re 600

Ecole de la jeunesse, environ 300

Femmes trois etats 00

M6nage parisien 00

Nouvauxmemoiresd'unH.deq. 00

Fin matois 00

Paysan perverti 9000

Ecole des peres 00

Gynografes et Andrografes . 00

Quadragenaire 480

Malediction paternelle .... 1500

Nouvel Abeillard 2400

Vie de mon pere 4800

Decouverte Australe .... 1500

Derni^re a venture 500

Pr6vencion nationale .... 800

Oribeau 1200

Les GDntemporaines, environ 27000 Les Frangaises (choiries ou

separement) 2734


ij augin me doit I ces 2 ouvrages. Kolman») (?) Edme Edme Michel


Costard


Costard En natura


Total 5 3886 l(ivres)


La femme infidöle


00 l(ivres)


Ingenue Saxancour ....


00 „


Le Thesmografe


00 ,,


Les Nuits de Paris ....


00 „


La Semaine nocturne . . .


00


Les Filles du Palais-Royal


600 „


Les Tableaux de la vie . . .


150 ..


Ci-contre


53886 „


Total


54636 l(ivres)


') Hier und bei den folgenden Namen ist zu ergänzen: blieb den Betrag schuldig.


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Sur la „Femme infidelle", vendue ä 30 s. ä

Maradan, perdu 1200 l(ivres)

Sur „Ingenue". perdu les 600 „

Sur le „Thesmografe", toujours au meme, perdu 888 „ Sur les „Nuits de Paris", qui me coutent d'im- pression et mss., 22 mille livres, perdu, avec

Maradan 4000 „

Avec Perlet, brocheur, 3000 1 700 „

Avec Dubosc, colporteur, 1200 1 200 „

Voles 400 .»

Donne ä vil prix la moiti6 de redition pour

9000 l(ivres)

Re9u de Petit 1700 „

Belin 600 „ perdu 335 „

Duchesne ... • 1040 „

Regnaut 400 ,,

Ai retire 17940 „ • • 4060 „

Total de mes pertes 12378 l(ivres)

Pertes anciennes et nouvelles 21707 l(ivres)

12378

Total 34185 l(ivres)

Es Stand also der obigen Einnahme von 54636 Livres ein Verlust von 34 185 Livres gegenüber. Das macht einen Überschuß von 20451 Livres für die Zeit von 24 Jahren, also noch lange nicht tausend Livres pro anno! Zu dieser traurigen Bilanz gibt Retif noch die folgende Erläuterung: „Es folgt daraus, daß ich nicht mehr als tausend Livres jährlich ausgegeben habe und daß man mir viel mehr von der Frucht meiner Arbeit gestohlen hat, als man mir dafür gegeben hat. Ich habe zwei Kinder erzogen, ich habe drei oder vier Personen unterstützt. Meine persönliche Ausgabe hat also nicht mehr als 400 Livres das Jahr betragen."


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Freilich hatte er fast nur diese geringen schrift- stellerischen Einnahmen für seinen Lebensunterhalt verwendet, während er ein von seinem Vater imd dem Abbe Thomas ererbtes nicht unbeträchtliches Ver- mögen (vgl, über die einzelnen Bestandteile desselben die Zusammenstellung bei Cottin a. a. O. S. 172 bis 173) möglichst unangetastet ließ. Die Assignaten- wirtschaft der Revolution beraubte ihn dieses Ver- mögens gänzlich, so daß er sich am Ende seines Lebens dem bittersten Elend preisgegeben sah. In den „Lettres inedites" (z. B. S. 20) und in dem Be- richt über die „gegenwärtige Lage des Heraus- gebers" am Ende der „Posthumes" tritt uns diese Lebensnot des bedauernswerten Mannes auf eine ergreifende Weise entgegen.

In dieser Bedrängnis fand R6tif die Teilnahme

und Hilfe zweier edler Männer, des berühmten Car-

not, Mitgliedes des Direktoriums, und eines höheren Zollbeamten namens Lecomte. Der letztere ver- schaffte ihm im Jahre 1799 eine Stellung in der Verwaltung der Zölle mit einem Jahresgehalte von 4000 Francs. In dem letzten Briefe der „Lettres inedites" berichtet R 6tif voll Freude seinem Freunde in Grenoble über den Empfang der ersten Monats- rate dieses Gehaltes im Betrage von 333 Francs. Voilä un petit commencement de bonheur (Lettres inedites S. 61). Nach Cubi^res bekleidete er dieses Amt bis zu seiner letzten Krankheit, bis zu dem Augenblicke, wo er nicht mehr imstande war, zu gehen oder die Feder zu halten (Cubi^res bei La- croix a. a. O. S. 65).

Der letzte Trost seines zur Neige gehenden Lebens war die Freundschaft einer edlen, geistreichen


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Frau, in deren Hause er schon seit langer Zeit ver- kehrte und die ihm fast allein von seiner ganzen früheren vornehmen Bekanntschaft die Treue be- wahrt hatte. Diese „femme Celeste", wie Retif sie nennt, sein „Engel", wie Cubieres sagt, war die Gräfin Fanny de Beauharnais, die Tante der Kaiserin Josephine.


2. Fanny de Beauharnais und ihr Kreis.

Die Gräfin Fanny de Beauharnais (1738 bis 1813), eine literarisch sehr gebildete und auch selbst produktive Frau, war in den 70er, 80er und 90er Jahren des 18. Jahrhunderts der Mittel- punkt eines literarischen Salons, zu dessen ständigen Besuchern Männer wie Dorat, Pezay, Colle, Colardeau, Cröbillon fils, Cailhava, Bon- nard, Gudin, Dusaulx, de Coth, Cubieres- Palm6zeaux und der berühmte Naturforscher Buffon gehörten. Hier gab es aber mehr geistige als körperliche Nahrung. Denn die geistreiche Wirtin kümmerte sich weniger um die Details der Haus- haltung und Küche als um ihre Verse. Dorat und Buffon waren ihre leidenschaftlichsten Verehrer, und Cubieres zeigt uns in einem hübschen Genre- bilde den großen Naturforscher im Salon seiner Freundin :

Buffon ne cessa point d'admirer ses talents. Que de fois je Tai vu, malgr6 le poids des ans. De la beaute sensible enviant le suffrage, Venir ä Beauharnais offrir un pur hommage Et daigner applaudir, avec un doux souris, A des vers faits par eile, ou pour eile entrepris!


300


Mit dem Tode D o r a t s und B u f f o n s veränderte sich die Zusammensetzung des Salons der Beau- harnais ein wenig, der bis dahin rein hterarische Interessen gepflegt hatte. Jetzt kamen Schriftsteller dorthin, die den großen Begebenheiten der Zeit mit leidenschaftlicher Anteilnahme folgten und die Po- litik des Tages in die Stille des Salons trugen. Es waren Männer wie Mercier, der Verfasser des Kulturbildes „Le tableau de Paris", der Dichter und Illuminat Cazotte, der berüchtigte Baron von Clootz, Rabaud de Saint-£tienne, Boissy d'Anglas und Cubieres. Man vereinigte sich an jedem Zweiten, Zwölften und Zweiundzwan- zigsten des Monats und besprach hier literarische und politische Fragen, wobei oft die sonderbarsten Behauptungen aufgestellt wurden. „Ihr kleiner Salon in Blau und Silber," sagt Cubieres, „ist gevnsser- maßen das Ei der Nationalversammlung gewesen, und aus diesem Ei sind die Keime hervorgegangen, die durch den Einfluß der öffentlichen Meinung die Früchte der Freiheit hervorgebracht haben." Die edle, gutherzige Frau ließ dem Redestrom freien Lauf, sie war nicht imstande, die Debatte zu leiten imd die Unterhaltung in vernünftige Bahnen zu lenken. Sie hatte nur ein hilfloses Lächeln, wenn die Geister gar zu heftig aufeinander platzten.

Man plauderte gewöhnlich bis kurz vor Mitter- nacht. Dann wurde im Speisezimmer ein Soup>er eingenommen. Man kehrte dann in den Salon zurück und es wurde bis gegen 3 Uhr morgens vorgelesen. Manche blieben auch dann noch, um zu plaudern und zu diskutieren. Die Herrin des Hauses zog sich erst nach dem Weggange des letzten Besuchers zurück.


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Berühmte Fremde, vornehme Personen waren nicht selten als Gäste zugegen, aber auch manche Aben- teurer und zweifelhafte Gestalten.^)

R6tif machte die Bekanntschaft der Komtesse de Beauharnais bereits am 8. Juni 1787, wo er ihr durch seinen Freund M e r c i e r vorgestellt wurde (Inscr. 304, M. N. XI, 154), er speiste zuerst am 22. Juni dieses Jahres bei ihr zu Abend (Inscr. 307). Sie empfing ihn mit großer Liebenswürdigkeit und Wohlwollen, das sie ihm bis zu seinem Tode be- wahrte. R^tif war entzückt von ihrer Schönheit, ihrem „wollüstigen" Gange. „Wenn man sie sieht, hört, liest, fühlt man, welche Wonne es sein muß, von ihr die Freuden der Liebe zu empfangen." Leider wurde er niemals dieser letzteren teilhaftig, sondern mußte dieselben seinem glücklicheren Nebenbuhler Cubi^res überlassen, dem erklärten Geliebten der Beauharnais und dem „Nachfolger Dorats" (M. N. XI, 156) in ihrer Gunst.

R6tif ging jeden Freitag Abend zur Komtesse und blieb oft in Gesellschaft der anderen bis 5 Uhr morgens dort. Dort las er in späterer Zeit die ver- schiedenen Partien des „Monsieur Nicolas" vor, oder nahm an der Unterhaltung teil, die vor der Revo- lution meist die Chronique scandaleuse von Hof und Gesellschaft betraf — es war die Zeit der „Anec- dotes secr^tes" — , später mehr den öffentlichen An- gelegenheiten gewidmet war.

„Nach drei Uhr erzählte gewöhnlich der Marquis de la Orange, ein verabschiedeter Offizier von den[^Musketieren, die Anekdoten von den Höfen Ludwigs XV. und Lud-


  • ) Vgl. G. Desnoiresterres ,,Le Chevalier Dorat et les

pc^tes legers au XVIIIe siecle", Peiris 1887, S. 379—392.


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wigs XVI. Dieser Mann war zwar kein Genie, hatte aber ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Ich habe diese Anekdoten des alten Offiziers in den „Provinciales" benutzt, wo man ganz erstaunliche Dinge findet, auch in den „Parisiennes", im ,,Drame de la Vie" und im 15. und 16. Bande der „Nuits de Paris",

Ich sah bei der Komtesse Cubieres, den Nachfolger Dorats, Cazotte, der mir die zärtlichste Freundschaft ent- gegenbrachte, Rabaud Saint-Etienne, damals ein großer Geck, La Ferte und seinen Schwager Vic-d'Azir, den italienischen Grafen Arconati, einen Kosmopoliten, der die ganze Erde, selbst Lappland besucht hatte, den Engländer Robinson, den Sohn einer Hindufrau, der ganz den roman- tisch exaltierten Charakter dieses Stammes geerbt hatte, Stanislaus Potocki, Bruder des Großmarschalls der Krone von Polen, einen sehr geistreichen, lieben würdigen Mann, der einen ebenso reinen französischen Stil schrieb, wie unsere besten Autoren. Im 14. Bande der „Nuits" habe ich einen sehr geschmackvollen und kenntnisreichen Essay von ihm über die Gemälde im Salon von 1788 abgedruckt. Endlich den jungen Prinzen Czartoriski, einen schönen, gebildeten und bescheidenen Mann. Indessen hatten wir eines Abends eine kleine Differenz. Ich kannte ihn nicht, er trug eine ge- wöhnliche graue Kleidung. Er setzte Aristoteles herab. „Junger Mann," sagte ich zu ihm, „sprechen Sie von großen Männern mit mehr Ehrerbietung. Kennen Sie denn über- haupt diesen Aristoteles, über den Sie zu urteilen wagen? Es ist der Vater des gesunden Menschenverstandes, der Logik und guten Regeln der Literatur. Man lästert ihn, wie man heute die Gottheit lästert." Nach dieser Erklärung gestand der junge Prinz sein Unrecht mit Sanftmut ein. Ich lernte noch einen anderen polnischen Grafen oder Prinzen kennen, ich glaube Malakeuski, mit dem wir bei einem fast ein- samen Souper eine köstliche Unterhaltung hatten. Alle Polen, die ich bei der Gräfin gesehen habe, waren die üebenswürdigsten Menschen. Dort war auch der Prinz Gonzaga, dessen Groß- vater von Österreich der Herrschaft über Mantua beraubt worden war, weil er im spanischen Erbfolgekriege auf selten der Franzosen gestanden hatte. Dieser an unseren Soupers


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teilnehmende Prinz war der letzte seines Namens. Ferner waren anwesend der Sohn Buffons, ein schweizerischer Graf mit seiner Tochter, die ebenso schön war wie Julie d'Etange, fast alle berühmten Schriftsteller, eine Menge vornehmer Offiziere, kurz, fast ganz Europa.

Vor dieser intelligenten Gesellschaft las ich meine ersten „Epochen" vor. O wie wurde Madame Parangon dort be- wundert I „Die himmlische Frau!" rief die Gräfin aus. Wie liebte man Zephire. Weiter als bis zur Episode „Louise und Therese" ging ich nicht, da ich nicht unbekannten Leuten meine letzten Erlebnisse offenbaren wollte.

Bei unserer intimeren Unterhaltung nach drei Uhr er- zäMte die Komtesse oft sehr interessante Dinge, wie z. B. jene Geschichte, aus der ein bekannter Schriftsteller ein Werk mit dem pikanten Titel „Les Posthumes" gemacht hat, eben- so andere Anekdoten, die sie selbst betrafen." (Monsieur Nicolas XI, 155—158.)

Cubieres berichtet (bei Lacroix a. a. O. S. 54), daß R^tifs Beziehungen zu Fanny de Beau- harnais bis zu seinem Tode unverändert freund- schafthche blieben. Noch in den letzten Lebensjahren sah man den Greis trotz seiner mehr als fragwürdigen äußeren Erscheinung in den Gesellschaften der Gräfin. Der Baron de Lamothe-Langon, der R6tif in den Jahren 1803 und 1804 in dem Salon der Beauharnais begegnete, erzählt uns, daß er einen kläglichen Eindruck machte und allen Per- sonen, die ihn zum ersten Male sahen, einen gewissen Abscheu einflößte. Dieser wurde hauptsächlich durch sein stolzes, hochfahrendes Wesen und durch seine schmutzige und schäbige Kleidung hervorgerufen, die nicht selten die Geruchsnerven der Anwesenden in empfindlicher Weise beleidigte. Es bedurfte der ganzen Güte und Liebenswürdigkeit der Gräfin, um ihre übrigen Gäste zur Nachsicht und Toleranz gegen


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diesen Sonderling zu bewegen (Lacroix a. a. O. S. 21, nach eigener Mitteilung von Lamothe- i-angon). — Diese Schilderung von Lamothe- Langon ist vielleicht ein wenig zu parteiisch ge- färbt, wenn wir den Eindruck dagegen halten, den Helmina von Ch6zy von R^tif de la Bretonne empfing imd über den wir in anderem Zusammen- hange berichten.


3. Letzte literarische Pläne und Arbeiten

Bis zum letzten Augenblicke seines Lebens ist R^tif literarisch tätig gewesen. Die Hauptkraft verwendete er auf die möglichste Vollendung seiner monumentalen Selbstbiographie, des „Monsieur Ni- colas". Die ersten acht Teile waren im Jahre 1794 erschienen, aber wie wir aus den Notizen in seinem Tagebuche sowie aus den chronologischen Bemer- kungen selbst wissen, schon lange vorher geschrieben worden. Im Jahre 1796 folgten Teil 9 und 10. Der Rest erschien im Laufe des Jahres 1797. Nur imter den größten pekuniären Schwierigkeiten konnte der Druck eines so umfangreichen Werkes von 16 Bänden vollendet werden, und wie wir wissen, scheiterte an diesem Geldmangel die Fortführung des Unter- nehmens in der ursprünglichen Form einer fort- laufenden chronologischen Erzählung. Außerdem verminderte sich trotz des interessanten Inhalts mit jedem Bande die Zahl der Käufer. R^tif faßte den Plan, das Werk auf dem Wege der Subskription zu vertreiben, mit Beteiligung der Subskribenten am Gewinne aus einer zweiten Auflage 1 Zu diesem Zwecke versandte er einen Prospekt mit einer völlig imagi-


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nären Subskribentenliste, Er bekam auch etwas Geld, aber die ganze Sache wurde durch die politi- schen Ereignisse inhibiert. Trotzdem es den Buch- händlerfirmen Veuve Duchesne und Nicolas Bonne ville, denen er die ersten acht Bände in Kommission gegeben hatte, nicht gelungen war, einen nennenswerten Absatz zu erzielen, setzte Retif un- verdrossen den Druck der weiteren Bände fort. Wo sollten auch die Käufer sein, da die meisten be- güterten Liebhaber solcher Werke, die als Subskri- benten in Betracht kamen, eingekerkert, ausgewan- dert oder gar guillotiniert waren? Damals, zur Zeit der Schreckensherrschaft, las man nur erotische und rein obszöne Schriften, und die durften meist den Umfang von zwei kleinen Bändchen nicht über- schreiten. Ein Werk von i6 Bänden hatte allein schon durch diesen Umstand etwas Abschreckendes für die damalige Zeit. Man kaufte es nicht, ja es ist zweifelhaft, ob überhaupt irgendein Journal das Werk erwähnt hat.

Trotz allem opferte Retif seine letzten Mittel, um dieses kühne Unternehmen zu vollenden. Man sieht aber deutlich, daß Druck und Papier der Bände 9 — 16 gegenüber den ersten Bänden sehr viel schlechter geworden sind. Retif betrachtete diese Ausgabe nur als eine für den Autor und eine kleine Zahl seiner ständigen Leser bestimmte „Druckkopie" des Manuskripts, die später durch eine definitive für die große Öffentlichkeit bestimmte Ausgabe ersetzt werden sollte. Deshalb bemaß er die Auflage nur noch auf 250 Exemplare statt der 450 der ersten acht Bände. Selbst diese geringe Auflage blieb un- verkäuflich, schließlich mußte Retif sie von Du -

D Uhren, Retif de la Bretonne. 20


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chesne und Bonne vi lle wieder abholen lassen und in großen Ballen verpackt in dem elenden Erdgeschoß in der rue du Fouarre Nr. 26 auf- stapeln, das er zusammen mit seiner zur Witwe ge- wordenen Tochter Marion bewohnte. Ein Mann, der R^tif dort noch gesehen hatte, erzählte La- croix, daß er bisweilen unter Tränen diese staubi- gen Bücherballen betrachtet und zu seiner Tochter gesagt habe : „Da liegt ein Vermögen. Aber ich muß erst unter der Erde ruhen, um nach meinem wahren Werte geschätzt zu werden und den mir gebührenden Platz als einer unserer ersten Romanschriftsteller und Philosophen zu erhalten" (Lacroix 403). Un- willkürlich denkt man bei diesen Worten an das ziemlich, wenn auch nicht ganz ähnliche Schicksal der Bücher Arthur Schopenhauers.

Selbst nach dem Erscheinen des letzten, 16. Ban- des des „Monsieur Nicolas" zeichnete R^tif seine Memoiren weiter auf. Seine Frau und seine Töchter übergaben das Manuskript dieser späteren Lebens- erinnerungen nach dem Tode Retifs seinem Freunde Mercier zur Herausgabe. Obgleich dieser ihn um neun Jahre überlebte, veröffentlichte er nichts von dem hinterlassenen Werke seines ehemaligen Freun- des und literarischen Nebenbuhlers. Beider Manu- skripte wurden um 18 19 von einem gewissen Lalle - ment verbrannt, dem Mercier sie vermacht hatte (Lacroix 406 — 407). Wie wir aber sahen, sind doch einige Manuskripte Retifs gerettet worden, und es ist zu hoffen, daß noch mehr davon ans Tageslicht kommt.

Im Jahre 1797 veröffentlichte R^tif noch die „Philosophie des Monsieur Nicolas" unter Mitwir-


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kung seines Freundes Bonne ville, der auch den Druck überwachte, und 1798 erschien die berüchtigte „Anti-Justine", dieser seltsame Niederschlag der erotischen Phantasien Retifs, ein in eine konden- sierte Form gebrachtes System seiner sexuellen Aus- schweifungen und Perversitäten, wie er sie wirklich begangen hatte (s. unten).

In den aus den Jahren 1797 — 1799 stammenden „Lettres inedites" spricht R^tif öfters von einem noch unveröffentlichten Werke, den „Lettres du Tom- beau", von dem er in pekuniärer Beziehung sehr viel erhoffte. „Dieses Werk ist von einer beispiellosen Originalität und zugleich voll von tiefen Erkennt- nissen, merkwürdigen naturwissenschaftHchen und philosophischen Ideen, die ich für die Leser beider Geschlechter gemeinverständlich dargestellt habe" (Lettres inedites 30).

Es ist dies dasselbe Werk, das dann im Jahre 1802 imter dem Titel „Les Posthumes; lettres regues apr^s la mort du mari, par sa femme, qui le croit ä Florence" (Paris, 4 Bände) erschien, und auf dessen Titel der verstorbene Cazotte als angeb- licher Verfasser bezeichnet war. Auf der Rückseite des Titels führt R^tif dies weiter aus, indem er er- klärt, daß Cazotte, mit dem er seit 1786 bekannt gewesen sei und den er dann später zweimal wöchent- lich bei der Gräfin Beauharnais getroffen habe, ihm diese im Geiste der französischen Illuminaten verfaßte Schrift übergeben und ihn beauftragt habe, sie zu veröffentlichen.

Cubi^res macht in seiner biographischen Notiz über R6tif einige interessante Mitteilungen über das Zustandekommen der „Posthumes" oder wie er sie

20'


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ebenfalls nennt der „Lettres du Tombeau". Danach gab Madame de Beauharnais R^tif das Sujet dieses Romans, und diese „einfache, natürliche, ge- fällige" Idee arbeitete Retif zu vier dicken Bänden aus. Er brachte ihr jeden Freitag, wenn er bei ihr soupierte, fünf oder sechs solcher „Briefe aus dem Grabe", die er mit großer Selbstgefälligkeit vorlas und die alle bewunderten, weil „in einer Privatgesell- schaft jedermann alles bewundert". Diese Vorlesung dauerte für gewöhnlich bis 5 oder 6 Uhr morgens, die meisten Zuhörer schliefen dabei ein.

Die Regierung verbot, wie Cubieres weiter berichtet, die Publikation des Werkes, seiner An- sicht nach nicht mit Unrecht. Denn dasselbe wimmelt trotz seiner „erhabenen Bizarrerie" von den empörendsten Obszönitäten und indiskreten Ent- hüllungen über hervorragende politische Persönlich- keiten (Cubieres bei Lacroix 71^ — 72). Die Ver- öffentlichung veranlaßte in der Tat eine Vorladung des Verfassers vor den Untersuchungsrichter und eine Konfiskation des Werkes selbst. Dank den Be- mühungen seiner Gönner, namentlich der geistigen Urheberin des Werkes, der Gräfin Fanny de Beau- harnais, blieb aber Retif selbst unbehelligt.

In demselben Jahre wie die „Posthumes" er- schienen die „Nouvelles Contemporaines ou Histoires de quelques femmes du jour" (Paris, 1802, 2 Bände), eine Sammlung freier Erzählungen aus den früheren Schriften des Verfassers, besonders dem „Monsieur Nicolas", mit Einfügung von Dia- logen und neuen Einzelheiten und Veränderung der Namen, wie z. B. die gänzlich umgestaltete Episode von Louise und Therese in Bd. II S. 80 — 151 beweist.


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wo sie als eine Novelle „Louise Elisabeth Allan" wiedererzählt wird. R e t i f hat dieses Werk selbst gedruckt zugleich mit einigen auf der Rückseite des Titels angezeigten kleineren erotischen und bizarren Romanen aus anderer Feder wie dem „Faublas mo- derne", „Selisca", „Th6odorine", „Adrien ou les aventures d'un jeune Seminariste" etc.

In den Gesellschaften bei der Gräfin Beau- harnais sammelte Retif auch das Material für eine Schrift, die er im Manuskript hinterließ und die erst nach seinem Tode erschien. Es ist die „Histoire des Compagnes de Maria, ou £pi- sodes de la vie d'une jolie femme" (Paris, 1811, 3 Bände). Die darin enthaltenen Erzählungen hörte Retif von der Beauharnais, es sind die der Ge-

^hrtinnen der Gräfin in dem Kloster, wo sie erzogen

wurde. „Maria" ist sie selbst. Sie wird auf jeder Seite erwähnt. Drei Novellen beziehen sich aus- schließlich auf sie. „Reve de Maria, ou la Femme d'un Barbe-Bleue" ist die Geschichte ihrer unglück- lichen Ehe; „Les Distractions de Maria", eine feine Schilderung ihrer Persönlichkeit ; „Liste des ouvrages de Maria", eine Apotheose der Schriftstellerin.

In den „Lettres inedites" spricht R^tif auch von seiner Arbeit an den schon früher erwähnten „Mille et Une Metamorphoses", einem Werke, das er bereits seit 1783 anzeigte, dessen ersten Teil er aber erst im Jahre 1797 im Manuskript vollendet hatte. In einem Briefe vom 28. März 1798 sagt er aber: „Unglücklicherweise muß ich noch ein Werk mit dem Titel „Les mille et une M6tamorphoses" beendigen. Ich sehe aber keine Möglichkeit, dies zu tun" (Lettres inedites 42).


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In demselben Briefe (S. 43) spricht er von einem anderen im Manuskript vorhandenen Werke imter dem Titel „L'Enclos ou les Oiseaux", das seit 1797 für den Druck fertig war. Es sollte ^ eine Er- gänzung, der letzte Teil der „Contemporaines" sein. Ausführlicher äußert er sich über dieses umfang- reiche Manuskript, das nach Lacroix (a. a. O. S. 442) vielleicht noch vorhanden ist, im 16. Bande der Original - Ausgabe des „Monsieur Nicolas" (S. 4754 ff.). Danach sollte es sechs Teile in drei oder vier Bänden umfassen. Der „Enclos" (einge- schlossener Platz) ist der Ort, wo ein Herzog aus der Familie Mazarin seinen durch den Genuß von Sperma (sie I) unsterblich gemachten Sohn „L'Immor- tel" durch Vögel, große Adler, bewacht aufwachsen läßt, um der Stammvater eines neuen unsterblichen Menschengeschlechts zu werden ! Es ist zugleich der Wohnsitz von 366 Gattinnen, die der Herzog diesem glücklich-unglücklichen Sohne gibt, ohne die aus verschiedenen Serails und Harems der Türkei her- beigeholten Beischläferinnen mitzuzählen. Denn die Vögel geben ihrem Besitzer eine übermenschliche Potenz. Jede Schöne muß am Abend ihrer Hochzeit die Geschichte ihrer Mutter erzählen. Das macht eine Folge von 60 interessanten Novellen. Dann wird die allmähliche Ausbreitung dieser neuen Menschen- rasse über den ganzen Erdball geschildert, die Ge- schichte ihrer Sitten und ihrer Sprache in 10, 20, 30, 100, 100 000, einer Million, 100 Millionen Jahren erzählt! So weit hat der Verfasser mit Hilfe des „Unsterblichen" bis ans Ende der Zeit und der indi- viduellen Existenz unseres Erdballs in die Zukunft vordringen können (M. N. XIV, 181— 184).


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Über zahlreiche andere Hterarische Pläne gibt R^tif an derselben Stelle (M. N. XIV, S. 188—190) Nachricht, er verzeichnet hier nicht weniger als 28 Titel. Besonders die „tausend und ein" scheinen es ihm angetan zu haben. Außer den „mille et une m6tamorphoses" (Nr. i) sehen wir da „Mille et une Faveurs" (II), „Mille et une resolutions d'une jeune fille ä marier" (III), „Mille et une Ingenuites" (XIV), „Mille et une infidelites" (XV), „Mille et un Plai- sirs" (XVI), „Mille et une Manieres de plaire aux filles" (XXI) usw.

Auch von R^tif kann man sagen, daß er mit der Feder in der Hand starb. In dieser Beziehung erinnert er lebhaft an einen deutschen, ebenso leiden- schaftlich in seinem Berufe aufgehenden Schrift- steller, an Karl Gutzkow, den typischen „Helden der Feder" des neunzehnten Jahrhunderts.

4. Krankheiten und Ende.

Im Jahre 1795 wurde Retif von einer gefähr- lichen Krankheit befallen — es war der Rückfall eines alten Leidens — , von deren Folgen er sich nicht wieder erholte. Die letzten zehn Jahre seines Lebens waren durch beständige körperliche Leiden getrübt. Jene Krankheit von 1795 S^^ ihm die Veranlassung, im elften Bande des „Monsieur Nicolas" eine inter- essante Übersicht über alle körperlichen Leiden seines Lebens zu geben (M. N. XI, 193 — 206).

„Wir sterben allmählich von dem Moment an, wo wir aufhören zu wachsen, kaum erfreuen wir uns einiger weniger Tage unserer vollkommenen Ent- wicklung." So urteilt Retif (M. N. XI, 197) über das menschliche Leben nach eigener Erfahrung.


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In der Kindheit litt er sehr häufig an Unter- leibsbeschwerden, da er zu hastig aß und zu viel durcheinander. Wenn er infolge dieser Mißhandlung seiner Verdauungsorgane eine sehr heftige Kolik bekam, pflegte er sich auf den Bauch zu legen und den Unterleib fest gegen eine heiße Wärmflasche anzudrücken. Dann hörten die Schmerzen sofort auf. Diese auf Verdauungsstörungen beruhenden Koliken hörten schon mit seinem zwölften Lebensjahre auf, um später kolikartigen Schmerzen anderer Art, die eine genitale Ursache hatten, Platz zu machen. Sie traten vornehmlich nach vergeblichen erotischen Er- regungen auf (M. N. XI, 199).

Als Kind litt er auch an einem harmlosen Übel, das er selbst mit dem lateinischen Worte „lecti- minction" bezeichnet; ferner wurde er nacheinander von verschiedenen Infektionskrankheiten heimge- sucht, den Röteln, Wechselfieber und Pocken. Na- mentlich die letzteren nahmen ihn arg mit und hätten ihn beinahe des Augenlichtes beraubt. Im Jahre 1757 machte er eine schwere Lungenentzündung durch, die sich 1758 wiederholte. Nur dank der zärtlichen Pflege seiner Zephire und den „engli- schen Tropfen" des Apothekergehilfen Bonnet kam er mit dem Leben davon. 1759 hatte er nach der Rückkehr von Dijon wieder ein Wechselfieber, das er durch eine wahre Pferdekur von schweißtreibenden Tränken heilte. 1764 trat zu einer Verletzung am Beine die Wundrose.

Diese vorübergehenden Leiden waren aber nicht so schlimm wie die häufig sich wiederholenden venerischen Erkrankungen, die er sich infolge seines ausschweifenden Lebenswandels oder besser


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seines wahllosen Geschlechtsverkehrs zuzog und an deren Folgen er bis ans Ende seines Lebens zu leiden hatte. Gonorrhoe und Syphilis haben ihm das Dasein am meisten verbittert. Damals rechnete man die Gonorrhoe noch zu den syphilitischen Erkrankungen, wenn man auch sehr streng ihre im wesentlichen rein örtliche Natur von der konstitutionellen Erkrankung des Organismus durch Syphilis unterschied und die neuzeitliche Natur der „haitischen Krankheit" (M. N. XI, 203) gegenüber der Existenz der Gonorrhoe im Altertum ausdrücklich betont. Die Frage nach dem Ursprünge der Syphilis war damals von dem genialen Astruc genau untersucht und im Sinne der amerikanischen Herkunft (aus Haiti), am Ende des 15. Jahrhunderts, beantwortet worden, i) Wie Voltaire im „Candide" hat auch Retif im „Monsieur Nicolas" (XI, 202 — 203) seine Ansicht über diese interessante Streitfrage ausgesprochen.

„Ich denke auch, daß die große Schwester der Blattern') alt ist. Man liest im Leviticus, Kap. XV, Vers l — 18, daß der an Samenfluß leidende Mann unrein sein und aus der Gesellschaft verbannt werden soll. Nun frage ich, ob ein harmloser, kaum merklicher Ausfluß ein solches Gesetz nötig gemacht hätte? Nur die Gonorrhoe allein war für diesen Zweck ausgesprochen genug. Die Juden bekamen sie von den Ägyptern, die sie ohne Zweifel von den Äthiopiern er- warben, diese von den Negern, bei denen sie endemisch, aber sehr wenig gefährlich und leicht zu heilen ist. In Spanien ist die Syphilis eine Bagatelle. Weniger in Guinea. In Haiti oder Sankt-Doming©, von wo die Europäer die neue Auflage dieser Krankheit mitgebracht haben, wurden wenige Karaiben von ihr belästigt, obgleich sie alle den Keim des


  • ) Vgl- J. Astruc, De morbis venereis libri novem, Paris

1740, 2 Bände.

') Blattern = petite veröle; Syphilis = grosse veröle.


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Leidens in sich trugen. Ihre Frauen teilten dasselbe den europäischen Matrosen mit. Selbst Jungfrauen konnten es übertragen. In kalte Klimate verpflanzt, wurde die Syphilis schrecklich. Denn die Kälte verhindert die Transpiration, die allein in den heißen Ländern in Verbindung mit dem Guajakholztrank die Krankheit heilt."

Aus diesen sehr verworrenen und phantastischen Anschauungen geht jedenfalls ziemlich deutlich her- vor, daß Retif die Syphilis selbst für eine neuzeit- liche Krankheit hielt.

Die erste venerische Infektion zog er sich im Jahre 1757 einige Monate nach dem Tode der Ma- dame Parangonzu, die zweite 1770; sie wurde 1771 rückfällig. Eine neue venerische Erkrankung erfolgte 1776. Als Folgen der häufigen Gonorrhoen stellten sich zwei sehr unangenehme Leiden ein, die Retif Jahrzehnte hindurch arg gequält haben: eine Stran- gurie mit zeitweiliger Harnverhaltung (seit 1770, öfter sogar eine Retentio completa wie 1775 und 1795) und Spermatorrhoe (seit 1779). Dazu kamen noch, um das Maß seiner Leiden voll zu machen, seit 1786 Stein- und Hämorrhoidalbeschwerden.

Kein Wunder, daß der so Geplagte wie ein rich- tiger Hypochonder sich fortwährend mit all seinen körperlichen Leiden beschäftigte, über die er stets ein genaues Tagebuch führte und die er in einer größeren Schrift „Mes maladies" ausführlich dar- stellen wollte. Er beschäftigte sich auch viel mit den medizinischen Schriftstellern des Tages, be- sonders natürlich mit den Schriften über venerische Krankheiten. Er las z. B. das große Werk von Astruc, gab aber nach der Lektüre allen kranken Personen den sehr zutreffenden Rat, niemals medi- zinische oder chirurgische Schriften zu lesen, die


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über ihr betreffendes Leiden handelten. Ihn habe die Lektüre des Astruc beinahe zur Verzweiflung gebracht (M. N. XI, 200).

Von Ärzten, die ihn behandelten, nennt R6tif Dr. Choppart, der ihm wiederholt bei einer kom- pleten Harnverhaltung durch seinen raschen und ge- schickten Eingriff das Leben rettete (M. N. XI, 205), dann den berühmten Tissot, der ihm für ähnliche Beschwerden während seiner Anwesenheit in Paris im März 1780 die Einführung von Bougies verord- nete (Inscr. 8), vor allem aber seinen Freund, den berüchtigten Dr. Guilbert (oder Guillebert) de Pröval, für den er eine leidenschaftliche, über- triebene Bewunderung hegte, den er unzählige Male in allen seinen Schriften, immer nur lobend, erwähnt und sogar in der Novelle „La perfide horlogere" aus den „Contemporaines du commun" unter An- führung des Namens eine Rolle spielen läßt. Jeden- falls konnte dieser viel angefeindete Charlatan sich keine bessere Reklame wünschen, als ihm durch R^tifs gesprochenes und gedrucktes Wort zuteil wurde.

GuilbertdePreval hatte sich bei schottischen Wunderdoktoren ein unfehlbares Spezifikum und vor allem Verhütungsmittel gegen die Syphilis geholt und dies auch, wie die „Mdmoires secrets" von Bachau- mont unter dem 6. Mai 1771 erzählen, in Gegen- wart des Herzogs von Chartres und des Prinzen von Cond6 selbst praktisch bei einer Puella publica erprobt. Am 10. Juni hatte er dieses sehr realistische Experiment in Gegenwart des Leibarztes des Grafen de la Marche wiederholt. Gegen dieses standes- unwürdige Verhalten schritt alsbald die Pariser medi-


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zinische Fakultät ein und verkündete unter dem 21. De- zember 1772, daß eine solche „öffentliche Prosti- tution eines ihrer Mitglieder ehrlos und schändlich sei" und daß sie infolgedessen den Dr. Guilbert de Pröval aus der Liste ihrer Mitgheder gestrichen habe. Hierauf strengte der so Gemaßregelte einen Prozeß gegen die Fakultät an, der erst im Jahre 1777 mit der gerichtlichen Billigung des Vorgehens der Fakultät sein Ende fand.

Während dieser Prozeß noch schwebte, machte Retif im Jahre 1774 die Bekanntschaft Prevals, der, wie sa oft, aus dem Streit mit der übrigen Ärzte- zunft Kapital für sich schlug und sich eine große Praxis speziell auf dem Gebiete der venerischen Krankheiten erworben hatte. Retif konsultierte ihn ebenfalls wegen solcher Leiden und wurde, wie er oft versichert, durch den Gebrauch seines be- rühmten „Wassers" geheilt, das Preval als Geheim- mittel verkaufte. Nach seinem Tode scheint die Witwe dieses gewiß einträgliche Geschäft weiter be- trieben zu haben, denn R6tif erzählt, daß er dann von ihr dieses Heilwasser bezogen habe (M. N. XI, 205).

Nach Art berühmter Charlatane hatte Preval es verstanden, gesellschaftliche Beziehungen mit der vornehmen Welt und der Geistesaristokratie anzu- knüpfen. Er gab in seinem Hause Diners, an denen Männer wie Rivarol, Morel de Rosi^res, Gol- doni, der Historiker Turpin, Mercier, Robb^ de Beauveset u. a. teilnahmen. Auch R6tif war ein häufiger und gern gesehener Gast (vgl. Inscr. S. 191 — 192, S. 203, 206 — 207 u. ö.), der sich an den interessanten Diskussionen eifrig beteiligte (M. N.


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XI, 98). Pr6val war ein genauer Kenner der galan- ten Welt und in bezug auf viele Dinge aus derselben der Ratgeber Retifs, z. B. bei der Abfassung des Buches über das Palais Royal.

Zum größten Schmerze Retifs starb Preval bereits im Jahre 1788. In den „Nuits de Paris" (XIV, 3263 ff.) widmet er ihm einen pathetischen Nachruf und schlägt eine Grabinschrift vor, in der es unter anderem heißt, daß dieser große Mann 60000 Kranke (!) geheilt habe.

Nun mußte sich R^tif doch wieder anderen Ärzten anvertrauen. Sein altes Leiden zeigte sich in den letzten zehn Jahren seines Lebens wieder in be- drohlicher Weise. Am 27. Germinal (16. April) 1795 trat plötzlich unter den heftigsten Schmerzen wieder eine komplete Harnverhaltung ein. R^tif sagte zu seinem Drucker: „Ich habe keine 24 Stunden mehr zu leben," und sein einziger Schmerz war, daß der „Monsieur Nicolas" erst bis zum siebenten Bande ge- druckt war, und das übrige Manuskript noch ungenau und unvollendet war. Die Familie ließ eiligst ein paar Chirurgen kommen. Diese beiden Ignoranten bemühten sich vergeblich, einen Katheter einzuführen und verletzten den Kranken dabei ziemlich erhebhch. Da „erschien ein Gott, Äskulap selbst, in der Ge- stalt von Choppart". Der eine Pfuscher hatte ihn,, beschämt über seine Ungeschicklichkeit, selbst her- beigeholt. Anfangs glaubte Choppart, daß der Fall verloren sei. Aber es gelang ihm nach vielen Mühen und unter „unbeschreiblichen Schmerzen" des Patienten, ihn von seinem Leiden zu befreien. Damit war Retif gerettet. Aber noch am achten Tage fühlte er sich so krank, daß er sein Testament machte»


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Er empfing den Besuch des Professors Lassut, der ihm Bäder in den „£coles de Sant6" verordnete, wohin R^tif dann nach einer Stunde getragen wurde. Er war so schwach, daß der Professor Pelle tan an seinem Aufkommen verzweifelte. Aber schon nach dem ersten Bade besserte sich sein Allgemeinbefin- den ganz bedeutend. Er nahm im ganzen 25 Bäder bis zum I. Prairial (20. Mai) 1795. „Choppart rettete mir das Leben, Lassut erhielt es mir, unter- stützt von dem geschickten Pell et an", sagt Retif. Er rühmt sehr den Aufenthalt in dem Hospital „£coles de Sante", die reine, frische Luft, die aus- gezeichneten Betten, die gute Küche. In Verglei- chung damit sei das Hotel-Dieu ein „Aufenthalt des Todes". Er führt für dieses Urteil ein trauriges Beispiel aus eigener Beobachtung an (M. N. XI, 190—193).

Diese vortreffliche Behandlung von selten aus- gezeichneter und kenntnisreicher Ärzte, denen er, wie man sieht, diesesmal alle Gerechtigkeit widerfahren ließ, hatte leider bei dem Alter des Patienten keinen dauernden Erfolg. Die Rückfälle wiederholten sich. In den „Lettres inedites" klagt er auch in den Jahren 1797 — 1799 öfter über sein altes Leiden, die Harnbeschwerden, gegen die er jetzt den überreich- lichen Genuß von Getränken anwende, was ihm zwar Erleichterung bringe, aber zugleich den Magen ruiniere (Lettres 32).

In den letzten Jahren seines Lebens steigerten sich seine körperlichen Beschwerden so sehr, daß er gezwungen wurde, seine oben erwähnte Stellung aufzugeben. Er verbrachte die ihm noch beschiede- nen Tage fast ganz in seinem Hause in der rue de la


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Bucherie 27 (jetzt Nr. 16), das von oben bis unten mit den übriggebliebenen Exemplaren seiner Werke angefüllt war. Hier erfreute er sich der aufopfernden Pflege von seiten seiner beiden Töchter, die bis zu- letzt bei ihm v^^ohnten, und der stets bereiten Hilfe eines edlen Arztes, des Dr. N au che. Auch sein Schwiegersohn V i g n o n , ferner Cubieres-Palme- zeaux und die alte Freundin Fanny de Beau- harnais taten alles, um die letzten Tage des Kran- ken freundlich zu gestalten. (Vgl. Cubieres bei Lacroix a. a. O. S. 74.)

Retif starb am 3. Februar 1806, im 72. Jahre seines vielbewegten Lebens. Nach seinem Tode er- wies man ihm eigentlich größere Ehren als zu Leb- zeiten. Die Akademie, die ihn als Mitglied ver- schmäht hatte, entsandte jetzt eine Deputation zu seinem Leichenbegängnis, dem mehr als 1800 Per- sonen beiwohnen. Der Schriftsteller de Fontanes hielt einen der Zipfel des Leichentuches. Man be- stattete die irdischen Reste des merkwürdigen Man- nes auf dem Friedhofe Montparnasse, der damals Friedhof Sainte-Catherine hieß.

Unter dem 8. Februar 1806 brachte das „Journal de Paris" die folgende Notiz:

„Man zeigt soeben den Tod des Herrn R6tif de la Bretonne an, des Verfassers einer großen Zahl von Romanen, die wenigstens originell sind, wenn sie auch nicht alle von Geschmack zeugen, und unter denen man besonders den „Paysan j>erverti" und den „Nouvel Abailard" hervorheben muß."

Am folgenden Tage widmete dasselbe Blatt R € - tif einen sicher wenig wohlwollenden Artikel von drei Spalten, in dem es u. a. hieß: „Herr Nikolaus


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R6tif de la Bretonne ist soeben in Paris, 68 (sie) Jahre alt, in Elend und im Dunkel gestorben. Sein Leben selbst war nur ein trauriger Roman, dessen Moral die sein könnte, daß das Talent ohne maßvolles Betragen eine böse Himmelsgabe ist."

Auf diese anonyme Notiz antworteten die beiden Töchter des Verstorbenen in der Nummer vom 15. Februar mit folgendem offenen Briefe:

„Meine Herren,

Die Lektüre Ihres Artikels über unseren Vater, Herrn Retif de la Bretonne, läßt uns einen Augenblick aus unserer Trauer, in die uns sein Verlust versetzt hat, hervor- treten, um die Wahrheit festzustellen.

Da wir in dieser Beziehung besser unterrichtet sind, als Sie, so dürfen wir keinen Augenblick dulden, daß das Pu- blikum, das immer der bevorzugte Vertraute unseres Vaters war, daß dieses unparteiische Publikum, das ihn so oft an- gehört hat, nun auf Kosten des Freundes der Wahrheit ge- täuscht werde.

Unser verehrungswürdiger Vater hat sein Leben am 3. Februar, mittags, im Alter von 72 Jahren beschlossen, um- geben von seinem Hause, das aus seinen Kindern, seiner Dienerin und seinem Wärter bestand. Er schied schmerz- und furchtlos. Wenn Sie ihn als 68jährigen sterben lassen, so haben Sie ohne Zweifel von der Zeit an datiert, wo er krank geworden ist.

Niemals hat es ihm am AUernotwendigsten gefehlt. Seine Kinder und Enkel, seine Schwestern, Freunde, und selbst seine Nachbarn würden das nie geduldet haben. Sein Leiden war eine Folge seines Unglücks und nicht eines Mangels an Betragen. Welcher Mann war arbeitsamer, unermüdlicher als er? Gewiß konnte er nicht im Wohlstande leben, nachdem er durch Bankerotte und Zurückzahlungen von Anweisungen ruiniert worden war. Seine Lage war nur schwierig, aber nicht erniedrigend. Die Regierung eines menschlich fühlen- den und großen Kaisers trug für ihn in würdiger Weise Sorge.


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Wenn diese öffentliche Huldigung, die wir dem Andenken des würdigsten aller Väter schulden, von Ihnen, meine Herren, angenommen wird, so wird unsere Dankbarkeit nicht weniger groß sein wie die ausgezeichnete Hochachtung, mit der wir die Ehre haben zu verbleiben

Ihre ergebenen

A. R e t i f, verheiratete V i g n o n Witwe M. R e t i f - d'A n n a y."

Eine ähnliche Erklärung veröffentlichten Agnes und Marion R6tif im „Mercure de France" (Nr. 239 vom 15. Februar 1806, S. 372). Jener ausfallende Artikel gegen R^tif im „Journal de Paris" wird von Paul Lacroix dem Journalisten L. de Villeter- que, einem persönlichen Feinde des Verstorbenen, zugeschrieben, demselben, gegen den sich das oben erwähnte Pamphlet Retifs richtete.

Etwas später erschien in der „Revue philoso- phique litteraire et politique" vom 11. April 1806 (S. 120 — 126 des zweiten Bandes) noch eine „Notice n^crologique et bibliographique" über R^tif aus der Feder des gelehrten Bibliographen Beuchot, und in demselben Bande findet sich noch als Ergänzung zu dieser Notiz ein Brief von Jouyneau-Desloges über die Manuskripte und unveröffentlichten Werke Retifs (Lacroix a. a. O. S. X— XI).

Im gleichen Jahre 1806 traf Retifs intimster Freund, Cubi^res-Palm^zeaux die Vorbereitun- gen zu einer ausführlicheren biographischen Würdi- gung und holte zu diesem Zwecke Informationen bei R6tifs Verwandten, Freunden und Bekannten ein. U. a. erhielt er den folgenden interessanten Brief von Retifs geschiedener Frau, Agnes Leb^gue, den er dann in der vor der 181 1 erschienenen

Dühren, R6tif de U Bretonne. 21


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„Histoire des Compagnes de Maria" abgedruckten Biographie veröffentlicht hat:

Paris, den i8. Oktober 1806.

„Ich bin zu erfreut, mein Herr, über die Ehre, die Sie mir mit der Bitte erwiesen haben, Ihnen einige für den Nach- ruf auf meinen Gatten bestimmte Charakterzüge mitzuteilen, als daß ich nicht sofort darauf antworten sollte. Aber da mich seit dem Jahre 1784 Unglücksfälle, die keine mensch- liche Weisheit voraussehen konnte, von diesem verdienst- vollen Manne getrennt haben, so kann ich leider nicht das Vergnügen haben, sein Lob zu singen, welches Vergnügen ich gehabt haben würde, wenn der Dämon der Zwietracht nicht das Gemüt dieses von Natur guten Menschen vergiftet hätte. Das war die Ursache, weshalb ich während 26 Jahren weder von seinen Angelegenheiten noch von seinem Lebens- wandel irgendwelche Kenntnis hatte. Vergebens schrieb ich ihm, man unterschlug meine Briefe. So kann ich Ihnen nur sagen, daß während der ganzen Zeit unseres Zusammen- lebens ich in ihm einen dem Publikum auf verschiedene Weise nützlichen Mann kennen gelernt habe. Ich habe mit Bewunderung gesehen, wie mehr als 20 Familienväter eine ganze Reihe von Jahren nur von der Arbeit existiert haben, die ihnen dieser so unermüdlich tätige Schriftsteller ver- schaffte. Er bevorzugte stets die Väter und Mütter mit zählreicher Familie. Denn er war sehr wohltätig. Wenn ein alter Mann oder eine alte Frau ihn um ein Almosen baten, führte er sie in eine kleine Herberge, um ihnen ein Mahl und einen Schoppen Wein geben zu lassen. Um einen Greis abzuweisen, hätte er schon selbst nichts mehr besitzen müssen. Es ist für die Armen ebenso traurig wie für ihn, daß seine Geschäfte schlecht gingen. Aber da er unglück- licherweise sein Erbteil ganz in seine Werke gesteckt hatte, so fand er sich eines Tages durch die Assignaten und andere Ursachen ruiniert, vor denen er sich wegen seiner großen Güte nicht hatte schützen können.

Ich möchte wohl, daß es möglich wäre, das Wesentliche aus seinen sehr zahlreichen Schriften herauszuheben. Dies würde gewiß für die Öffentlichkeit etwas sehr Wertvolles sein, besonders wenn das Genie und der Geschmack der


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Herren Palmezeaux und M e r c i e r ihm eine neue Feile gegeben hätten. Wenn ich den Geist und das Talent der Frau Gräfin Fanny de Beauharnais besäße, so würde ich Ihnen meine Dienste anbieten. Aber, um mir gerecht zu werden, kann ich Ihnen nur das Bedauern über meine Un- fähigkeit aussprechen, wie die Versicherung meiner Hoch- achtung, mit welcher ich verbleibe usw.

Witwe R e t i f , geborene L e b e g u e."

Man muß gestehen, daß dieser Brief die Absen- derin eigentlich noch mehr ehrt als den Gegenstand ihrer ehrlichen Lobesworte.


2V


Zehntes Kapitel. Persönlichkeit und Charakter.

I. Äußere Erscheinung. R^tif berichtet im ersten Bande des „Monsieur Nicolas" (S. 48), daß er als Kind von außergewöhn- licher Schönheit gewesen sei, wie dies so häufig bei Kindern von ausgesprochen italienischem Gesichts- typus der Fall sei. Diese Schönheit daure aber nur bis zum Jünglingsalter. Er schildert sich folgender- maßen (M. N. I, 87) :

„Ich war schön; meine kastanienbraunen Haare lockten sich und verliehen mir das Aussehen der Engel, die sich auf den Bildern italienischer Maler finden. Mein zartes Gesicht zierte eine Adlernase, schöne Augen und frische Lippen. Ich war blaß, schlank und schmächtig in einem Lande, wo dicv^ Körpergestalt stark und dick zu sein pflegte."

(Übersetzung von J. N e s 1 1 e r.)

Die Pocken taten seiner Schönheit großen Ein- trag, so daß er in der Nähe gesehen nicht mehr hübsch war, aber in einer gewissen Entfernung noch einen angenehmen Eindruck machte. Ein schlanker Wuchs, ein paar leuchtende Augen, die nicht un- edle Adlernase — ein Charakteristikum der Familie R^tif — , das natürhch gelockte Haar waren die „beaux restes", die ihm auch in späterer Zeit die Herzen der Frauen gewannen. Er hatte, wie man


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sagt, einen „charakteristischen" Kopf, der sofort die Aufmerksamkeit auf sich zog.

Wir haben außer R6tif s eigenen keine Schilde- rungen seiner PersönHchkeit aus jüngeren Jahren. Zwar hat Octave Uzanne seiner schönen Ausgabe des „Pied de Fanchette" (Paris 1881) ein von T. de Mare gestochenes Jugendbildnis R^tifs bei- gegeben. Es ist wohl ein Phantasiebild. R^tif selbst sagt in den „Lettres inedites" (S. 28), daß nur ein einziges Porträt von ihm existiere, das von Binet gezeichnete, von Bert he t gestochene. Im Alter von 30 Jahren — so ungefähr hat ihn de M a r e in seinem Bildnis aufgefaßt — war Retifs Erscheinung die eines Mannes von mittlerer Größe, schüchterner Hal- tung, mit großen, schwarzen Augen, deren lange Brauen von derselben Färbung dem Gesichte ein kühnes Aussehen gaben, mit einem fein geschnittenen Munde und einer Adlernase. In der Tracht eines Arbeiters, mit nackten Armen und offener, zottiger Brust machte er den Eindruck eines Herkules von seltener Kraft.

Die Schilderungen der Zeitgenossen führen uns nur den Mann in reiferen Jahren vor. Aus dem- selben Jahre (1785) wie Binets Porträt stammt auch die Schilderung von Retifs Freund Cu hier es. Danach war er 5 Fuß 2 Zoll groß, hatte eine breite, oiiene Stirne, große, schwarze Augen, aus denen das Feuer des Genies leuchtete, eine Adlernase, einen kleinen Mund, sehr starke, schwarze Augenbrauen, die im Greisenalter seinem Gesichte eine seltsame Mischung vom Bhcke des „Adlers und der Eule" gaben. Der Gesaniteindruck seiner Erscheinung war ein vortrefflicher. Als eine sehr vornehme Dame ihn


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zum ersten Male sah, rief sie aus: „O, der schöne Kopf!" und bat um einen Kuß. R6tif Heß sich natürlich nicht zweimal bitten. Cubi^res, der dies erzählt, bestätigt, daß Retif den „schönsten Kopf von der Welt" hatte (Cubi^res bei Lacroix a. a. O. S. 74-75).

Wilhelm von Humboldt schilderte in einem Briefe vom i8. März 1799 an Goethe Retif, den er persönlich kannte, als einen wohlgestalteten Mann von kleinem Wüchse, aber robuster Konstitution. Auch er hebt den auffallenden Anblick des Gesichtes hervor, die hohe Stirne, die große Adlernase, die schwarzen, flammenden Augen mit den außerordent- lich langen, buschigen Augenbrauen, die fast über die Augen herabfielen. Trotzdem kein harter oder wilder Gesichtsausdruck. Er spreche sehr laut und viel und mit großer LeidenschaftHchkeit. Diese laute Stimme fiel namentlich in seinen letzten Lebensjahren allen den Personen auf, die R^tif täglich im Caf^ Manoury zu sehen Gelegenheit hatten, wo er die Zeitungen las und eine Schachpartie machte. Monselet ließ sich diese Tatsache von mehreren dieser ehemaligen Gäste im Caf^ Manoury mit- teilen (Monselet S, 76).

Wohl die interessanteste Schilderung von R6- tifs Persönlichkeit in dieser letzten Zeit verdanken wir einer deutschen Schriftstellerin, der bekannten Dichterin der „Euryanthe", Helmina von Chezy. Zufällig stieß ich auf diese Stelle bei der Lektüre ihrer anziehenden, namentlich für die Geschichte der deutschen Romantik so wichtigen Lebenserinnerun- gen, die unter dem Titel „Unvergessenes, Denk- würdigkeiten aus dem Leben von Helm i na von


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Ch^zy" nach ihrem Tode veröffentUcht wurden (Leipzig, Brockhaus, 1858, 2 Bände). Da heißt es auf S. 104 — 105 des zweiten Bandes:

„Tieck war folgende Stelle aus meinen „Erinnerungen" aufgefallen, ich mußte ihm noch viel über den Gegenstand derselben sagen; es war folgende:

„Ich lernte beim Grafen Escherney Fanny Beauharnais kennen, eine Frau, deren Geist und Herz in seltenem Ein- klänge standen. Ich besuchte sie von Zeit zu Zeit und fand ihren Umgang sehr liebenswürdig. Sie war Tante der Kaiserin Josephine, hielt aber damals, 1802, noch kein glänzendes Haus, und vereinigte um sich her nur einen kleinen Kreis von Schöngeistern, die nicht in dem Rang eines Delille, Legouve u. a. unter den beliebtesten standen, deren Gespräch doch anziehend und belehrend war. Der genialste unter diesen Männern war Retif de la Bretonne; seine Erscheinung hatte etwas Gewinnendes und Anziehendes. Er war von ziemlich großer Gestalt, ziemlich beleibt, er trug sein Haar wie Bernar- din de St. Pierre in natürlichen Locken bis auf den Hals herab- fallend, sein Gesicht war oval, die Nase sanft, der Mund an- genehm, die großen Augen ausdrucksvoll, die Blicke liebend und leuchtend, seine sanfte Stimme traf das Herz. Er zeigte sich gegen mich so gütig, wie ein Mann an der Neige des kräf- tigen MannesaJters ein junges Mädchen zu behandeln pflegt. Ich hätte ihn gern oft gesehen, allein das Anathema, welches die Welt über ihn ausgesprochen, schreckte mich zurück. O die Welt, wie gern und voreilig urteilt sie ab! Welche Blüten zer- tritt sie mit eisernem Fuß! Lange, nachdem ich Retif de la Bretonne bei Frau Beauharnais begegnet, fand ich von un- gefähr seine „Contemporaines" vor, ich las darin mit heftigem Schmerz."

Wir kennen R^tifs Erscheinung nur aus dem Berühmten Porträt von Binet, das 1785, zuerst allein, später als Beigabe zu einer kleinen Zahl der Exemplare des „Drame de la Vie" erschien. Übrigens findet es sich auch in vortrefflicher Ausführung, auf großem Papier, im ersten, 1788 erschienenen Bande


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der „Nuits de Paris", was Lacroix in seiner Biblio- graphie nicht anführt. Ich habe es jedenfalls in meinem Exemplar dieses Bandes vorgefunden und nach diesem Originalporträt, nicht nach den späteren Reproduktionen in Monselets oder La- croix' Buche die der Luxusausgabe des vorliegenden Buches beigegebene, sehr gelungene Radierung her- stellen lassen.

Ursprünglich hatte Binet das Porträt im Auf- trage der Famihe R^tifs gezeichnet, und nach dieser Zeichnung waren von Bert he t einige Stiche angefertigt worden. Zufällig hörte der Advokat Marandon in Bordeaux, ein leidenschafthcher Ver- ehrer Retifs, von diesem Porträt und ließ es sich kommen, worauf er im Oktober 1785 folgenden Brief an den Kupferstecher Berthet schrieb:

„Das lebhafte Interesse, das die Persönlichkeit des Herrn R e t i f allen seinen Lesern einflößt, hatte längst den Wunsch in mir erweckt, sein Porträt der fast vollständigen Sammlung beizufügen, die ich von seinen erstaunlichen Werken zustande gebracht habe. Da ich aus dem „Journal de Paris" von dem von Ihnen gestochenen Porträt erfahren habe, habe ich die Herren Bouillon, Bilderhändler in dieser Stadt, beauf- tragt, mir zwei Abzüge kommen zu lassen, die ich in der Tat vorige Woche erhielt. Ich werde nicht das Lob dieses Rundbildes singen, mein Herr. Es entspricht vollkommen der Erwartung, die man von Ihrem Talent und demjenigen des Herrn Binet haben mußte.

Da mir der von Ihnen unter dem Sockel freigelassene Raum für eine Unterschrift geeignet erschien, habe ich es gewagt, diejenige dorthin zu setzen, die ich Ihnen anbei zu übersenden mir erlaube, und die die Herausgeber des „Journal de Guyenne" bereitwilligst aufgenommen haben. Bitte übergeben Sie dieselbe Herrn R e t i f als ein geringes Zeichen meiner Achtung und hohen Verehrung für den Ver- fasser der „Vie de mori pere" und des „Paysan pcrverti".


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Marandon, dessen Vierzeiler wir oben (S. 249) mitgeteilt haben, ging so weit in seiner „Restifo- manie", daß er seinem Sohn den Namen Edmund gab, nach dem Helden im „Paysan perverti" und auf dem Theater von Bordeaux nach Sujets aus R^tif s Schriften von ihm selbst verfaßte Theaterstücke auf- führen ließ.

Die Kosten für die Herstellung des Porträts hatte sicherlich der jüngere Grimod de la Reyni^re getragen, er selbst hatte sich zu gleicher Zeit von Binet porträtieren lassen. In einem Briefe vom 7. April 1786 (abgedruckt als Brief 145 am Ende des 20. Bandes der „Contemporaines") schickt er R^- tif eine Einladung zu einem Diner bei Beaumar- chais und bittet ihn gleichzeitig am folgenden Tage bei ihm zu frühstücken in Gesellschaft Binets, der „uns auf die Nachwelt kommen lassen soll".

Auf diesem Porträt ist R^tif im Alter von 51 Jahren dargestellt. Der plebejische Zug seines Wesens ist sehr gut wiedergegeben, überhaupt läßt sich beinahe das ganze merkwürdige Naturell dieses Mannes aus diesen Zügen lesen. Er trägt auch seinen bekannten großen, bis oben zugeknöpften Mantel auf diesem Bilde, aber der Kopf ist unbedeckt, die Haare sind glatt anliegend. Deutlich erkennt man die charakteristischen Merkmale: die großen, leb- haft funkelnden Augen, die Adlernase, die sinn- lichen Lippen, die er selbst „app^tissantes" nannte. „Etwas vom Bourbonen und vom Arbeiter steckt in diesem Kopfe", sagt Monselet (S. 173).

In seinen Lebensgewohnheiten, die sich auch in seiner äußeren Erscheinung ausprägten, blieb er aber zeitlebens der bloße Arbeiter, im guten und schlech-


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ten Sinne äes Wortes, wenn man letzteren dahin auslegen will, daß er über seiner andauernden, rast- losen Tätigkeit seine äußere Erscheinung vernach- lässigte. In der Kindheit konnte er sich noch, wie er dies in den ersten Bänden des „Monsieur Nicolas" erzählt, mit neuen und schönen Kleidungsstücken freuen. Später, als die Lebensnot ihn zu einem mehr als frugalen Leben zwang und er oft monatelang von ein paar Louisd'ors sich erhalten mußte, konnte er auf Kleidung und Aussehen nicht mehr die frühere Sorgfalt verwenden, und behielt diese Gewohnheit bei. In der Kindheit war es, wie z. B. in Bicetre, Schüchternheit gewesen, die ihn monatelang seine Kleider nicht wechseln ließ, in der späteren Zeit war es Bequemlichkeit, allzu große innere geistige Tätig- keit und Geldmangel, die jene von den Zeitgenossen so unangenehm empfundene Vernachlässigung seiner äußeren Person herbeiführte,

R6tif hat selbst mit einer Art von Stolz seine miserable Lebensweise in den folgenden lapidari- schen Sätzen geschildert (M. N. X, 247—248) :

„Ich trinke keinen Wein, außer wenn ich in Gesellschaft bin. Ich esse wenig und nur die frugalsten Gerichte. Ich wohne im vierten Stock und habe nur die notwendigsten Möbel.

Ich mache Feuer nur für die Arbeit der anderen. Ich selbst schreibe im Bette. Aber das ist für die Gesundheit ebenso gefährlich wie für die Sittlichkeit. Oft hatte ich, wenn ich aufstand, Anfälle von Erotismus, weil das Bett mich zu sehr erhitzt hatte. Schwache Entschuldigung! Von 1773 an bis heute, 6. Dezember 1796, habe ich keine Kleidungs- stücke mehr gekauft. Es fehlt mir an Hemden. Ein alter blauer Rock, das älteste von meinen Kleidungsstücken, ist meine tägliche Tracht, weil mein ganzes Geld für den Druck meiner Werke verbraucht wird, an denen ich (aber nicht die


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Buchhändler) seit 1789 beständig zusetze . . . Ich bin aber ruhig wegen meiner Not und überlasse mich ganz der Natur."

Man kann sich vorstellen, zu welchen Folgen dieses „sich der Natur überlassen" führen mußte. „Man kann sich keine Vorstellung von der Unrein- lichkeit R ^ t i f s machen, wenn man ihn nicht gesehen hat," sagte der Baron von Lamothe-Langon zu Paul Lacroix (a. a. O. S. 54), und Cubieres be- stätigt, daß Retif sehr nachlässig in seiner Kleidung war, daß sie bald zerrissen, bald voll Schmutzflecken war. R6tif habe es bequemer gefunden, in seiner Arbeitertracht Besuche zu machen als in einem vor- nehmen Gewände. Cubieres sieht sogar in dieser Verachtung des äußeren Anstandes eine der Haupt- ursachen der literarischen Berühmtheit R e t i f s ! (Cubieres bei Lacroix S. 56 — 57.)

Eines Tages traf Cubieres seinen Freund auf der Straße und war erstaunt, daß er sich einen sehr langen Bart hatte wachsen lassen. Als er ihm Vor- stellungen darüber machte, sagte Retif: „Der Bart wird nicht eher fallen, als bis ich den Roman, an dem ich arbeite, vollendet habe." „Himmel," sagte Cubieres, „aber wenn dieser Roman mehrere Bände hat?" — „Er hat fünfzehn," antwortete Re- tif kaltblütig und fügte hinzu, daß er erst drei da- von vollendet habe. Als dann Cubieres meinte, daß bei einem Bande jährlich dann der Bart noch zwölf Jahre stehen bleiben würde, sagte R6tif herab- lassend: „Beruhigen Sie sich, junger Mann. Ich schreibe täglich einen halben Band, also werde ich in 24 Tagen wieder ein so bartloser Adonis wer- den wie Sie." Se non h vero, e ben trovato.


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Auf den Bildern zu den „Nuits de Paris" er- blicken wir R^tif als „nächtlichen Zuschauer" oder „Nachteule" (hibou nocturne) in einem historisch ge- wordenen Kostüm, einem langen, weiten Mantel mit großem Kragen und einem Filzhut mit sehr breiter Krempe.

2. Das Charakterproblem.

Wie ist das Charakterproblem „R6tif" zu lösen? Die Überzeugung, daß er einer der seltsamsten und merkwürdigsten Menschen war, wird der Leser be- reits aus der Darstellung seines Lebens gewonnen haben. Aber das Epitheton eines „Originals", eines „Sonderlings", das man R6tif gegeben hat, ist doch nur eine ganz allgemeine Bezeichnung, die uns über die typischen, individuellen Charakterzüge gar wenig sagt. Tiefer hat schon Cubieres das Wesentliche seiner Natur erfaßt, wenn er Retif im Anfange seiner biographischen Notiz als „un assemblage de tous les contrastes" bezeichnet und ihn einen „mehr physischen als geistigen, immer aber natürlichen Menschen" nennt (Cubieres bei Lacroix S. i und 5).

Wir wissen, daß in jedem Menschen die merk- würdigsten Gegensätze nebeneinander existieren kön- nen. Bei Retif aber machen diese Gegensätze ge- radezu das Geheimnis seines Wesens aus. Sie ver- stehen und erklären, heißt den ganzen Menschen verstehen.

Rötif selbst fordert seine Leser auf, von den körperlichen Grundlagen seines Charakters aus- zugehen, um seine geistige Natur kennen zu lernen. (M. N. I, 156.) Er bezeichnet, wie wir sahen (oben


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S. 36) eine außergewöhnliche körperliche Erregbar- keit, die die geistige zur notwendigen Folge hatte, als den Grundzug seines Wesens. Mancherlei Symp- tome der Schreckhaftigkeit, die sich auch im so- genannten „pavor noctumus" äußerte, die Gespenster- furcht, die Idiosynkrasie gegen gewisse Tiere, gegen Blut, das frühe Auftreten erotischer Regungen, die abnorme Schüchternheit und Menschenscheu, die ihn übrigens auch im späteren Leben nicht verließ, die auffälligen Ohnmächten in der Kindheit und im Jünglingsalter lassen vermuten, daß Retif zu den sogenannten „nervösen Kindern" gehört habe. Er schildert sich selbst als Kind folgendermaßen:

„Ich war damals sehr zart. Beim geringsten Kitzeln wurde ich ohnmächtig. Ein leichter Schlag auf eine empfind- liche Stelle hatte dieselbe Wirkung, ebenso die Erzählung von einer abstoßenden Krankheit oder der Anblick von Blut, noch bevor mir der Gebrauch der Vernunft ein vollkommenes Verständnis dessen ermöglichte, was man sagte, Das'beweist, daß weder die Einbildungskraft noch ein Vorurteil daran schuld waren. Ich hatte eine so große Empfindlichkeit (sen- sibilite) gegen alles, was unsere Organe affizieren kann, daß Diebs- und Gespenstergeschichten mich ebenso furchtsam machten wie E p i k u r , dessen Charakter, wie ich bei tausend Gelegenheiten bemerkt habe, ich besaß. Ich wäre gestorben, wenn ich im Alter von 5 bis 16 Jahren und sogar noch später an einem Kirchhof hätte vorbeigehen müssen. Dabei fand ich ein schreckliches Vergnügen daran, die Ge- schichten zu hören, die man des Abends beim Schneiden des Hanfes erzählte. Und wenn mich ein natürliches Bedürfnis zwang, vor die Tür zu gehen, dann sträubten sich mir die Haare und ich sah stets im Hof häßliche Ungeheuer mit feurigen Augen. Sie spieen Flammen und zeigten mir die Zähne. Ich lief eiligst zurück, oft ohne mich wieder an- gekleidet zu haben, und trat so in den Kreis der Gesellschaft von Burschen und Mädchen, wo man sich dann über mich lustig machte. . . . Ich habe schon erzählt, welche Schrecken


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mich von meinem dritten Lebensjahre an des Nachts heim- suchten. Ich rief meine Mutter, wenn ich davon erwachte, und war nicht eher ruhig, als bis sie mir geantwortet hatte. . . , Meine Furchtsamkeit war eine lange und grausame Krank- -heit, aber sie war nicht die einzige, neben ihr bestand noch eine andere.

Die Menschenscheu war eine seelische Affektion, die noch viel länger als die Furcht mich heimsuchte. Ja, ich bin von ihr nie ganz befreit worden. Der Anblick anderer Menschen machte mich verlegen, erschreckte mich sogar, seitdem ich vernünftig denken konnte. Die Natur hatte mich nicht zu einem sozialen Menschen bestimmt. Ich bin in Verlegenheit, die wahre Ursache meiner Schüchtern- heit anzugeben. Ich habe sie lange meinem ältesten Bruder zugeschrieben, der bei jedem Besuche im väterlichen Hause sich bei der Mutter nach meinen kleinen Vergehen erkundigte und mir dann unter dem frommen Vorwand, daß er als mein Pate für meine Sünden verantwortlich sei, die Rute gab. Aber seitdem hat mich Nachdenken belehrt, daß mein Bruder nur mein Leiden verschlimmert hat, das von der seltsamen Er- regbarkeit meiner Phanta s i e stammte. —

Diese Schüchternheit, die mich alle Mitmenschen fürchten ließ, hat bis zum Alter von 40 Jahren angedauert, und wenn sie heute nicht mehr da ist, so kommt dies daher, daß der Geist über den Körper aus zwei Gründen den Sieg davonträgt. Erstens macht mich der Anblick so vieler Menschen, die nicht so viel wert sind wie ich, gleichgültig gegen ihr Urteil, und zweitens hat meine Sensibilität abgenommen . . . Mit 63 Jahren, an diesem 9. Januar 1797, bemerke ich deutlich diese Abnahme der Empfindlichkeit, die ich so lange für gleich stark geblieben gehalten hatte."

(Monsieur Nicolas XI, 194 — 197.)

In Wahrheit haben ihn die Phantome der Kind- heit niemals verlassen. Was dem Kinde die Ge- spenster waren, die Schreckgebilde der Nacht, das waren dem reifen Manne und dem Greise die phan- tastischen Ideen, die uns in seiner Lebensbeschrei- bung und allen seinen Werken so oft. frappieren und


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manche oberflächliche Kenner dieser Werke zu dem kategorischen Urteile veranlaßt haben, R^tif sei einer der größten Erfinder und Lügner gewesen. Nein, so einfach liegt die Sache nicht. Richtiger muß man sagen: In R6tif war eine merkwürdige Mischung von Wirklichkeit und Phantasie. Das phantastische Element in seinem Charakter tritt sogar durchaus zurück hinter dem leidenschaftlichen Streben, die Wirklichkeit zu erkennen wie sie ist, die Welt, die Menschen und vor allem das eigene Ich mit einer naiven Neugier zu beobachten. Dieser stark ausgeprägte Wirklichkeitssinn trieb Rötif da- zu, seine Eindrücke, Stimmungen, Erlebnisse und Beobachtungen genau zu registrieren, nach Stunden, Tagen, Jahren, nach ihren inneren und äußeren Be- ziehungen. Er war beinahe mehr als bloß ein „Realist", er faßte sein und der anderen Leben als einen naturgeschichtlichen Vorgang auf und suchte noch nach Jahren die Wirkung gewisser Er- eignisse auf spätere Vorgänge nachzuweisen, etwa wie der Astronom aus gewissen Himmelsvorgängen den Zustand des Kosmos nach Hunderten von Jahren berechnet. Sein Leben lag vor ihm ausgebreitet wie eine einzige Kausalitätsreihe, wie eine höchst inter- essante Aufeinanderfolge von Ursache und Wirkung. Die Gegenwart diente ihm nur dazu, um Vergangen- heit und Zukimft logisch miteinander zu verknüpfen. R6tif ist der Mann der Erinnerung, des Ge- denkens, der ewigen Jubiläen, Der französische Philosoph Fr. Paulhan hat in seinem interessanten Buche über die „Funktion des Gedächtnisses und die affektive Erinnerung" Retif de la Bretonne mit Recht als einen typischen Repräsentanten dieser


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letzteren hingestellt. i) Die Erinnerung ließ ihn die Vergangenheit noch einmal in ihrer ganzen Wirk- lichkeit erleben, alles wurde wieder real, der alte Schmerz, die alte Lust kehrte wieder. Wohl kein Mensch hat so die Erinnerung als Mittel benutzt, sein Dasein zu fühlen, hat so zugleich in der Vergangenheit, der Gegenwart und Zukunft gelebt wie Retif. Unzählig sind die Gedenktage, die „anniversaires" in diesem Leben. Sie gehören nicht bloß der Vergangenheit, sondern auch der Zukunft an. „Die Zukunft", sagt er, „ist für mich ein tiefer Abgrund, der mich erschreckt, so daß ich nicht wage, ihn näher zu imtersuchen (sonder). Aber ich mache es wie die Leute, die das Wasser fürchten. Ich werfe einen Stein hinein. Da ist z. B. ein Ereignis, das mir jetzt zustößt. Ich schreibe es nieder, dann füge ich hinzu: „Was werde ich in einem Jahre denken, an demselben Tage, in der gleichen Stunde ?" Dieser Gedanke kitzelt mich. Ich bin das ganze Jahr hindurch gleichsam die Entwicklung desselben, und da fast alle Tage Jahrestage irgend eines von mir aufgezeichneten Zuges sind, so führen sie alle einen neuen Genuß herbei. Dann sage ich mir: Da bin ich ja jetzt, in dieser Zukunft, deren Schleier ich einst nicht hätte lüften mögen, wenn ich es gekonnt hätte. Jetzt ist sie Gegenwart. Ich sehe sie. Aber alsbald wird sie Vergangenheit, wie die Tatsache, die mir sie ankündigte I Ich koste die Gegenwart aus, dann wende ich mich zur Vergangen- heit, ich genieße das, was nicht mehr ist, ebenso wie das, was ist, und wenn meine Seele in der geeigneten

^) Fr. P a u 1 h a n , La Fonction de la memoire et le Souvenir affectif. Paris 1904. S. 16—17.


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Verfassung ist, was nicht immer der Fall ist, so werfe ich einen neuen Stein in die Zukunft, den der Strom der Zeit, wenn er abläuft, wieder aufs Trockene bringt. Das ist die Ursache der genauen Zeitangaben in meinen Tagebüchern." Zwölf Jahre hindurch, von 1755 — 1766, unterbrach er diese Aufzeichnungen. Das sind die zwölf Jahre seines Todes! Sowohl in seinen Tagebüchern wie auf den Inschriften der Ile Saint-Louis kehrt der lateinische Satz immer wieder : „Hodie dico : quid anno sequenti, tali die, sentiam, dicam aut agam?" So verfolgte er an der Hand der Tagebücher und Steininschriften die einzelnen Gedenktage, fügte neue Bemerkungen hinzu, beging viele derselben in feierlicher Weise durch Auf- suchen der Stätten, wo er an jenen Tagen weilte, durchlebte noch einmal die Empfindungen von da- mals. Besonders die Feier der „anniversaires" aus der Jugendzeit wird ihm zur Quelle seligster Freuden. „O meine jungen Freunde," ruft er aus, „schreibt auf, was ihr in der Jugend tut! Beim Durchblättern meiner Hefte stoße ich auf die Zeit vom i. August bis Ende Dezember 1754, und versetze mich mit Ent- zücken in die Zeit, wo ich sie schrieb. Ich finde mich dort wieder, ich fühle mich dort, und vierzig Jahre sind wie ausgelöscht! Es ist ein herrlicher Rausch, der zwar nur einige Minuten dauert, der aber die Seele mehrere Stunden mit einer berauschenden und feenhaften Ambrosia erquickt . . . Die Leb- haftigkeit meiner Vorstellung verwirklicht die Trunkenheit der Jugend und der Liebe, deren Illusion so herrlich ist."

Derartige Feiern waren stets von leidenschaftlich heftiger Gemütsbewegung begleitet. Wenn sie trau-

Dühren, R^f de la Bretonne. 22


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rige Erinnerungen betrafen, wurde R6tif oft vom Schmerz so überwältigt, daß er zur Arbeit unfähig war. Hier hat wahrscheinhch die Sentimentalität des i8. Jahrhunderts auch eine bedeutende Rolle gespielt, gerade sie mußte diese „affektiven Erinne- rungen" außerordentlich begünstigen.^)

Aus den „Souvenirs in^dits" von E. J. Del6- cluze, von denen C Ott in einen Teil in der „Revue retrospective" (1888 — 89) veröffentlicht hat, zitiert er eine Stelle, die auffallende Ähnlichkeit mit R6tifs obigen Auslassungen hat. Delecluze hatte sich als Knabe einmal bei Tisch einen Tadel seiner Eltern zugezogen und schrieb, allein im Speisezimmer zu- rückbleibend, auf das Holz des Tisches die Worte : „Armer Stienne!" „Lange nachher," erzählt er, „habe ich diese beiden Worte wiedergefunden und sie versetzten mich alsbald in denselben Seelen- zustand, in dem ich mich befand, als ich sie nieder- schrieb." (Göttin a. a. O. S. XXXIV.)

Besonders die täglichen Spaziergänge auf der' Ile Saint-Louis, die eigentlich nur den Zweck einer „Revision" der Inschriften hatten, waren R6tif ein unentbehrliches Bedürfnis geworden. Hier ver- doppelte sich ihm das Glück, sich „leben zu fühlen". Wenn er von einer Krankheit genesen war, wenn er Trauer oder Unruhe empfand, wenn er sich von der Arbeit ausruhen wollte, war sein erstes ein Spaziergang auf der Insel (M. N. XI, 43). „Ach, ein solch geliebter Platz ist wie ein heilender Balsam I


1) „Oh que la sensibilite est quelquefois delicieuse! Oh

que la sensibilite est, quelquefois, cuisante, affreuse, de-

chirante!" sagt Retif selbst einmal bei einer solchen Ge- legenheit der Feier eines Gedenktages.


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Es schien mir, als ob ich dort neu geboren würde." (Nuits de Paris I, S. 3.)

Besonders lebhaft erstand ihm sein früheres Da- sein an den Gedenktagen, die er als „sacra", als „heilige" bezeichnete. So versäumte er, wie wir schon sahen, niemals, am 14. September die „be- rühmte" Inschrift in der rue Saintonge aufzusuchen, die ihm das Gedächtnis an Victoire Dorneval und an das Liebesglück mit ihr zurückrief. Auch der Todestag seines teuren Freundes Pidansat de Mairobert war ein solcher heiliger Tag (M. N. X, 240). Zu den wichtigen „anniversaires" gehörten der Anfang und das Ende eines Liebesverhältnisses, der Beginn und Abschluß der Arbeit an einem Buche, die Besuche bei den Zensoren. Daten von sekun- därem Interesse waren der Empfangstag eines Briefes, die Begegnung mit einem Freunde, der An- blick eines hübschen Frauenfußes, die Korrektur eines Druckbogens ( !), ein Anfall von Jähzorn usw.

Je älter er wurde, um so größer wurde bei ihm diese Leidenschaft, sein ganzes vergangenes Leben in solchen von ihm selbst genau festgesetzten Er- innerungen wieder zu genießen, er hatte dabei die seltsame Vorstellung, als ob er durch Wieder- holung der Daten bei dem jährlichen Aufsuchen der alten Inschrift seine Existenz „vereinfachte". Wenn er z. B. in sechs aufeinanderfolgenden Jahren das Datum des 6. Dezember sechsmal wieder ein- gekritzelt hatte, glaubte er die sechs Jahre auf bloße sechs Tage reduziert zu haben: „Ich sehe nur diese sechs Tage seit 1779 und ich stelle sie mir ganz allein vor . . . Die Promenade auf dieser Insel ist für mich etwas Köstliches geworden. Alle Tage

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sind dort in den Stein eingegraben. Ein Wort, ein Brief drückt den Zustand meiner Seele aus. Das z. B. geschah vor drei Jahren. Ich lebe viermal, in einem einzigen Augenblick, im gegenwärtigen Mo- ment, und in den vorübergehenden drei Jahren. Vor drei Jahren, im selben Augenblick, am selben Tage war ich so! Vor zwei Jahren, ebenso! Voriges Jahr, ebenso! Und habe ich heute ein Glück verloren oder gewonnen? Ich drücke meine Situation durch das geeignete Wort aus. Ich vergleiche das Bild, und diese Vergleichung läßt mich Vergangenes wie- der wie etwas Gegenwärtiges erleben. Sie verhin- dert durch die Erneuerung, daß entschwundene Zeiten verloren gehen und daß ich mir selbst ein Fremder werde." (Nuits de Paris, S. 2888, S. 2506.)

Nicht selten ergötzte er sich schon im voraus an gewissen Daten der Zukunft. So schrieb er einmal im Jahre 1783 das Datum des 6. Oktober 1785 auf, sah es sich von Zeit zu Zeit an, frischte es auf und als endlich der Tag gekommen war, schrieb er darunter : Video tandem!

Man sieht, daß dieser Gef ühlsschwelgerei in der eigenen Lebensbetrachtung sehr viel Phan- tastisches anhaftet, aber deshalb werden die ein- zelnen Ereignisse dieses Lebens nicht selbst zur bloßen Erfindung, zum Phantom, wie manche Kri- tiker gesagt haben. Auch ohne die Nachprüfung durch die vorhandenen Tagebücher können wir mit Leichtigkeit die subjektiv^en Zutaten R6tif s, wie sie durch seine lebhafte Phantasie, durch gewisse eigentümliche Vorstellungen bedingt werden, von den objektiven Ereignissen und Lebenserfahrungen unterscheiden. Wahrheit und Dichtung gehen beiR6-


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tif niemals so unmerklich ineinander über wie etwa bei Goethe und Rousseau. Überall ist leicht fest- zustellen, was Wahrheit ist und was Dichtung. Die Tagebücher liefern dafür die besten Kriterien. So z. B. hat sich die romantische „Histoire de Sara" in allen wesentlichen Dingen wirklich so begeben, wie die Vergleichung mit den Tagebuchnotizen in den „Inscripcions" ergibt. Im ganzen sind Rous- seaus „Bekenntnisse" gewiß weniger zuverlässig, weil sie später aus dem Gedächtnisse niedergeschrie- ben worden sind. Und daß auch so noch wenig- stens eine der objektiven Wahrheit nahekommende subjektive Wahrheit erreicht werden kann, be- weisen die neuerdings ohne frühere Notizen, bloß nach der Erinnerung verfaßten klassischen L«bens- denkwürdigkeiten des berühmten Naturforschers CarlVogt.i)

Ziehen wir die Bilanz von R^tifs Autobiogra- phie, so müssen wir sagen, daß in ihr mehr ob- jektive Wahrheit als subjektive, daß ihr Verfasser sich ganz in ihr offenbart und sein Wesen als eine kühne Verbindung eines scharf ausgeprägten rea- listischen Sinnes mit einem glühenden Phantasieleben erkennen läßt.


')Carl Vogt, Aus meinem Leben. Erinnerungen und Rückblicke. Stuttgart 1896. Er sagt in der Vorrede S. VI: „Es ist eine eigene Sache mit dem Gedächtnisse. Mit zunehmendem Alter verwischen sich die zuletzt beschriebenen Blätter des Gehirnbuches zuerst. Desto lebhafter treten die in der Jugend empfangenen Eindrücke hervor. Aber trotz aller Deutlichkeit, welche die einzelnen Buchstaben haben mögen, mischt sich ihnen doch ein eigentümliches Dämmerlicht, wie im Traume, bei. Mag es so sein! In unserer Zeit hat es ja auch wohl sein Gutes, wenn man zuweilen träumen kann!"


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Aber für diesen zweiten Casanova ist kein neuer Bart hold nötig. Die Wahrheit der geschil- derten Ereignisse und Erlebnisse läßt sich in allen Fällen nachweisen.

Dieselben Gegensätze, die wir soeben in seinem Seelenleben festgestellt haben, finden sich auch in dem Gefühls- und Willen sieben R6- tifs. Er ist der Mann der heftigen, verzehrenden Leidenschaften, denen er blindlings nachgibt, aber auch der Mann der andauernden, ruhigen, nüchter- nen Arbeit, der rastlos idealen Zielen zustrebenden Energie. Er selbst hat in der Einleitung zum „Mon- sieur Nicolas" dieses sein zwiespältiges Wesen sehr

aufrichtig geschildert :

„Ich bin mit heftigen Leidenschaften geboren. Sie haben mich glücklich und unglücklich gemacht. Wenn man mich unter dem ersten Gesichtspunkt betrachtet, so gab es keinen Monarchen, keinen Günstling des Glückes, der mehr Freuden gehabt hätte als ich. Wenn man aber meine Entbehrungen, meine Leiden ins Auge faßt, wer war da jemals mehr zu beklagen! Gehaßt, verachtet, verfolgt, verraten, durch die Armut zur rauhesten und andauerndsten Arbeit verurteilt, mit Vorwürfen überhäuft, denjenigen untergeordnet, die mir nicht das Wasser reichten, lange Zeit Mangel am Notwendig- sten leidend, für die Freiheit zitternd, für das Leben fürch- tend, ohne Freude, ohne Trost als die Aussicht auf ein baldiges Ende, das war mein Schicksal. Dieses schreckliche Gemälde ist nicht übertrieben. Wenn man meine Charakter- eigenschaften ins Auge faßt und sie aufzählt, so wird man finden, daß ich immer mäßig, arbeitsam, sparsam, mitleidig bis zum Übermaß gewesen bin, daß ich weder ein Spieler noch ein Trinker und Feinschmecker war. Bescheiden für mich selbst, errötete ich schon über die mir von anderen entgegen- gebrachte Achtung. Ich bin oft selbst der strengste und klarste Kritiker meiner Werke gewesen. Oft habe ich selbst mein Honorar herabgesetzt, indem ich sagte, daß ich so viel nicht verdient hätte.


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Aber auf der anderen Seite war ich leidenschaftlich, brutal, jähzornig. Ungebärdig gegenüber jedem Zwang, hart, herrsch- süchtig, opferte ich alles meiner wahnsinnigen Leidenschaft für die Frauen und gab mich, um sie zu befriedigen, straf- baren Ausschweifungen hin, weder Scham noch Anstand achtend, indem ich mich selbst und noch unschuldige Wesen den traurigen Folgen der Libertinage preisgab und junge Mädchen, die mir nahegekommen waren, in diesen Ab- grund der Unreinheit hineinstürzte. Bisweilen geizig bis zur Unmenschlichkeit, verweigerte ich eine Kleinigkeit, oft war ich so verschwenderisch, da& ich in niederträchtiger Weise das Laster reich entlohnte, als ob ich mich wie ein Feigling ausplündern ließe. Aufgeblasen vor Stolz, dabei gierig nach Lob, obgleich ich es zu verachten schien, aus Faulheit sorglos und uneigennützig, zynisch, lächerlich kokett, eifersüchtig, neidisch, bissig, grotesk, unverschämt, welche Fehler hatte ich nicht! — Und dennoch habe ich mich oft für einen Armen des Notwendigsten beraubt, ich bin oft im geheimen wohltätig gewesen, ich habe meine Feinde unter- stützt, ohne daß sie davon erfahren haben, ich habe meinen Freunden geholfen unter dem Namen von Personen, die gar nichts davon wußten, weil ich den Titel eines Freundes demjenigen eines Wohltäters vorzog. Ich habe die letzten Augenblicke eines Sterbenden versüßt, indem ich vorgab, der Überbringer einer Versöhnung zu sein, die ich dann erst in der Folge bewerkstelligte. Ich habe die Ehre von Mädchen und drei Frauen gerettet, habe meine stärksten Leiden- schaften besiegt, habe unfreundliche Reden anderer als freundliche wiedererzählt, um Feindschaften zu beseitigen. Aber auf der anderen Seite hat man erlebt, daß ich mich mit .Freunden aus Unklugheit und Leichtsinn, überwarf. Ich habe mit heiterer Stirn gelogen, ich habe durch zwei- deutige Ausdrücke Frauen und junge Mädchen insultiert. O unbegreifliches Labyrinth des menschlichen Herzens! Chaos, das du alle Gegensätze in dir birgst, wer kann dich entwirren? Ich — in mir selber."

(Monsieur Nicolas I, 24 — 27.)

Ist auch viel Pose in dieser öffentlichen Zur- schaustellung der geheimsten Regungen seines


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Wesens, fällt uns auch bei dieser drastischen Schilde- rung namentlich seiner schlechten Seiten unwillkür- lich jener antike Philosoph mit dem durchlöcherten Mantel ein, so ist an diesem Nebeneinander der schroffsten Gegensätze in der Menschennatur, die uns diese Selbsterkenntnisse enthüllen, weiter nichts Erstaunliches. Uns bleibt in diesem speziellen Falle nur übrig, einige der am meisten charakterisierten Grundzüge in Charakter und Wesensart Retif s noch genauer hervorzuheben.

Kurz und treffend hat er sich in dem von Franz Funck-Brentano aufgefundenen Notiz- buch „Memento" als eine Natur von „Eisen und Feuer" bezeichnet. (Inscripc. 323.) In der Tat ver- mochte ein Leben voll der glühendsten Leidenschaft, das die Kräfte eines anderen weniger Widerstands- fähigen frühzeitig verzehrt hätte, seine wirklich eiserne Energie nicht zu lähmen, die Beharrlichkeit seines Strebens nicht zu erschüttern. Wenn wir im nächsten Kapitel ihn als den begeisterten Apostel der Liebe als des höchsten Daseinszweckes kennen lernen werden, so hat er auf der anderen Seite bei- nahe nicht weniger enthusiastisch durch Wort und Tat das Lob und den Wert der Arbeit für das Glück des Menschen verkündet. Dieser Mann war kein Quietist und ist auch am Ende seines Lebens keiner geworden wie so viele andere, die das Leben und namentlich die Liebe bis zum Überdruß genossen haben und dann im Nirwana das Quietiv des Willens suchen. Bis zuletzt gewährt uns R^tif ein Bild rast- losen Strebens im Dienste der Menschheit. Der Wille war da, wenn auch die Kräfte endlich ver- sagten. Wie Zola im 19., so hat R6tif im 18. Jahr-


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hundert seinen Landsleuten das Evangelium der Ar- beit gepredigt.

„Meine Frau arbeitet, meine beiden Töchter ar- beiten. Die Arbeit ehrt den Menschen. Ich arbeite selbst so lange wie ich kann. Es ist nicht notwendig, daß ich ein feiner Schriftsteller sei, aber es ist nötig, daß ich ein nützlicher Bürger werde." (Me- mento, Fol. 123.)

Nichts, selbst die Liebe nicht, konnte ihn von seiner Arbeit abhalten. Er ließ sich selbst durch die grausamsten körperlichen Leiden^) und durch andere Unannehmlichkeiten nicht darin stören. Er verlor keine Minute, und verfaßte z. B. während der Korrektur einer fertigen Schrift schon wieder eine neue.^) Niemand durfte ihn während der Arbeit besuchen. Einmal sagte seine Wirtin aus der rue de Bi^vre zu einem solchen Besucher: „Komimen Sie am Abend wieder. Am Tage würde selbst der Herzog von Orleans ihn nicht sprechen können." (Nuits de Paris, Bd. IV. S. 1878.) Die Arbeit war ihm eine Leidenschaft wie die Liebe. Im fünften Bande der „Nuits de Paris" hat er dieses intellek- tuelle Vergnügen an der Arbeit sehr eindrucksvoll geschildert :

„Wenn ich meinen Tag nicht zur Genüge ausgefüllt habe, bin ich mit mir selbst unzufrieden und tröste mich nur durch die Verdoppelung der Anstrengungen, die ich mir für den folgenden Tag vornehme. Wenn ich arbeite, betrachte ich


') Z. B. arbeitete er im Februar 1785 trotz unerträglicher Qualen infolge einer Strangurie an verschiedenen Schriften (Inscr. 106 — 107).

  • ) So verfaßte er am 15. Juni 1787 ein Kapitel der

„Physique", während er zugleich die Korrektur eines ihm eben zugegangenen Druckbogens las (Inscr. 305).


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mich als ein nützliches, brauchbares Individuum, als eine Art öflfentlicher Persönlichkeit, die mit erhabenen Funktionen betraut ist. Ich fühle dann, daß ich etwas wert bin. So lange ich noch nicht systematisch arbeitete, war ich furchtsam, schüchtern, menschenscheu. Ich floh und fürchtete andere Leute. Es war mir, als könnten sie auf meiner Stirn lesen: „Das ist ein nutzloses Wesen", und ich konnte den Gedanken an ihre Verachtung nicht ertragen. Aber seitdem ich arbeite, habe ich eine würdevolle Sicherheit gewonnen. Ich trete jedem ohne Frechheit und Prätentionen entgegen, aber mit einem Gefühl der Ebenbürtigkeit, das mir Haltung gibt. Ich verdanke alles meiner Arbeit, sowohl den Frieden im Innern wie die Achtung nach außen. Bevor ich nicht arbeitete, existierte ich nicht. Ich war ein Unbekannter, ein Nichts. Wie muß ich diese Arbeit lieben, die mich aus dem Nichts hervorgezogen hat, die mir Kenntnisse, Freunde gegeben hat! — O, meine lieben Mitbürger! Wenn ihr niemals versucht habt, zu arbeiten, fangt an damit. Genießet dann recht eure Empfindungen. Werdet nicht mutlos! Ich habe lange mit Gleichgültigkeit gearbeitet. Aber endlich fand ich Geschmack daran. Die Arbeit allein hält uns aufrecht, belebt uns. Lernt die unaussprechliche Be- friedigung kennen, die während einiger Tage die Vollendung eines Werkes uns gibt. Dann würdet ihr die Entzückungen der Arbeit fühlen. Sie werden euch Kraft verleihen, eine neue zu beginnen!"

Eine solche Arbeitsfreudigkeit, Arbeitsfrische und Arbeitskraft, wie Retif sie während eines lan- gen Lebens bis zum letzten Augenblicke besaß, wäre besonders im Hinblick auf seine ebenso erstaunlichen Leistungen in der physischen Liebe nicht möglich ge\yesen, wenn er nicht sonst eine durchaus mäßige und enthaltsame Lebensweise geführt hätte. Er war weder ein Spieler noch ein Trinker. Den Alko- holgenuß mied er fast gänzlich, ein paarmal trank er sich einen Rausch an, um seinen Zustand in dem- selben zu studieren und er fand nach dem Sprich-


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Worte: „In vino veritas", daß der Wein ihn heiter, sanft und gut mache (M. N. III, 178). Übrigens ist auch hier der Rausch cum grano saHs zu nehmen, da Retif — ein Beleg für seine nervöse, sensible Na- tur — sehr intolerant gegen Alkohol war und schon nach dem ersten Glase Wein oder Bier einen Rausch bekam. In diesem Sinne ist das Wort „gris" aufzu- fassen, das sich bisweilen in seinem Tagebuch findet (z. B. Inscripc. S. 291, S. 304). Für gewöhnlich genoß R6tif als Tafelgetränk nur Wasser. Im Cafe Ma- noury, wo er auch Schach zu spielen pflegte, trank er ab und zu ein Glas Bier (Inscr. 218).

Diese mäßige Lebensweise machte es möglich, daß R6tif trotz seiner sexuellen Ausschweifungen und trotz so vieler widrigen Zufälligkeiten und äuße- ren Unregelmäßigkeiten seines Lebens doch im ganzen einer geregelten, in sich gefestigten Existenz sich erfreuen konnte. Es ist nichts Unzusammen- hängendes in seinem Dasein. Retif war keine Augenblicksnatur, kein eigentlicher Boh6mien, wenn auch die äußere Misere und gewisse Gewohnheiten bisweilen an einen solchen erinnern. Er hatte be- stimmte Ziele und Aufgaben, die er mit beharr- licher Ausdauer, in unermüdlicher Arbeit in Angriff nahm und von deren Vollendung er sich durch keinerlei äußere Schwierigkeiten abschrecken ließ. Die Probleme, die er sich stellte, mußten gelöst wer- den. Darin war er konsequent und unerschütterlich. Man denke nur an das Riesengemälde der damaligen weiblichen Welt, an die „Zeitgenossinnen" und ihre 42 Bände, ferner an die nicht minder schwierige Auf- gabe eines Studiums des nächtlichen Paris, die er in den 1 6 Bänden der „Nuits de Paris" glänzend gelöst hat.


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Da er selbst auf Arbeit und geregelte Lebens- weise den höchsten Wert legte, so konnte er oft bei andern den Mangel einer solchen nicht ertragen. Er empfand tief das Unglück eines solchen Zu- standes und war immer und gern bereit, zu helfen, wo es sich um die Rettung Verlorener und dem Elend einer unsicheren Existenz preisgegebener Individuen handelte. Hier war die Wurzel seiner Wohltätig- keit, die er, wie wir schon aus dem Briefe der Agnes Leb^gue erfahren haben, so vielen be- dürftigen Leuten erwies, um ihnen einen geregelten, anständigen Lebenswandel zu ermöglichen. Nach seiner eigenen Versicherung hat er allein fünf Prosti- tuierte durch pekuniäre Unterstützung von im ganzen 5000 Livres ihrem schändlichen Gewerbe entzogen, und zwei von ihnen waren ihm noch später dank- bar dafür (Inscr. ']'] und 79). Viele arme Leute, be- sonders Greise, unterstützte er in freigebiger Weise. Unzählige Male ließ er hungrigen Bettlern ein reich- liches Mittagessen geben.

Gerade weil er selbst so oft in die Lage kam, Wohltaten empfangen zu müssen, hatte er ein starkes Gefühl für die Bedürftigkeit anderer. Er war zwar dankbar für das Gute, das ihm von seinen Freunden erwiesen worden war, wie er denn zeitlebens Männer wie Butel-Dumont und Pidansat de Mairo- be r t als seine Wohltäter pries, aber er besaß manch- mal nach dem Ausdrucke von Cubi^res, ohne un- dankbar zu sein, doch den „Despotismus der Er- kenntlichkeit" (Lacroix 60) und stellte an seine Freunde, z. B. an Mercier, Ansprüche, denen sie mit dem besten Willen nicht gerecht werden konnten. Das nahm er dann sehr übel, und die Folge war


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nicht selten Bruch der Freundschaft und offene Feindseligkeit von seiner Seite. Doch war er der Versöhnung leicht geneigt.

Meist war verletzte Eitelkeit die Ursache solcher Entfremdungen und Zwistigkeiten. Denn eine naive Eitelkeit, ein phantastischer Größenwahn waren ein ganz besonders hervorstechender Charakterzug R^tifs, nach dem man ihn sehr oft allein be- und verurteilt hat. Hier schien ihm der Sinn für die* Wirklichkeit ganz abhanden gekommen zu sein.

Diese Selbstüberschätzung entsprang wesentlich aus seinem Phantasieleben, das ihm die größte Maß- losigkeit als etwas Natürliches erscheinen ließ. Er gefiel sich wie Narciß in einer verzückten Selbst- betrachtung, die nicht bloß seine körperlichen, son- dern auch seine geistigen Eigenschaften betraf. Der „Monsieur Nicolas" liefert unzählige Beispiele da- für. Keiner war so gewandt in köri>erlichen Übun- gen wie er, in Auxerre bewunderte jeder seinen Mut, man proklamierte ihn zum „Verteidiger des schönen Geschlechts". Niemand tanzte so schön wie er, er lief schneller als ein Hase, besaß äußerst feine Sinne, eine sanfte, modulierfähige Stimme, die ihm beinahe ein Engagement in der Opera-Comique eintrug. Kein Wunder, daß er eine unwiderstehliche Anziehungs- kraft auf das schöne Geschlecht ausübte, daß er heftige Leidenschaften einflößte, die er auch mit einer erstaunlichen Leistungsfähigkeit zu befriedigen vermochte. Nicht minder herrlich waren nach seiner Versicherung seine intellektuellen und moralischen Eigenschaften. Schon in Auxerre galt er als der klügste junge Mann. Parangon, der ihn als Men- schen haßte, konnte ihn doch wegen seiner her-


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vorragenden Tüchtigkeit als Arbeiter nicht ent- behren. In ^jlng^nue Saxancour" (Bd. III, S. 126) schildert er sich durch den Mund von F61icit^ Mes- nager folgendermaßen: „O! wenn Sie wüßten, wie verführerisch er (Rdtif) ist! Er gehört zu jenen Menschen, die nicht jung zu sein brauchen, um ge- liebt zu werden. Selbst sein zerstreutes Wesen, seine in Gedanken verlorene Miene sind reizvoll, weil man merkt, daß es nicht Affektation ist. Er sagt kein Wort, das nicht der Ausdruck eines Gefühls ist. Wenn er ein Kompliment macht, ist es zart und wahr. Er schildert Ihnen Ihre Reize und stellt sie so voll- kommen dar, daß man den Mann, der ims so durch- schaut und unseren Wert erkennt, lieben muß."

Die berühmte „Genealogie" gehört auch hier- her, ebenso die Vorahnung berühmter Entdeckungen, die er sich in kindlicher Freude zuschrieb. So hatte er Herschells astronomische Entdeckungen schon selbst früher gemacht oder vielmehr „erraten", wie er in den „Nuits de Paris" erklärt.

Natürlich trat diese Eitelkeit, dieser Größen- wahn am meisten auf schriftstellerischem Gebiete in die Erscheinung. Im Notizbuch „Memento" (Fol. 118) erklärt er stolz: „Oft haben weder Voltaire noch Rousseau noch Buf fon Ideen wie ich gehabt. Seht meine Eitelkeit! Sie ist erstaunlich und kostet mich nichts. Ich schreibe alles, ohne mich um Frü- heres zu kümmern, als wenn es einzig wäre." Als ihn eine Nachtpatrouille bei seinen Promenaden an- hielt und nach seinem Namen fragte, antwortete er kurz, mit einer stolzen Kopfbewegung: „Ich bin der „Paysan perverti" und der „ContempOraniste" (Mon seiet 65), den „Monsieur Nicolas" bestimmte


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er laut Prospekt für „ganz Europa" und auf einem Reklameplakat, das die „Philosophie des Monsieur Nicolas" ankündigte, hieß es: „N. Rötif de la Bretonne ist ohne Zweifel bei der Bildung des Institut national vergessen worden, wie man in der Enzyklopädie den Artikel „Paris" vergessen hatte 1" Miliin, der in seinem „Magasin encyclo- pedique" (Bd. IX, p. 550) diese köstliche Stelle mit- teilt, macht sich natürlich weidlich über R e t i f lustig. An anderer Stelle (M. N. XI, 211) sagt Retif aus- drücklich, man habe in ihm ein „Genie" aus der Akademie ausgeschlossen. Er verfehlt nicht, alle die hervorragenden Stellen in seinen Schriften, die ihn zu einem solchen stempeln, namhaft zu machen. So ist die Widmung an die Jugend in seinem 1771 erschienenen „Marquis de Tavan" eine „Perle". Es gibt keine Frau, die nicht seine „Fille naturelle", dieses „chef-d'oeuvre de c^lerit6, peut-etre chef- d'ceuvre de pathdtique", gelesen hat. Wenn ein Dramatiker den Stoff aus seinen Erzählungen ent- nähme, so sei er sicher, das beste Stück zu machen. In der „Annde des dames nationales" benachrichtigt Retif seine Leser, daß die „Contemporaines" das „Entzücken" von Europa bilden. Schon vor der Ver- öffentlichung des „Monsieur Nicolas" ruft er aus: „Ich bereite ein unsterbliches Werk vorl" Der Ro- man „La derni^re aventure d'un homme de quarante- cinq ans" enthält „Gemälde, die eines Albano wür- dig sind". Zwischen sich und Beaumarchais kon- statiert er eine merkwürdige literarische Ähnlichkeit (M. N. XI, 162). Er träumt sich ein Grab, auf dem die Inschriften seiner Werke verzeichnet sindl (M. N. I, 131).'


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Eine anschauliche Schilderung von dieser Schrift- stellereitelkeit gibt der Graf Alexander von Tilly an jener interessanten Stelle^) seiner Memoiren, wo er über seine Begegnung mit Retif de la Bre- tonne berichtet:

„Meine Höflichkeit und meine Komplimente entzückten ihn; noch mehr aber war er von seinen Schriften eingenommen und bezaubert. Er trug kein Bedenken, mir seinen „Paysan perverti" als ein Buch erster Klasse zu nennen und zu emp- fehlen; es sei ein Werk wie kein anderes; es werde so lange bestehen als die Sprache, die er gelehrt habe, alles aus- zudrücken, und als die Natur, die er überall nach dem Leben geschildert, und bei ihrer geheimsten Toilette be- schlichen habe. Er wünschte sich Glück, daß ihn sein fades, beengtes Jahrhundert durchaus verkenne; die Verleumdungen der Journalisten und Akademiker, sagte er, deren Maß nicht an sein Knie reiche, wären für ihn die ersten Titel und Rechte auf die Unsterblichkeit,"

Graf von Tilly verfällt aber mit Recht nun nicht in den Fehler, den so viele Kritiker und ober- flächliche Leser R^tifs gemacht haben, aus diesen Übertreibungen auf die Minderwertigkeit der Schrif- ten R^tifs einen Schluß zu ziehen. Er erkennt durchaus die Originalität und die Bedeutung der- selben an. Wahrscheinlich kann man ein System in Rdtifs fortgesetzten Selbstberäucherungen er- blicken, wenn man eine Stelle in den „Nuits" ins Auge faßt, wo es heißt: „Man kann sich selbst aus Entrüstung über die Ungerechtigkeit der anderen loben". Auch spielt er einmal auf seinen Größenwahn mit spöttischen Worten an (M. N. I, 28). Man wird deshalb nicht allzu sehr über-

  • ) Memoiren des Grafen Alexander von T(illy). Aus der

Französischen Handschrift übersetzt. Berlin 1826. Bd. II, S. 427—428.


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rascht sein, ihn öfter eine berechtigte Selbstkritik üben zu sehen. So gibt er in einem Dialog zwischen einem Arzte und dem Herausgeber im 30. Bande der „Contemporaines" ein Verzeichnis seiner besten No- vellen, aber er bekennt, daß die Nrn. 70 und 71 „recht leer" sind, die Nrn. 81 — 83 „unwahrschein- lich", Nr. 97 und 98 wenig interessant und daß so- wohl Kunst als Natur ihnen abgeht. In der „Revue des ouvrages" erklärt er selbst, daß die „Nouveaux m6moires d'un homme de qualit^" eine seiner mittel- mäßigsten Produktionen seien.

Nichtsdestoweniger war er gegen fremde Kri- tiken äußerst empfindlich. Wehe demjenigen, der sich solche herausnahm I „Lügner", „Schändlicher", „Elender", „Fälscher", „dumm", „feige", „bösartig", das waren die schmeichelhaften Beiworte, die er oft Kritikern an den Kopf warf, die es gar nicht so böse mit ihm gemeint hatten. Dabei war er in seinen heftigen Antworten ehrlich genug, auch jene Äuße- rungen der Kritik in extenso mit abzudrucken, so daß der Leser in die Lage versetzt wurde, sich ein unparteiisches Urteil zu bilden.

Er gesteht selbst, daß der geringste Tadel ihm einen „grausamen Schmerz" verursache. Es war die häufigste Ursache der Zwistigkeiten selbst mit seinen intimsten Freunden. So überwarf er sich mit Nou- garet, Fräulein von Saint-L^ger, mit dem Abbe de Fontenay, mit Mercier und sogar mit Mar- lin, dem begeistertsten Verehrer, den er überhaupt hatte. Doch waren diese literarischen Rankünen nicht von langer Dauer. R^tif versöhnte sich bald wieder mit den oben Genannten, auch mit dem Zeich- ner Sergent, der die Stiche zu den „Contempo-

Dühren, Retif de la Bretonne 23


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raines" getadelt hatte, mit dem Schauspieler Gran- ger, der angeblich die Aufführung eines seiner Stücke verhindert hatte.

Über eine in der Nummer des „Mercure" vom I. Januar 1777 erschienene abfällige Besprechung des „Paysan" sagte Retif noch nach Jahren er- grimmt : „Über diese infamen Schurken, die einen wahnsinnigen, ebenso boshaften wie dummen Artikel gegen ein Buch schreiben, das ein Meisterwerk istl Elende Buben! Und du, oberflächlicher und eifer- süchtiger Verfasser des Artikels im „Mercure", der du nicht gemerkt hast, daß dieses unsterbliche Werk das nützlichste und wirklich am meisten philoso- phische in unserem Jahrhundert ist, wie hasse ich dich! Wie verachte ich dich! Wie, ihr brutalen und blinden Schufte, habt ihr nicht gesehen, mit welcher Feinheit der Verfasser dem arbeitenden Bauern die Stadt, die Fabriken und Künste entfremdet! Un- dankbares Publikum!" (Nuits de Paris, S. 2781.) Bisweilen reagierte er selbst sehr boshaft und witzig auf Angriffe seiner literarischen Gegner. So gab er, nachdem ihn die „p^dants de College" in der Zeitschrift „L'Ann^e litteraire" heruntergemacht hatten, dieser letzteren die Bezeichnung „l'Ane litte- raire" (M. N. XIV, 114). Die Zensoren, die an seinen Werken Anstoß nahmen, waren „miserables", die Theaterdirektoren, die seine Stücke ablehnten, waren einfach „betes". Als der Abh6 Simon, königlicher Zensor, die „Confidence n^cessaire" nur unter der Bedingung zahlreicher Änderungen durchgehen lassen wollte, und ein anderer Zensor Lebrun-Mau- peou sie dagegen ohne weiteres angenommen hatte, sagte R^tif: „Der Abbe Simon war ein Dumm-


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köpf, den das Studium nur noch anmaßender ge- macht hatte, dagegen Lebrun-Maupeou ein Mann von Weh mit gesundem Menschenverstände". (M. N. V, 153.)

Am empfindHchsten war er gegen Ironie und Satire in jeder Form.

Sie waren ihm stets der Beweis eines schlechten Herzens, ja sogar der Verruchtheit. „Das Wort ist nicht zu stark", sagt er. Ein sarkastischer Mensch sei eine Henkernatur. Archilochus und selbst Aristophanes seien keine anständigen Charaktere gewesen. Er erwähnt einen Buchdrucker in Paris, den die einen fürchteten, die andern schonten, den aber alle Welt verabscheue, da er ein Spötter sei (M. N. I, 60). Eine von ihm erzählte hübsche Anekdote illustriert, daß er schon als Kind keinerlei Spaß verstand und alle Dinge zu ernst und wörtlich nahm (M. N. I, 64 — 65). In seinen letzten Lebensjahren steigerte sich diese Empfindlichkeit in solchem Maße, daß Retif in seinen damals noch veröffenthchten Büchern fast keinen Schriftsteller des Tages mehr verschonte und nach Cubi^res von dieser all- gemeinen Ächtung nur den in mancher Beziehung ihm ähnlichen Le Suire ausnahm, mit dem er in bezug auf seine politischen und extravaganten An- schauungen harmonierte. (Vgl. La er o ix, S. 62.)!)

Um alle wesentlichen Züge in diesem Charakter- bilde zu berühren, muß noch die Frage beantwortet werden: Gehörte R^tif zu den den Willen verneinen- den oder bejahenden Naturen ? Huldigte er einer pessi-

') Le S ui r e ist u. a. Verfasser eines Buches „La Cour- tisane amoureuse et vierge", das sehr viel Analogien mit R e - t i f s „Palais Royal" aufweist.

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mistischen oder optimistischen Welt- oder Lebens- anschauung? Wir müssen sagen, daß er eine durch und durch das Leben bejahende Natur war, ein unverwüstlicher Optimist. Zwar findet er schöne und treffende Worte für die Vergänglichkeit des Lebens (z. B. M. N. V, 243), für die Realität des Un- glücks, der Leiden und die Nichtigkeit und kurze Dauer des Glücks (Inscr. 6), aber immer wieder bricht wie Sonne durch dunkles Gewölk seine Lebens- lust, die Freude am Dasein und Wirken durch alle trüben Stimmungen hindurch. Einmal ruft er aus : „Ich bin noch! Der Tod, der furchtbare Tod hat mich nicht hinweggemäht. Ich sehe noch das Licht der Sonne. Ich sehe noch, o Seine, deine flüchtige Welle wie die Tage, die dahingingen, seitdem ich auf diesen Stein schrieb. Noch einmal will ich darauf schreiben! Und ich schrieb: Bis anniversarium mali. — Seitdem habe ich jedes Jahr diese Inschrift wieder aufgefrischt; beim dritten Male ein „ter", beim vierten ein „quater", beim fünften ein „quin- quies" und im letzten Jahre ein „sexies" darüber gesetzt." (Inscr. 13).

Vielleicht ist niemals von einem Menschen das bloße Daseinsgefühl so intensiv und wunderbar emp- funden worden wie von Retif de la Bretonne. Und am mächtigsten empfand er dieses Daseins- gefühl in der Liebe, deren Betrachtung wir das nächste Kapitel widmen, um damit das Wesen des merkwürdigen Mannes ganz zu erklären.


Elftes Kapitel. Sein Liebesleben.

I. Die Liebe als Lebenszweck.

Arbeit und Liebe sind die beiden Pole, zwischen denen sich das Leben Retif s bewegt. „Die Liebe", sagt er, „ist die wichtigste Angelegenheit des Men- schen nach der Arbeit, die ihm seinen Unterhalt verschafft" (Inscr. 64). Seine Devise war gerade entgegengesetzt derjenigen eines Strindberg oder Weininger in unserer Zeit. Sie lautet: Alles durch und für die Frauen. Das Weib war der höchste Zweck seiner Existenz, seine einzige Leidenschaft, Liebe, physische und ideale, der ewige Traum seines Lebens. „Die Frauen waren immer Feuer, Luft imd Wasser für mich." Er mußte lieben und geliebt werden. Die physische Liebe ist ihm das „größte Gut" und die „schönste Funktion", die seelische die „erste Tugend". Durch die erstere wird der Mensch unmittelbar mit dem Universum verknüpft, durch die zweite empfindet er das höchste Glück. (Nuits de Paris II, 504.) ^

Blicken wir auf R^tif s Leben zurück, so treffen wir viele Ansätze und Versuche zur Gestaltung einer individuellen Liebe — sah er doch in jeder Frau etwas Reines, Heiliges, Wunderbares (Nuits de Paris


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11,505) — und können hierfür auf Jeannette Rous- seau, Colette Parangon und Zephire ver- weisen, aber im ganzen galt seine Liebe dem Weib an sich, nicht einem bestimmten Individuum. „Ich liebte immer weniger eine Frau als die Frauen, und ließ mich mehr vom Geschlecht an sich berauschen als vom Individuum." (M. N. III, T"]). Das Weib ist das Zentrum seines Lebens. Ihm bringt er unend- lich mehr Vertrauen entgegen als dem Manne. Hat doch das Wesen der Frau einen „unbeschreiblichen, unsagbaren" Reiz für ihn, fühlt er doch bei ihnen ein „Vertrauen", eine „Hingebung", wie er sie nie bei einem Manne empfunden hat. Wohl gibt es böse Frauen, aber das Geschlecht als solches ist „himm- lisch" (Lettres inedites, S. 21 — 22).

„Mein Herz", sagt er, „war so beschaffen, daß ich durchaus die Liebe oder wenigstens die Freund- schaft einer Frau nötig hatte, um es auf angenehme Weise zu füllen. Ohne die Frauen war ich nichts, ohne Kraft, ohne Energie, ohne Tätigkeit, ja ohne Seele. Deshalb war ich mein ganzes Leben hindurch auf der Jagd nach Liebe oder wenigstens nach der Freundschaft einer Frau, die mir gefiel. Mein Un- glück war eben nur, daß ich mich fast immer in der Wahl täuschte oder überhaupt nicht zum Ziel ge- langte." (M. N. VII, 149.)

Er empfand wie selten ein Mann das Eigen- tümliche des weiblichen Wesens, seine magische Ge- walt, das taciteische „sanctum aut providum". Sehr schön schreibt er einmal in einem Briefe: „Les femmes vont au coeur avec une surete dölicate pt prompte" (Lettres in6d. 8). Daher kann auch nie ein Mann Dinge des Herzens so sagen wie eine


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Frau (ibidem 46), und dieses zarte Empfinden macht aus ihr die geborene Krankenpflegerin. „Nichts geht über eine weibliche Hand bei der Pflege eines Kran- ken, nichts über ein tröstendes Wort aus ihrem Munde" (Lettres 21). Deshalb ist es sein höchster Wunsch, dereinst bei einer Freundin zu sterben, die ihm die Augen zudrückte, nachdem sie seine letzten Augenblicke versüßt hätte (Lettres 2).

Diese ihm eigene hohe Auffassung des Weibes ermöglicht uns das Verständnis seines Liebeslebens, in dem die Idee, die Phantasie, der Piatonismus eine hervorstechende Rolle spielten.

2. Sein Erotismus.

Früh schon regte sich in Retif ein unbändiger Geschlechtstrieb. Es war zunächst ein dunkler, physi- scher Drang, der den Knaben mit unwiderstehlicher Gewalt zu Mädchen und Frauen zog. „Selbst die kleinen Neger, so frühreif, daß sie schon mit neun oder zehn Jahren Vater sein können, dürften wohl nicht früher die Sehnsucht nach dem Weibe ver- spüren, als ich sie empfunden habe" (M. N. I, 92). Er bezeichnet dieses frühe Auftreten und die Stärke des Geschlechtstriebes als ein Resultat seiner physi- schen Konstitution (M. N. I, 87), worüber er sagt: „Ob amplitudinem testiculorum, longitudinemque gracilis veretri . . . Das war die Ursache des un- bändigen Erotismus, der mich in den schönsten Jahren meines Lebens quälte" (M. N. I, 94).

Eine Folge dieses rein körperlichen Triebes war ein ständiges Bedürfnis nach Wechsel in ero- tischen Beziehungen, und zwar bezog sich dieses Variationsbedürfnis mehr auf die Verschiedenheit der


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Frauen als auf eine etwaige Änderung sexueller Akte. R6tif drückt dies sehr gut dadurch aus, daß er in seinem ganzen Leben niemals ein „mon^raste", son- dern stets ein „poly^raste" gewesen sei (M. N. I, 126). Schon mit 20 Jahren verfaßte er eine hierfür charak- teristische Grabschrift auf sich, in der es u. a. heißt :

Ci gh le tendre coeur d'un Mörtel amoureux, De qui tout bei Objet sut s'attirer les voeux, A qui nulle Beaute, par un malheur extreme, Ne procura jamais felicite supreme.

Inconstant dans ses feux, jamais la meme Belle N'en alluma deux fois la brülante etincelle. Transporte dans l'abord, tout froid se retirant, Son coeur ä peine epris ä lui-meme se rend, Et va se redonner, en sa prompte inconstance, A quelque Objet nouveau qui penche la balance. Mais s'il sort, une fois, de sa Belle amoureux, Qu'on le lui pardonne une: il n'y revient pas deux.

In der Einleitung zu den „Contemporaines" sagt er: „Wenn ich ein hübsches Mädchen sehe, bin ich neugierig, sie kennen zu lernen, je nach dem Maße ihrer Schönheit", und wenn er sie kennen gelernt hatte, machte er auch fast immer den Ver- such, sie zu besitzen. Es war ihm unmöglich, eine Zeitlang enthaltsam zu leben. Wurde er durch äußere Verhältnisse dazu genötigt, dann geriet er bald in einen Zustand förmlicher Satyriasis. Bis ins hohe Alter war ihm täglicher Geschlechtsverkehr ein Bedürfnis! Geschah dies nicht, so geriet er in „Raserei beim Anblick einer hübschen Person". Als Mönch, z. B. als Karthäuser, meint er, würde er der schuldigste oder unglücklichste Mensch gewor- den sein (M. N. VII, 104). Die Intensität des Triebes war so groß, die leidenschaftliche Erregung wäh-


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rend der Befriedigung desselben so überwältigend, daß er fast stets in einen Zustand der Ohnmacht und Bewußtlosigkeit verfiel, wie er das im „Monsieur Nicolas" und auch in der „Anti-Justine" so häufig berichtet. Man wird dabei an die Auffassung der alten Ärzte erinnert, daß der Coitus eine Art von „kleiner Epilepsie" sei. R6tif litt offenbar an jener chronischen, kontinuierlichen sexuellen Übererreg- barkeit, die nach L. Löwenfeld i) am häufigsten Teilerscheinung einer ererbten neuropathischen Kon- stitution ist. Auf die angeborene Reizbarkeit des Nervensystems weisen ja auch verschiedene, bereits früher angeführte Erscheinungen aus der Kindheit hin. „Cet 6tat frdnetique, cette Epilepsie et ce dölire", die Roubaud als Symptome des sexuellen Orgas- mus konstatiert 2), steigerten sich bei R6tif zu jenem Zustande, den er als „Ohnmacht" bezeichnet.

Dieser in so heftiger Weise sich äußernde phy- sische Drang war nur die eine Seite der Liebe, die ihn unwiderstehlich zu den Frauen zog. Der merk- würdige Gegensatz in seinem Wesen, der Realismus auf der einen Seite, das phantastische Element auf der anderen, läßt sich auch in seinem Liebesleben sehr deutlich nachweisen. Schon in die gewöhnlichen Liebesbeziehungen rein sinnlicher Natur trug er ein ideales Moment hinein. Er betrachtete es als ein „Verbrechen wider die Natur", eine Frau, mit der er den Genuß physischer Liebe geteilt hatte, jemals


^) L. Löwenfeld, Sexualleben und Nervenleiden. 3. Auflage, Wiesbaden 1903. S. 222.

') Felix Roubaud, Traite de l'impuissance et de la sterilite chez Thomme et chez la femme. 3. edit, Paris 1876. Seite 17.


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zu vergessen oder abfällig von ihr zu denken (M. N. VIII

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