Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker  

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Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker is a text by Walter Benjamin on Eduard Fuchs first published in Zeitschrift für Sozialforschung (Jg. 6, 1937, S. 346-381). An English translation appeared in 1982 under the title "Eduard Fuchs: Collector and Historian".

Full text[1]

Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker.

Von WalterBenjamin.


Es gibt viele Arten von Sammlern ; zudem sind in jeglichem eine Fulle von Impulsen am Werk. Fuchs ist als Sammler vor allem ein Pionier : der Begriinder eines einzig dastehenden Archivs zur Geschichte der Karikatur, der erotischen Kunst und des Sittenbildes. Wichtiger ist aber ein anderer und zwar komplementarer Umstand : als Pionier wurde Fuchs zum Sammler. Namlich als Pionier der materialistischen Kunstbetrachtung. Was jedoch diesen Materialisteh zum Sammler machte, war das mehr oder minder klare Gefuhl fur eine geschichtliche Lage, in die er sich hineingestellt sah. Es war die Lage des historischen Materialismus selbst.

Sie kommt in einem Briefe zum Ausdruck, den Friedrich Engels an Mehring zur gleichen Zeit richtete, da in einem soziali- stischen Redaktionsbureau Fuchs seine ersten publizistischen Siege erfocht. Der Brief stammt vom 14. Juli 1893 und fuhrt unter anderem aus : „Es ist dieser Schein einer selbstandigen Geschichte der Staatsverfassungen, der Rechtssysteme, der ideologischen Vor- stellungen auf jedem Sondergebiete, der die meisten Leute vor allem blendet Wenn Luther und Calvin die offizielle katholische Religion, wenn Hegel den Fichte und Kant, Rousseau indirekt mit seinem Contrat Social den konstitutionellen Montesquieu ,uberwindet', so ist das ein Vorgang, der Theologie, der Philosophie, der Staatswissenschaft bleibt, eine Etappe in der Geschichte dieser Denkgebiete darstellt und gar nicht aus dem Denkgebiete heraus- kommt. Und seitdem die biirgerliche Illusion von der Ewigkeit und Letztinstanzlichkeit der kapitalistischen Produktion dazuge- kommen ist, gilt ja sogar die Uberwindung der Merkantilisten durch die Physiokraten und Adam Smith als ein blosser Sieg des Gedan- kens, nicht als der Gedankenreflex veranderter okonomischer Tatsa- chen, sondern als die endlich errungene richtige Einsicht in stets und iiberall bestehende tatsachliche Beziehungen. " x )


  • ) Zitiert von Gustav Mayer, Friedrich Engels. Bd. II : Friedrich Engels und

der Aufstieg der Arbeiterbewegung in Europa. Berlin. S. 450/451.


Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker 347

Engels wendet sich gegen zweierlei : einmal gegen die Gepflo- genheit, in der Geistesgeschichte ein neues Dogma als ,Entwicklung* eines friiheren, eine neue Dichterschule als ,Reaktion* auf eine vorangegangene, einen neuen Stil als ,t)berwindung' eines alteren darzustellen ; er wendet sich aber offenbar implizit zugleich gegen den Brauch, solche neuen Gebilde losgelost von ihrer Wirkung auf die Menschen und deren sowohl geistigen wie okonomischen Produktionsprozess darzustellen. Damit ist die Geisteswissen- schaft als Geschichte der Staatsverfassungen oder der Naturwissen- schaften, der Religion oder der Kunst zerschlagen. Aber die Sprengkraft dieses Gedankens, den Engels ein halbes Jahrhundert mit sich getragen hat 1 ), reicht tiefer. Sie stellt die Geschlossenheit der Gebiete und ihrer Gebilde in Frage. So, was die Kunst betrifft, deren eigene und die der Werke, welche ihr Begriff zu umfassen beansprucht. Diese Werke integrieren fur den, der sich als histo- rischer Dialektiker mit ihnen befasst, ihre Vor- wie ihre Nach- geschichte — eine Nachgeschichte, kraft deren auch ihre Vorge- schichte als in standigem Wandel begriffen erkennbar wird. Sie lehren ihn, wie ihre Funktion ihren Schopfer zu iiberdauern, seine Intentionen hinter sich zu lassen vermag ; wie die Aufnahme durch seine Zeitgenossen ein Bestandteil der Wirkung ist, die das Kunst- werk heute auf uns selber hat, und wie die letztere auf der Begeg- nung nicht allein mit ihm, sondern mit der Geschichte beruht, die es bis auf unsere Tage hat kommen lassen. Goethe hat dies, verschleiernd wie oft, bedeutet, als er im Gesprach iiber Shake- speare zu dem Kanzler von Miiller ausserte : „Alles, was eine grosse Wirkung getan hat, kann eigentlich gar nicht mehr beurteilt wer- den ". Kein Wort ist gemasser, die Beunruhigung hervorzurufen, die den Anfang jeder Geschichtsbetrachtung macht, welche das Recht hat, dialektisch genannt zu werden. Beunruhigung iiber die Zumutung an den Forschenden, die gelassene, kontemplative Haltung dem Gegenstand gegeniiber aufzugeben, um der kriti- schen Konstellation sich bewusst zu werden, in der gerade dieses Fragment der Vergangenheit mit gerade dieser Gegenwart sich befmdet. „Die Wahrheit wird uns nicht davon laufen" — dieses Wort, das bei Gottfried Keller steht, bezeichnet im Geschichtsbild des Historismus genau die Stelle, an welcher es vom historischen Materialismus durchschlagen wird. Denn es ist ein unwiederbring- liches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu ver- schwinden droht, welche sich nicht als in ihm gemeint erkannte.


  • ) Er taucht in den ersten Feuerbachstudien auf und finden dabei durch Marx

diese Pragung : „Es gibt keine Geschichte der Politik, des Rechts, der Wissenschaft..., der Kunst, der Religion'* (Marx-Engels-Archiv, Bd. I. Frankfurt am Main. S. 301)


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Je besser man die Satze von Engels bedenkt, desto klarer wird, dass jede dialektische Darstellung der Geschichte erkauft wird durch den Verzicht auf eine Beschaulichkeit, die fur den Historismus bezeichnend ist. Der historische Materialist muss das epische Element der Geschichte preisgeben. Sie wird ihm Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die leere Zeit, sondern die bestimmte Epoche, das bestimmte Leben, das bestimmte Werk bildet. Er sprengt die Epoche aus der dinghaften ,geschicht- lichen Kontinuitat* heraus, so auch das Leben aus der Epoche, so das Werk aus dem Lebenswerk. Doch der Ertrag dieser Kon- struktion ist der, dass im Werke das Lebenswerk, im Lebenswerk die Epoche und in der Epoche der Geschichtsverlauf aufbewahrt und aufgehobenist. 1 )

Der Historismus stellt das ewige Bild der Vergangenheit dar ; der historische Materialismus eine jeweilige Erfahrung mit ihr, die einzig dasteht. Der Entsatz des epischen Moments durch das konstruktive erweist sich als Bedingung dieser Erfahrung. In ihr werden die gewaltigen Krafte frei, die im ,Es-war-einmaP des Historismus gebunden liegen. Die Erfahrung mit der Geschich- te ins Werk zu setzen, die fur jede Gegenwart eine ursprung- liche ist — das ist die Aufgabe des historischen Materialismus. Er wendet sich an ein Bewusstsein der Gegenwart, welches das Kontinuum der Geschichte aufsprengt.

Geschichtliches Verstehen fasst der historische Materialismus als ein Nachleben des Verstandenen auf, dessen Pulse bis in die Gegenwart spurbar sind. Dieses Verstehen hat bei Fuchs seine Stelle ; jedoch keine unangefochtene. Eine alte, dogmatische und naive Vorstellung von der Rezeption steht bei ihm neben ihrer neuen und kritischen. Die erste resumiert sich in der Behauptung, massgebend fur unsere Rezeption eines Werkes musse die Rezeption sein, welche es bei seinen Zeitgenossen gefunden habe. Es ist die genaue Analogie zu Rankes „wie es denn wirklich gewesen sei", auf die es „doch einzig und allein" ankomme. 2 ) Daneben aber steht unvermittelt die dialektische und den weitesten Horizont eroffnende Einsicht in die Bedeutung einer Geschichte der Rezep- tion. Fuchs bemangelt, dass in der Kunstgeschichte die Frage nach dem Erfolg ausser acht bleibe. „Diese Unterlassung ist...


  • ) Es ist die dialektische Konstruktion, die das in der geschichtlichen Erfahrung

urspriinglich uns Betreffende gegen die zusammengestoppelten Befunde des Tatsiich- lichen abhebt. „Im nackten offenkundigen Bestand des Faktischen gibt das Ursprung- liche sich niemals zu erkennen, und einzig einer Doppeleinsicht steht seine Rhythmik often. Sie ... betrifft dessen Vor- und Nach geschichte." (Walter Benjamin, Ursprung des Deutschen Trauerspiels. Berlin 1928, S. 32).

2) Erotische Kunst, Bd. I, S. 70.


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ein Defizit unserer gesamten... Kunstbetrachtung. Und doch dunkt mich die Aufdeckung der wirklichen Ursachen fiir den grossereh oder geringeren Erfolg eines Kiinstlers, fiir die Dauer seines Erfolges und ebensosehr fiir das Gegenteil eines der wichtig- sten Probleme, die sich... an die Kunst knupfen." 1 ) Nicht anders hatte Mehring die Sache verstanden, dessen „Lessing-Legende " die Rezeption des Dichters, so wie sie sich bei Heine und bei Gervinus, bei Stahr und bei Danzel, schliesslich bei Erich Schmidt vollzogen hatte, zum Ausgangspunkt ihrer Analysen macht. Und nicht umsonst tauchte wenig spater die, wenn nicht methodisch so doch ihrem Inhalt nach, schatzbare Untersuchung „Zur Genesis des Ruhmes" von Julian Hirsch auf. Es ist die gleiche Frage, die Fuchs visiert hat. Ihre Losung gibt ein Kriterium fiir den Standard des historischen Materialismus ab. Dieser Umstand aber berechtigt nicht, den anderen : dass sie noch aussteht, zu unter- schlagen. Vielmehr ist riicksichtslos einzuraumen, dass es nur in vereinzelten Fallen gelungen ist, den geschichtlichen Gehalt eines Kunstwerks so zu erfassen, dass es als Kunstwerk fiir uns transparenter wurde. Alles Werben um ein Kunstwerk muss eitel bleiben, wo nicht sein niichterner geschichtlicher Gehalt vom dia- lektischen Erkennen betroffen wird. Das ist nur die erste der Wahrheiten, an denen das Werk des Sammlers Eduard Fuchs sich orientiert. Seine Sammlungen sind die Antwort des Praktikers auf die Aporien der Theorie.

II

Fuchs ist im Jahre 1870 geboren. Er war von Hause aus nicht zum Gelehrten bestimmt worden. Und bei aller Gelehrsamkeit, zu der er im spateren Leben gekommen ist, hat er nie den Gelehr- tentyp angenommen. Seine Wirksamkeit ist stets uber die Rander hinausgeschossen, die das Blickfeld des Forschers umgrenzen. So ist es um seine Leistung als Sammler bestellt, so um seine Aktivitat als Politiker. Mitte der achtziger Jahre ist Fuchs ins Erwerbsleben eingetreten. Es war unter der Herrschaft des Sozialistengesetzes. Die Lehrstelle fiihrte Fuchs mit politisch interessierten Proletariern zusammen, und bald war er durch sie in den heute idyllisch anmu- tenden Kampf der damaligen Illegalen hineinbezogen. Diese Lehr- jahre endeten 1887. Einige Jahre darauf forderte das bayrische Organ der Sozialdemokraten, die „Munchener Post", den jungen Buchhalter Fuchs von einer Stuttgarter Druckerei an ; es glaubte, in ihm den Mann gefunden zu haben, der die administrativen Man-


  • ) Gavarni, S. 13.


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gel beheben konne, die sich bei dem Blatte ergeben hatten. Fuchs ging nach Miinchen, um dort neben Richard Calver zu arbeiten. Im Hause der „Munchener Post" erschien ein politiscbes Witz- blatt der Sozialisten, der „Siiddeutsche Postilion". Ein Zufall gab, dass Fuchs aushilfsweise den Umbruch einer Nummer des „Postillon" in die Hand nehmen, und ein weiterer, dass er Liicken mit einigen eigenen Beitragen fullen musste. Der Erfolg dieser Nummer war ungewohnlich, Im gleichen Jahre erschien sodann, bunt bebildert — die farbig illustrierte Presse stand eben in ihren Anfangen, — von Fuchs zusammengestellt, die Mainummer dieses Blattes. Sechzigtausend Exemplare wurden verkauft gegen zwei- einhalbtausend im Jahresdurchschnitt. Damit war Fuchs Redak- teur einer Zeitschrift geworden, die der politischen Satire gewidmet war. Er wandte sich zugleich der Geschichte seines Tatigkeits- feldes zu, und es entstanden so, neben der Tagesarbeit, die illustrier- ten Studien uber das Jahr 1848 in der Karikatur und iiber die StaatsafTare der Lola Montez. Das waren, im Gegensatz zu cen von lebenden Zeichnern illustrierten Historienbiichern (z. B, den von Jentsch bebilderten volkstiimlichen Revolutionsbiichern von Wilhelm Bios), die ersten durch dokumentarische Bilder illustrierten Geschichtswerke. Auf Hardens AufTorderung zeigte Fuchs das zweite dieser Werke selbst in der „Zukunft" an, nicht ohne zu bemerken, dass es nur einen Ausschnitt aus dem umfassenden Werk darstelle, das er der Karikatur der europaischen Volker zu widmen vorhabe. Ein Gefangnisaufenthalt von zehn Monaten, den eine Pvlajestatsbeleidigung durch die Presse ihm eintrug, kam den Studien zu diesem Werk zugute. Dass die Idee glucklich sei, erschien einleuchtend. Ein gewisser Hans Kraemer, der sich in der Herstellung illustrierter Hausbiicher bereits einige Erfahrung gesichcrt hatte, trat an Fuchs mit der Nachricht heran, er habe die Geschichte der Karikatur schon in Arbeit ; er schlug vor, seine Studien einem gemeinschaftlichen Werk zuzufuhren. Seine Bei- trage liessen jedoch auf sich warten. Und bald ergab sich, dass die gesamte sehr betrachtliche Arbeitsleistung Fuchs allein zu bewaltigen blieb. Der Name des prasumptiven Mitarbeiters, der noch auf dem Titel der ersten Auflage des Karikaturenwerks zu finden war, ist in der zweiten fortgefallen. Fuchs aber hatte von seiner Arbeitskraft wie auch von seiner Materialbeherrschung die erste iiberzeugende Probe abgelegt. Die lange Reihe der Haupt- werke war eroffnet. 1 )


J ) Hauptwerke (bei Albert Langen in Miinchen) :

Illustrierte Sittengeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Bd. I : Renais-


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Die Anfange von Fuchs fallen in die Epoche, da, wie es in der „Neuen Zeit" einmal heisst, „der Stamm der sozialdemokratischen Partei allerorten im organischen Wachstum Ring urn Ring" ansetzte. 1 ) Damit machten sich neue Aufgaben in der Bildungsar- beit der Partei geltend. Je grossere Arbeitermassen ihr zustrom- ten, desto weniger konnte sie sich mit deren bloss politischer und naturwissenschaftlicher Aufklarung, mit einer Vulgarisierung der Mehrwert- und Deszendenztheorie begniigen. Sie musste ihr Augenmerk darauf richten, auch« ( den historischen BildungsstofT in ihr Vortragswesen und in das Feuilleton der Parteipresse einzu- beziehen. Auf diese Weise stellte sich das Problem der „Popula- risierung der Wissenschaft " in seiner ganzen Breite. Es ist nieht gelost worden. Man konnte auch der Losung nicht naherkommen, solange man sich das Objekt dieser Bildungsarbeit als ,Publikum* statt als Klasse dachte. 2 ) Ware die Klasse visiert worden, so hatte die Bildungsarbeit der Partei niemals die enge Fiihlung mit den wissenschaftlichen Aufgaben des historischen Malerialismus verlieren konnen. Der historische StofT ware, umgcpfliigt von der marxistischen Dialektik, ein Boden gewordcn, in dem der Same, den die Gegenwart in ihn warf, hatte aufgehen konnen. Das geschah nicht. Der Parole ,, Arbeit und Bildung", unter der die staatsfrommen Vereine von Schultze-Delitzsch die Arbeitcrbildung betrieben hatten, stellte die Sozialdemokratie die Parole „Wissen ist Macht" entgegen. Aber sie durchschautc nicht deren Doppel-


sance, Bd. II : Die gal ante Zeit, Bd. Ill : Das biirgerliche Zeitaltcr. Dazu ErganzuHgs- bande I-III (zitiert „Sittengeschichte" ).

Geschichte der erotischen Kunst. Bd. I : Das zeitgeschichtliche Problem, Bd. II : Das individuelle Problem, Erster Teil ; Bd, III : Das individuelle Problem, Zweiter Teil (zitiert „Erotische Kunst").

Die Karikatur der europaischen VOlker. Bd. I : Vom Altertum bis zum Jahre 1848, Bd. II : Vom Jahre 1848 bis zum Vorabend des Weltkrieges (zitiert „Karikatur" ).

Honore Daumier, Holzschnitte und Lithographien. Bd. I : Holzschnitte, Bd. II- IV : Lithographien (zitiert „Daumier"),

Der Maler Daumier (zitiert ebenso).

Gavarni (zitiert ebenso).

Die grossen Meister der Erotik (zitiert ebenso).

Tang-Plastik Chinesische Grab-Keramik des 7.-10. Jahrhunderts (zitiert ebenso)*

Dachreiter und verwandte chinesische Keramik des 15.-18. Jahrhunderts (zitiert ebenso). Fuchs hat ausserdem der Frau, den Juden und dem Weltkrieg als Sujets der Karikatur Sonderwerke gewidmet.

a ) A. Max, Zur Frage der Organisation des Proletariats der Intelligenz. In : Die Neue Zeit. XIII. Stuttgart 1895, I, S. 645.

8 ) Nietzsche schrieb, und zwar schon 1874 : „Als letztes... ergiebt sich das all^emcin beliebte ,Popularisieren'... in der Wissenschaft, das heisst das beruchtigte Zuschneiden des Rockes der Wissenschaft auf den Leib des ,gemischten Publikums' : um uns hier einmal fur eine schneidermassige Tatigkeit eines schneidermassigen Dentschen (sic 1) zu befleissigen" (Fried rich Nietzsche, Unzeitgemiisse Betrachtmi^en, Bd. I. Leipzig 1893, S. 108 — „Vom Nutzen und Nachteil der Historic, fiir das Lebcn").


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sinn. Sie meinte, das gleiche Wissen, das die Herrschaft der Bourgeoisie uber das Proletariat befestige, werde das Proletariat befahigen, von dieser Herrschaft sich zu befreien. In Wirklichkeit war ein Wissen, das ohne Zugang zur Praxis war und das daa Proletariat als Klasse uber seine Lage nichts lehren konnte, unge- fahrlich fiir dessen Unterdriicker. Das gait von dem geisteswis- senschaftlichen ganz besonders. Es lag weit von der Okonomik^ ab ; es blieb von deren Umwalzung unberiihrt. Man begniigte sich, in seiner Behandlung ,anzuregen\ ,Abwechslung zu bieten', ,zu interessieren 1 . Man lockerte die Geschichte auf und erhie.lt die jKulturgeschichte*. Hier hat das Werk von Fuchs seinen Ort : in der Reaktion auf diese Sachlage hat es seine Grosse, in der Teilhabe an ihr seine Problematic Die Ausrichtung auf die Lesermassen hat sich Fuchs von Anfang an zum Prinzip gemacht. 1 ) Nur wenige haben damals erkannt, wieviel von der materia- listischen Bildungsarbeit in Wahrheit abhing. Es sind die HofT- nungen und noch mehr die Befurchtungen dieser wenigen, die in einer Debatte zum Ausdruck kommen, deren Spuren sich in der „Neuen Zeit" finden. Die wichtigste unter ihnen ist ein Aufsatz von Korn, betitelt „Proletariat und Klassik". Er befasst sich mit dem Begriff des Erbes, der auch heute wieder seine Bedeutung hat. Lassalle sah im deutschen Idealismus, sagt Korn, ein Erbe, das die Arbeiterklasse antrat. Anders als Lassalle aber fassten Marx und Engels die Sache auf. „Nicht... als ein Erbe leiteten sie den sozialen Vorrang der Arbeiterklasse her, sondern aus ihrer ausschlaggebenden Stellung im Produktionsprozess. Wie braucht auch von Besitz, und sei es von geistigem Besitz,... geredet zu v/erden bei einem Klassenparvenu, wie das moderne Proletariat, das jeden Tag und jede Stunde durch... seine den gesamten Kul- turapparat immer aufs neue reproduzierende Arbeit sein ,Recht* dartut... So ist fiir Marx und Engels das Prunkstiick des Lassal- leschen Bildungsideals, die spekulative Philosophie, kein Taberna- kel ... und immer starker haben sich beide ... zur Naturwissenschaft hingezogen gefuhlt..., die in der Tat fiir eine Klasse, deren Idee in ihrem Funktionieren besteht, ebenso die Wissenschaft schlecht- weg heissen darf, wie fiir die herrschende und besitzende Klasse alles Historische die gegebene Form ihrer Ideologic ausmacht... Tatsachlich vertritt die Historik fiir das Bewusstsein ebenso die Besitzkategorie, wie im Okonomischen das Kapital die Herrschaft liber vergangene Arbeit bedeutet. " 2 )


J ) „Der Kulturgeschichtsschreiber, der es mit seiner Aufgabe ernst nimmt, muss stets fiir die Massen schreiben" (Erotische Kunst, Bd. II, Erster Teil, Vorwort).

2 ) C. Korn, Proletariat und Klassik. In : Die Neue Zeit. XXVI. Stuttgart 1908, II, S. 414-417.


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Diese Kritik des Historismus hat ihr Gewicht. Ihr Hinwcis auf die Naturwissenschaft jedoch — „die Wissenschaft schlecht- weg " — gibt den Blick auf die gef ahrliche Problematik der Bildungs- frage erst ganzlich frei. Das Prestige der Naturwissenschaften hatte seit Bebel die Debatte beherrscht. Sein Hauptwerk, „Die Frau und der Sozialismus ", hat in den dreissig Jahren, die zwischen seinem Erscheinen und dem der Arbeit von Korn vergingen, eine Auflage von 200.000 Exemplaren erreicht. Die Einschatzung der Naturwissenschaften bei Bebel beruht nicht allein auf der rechne- rischen Genauigkeit ihrer Ergebnisse, sondern vor allem auf ihrer praktischen Anwendbarkeit. 1 ) Ahnlich fungieren sie spater bei Engels, wenn er den Phanomenalismus von Kant durch den Hin- weis auf die Technik zu widerlegen meint, die ja doch durch ihre Erfolge zeige, dass wir die „Dinge an sich" erkennen. Die Natur- wissenschaft, die bei Korn als die Wissenschaft schlechtweg auftritt, tut dies also vor allem als Fundament der Technik. Die Technik aber ist ofTenbar kein rein naturwissenschaftlicher Tatbestand. Sie ist zugleich ein geschichtlicher. Als solcher zwingt sie, die positi- vistische, undialektische Trennung zu uberprufen, die man zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu etablieren suchte. Die Fra- gen, die die Menschheit der Natur vorlegt, sind vom Stande ihrer Produktion mitbedingt. Das ist der Punkt, an dem der Positi- vismus scheitert. Er konnte in der Entwicklung der Technik nur die Fortschritte der Naturwissenschaft, nicht die Ruckschritte der Gesellschaft erkennen. Dass diese Entwicklung durch den Kapi- talismus entscheidend mitbedingt wurde, ubersah er. Und ebenso entging den Positivisten unter den sozialdemokratischen Theore- tikern, dass diese Entwicklung den immer dringlicher sich erwei- senden Akt, mit dem das Proletariat sich in den Besitz dieser Tech- nik bringen sollte, zu einem immer prekareren werden liess. Die destruktive Seite dieser Entwicklung verkannten sie, weil sie der destruktiven Seite der Dialektik entfremdet waren.

Eine Prognose war fallig, und sie blieb aus. Das besiegelte einen Verlauf, der fiir das vergangene Jahrhundert kennzeichnend ist : namlich die verungliickte Rezeption der Technik. Sie besteht in einer Folge schwungvoller, immer erneuter Anlaufe, die samt und sonders den Umstand zu uberspringen suchen, dass dieser Gesellschaft die Technik nur zur Erzeugung von Waren dient. Die Saint-Simonisten mit ihrer Industrie-Dichtung stehen am Anfang ; es folgt der Realismus eines Du Camp, der in der Lokomo-


  • ) Vgl. August Bebel, Die Frau und der Sozialismus. Stuttgart 1891, S. 177/79

und-S. 333 /36 tiber die Umwalzung der Hauswirtschaft durch die Technik, S. 200 /201 fiber die Frau als Erfinderin.


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tive die Heilige der Zukunft sieht ; den Beschluss macht ein Lud- wig Pfau : „Es ist ganz unnotig", schrieb er, „ein Engel zu werden, und die Lokomotive ist mehr wert als das schonste Paar Fliigel. " x ) Dieser Blick auf die Technik fiel aus der „Gartenlaube ". Und man mag sich aus solchem Anlass fragen, ob die ,,Gemutlichkeit" f deren sich das Biirgertum des Jahrhundertsfreute, nicht aus dem dumpfen Behagen stammt, niemals erfahren zu miissen, wie sich die Produk- tivkrafte unter seinen Handen entwickeln mussten. Diese Erfah- rung blieb denn auch wirklich dem Jahrhundert, das folgte, vorbe- halten. Es erlebt, wie die Schnelligkeit der Verkehrswerkzeuge, •wie die Kapazitat der Apparaturen, mit denen man Wort und Schrift vervielfaltigt, die Bediirfnisse liberflugelt. Die Energien, die die Technik jenseits dieser Schwelle entwickelt, sind zerstorende. Sie fordern in erster Linie die Technik des Kriegs und die seiner publizistischen Vorbereitung. Von dieser Entwicklung, die durch- aus eine klassenbedingte gewesen ist, darf man sagen, dass sie sich im Rticken des vorigen Jahrhunderts vollzogen hat. Ihm sind die zerstdrenden Energien der Technik noch nicht bewusst gewesen. Das gilt zumal von der Sozialdemokratie der Jahrhun- dertwende. Wenn sie den Illusionen des Positivismus an dieser oder jener Stelle entgegentrat, so blieb sie im ganzen in ihnen befan- gen. Die Yergangenheit erschien ihr ein fiir allemal in die Scheuern der Gegenwart eingebracht ; mochte die Zukunft Arbeit in Aussicht stellen, so doch die Gewissheit des Erntesegens.

Ill

In dieser Epoche hat sich Eduard Fuchs gebildet, und entschei- dende Zuge seines Werkes entstammen ihr. Es nimmt, urn das formelhaft auszusprechen, an der Problematik teil, die von der Kulturgeschichte untrennbar ist. Diese Problematik verweist auf den zitierten Engelsschen Text zurtick. Man konnte glauben, den locus classicus in ihrn zu haben, der den historischen Materialismus als Geschichte der Kultur defmiert. Muss nicht das der wahre Sinn dieser Stelle sein ? Muss nicht das Studium der einzelnen Disziplinen, denen der Schein ihrer Geschlossenheit nun genommen ist, in dem der Kulturgeschichte als demjenigen des Inventars zusammenfliessen, das die Menschheit sich bis heute gesichert hat ? In Wahrheit wiirde der dergestalt Fragende an die Stelle der vielen und problematischen Einheiten, die die Geistesgeschichte (als


J ) Zitiert von D. Bach, John Ruskin. In : Die Neue Zeit. XVIII. Stuttgart 1900» I, S. 728.


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Geschichte der Literatur und Kunst, des Rechts oder der Religion) umfasst, nur eine neue, problematischste setzen. Die Abgehoben- heit, in der die Kulturgeschichte ihre Inhalte prasentiert, 1st fiir den historischen Materialisten eine scheinhafte und von einem fal- schen Bewusstsein gestiftete. 1 ) Er steht ihr zuruckhaltend gegen- iiber. Berechtigen zu solcher Zuruckhaltung wiirde ihn die blosse Inspektion des Gewesenen selbst : was er an Kunst und an Wissen- schaft iiberblickt, ist samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen betrachten kann. Es dankt sein Dasein nicht nur der Muhe der grossen Genien, die es geschaffen haben, son der n in mehr oder minderem Grade auch der namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen. Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Dem Grundsatzlichen dieses Tatbestandes ist noch keine Kulturgeschichte gerecht gcwor- den, und sie kann das auch schwerlich hoffen.

Dennoch liegt nicht hier das Entscheidende. Ist der Begriff der Kultur fiir den historischen Materialismus ein problematischer, so ist ihr Zerfall in Guter, die der Menschheit ein Objekt des Besitzes wiirden, ihm eine unvollziehbare Vorstellung. Das Werk der Ver- gangenheit ist ihm nicht abgeschlossen. Keiner Epoche sieht er es dinghaft, handlich in den Schoss fallen, und an keinem Teil. Als ein Inbegriff von Gebilden, die unabhangig, wenn nicht von dem Produktionsprozess, in dem sie entstanden, so doch von dem, in welchem sie iiberdauern, betrachtet werden, tragt der Begriff der Kultur ihm einen fetischistischen Zug. Sie erscheint verdinglicht. Ihre Geschichte ware nichts als der Bodensatz, den die durch keinerlei echte, d. i. politische Erfahrung im Bewusstsein der Menschen aufgestoberten Denkwurdigkeiten gebildet haben.

Im ilbrigen kann man nicht ausser acht lassen, dass noch keine Geschichtsdarstellung, die auf kulturhistorischer Grundlage unter- nommen wurde, dieser Problematik entronnen ist. Sie ist hand-


l ) Charakteristischen Ausdruck hat dieses scheinhafte Moment in Alfred Webers Begrussungsansprache auf dem deutschen Soziologentage von 1912 gefunden. „Erst wenn das Leben von seinen Notwendigkeiten und Nutzlichkeiten zu einem liber diesen stehenden Gebilde geworden ist, erst dann gibt es Kultur." In diesem Kulturbegriff schhimmerten Keime der Barbarei, die sich inzwischen entfaltet haben. Kultur erscheint als etwas „fur die Fortexistcnz des Lebens Oberflussiges, was wir doch gerade als... dasjenige, wofiir es da ist, fuhlen." Kurz, die Kultur existiert nach Art eines Kunstwerks, „das vielleicht ganze Lebensformen und Lebensgrundsatze in Verwirrung bringt, das zersetzend und zerbrechend wirken kann, und dessen Exi- stenz wir doch als h6her fiihlen als alles Gesunde und Lcbcndige, was dadurch zer- stOrt wird." Funfundzwanzig Jahre nachdem das gesagt wurde, haben Kulturstaaten es als ihre Ehre in Anspruch genommen, solchen Kunstwerken zu gleichen, solche zu sein (Verhandlungen des zweiten deutschen Soziologentages. Schriften der deutschen Gesellschaft fur Soziologie. Erste Serie, Zweiter Band. Tubingen 1913, S. 11/12. Alfred Weber, Der soziologische Kulturbegrifl).


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greiflich in der gross angelegten „Deutschen Geschichte" von Lamprecht, welche die Kritik der „Neuen Zeit" aus begreiflichen Griinden mehr als einmal beschaftigt hat. „Lamprecht", schreibt Mehring, „ist bekanntlich unter den biirgerlichen Historikern der- jenige, der sich am meisten dem historischen Materialismus genahert hat. " Jedoch „Lamprecht ist auf halbem Weg stehen geblieben... Jeder BegrifT einer historischen Methode hort... auf, wenn Lamprecht die okonomische und kulturelle Entwicklung nach einer bestimmten Methode behandeln will, die politische Entwicklung derselben Zeit aber aus einigen anderen Historikern kompiliert. " x ) Gewiss ist die Darstellung der Kulturgeschichte auf Basis der pragmatischen Historie ein Widersinn. Tiefer liegt aber der Widersinn einer dialektischen Kulturgeschichte an sich, da das Kontinuum der Geschichte, von der Dialektik gesprengt, an keinem Teil eine wei- tere Streuung erleidet, als an dem, welchen man Kultur nennt. Kurz, nur scheinbar stellt die Kulturgeschichte einen Vorstoss der Einsicht dar, nicht einmal scheinbar einen der Dialektik. Denn es fehlt ihr das destruktive Moment, das das dialektische Denken wie die Erfahrung des Dialektikers als authentische sicher- stellt. Sie vermehrt wohl die Last der Schatze, die sich auf dem Riicken der Menschheit haufen. Aber sie gibt ihr die Kraft nicht, diese abzuschutteln, um sie dergestalt in die Hand zu bekommen. Das gleiche gilt von der sozialistischen Bildungsarbeit um die Jahrhundertwende, welche die Kulturgeschichte zum Leitstern hatte.

IV

Der geschichtliche Umriss des Werkes von Fuchs profiliert sich vor diesem Hintergrund. Wo es Bestand und Dauer hat, da ist es einer geistigen Konstellation abgerungen, wie sie widriger selten erschienen ist. Und hier ist es der Sammler Fuchs, der den Theoretiker vieles erfassen lehrte, wozu seine Zeit ihm den Zugang sperrte. Es war der Sammler, der auf Grenzgebiete geriet — das Zerrbild, die pornographische Darstellung — , an denen eine Reihe Schablonen aus der iiberkommenen Kunstgeschichte fruher oder spater zuschanden werden. Es ist zunachst zu bemerken, dass Fuchs mit der klassizistischen Kunstauffassung, deren Spur auch bei Marx noch erkennbar ist, auf der ganzen Linie gebrochen hat. Die Begriffe, in denen das Burgertum diese Kunstauf-


a ) F. Mehring, Akademisches. In : Die Neue Zeit. XVI. Stuttgart 1898, I. & 195-196.


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fassung entwickelt hatte, sind bei Fuchs nicht mehr im Spiele : nicht der schone Schein, nicht die Harmonie, nicht die Einheit des Mannigfaltigen. Und die gleiche robuste Selbstbehauptung des Sammlers, die den Autor den klassizistischen Theorien entfrem- det hat, macht sich bisweilen, drastisch und briisk, der Antike selbst gegeniiber geltend. Im Jahre 1908 prophezeit er, gestiitzt auf das Werk der Rodin und Slevogt, eine neue Schonheit, „die in ihren schliesslichen Resultaten noch unendlich grosser zu werden verspricht als die Antike. Denn wo diese nur hochste animalische Form war, wird die neue Schonheit ausgefiillt sein mit einem gran- diosen geistig-seelischen Inhalt. ul )

Kurz, die Wertordnung, die bei Winckelmann oder Goethe einst die Kunstbetrachtung bestimmte, hat bei Fuchs jeden Ein- fluss verloren. Freilich ware es irrig, darum zu meinen, dass so die idealistische Kunstbetrachtung selber aus den Angeln gehoben sei. Das kann fruher der Fall nicht sein als die disiecta membra, welche der Idealismus als „geschichtliche Darstellung" eirierseits und als „Wurdigung" andererseits in der Hand halt, eines gewor- den und als solche iiberholt worden sind. Das zu leisten, bleibt einer Geschichtswissenschaft vorbehalten, deren Gegenstand nicht von einem Knauel purer Tatsachlichkeiten, sondern von der gezahl- ten Gruppe von Faden gebildet wird, die den Einschuss einer Vergangenheit in die Textur der Gegenwart darstellen. (Man wiirde fehlgehen, diesen Einschuss mit dem blossen Kausalnexus gleichzusetzen. Er ist vielmehr ein durchaus dialektischer, und jahrhundertelang konnen Faden verloren gewesen sein, die der aktuale Geschichtsverlauf sprunghaft und unscheinbar wieder auf- greift.) Der geschichtliche Gegenstand, der der puren Faktizitat enthoben ist, bedarf keiner „Wurdigung". Denn er bietet nicht vage Analogien zur Aktualitat, sondern konstituiert sich in der prazisen dialektischen Aufgabe, die ihr zu losen obliegt. Darauf ist es in der Tat abgesehen. Wenn an nichts anderem, so ware dies an dem pathetischen Zuge fuhlbar, der den Text oft dem


  • ) Erotische Kunst, Bd. I, S. 125. — Die stete Bezugnahme auf die zeitgenOssische

Kunst gehOrt zu den wichtigsten Impulsen des Sammlers Fuchs. Auch sie kommt ihm teilweise von den grossen Sch6pfungen der Vergangenheit. Seine unvergleich- liche Kenntnis der alteren Karikatur erschliesst Fuchs fruh die Arbeiten eines Toulouse- Lautrec, eines Heartfleld und eines George Grosz. Seine Passion fur Daumier fiihrt inn zu Slevogts Werk, dessen Don Quichote-Konzeption ihm als die einzige vor Augen schwebt, die sich neben Daumier halten kann. Seine Studien iiber Keramik geben ihm alle Autoritat, einen Emil Pottner zu fOrdern. Sein Leben lang hat Fuchs mit bildenden Kunstlern in freundschaftlichem Verkehr gestanden. Es ist daher nicht verwunderiich, dass seine Art, Kunstwerke anzusprechen, oft mehr die des Kunstlers als des Historikers ist.


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Vortrag nahert. Doch ist andererseits daran kenntlich, dass nicht weniges in der Absicht und im Anlauf befangen blieb. Das grund- satzlich Neue der Intention kommt zu ungebrochenem Ausdruck vor allem da, wo ihr der stoffliche Vorwurf entgegenkommt. Das geschieht in der Deutung des Ikonographischen, in der Betrachtung der Massenkunst, in dem Studium der Reproduktionstechnik. Diese Teile des Fuchsschen Werkes sind bahnbrechend. Sie sind Bestandteile einer jeden kunftigen materialistischen Betrachtung von Kunstwerken.

Den drei genannten Motiven ist eines gemeinsam : sie enthalten eine Anweisung auf Erkenntnisse, die sich an der hergebrachten Kunstauffassurig nicht anders erweisen konnen als destruktiv. Die Befassung mit der Reproduktionstechnik erschliesst, wie kaum eine andere Forschungsrichtung, die entscheidende Bedeutung der Rezeption ; sie gestattet damit, den Prozess der Verdinglichung, der am Kunstwerk statthat, in gewissen Grenzen zu korrigieren. Die Betrachtung der Massenkunst fiihrt zur Revision des Genie- begriffs ; sie legt nahe, iiber der Inspiration, die am Werden des Kunstwerks teilhat, die Faktur nicht zu ubersehen, die allein ihr gestattet, fruchtbar zu werden. Endlich erweist sich die ikonogra- phische Auslegung nicht allein unentbehrlich fur das Studium der Rezeption und der Massenkunst ; sie verwehrt vor allem die Ubergriffe, zu denen jeder Formalismus alsbald verfiihrt. 1 )

Fuchs hat sich mit dem Formalismus befassen mussen. Wolff- lins Lehre war im Aufstieg zur gleichen Zeit als Fuchs die Funda- mente seines Werks griindete. In seinem „Individuellen Problem" knupft er an einen Grundsatz aus der „Klassischen Kunst" Wolff- lins an. Dieser Grundsatz lautet : „So sind Quattrocento und Cinquecento als Stilbegriffe mit einer stofllichen Charakteristik nicht zu erledigen. Das Phanomen... weist auf eine Entwicklung des kunstlerischen Sehens, die von einer besonderen Gesinnung und von einem besonderen Schonheitsideal im wesentlichen unabhangig ist." 2 ) Gewiss kann diese Formulierung dem historischen Mate- rialisten Anstoss bieten. Aber sie enthalt doch auch Forderliches ; denn gerade er ist nicht so sehr daran interessiert, die Veranderung des kunstlerischen Sehens auf ein gewandeltes Schonheitsideal als auf elementarere Prozesse zuruckzufiihren — Prozesse, wie sie durch okonomische und technische Wandlungen in der Produktion


  • ) Der Meister ikonographischer Interpretation durfte Emile Male sein. Seine

Untersuchungen beschranken sich auf die Plastik der franzosischen Kathedralen d«» 12. bis 15. Jahrhunderts und uberschneiden sich demnach nicht mit denen von Fuchs.

») Heinrich Wolfflin, Die klassische Kunst. Munchen 1899, S. 275.


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angebahnt werden. Was den gegebenen Fall betrifft, so wiirde der schwerlich leer ausgehen, der sich mit der Frage befassen wollte, welche wirtschaftlich bedingten Veranderungen im Wohnbau die Renaissance mit sich brachte und welche Rolle die Renaissance- malerei als Prospekt der neuen Architektur und als Illustration des durch sie ermoglichten Auftretens denn gespielt habe. 1 ) Frei- lich streift Wolfflin diese Frage nur fliichtig. Wenn aber Fuchs gegen ihn geltend macht : „Gerade diese formalen Momente... sind es, die sich nirgends anders her erklaren lassen als aus der veran- derten Stimmung der Zeit " 2 ), so weist das doch in erster Linie auf die erwahnte Bedenklichkeit von kulturhistorischen Kategorien hin. Es ergibt sich an mehr als einer Stelle, dass Polemik, auch Diskussion, auf dem Wege des Schriftstellers Fuchs nicht liegt. Die eristische Dialektik, die nach Hegels Definition „in die Kraft des Gegners eingeht, um ihn von innen her zu vernichten ", ist, so streitbar Fuchs erscheint, in seinem Arsenal nicht zu finden. Bei den Forschern, die auf Marx und Engels folgten, liess die destruk- tive Kraft des Gedankens nach, der nun nicht mehr das Jahrhun- dert in die Schranken zu fordern wagte. Schon bei Mehring hat sich ihr Tonus in der Fiille der Scharmutzel herabgestimmt. Immerhin leistete er mit der „Lessing-Legende " Erhebliches. Er zeigte, welcher Heerbann politischer, aber auch wissenschaftlicher und theoretischer Energien in den grossen Werken der Klassik aufgebracht worden war. Er bekraftigte so-seine Abneigung gegen den belletristischen Schlendrian seiner Zeitgenossen. Er kam zu der mannlichen Erkenntnis, die Kunst habe ihre Wiedergeburt erst von dem okonomisch-politischen Siege des Proletariats zu erwarten. Und zu der unbestechlichen : „In seinen Befreiungs- kampf vermag sie nicht tief einzugreifen. " 3 ) Die Entwicklung der Kunst hat ihrh Recht gegeben. Seine Erkenntnisse verwiesen


a ) Die altere Tafelmalerei gab dem Menschen als Quartier nicht mehr als ein Schil- derhauschen. Die Maler der Fruhrenaissance haben zum ersten Mai Innenraume ins Bild gesetzt, in denen die dargestellten -Figuren Spielraum haben. Das machte die Erfindung der Perspektive durch Uccello den Zeitgenossen und ihm selber so uber- w&ltigend. Die Malerei, die von nun ab ihre Schapfungen mehr als vordem den Wohnenden (statt wie einstmals den Betenden) widmete, gab ihnen Vorlagen ihres Wohnens, wurde nicht miide, Perspektiven der Villa vor ihnen aufzustellen. Die Hochrenaissance, schr viel sparsamer in der Darstellung des eigentlichen Interieurs, baute doch auf diesen Grund auf. „Das Cinquecento hat ein besonders starkes Gefiihl liir die Relation zwischen Mensch und Bauwerk, fur die Resonanz eines schOnen Raumes. Es kann sich fast keine Existenz denken ohne architektonische Fassung und Fundamentierung." (Wolfflin, a. a. O., S. 227).

») Erotische Kunst, Bd. II, Erster Teil, S. 20.

s) Franz Mehring, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Zweiter Teil : Von Lassalles Offenem Antwortschreiben bis zum Erfurter Programm. (Geschichte des Sozialismus in Einzeldarstellungen, III, 2) Stuttgart 1898, S. 546.


360 Walter Benjamin

Mehring mit verdoppeltem Nachdruck auf das Studium der Wissen- schaft. Er erwarb in ihm die Soliditat und Strenge, die ihn gegen den Revisionismus gefeit machten. So formten sich in seinem Charakterbild Zuge, die im besten Sinn biirgerliche zu nennen, doch weit entfernt sind, den Dialektiker zu gewahrleisten. Sie begegnen bei Fuchs nicht minder. Und vielleicht stechen sie bei ihm mehr hervor, weil sie einer expansiveren und sensualistischer gearteten Veranlagung einverleibt sind. Wie dem auch sei — man konnte sich sein Portrait wohl in eine' Galerie biirgerlicher Gelehr- tenkopfe versetzt denken. Als Nachbarn mag man ihm Georg Brandes geben, mit dem er den rationalistischen Furor, die Leiden- schaft teilt, iiber weite geschichtliche Raume mit der Fackel des Ideals (des Fortschritts, der Wissenschaft, der Vernunft) Licht zu verbreiten. Auf der anderen Seite mag man sich Adolf Bastian, den Ethnologen denken. An ihn erinnert Fuchs vor allem in seinem unersattlichen Materialhunger. Und wie Bastian zu legen- darem Ruf durch seine Bereitschaft gekommen war, jederzeit, wenn es eine Frage zu klaren gait, mit dem Handkoiferchen aufzu- brechen und eine Expedition anzutreten, die ihn monatelang von der Heimat fernhielt, so war auch Fuchs jederzeit den Impulsen horig, die ihn auf die Suche nach neuen Belegen trieben. Beider Werke werden unerschopfliche Fundgruben fur die Forschung bleiben.


Es muss fur den Psychologen eine bedeutsame Frage sein, wie ein Enthusiast, eine dem Positiven zugekehrte Natur, zur Passion fur die Karikatur gelangen kann. Er beantworte sie nach Gefallen — der Tatbestand lasst, was Fuchs angeht, keinen Zweifel zu. Von vornherein unterscheidet sein Kunstinteresse sich von dem, was man wohl ,Freude am Schonen' nennt. Von vornherein ist die Wahrheit ins Spiel gemischt. Fuchs wird nicht miide, den Quellenwert, die Autoritat der Karikatur zu betonen. „Die Wahrheit liegt im Extrem," formuliert er gelegentlich. Er geht weiter : die Karikatur ist ihm „gewissermassen die Form..,, von -der alle objektive Kunst ausgeht. Ein einziger Blick in die ethno- graphischen Museen belegt diesen Satz. ((1 ) Wenn Fuchs die pra- historischen Volker, die Kinderzeichnung heranzieht, so tritt vielleicht der Begriff der Karikatur in einen problematischen Zu- ^.ammenhang — desto ursprunglicher bekundet sich das vehemente Interesse, das er den drastischen Gehalten des Kunstwerks, mogen


  • ) Karikatur, Bd. I, S. 4/5


Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker 361

sie inhaltlicher 1 ) oder formaler Art sein, entgegenbringt. Dieses- Interesse durchzieht sein Werk in der ganzen Breite. Noch in der spaten „Tang-Plastik " lesen wir : „Die Groteske ist die hochste Steigerung des Sinnlich-Vorstellbaren. In diesem Sinn sind die grotesken Gebilde zugleich der Ausdruck der strotzenden Gesund- heit einer Zeit... Gewiss darf nicht bestritten werden, dass es hinsichtlich der Triebkrafte der Groteske auch einen krassen Gegen- pol gibt. Auch dekadente Zeiten und kranke Gehirne neigen zu grotesken Gestaltungen. In solchen Fallen ist das Groteske das erschiitternde Widerspiel der Tatsache, dass den betreffenden Zeiten und Individuen die Daseinsproblemeunlosbarerscheinen... Welche von diesen beiden Tendenzen hinter einer grotesken Phantasie als schopferische Antriebskraft steht, ist auf den ersten Blick erkennt- lich.

Die Stelle ist instruktiv. Es kommt in ihr besonders deutlich zum Vorschein, worauf die Wirkung ins Breite, die besondere Popularitat der Werke von Fuchs beruht. Das ist die Gabe, die Grundbegriffe, in denen seine Darstellung sich bewegt, alsbald mit Wertungen zu legieren. Das geschieht oft auf massive Art. 3 ) Zudem sind diese Wertungen stets extrem. Sie treten polar auf und polarisieren derart den Begriff, mit dem sie verschmolzen sind. So in der Darstellung des Grotesken, so in der der erotischen Kari- katur. In den Zeiten des Niederganges ist sie „Schmutz" und „kitzelnde Pikanterie", in den Zeiten des Aufstiegs „Ausdruck uberschaumender Lust und strotzender Kraft." 4 ) Bald sind es die Wertbegriffe der Bliitezeit und des Niederganges, bald die des Gesunden und Kranken, die Fuchs heranzieht. Grenzf alien, an denen sich ihre Problematik erweisen konnte, geht er aus dem Wege. Mit Vorliebe halt er sich an das „ganz Grosse", das das Vorrecht hat, „dem Hinreissenden im Einfachsten" Raum zu geben. 5 ) Gebrochene Kunstepochen, wie das Barock, wurdigt er wenig. Die grosse Zeit ist auch ihm noch die Renaissance. Hier


x ) Vgl, die schflne Bemerkung zu den Daumierschen Figuren von Proletarierinnen : „Wer solche S to fie als blosse Bewegungsmotive ansieht, beweist, dass ihm die letzten Triebkrafte, die wirksam werden miissen, um erschiitternde Kunst zu gestalten, ein versiegeltes Buch sind... Gerade deshalb, weil es sich in diesen Bildern um etwas ganz anderes als... ,Bewegungsmotive' handelt, werden diese Werke ewig leben als... erschiitternde Denkmaler der Knechtung des miitterlichen Weibes im neunzehnten Jahrhundert." (Der Maler Daumier, S. 28.)

a ) Tang-Plastik, S. 44.

3 ) Vgl. die These iiber die erotische Wirkung des Kunstwerks : M Je intensiver diese Wirkung ist, umso grosser ist die kunstlerische Qualitat." (Erotische Kunst, Bd. I, S. 68.)

  • ) Karikatur, S. 23.

5 ) Dachreiter, S. 39.


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behalt sein Kultus des Schopfertums iiber seine Abneigung gegen die Klassik die Oberhand.

Der Begrif! des Schopferischen hat bei Fuchs einen starken Einschlag ins Biologische. Und wahrend das Genie mit Attributen auftritt, die bisweilen das Priapische streifen, erscheinen Kiinstler, von denen der Autor sich distanziert, gem geschmalert in ihrer Mannlichkeit. Es tragt den Stempel solcher biologistischen Anschauungsweise, wenn Fuchs sein Urteil iiber die Greco, Murillo, Ribera in der Konstatierung zusammenfasst : „Alle drei wurden speziell deshalb die klassischcn Vertreter des Barockgeistes, weil jeder in seiner Art zugleich ein ,verkorkster* Erotiker war. " x ) Man darf nicht aus dem Auge verlieren, dass Fuchs seine GrundbegrifTe in einer Epoche entwickelte, der die „Pathographie " den letzten Standard der Kunstpsychologie, Lombroso und Mobius Autoritaten vorstellten. Und der Geniebegriff, der durch die einflussreiche „Kultur der Renaissance" von Burckhardt zur gleichen Zeit mit reichem Anschauungsmaterial erfullt wurde, nahrte aus anderen Quellen die gleiche weitverbreitete Oberzeugung, Schopfertum sei vor allem anderen eine Manifestation uberschaumender Kraft. Verwandte Tendenzen waren es, die Fuchs spater zu Konzeptionen fuhrten, die der Psychoanalyse verwandt sind ; er hat sie als erster fiir die Kunstwissenschaft fruchtbar gemacht.

Das Eruptive, Unmittelbare, das dem kunstlerischen Schaffen nach dieser Anschauung das Geprage gibt, beherrscht fiir Fuchs nicht minder das AufTassen von Werken der Kunst. So ist es oft nicht mehr als ein Sprung, der bei ihm zwischen Apperzeption und Urteil liegt. In der Tat ist der ,Eindruck' ihm nicht nur der selbstverstandliche Anstoss, den der Betrachter vom Werk erfahrt, sondern Kategorie der Betrachtung selbst. Wenn Fuchs beispiels- weise seine kritische Reserve gegen den artistischen Formalismus der Ming-Epoche zu erkennen gibt, so fasst er das dahin zusammen, dass deren Werke „schliesslich und endlich... nicht mehr, sondern sehr oft nicht einmal dasselbe an Eindruck erreichen, was z. B. die Tang-Epoche mit ihren grossen Linien erreicht hat." 2 ) Derart kommt der Schrifts teller Fuchs zu dem besonderen und apodik- tischen, um nicht zu sagen dem rustikalen Stil, dessen Pragung er' meisterhaft formulicrt, wenn er in dor „Geschichte der Eroti- schen Kunst" erklart : „Vom richtigen Erfiihlen bis zum richtigen und restlosen Entziffern der in einem Kunstwerk wirkenden Krafte ist irnmer nur ein einziger Schritt. <(3 ) Nicht jedem ist dieser Stil


!) Die grossen Meister der Erotik, S. 115.

  • ) Dachreiter, S. 48.

») Erotische Kunst, Bd. II, erster Teil, S. 186.


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erreichbar ; Fuchs hat seinen Preis fiir ihn zahlen miissen, Um den Preis mit einem Wort anzudeuten : die Gabe, Staunen zu erre- gen, ist dem Schriftsteller versagt geblieben. Kein Zweifel, dass dieser Ausfall ihm fiihlbar gewesen ist. Er sucht ihn aufs mannig- fachste zu kompensieren und spricht von nichts lieber als von Geheimnissen, denen er in der Psychologie des Schaffens nachgeht, als von Ratseln des Geschichtsverlaufes, die ihre Losung im Mate- rialismus finden. Aber der Drang nach unmittelbarster Bewalti- gung der Tatbestande, der schon seine Konzeption des Schaffens bestimmt und die der Rezeption ebenso, setzt sich schliesslich auch in der Analyse durch. „Notwendig" erscheint der Verlauf der Kunstgeschichte, „organisch" erscheinen die Stilcharaktere, „logisch" erscheinen noch die befremdlichsten Kunstgebilde. Sie werden es seltener im Laufe der Analyse als sie es, dem Eindruck nach, schon zuvor waren, wie jene Fabelwesen der Tang-Epoche, die mit ihren Flammenflugeln und Hornern „absolut logisch", „organisch " wirken. „Logisch wirken selbst die riesigen Elefanten- ohren ; logisch ist auch stets die Haltung... Es handelt sich nie bloss um konstruierte Begriffe, sondern stets um die zur lebens- atmenden Form gewordene Idee." 1 )


x ) Tang-Plastik, S. 30/31. — Problematisch wird diese intuitive, unmittelbare Anschauungsweise dann, wenn sie den Tatbestand einer materialises chcn Analyse erf u lien will. Es ist bekannt, dass Marx sich nirgends eingehender dar Liber ausgelassen hat, wie man sich das Verhaltnis des Oberbaus zum Unterbau im einzelnen zu denken habe. Feststeht nur, .dass er eine Folge von Vermittlungen, gleichsam Transmissionen, im Auge hatte, die sich zwischen die materiellen Produktionsverhaltnisse und die entfernteren Domanen des Oberbaus, zu denen die Kunst zahlt, cinschalten. So auch Plechanow : „"Wenn die Kunst, die von den hoheren Klassen geschaffen wird, in keiner direkten Beziehung zu dem Produktionsprozess steht, so ist dies in letzter Linie... aus okonomischen Ursachen zu erklaren. Die materialistische Geschichtser- klfirung ist... auch fur diesen Fall anwendbar ; es ist jedoch selbstverstandlich, dass der unzweifelhafte kausale Zusammenhang zwischen Sein und Bewusstsein, zwischen sozialen Verhaltnissen, welche die , Arbeit* als Grundlage haben, einerseits und der Kunst in diesem Fallc nicht so leicht zutage tritt. Hier entstehen... einige Zwi- schenstationen." (G. Plechanow, Das franzosische Drama und die franzfisische Malerei im neunzehnten Jahrhundert vom Standpunkte der material is tischen Geschichtsaufifassung. In : Die Neue Zeit. XXIX. Stuttgart 1911, S. 544/545). Soviel ist deutlich, dass die klassische Geschichtsdialcktik von Marx hier kausale Abhangigkeiten fiir gegeben erachtet. In der spateren Praxis ist man laxer vorge- gangen und hat sich oft mit Analogien begniigt. MGglich. dass das mit dem Anspruch zusammenhing, die biirgerlichen Literatur- und Kunstgcschichten durch nicht minder grossangelegte materialistische zu ersetzen. Dieser Anspruch gehOrt zur Signatur der Epoche ; er ist von wilhelminischem Geist getragen. Er hat auch von Fuchs seinen Tribut gefordert. Ein Lieblingsgedanke des Autors, der in vielen Varianten zum Ausdruck kommt, statuiert realistische Kunstepochen fiir Handelsstaaten. So fiir das Holland des siebzehnten wie fiir das China des achten und neunten Jahrhunderts. Ausgehend von der Analyse der chinesischen Gartenwirtschaft, an der viele Ziige des Kaiserreiches erlautert werden, wendet sich Fuchs der neuen Plastik zu, die unter der Herrschaft der Tang entsteht. Die monumentale Erstarrung des Han-Stiles lockert sich ; das Interesse der anonymen Meister, die die Tdpferarbeiten bildeten,


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Hier kommen Vorstellungsreihen zur Geltung, die mit den sozialdemokratischen Lehren der Epoche aufs engste zusammen- hangen. Es ist bekannt, wie tief die Wirkung des Darwinismus auf die Entwicklung der sozialistischen Geschichtsauffassung gewe- sen ist. In der Zeit der Verfolgung durch Bismarck kam diese Wirkung der ungebrochenen Zuversicht der Partei und der Ent- schiedenheit ihres Kampfes zugute. Spater, im Revisionismus, biirdete die evolutionistische Geschichtsbetrachtung umso mehr der ,Entwicklung* auf, je weniger die Partei das Errungene im Einsatz gegen den Kapitalismus aufs Spiel setzen wollte. Die Geschichte nahm deterministische Zuge an ; der Sieg der Partei „konnte nicht ausbleiben. " Fuchs hat dem Revisionismus stets ferngestanden ; sein politischer Instinkt, sein martialisches Natureil fuhrten ihn auf den linken Fliigel. Als Theoretiker aber hat er sich jenen Einflussen nicht entziehen konnen. Man spurt sie iiberall am Werk. Damals fiihrte ein Mann wie Ferri nicht nur die Prinzipien, sondern auch die Taktik der Sozialdemokratie auf Naturgesetze zuriick. Fur die anarchistischen Abweichungen machte er man- gelnde Kenntnisse in der Geologie und Biologie haftbar. Gewiss haben Fuhrer wie Kautsky sich mit solchen Abweichungen ausein-


gilt von nun an der Bewegung bei Mensch und Tier. „Dic Zeit", fuhrt Fuchs aus, „ist in jenen Jahrhunderten in China aus ihrer grossen Ruhe erwacht... ; denn Handel bedeutct stets gesteigertes Leben, Leben und Bewegung. Also musste in erster Linie Leben und Bewegung in die Kunst der Tang-Zeit kommen. Und dieses Merkmal ist auch das erste, das einem in die Augen springt. Wahrend z. B. die Tiere der Han- Periode immer noch schwer und wuchtig in ihrem ganzen Habitus sind..., ist bei dencn der Tang-Zeit... alles Lebendigkeit, jedes Glied in Bewegung." (Tang-Plastik, S. 41) Diese Betrachtungsweise beruht auf blosser Analogie — Bewegung im Handel wie in der Plastik — und man konnte sie geradezu nominalistisch nennen. In der Analogie bleibt ebenfalls der Versuch, die Aufnahme der Antike in der Renaissance durchsichtig zu machen, befangen. „Die wirtschaftlichc Basis war in beiden Epochen dieselbe, nur dass sie sich in der Renaissance auf einer hoheren Stufenleiter der Ent- wicklung befand. Beide basierten auf dem Warenhandel." (Erotische Kunst, Bd. I, S. 42) Am Ende erscheint der Handel selbst als Subjekt der Kunstubung, und es heisst : „Der Handel muss mit den gegebenen Grossen rechnen, und er kann nur kon- krete, nachpriifbare GrOssen in Rechnung stellen. So muss er der Welt und den Dingen gegeniibertreten, wenn er sie wirtschaftlich bewaltigen will. Also ist auch seine kiinstlerische Anschauung von den Dingen eine in jeder Hinsicht reale." (Tang- Plastik, S. 42) Man mag davon absehen, dass in der Kunst eine „in jeder Hinsicht reale" Darstellung nicht zu finden ist. Grundsatzlich ware zu sagen, dass ein Zusam- menhang, der in gehau gleicher Weise fiir die Kunst von Altchina und von Altholland Geltung beansprucht, problematisch erscheint. Er besteht in der Tat so nicht ; es geniigt ein Blick auf die Republik Venedig. Sie bliihte durch ihren Handel; die Kunst Palma Vecchios, Tizians oder Veroneses war dennoch schwerlich eine „in jeder Hinsicht" realistische. Der Aspekt des Lebens, der uns in ihr entgegentritt, ist allein der reprasentative und festliche. Auf der andern Seite erfordert das Erwerbsleben auf alien seinen Entwicklungsstufen einen betrachtlichen Sinn fur die Realitat. Der Materialist kann daraus auf die Stilgebarung keinerlei Schlusse Ziehen.


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andergesetzt. 1 ) Dennoch fanden vielc ihr Geniige an Thesen, die die gcscliichtlichen Vorgange nach „physiologischen" und ,,pathologischen" sonderten oder aber den naturwissenschaftlichen Materialismus in den Handen des Proletariats „selbsttatig" zum historischen erhoben zu sehcn meinten. 2 ) Ahnlich stellt sich fur Fuchs der Fortschritt der mcnschlichen Gesellschaft als cin Pro- zess dar, der sich „cbensowenig eindammen lasst, wie man cinen Gletscher in seinem steten Vorwartsdrangen aufhalten kann." 3 ) Die deterministische AufTassung paart sich demnach mit einem handfesten Optimismus. Nun wird auf die Dauer ohne Zuver- sicht keine Klasse mit Erfolg politisch eingreifen konnen. Aber es macht einen Unterschied, ob der Optimismus der Aktionskraft der Klasse gilt oder den Vcrhaltnisscn, unter denen sie operiert. Die Sozialdemokratie neigie dem zweiten, fragwiirdigen Optimis- mus zu. Die Perspektive auf die beginnende Barbarei, die einem Engels in der „Lage der arbeitenden Klasse in England", einem Marx in der Prognose der kapitalistischen Entwicklung aufgeblitzt war und heute selbst dem mittelmassigen Staatsmann gelaufig ist, war den Epigonen der Jahrhundertwende verbaut. Als Condorcet die Lehre vom Fortschritt verbreitet hatte, da hatte das Biirgertum vor dem Machtantritt gestanden ; anders stand ein Jahrhundert spater das Proletariat. Ihm konnte sic Illusioncnerwccken. Diese bilden in der Tat noch den Hintergrund, in den die Geschichte der Kunst bei Fuchs hin und wieder den Ausblick freigibt : „Die Kunst von heute", so meint er, „hat uns hundert Erfullungen gebracht, die in den verschiedensten Richtungen weit iiber das hinausftihren, was die Renaissancekunst erreicht hat, und die Kunst der Zukunft muss wieder unbedingt das Hohere bedeuten." 4 )

VI

Das Pathos, das die GeschichtsauiTassung von Fuchs durch- zieht, ist das demokratische Pathos von 1830. Dessen Echo ist der Redner Victor Hugo gewesen. Das Echo des Echos sind jene


l ) Karl Kautsky, Darwinismus und Marxismus. In : Die Neue Zeit. XIII. Stuttgart 1895, I, S. 710.

a ) H. Laufenberg, Dogma und Klassenkampf. In : Die Neue Zeit. XXVII. Stuttgart 19u9, I, S. 574. — Der BegrifE der Selbsttatigkeit ist hier traurig herab- gekommen. Seine grosse Zeit liegt imachtzehnten Jahrhundert, als der Ausgleich der Markte begann. Damals feierte er seinen Triumph ebensowohl bei Kant, in Gestalt der Spontaneitat, wie in der Technik, in Gestalt der Automaten.

3) Karikatur, Bd. I, S. 312.

  • ) Erotische Kunst, Bd. I, S. 3.


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Biicher, in denen Hugo als Redner zur Nachwelt spricht. Die Geschichtsauffassung von Fuchs ist die von Hugo im „ William Shakespeare" gefeierte : „Der Fortschritt ist der Schritt Gottes selbst. " Und das allgemeine Stimmrecht erscheint als die Welten- uhr, nach der das Tempo dieser Schritte bemessen wird. „Qui vote r&gne" hat Victor Hugo geschrieben, und er hat damit die Tafeln des demokratischen Optimismus aufgerichtet. Dieser Opti- mismus hat noch spat sonderbare Traumereien gezeitigt. Eine von ihnen gaukelte vor, dass „alle geistigen Arbeiter, somit auch materiell wie sozial sehr hochgestellte Personen als Proletarier" zu betrachten seien. Denn es sei „eine nicht zu leugnende Tat- sache, dass von dem in goldstrotzender Uniform sich blahenden Hofrat bis herab zum abgehetzten Lohnarbeiter alle, die fur Geld ihre Dienste anbieten... wehrlose Opfer des Kapitalismus sind." 1 ) Die Tafeln, die Victor Hugo aufgerichtet hatte, stehen noch iiber dem Werk von Fuchs. Ubrigens bleibt Fuchs in der demokratischen Tradition, wenn er mit besonderer Liebe an Frank- reich hangt : an dem Boden dreier grosser Revolutionen, an der Heimat der Exilierten, an dem Ursprung des utopischen Sozialis- mus, an dem Vaterland der Tyrannenhasser Quinet und Michelet, an der Erde, in der die Kommunarden liegen. So lebte das Bild von Frankreich in Marx und Engels, so ist es auf Mehring gekom- men, und so, als „die Avantgarde der Kultur und der Freiheit " a ) ist das Land auch noch Fuchs erschienen. Er vergleicht den gefliigelten Spott der Franzosen mit dem schwerfalligen der Deut- schen ; er vergleicht Heine mit den daheim Verbliebenen ; er ver- gleicht den deutschen Naturalismus mit den satirischen Romanen von France. Und er ist auf diese Weise, wie Mehring, zu stichhal- tigen Prognosen geleitet worden, ganz besonders im Falle von Gerhart Hauptmann. 3 )

Frankreich ist eine Heimat auch fiir den Sammler Fuchs. Der Figur des Sammlers, die dem Betrachtenden je langer desto anzie- hender erscheint, ist bisher das ihre nicht oft geworden. Man sollte meinen, den romantischen Geschichtenerzahlern hatte nie-


  • ) A. Max, Zur Frage der Organisation des Proletariats der Intelligenz. In ;

Die Neue Zeit. XIII. Stuttgart 1895, I, S. 652.

a) Karikatur, Bd. II, S. 238.

5 ) Mehring hat den Prozess, den „Die Weber" zur Folge hatten, in der „Neuen Zeit" kommentiert. Teile des Pladoyers des Verteidigers haben die Aktualitat zuriickgewonnen, die sie 1893 besessen haben. „Er miisse", so fuhrte der Anwalt aus„ „geltend machen, dass den angezogenen, scheinbar revolutionaren Stellen andere von abwiegelndem, besanftigendem Charakter entgegenstanden. Der Dichter stehc auch gar nicht auf Seiten des Aufruhrs, er lasse vielmehr die Ordnung durch das Eingreifen einer Handvoll Soldaten siegen." F. Mehring, Entweder-Oder. In ; Die Neue Zeit. XL Stuttgart 1893, I, S. 780.


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mand verlockender sich bieten konnen als sie. Aber man sucht diesen von gefahrlichen, wenn auch domestizierten Passionen bewegten Typ umsonst unter den Figurinen eines Hoffmann, Quin- cey oder Nerval. Romantisch sind die Figuren des Reisenden, des Flaneurs, des Spielers, des Virtuosen. Die des Sammlers findet sich nicht. Und man sucht sie vergeblich in den „PhysioIogien ", die sonst vom Camelot zum Salonlowen keine Figur des Pariser Panoptikums unter Louis Philippe sich haben entgehen lassen. Desto bedeutsamer ist die Stelle, die der Sammler bei Balzac ein- nimmt. Balzac hat ihm ein Denkmal gesetzt, das ganz und gar nicht im romantischen Sinne behandelt ist. Er ist der Romantik von jeher fremd gewesen. Auch gibt es wenige Stiicke in seinem Werk, in denen die antiromantische Position sich so uberraschend ihr Recht verschafft wie in der Skizze des Cousin Pons. Dies ist vor allem kennzeichnend : so genau wir mit den Bestanden der Sammlung, fur die Pons lebt, bekannt werden, so wenig erfahren wir von der Geschichte ihres Erwerbs. Es gibt keine Stelle im „Cousin Pons", die man mit den Seiten vergleichen konnte, auf denen die Goncourts in ihren Tagebuchern die Bergung eines selte- nen Fundes mit atemraubender Spannung schildern. Balzac stellt nicht den Jager in den Jagdgriinden des Inventars dar, als den man jeden Sammler betrachten kann. Das Hochgeftihl, von dem alle Fibern seines Pons, seines Elie Magus zittern, ist der Stolz

— Stolz auf die unvergleichlichen Schatze, die sie mit nimmermiider Besorgnis huten. Balzac legt alien Akzent auf die Darstellung des ,Besitzenden\ und das Wort ,Millionar* lauft ihm als Synonym fiir das Wort , Sammler' unter. Er spricht von Paris. „Man kann da oft", heisst es, „einem Pons, einem Elie Magus begegnen, die sehr durftig gekleidet sind... Sie sehen aus, als wenn sie auf nichts hielten und sich urn nichts kiimmerten ; sie achten weder auf die Frauen noch auf die Auslagen. Sie gehen wie im Tr&um vor sich hin, ihre Taschen sind leer, ihr Blick ist gedankenlos, und man fragt sich, zu welcher Sorte von Parisern sie eigentlich gehoren.

— Diese Leute sind Millionare. Sammler sind es ; die leidenschaft- lichsten Menschen, die es auf der Welt gibt. " x )

Der Gestalt von Fuchs, ihrer Aktivitat und Fiille, kommt das Bild, das Balzac vom Sammler entworfen hat, naher als das, welches man von einem Romantiker zu gewartigen . gehabt hatte. Ja man darf, auf den Lebensnerv des Mannes verweisend, sagen ; Fuchs als Sammler ist echt balzacisch ; er ist eine Balzacsche Figur, die iiber die Konzeption des Dichters hinausgewachsen ist*


x ) Honorfi de Balzac, Le Cousin Pons. Paris 1925, S. 162.


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Was lage mehr in der Linie dieser Konzeption als ein Sammler, desscn Stolz, dessen Expansivitat ihn dahin fiihrt, dass er, um nur vor aller Augen mit seinen Sammlungen zu erscheinen, diese in Reproduktionswerken auf den Markt bringt und — eine nicht minder balzacische Wendung — auf diese Weise ein reicher Mann wird. Es ist nicht nur die Gewissenhaftigkeit eines Mannes, der sich einen Konservator von Schatzen weiss, es ist auch der Exhibi- tionismus des grossen Sammlers, der Fuchs veranlasst hat, in jedem seiner Werke ausschliesslich unveroffentlichtes Bildmaterial, fast ausschliesslich seinem eigenen Besitz entstammendes zu veroffent- liehen. Allein fur den ersten Band der „Karikatur der Europai- schen Volkcr" hat er nicht weniger als 08.000 Blatter kollationiert, um rund funfhundert davon auszuwahlen. Kein Blatt hat er j em als ofter als an einer einzigen Stelle reproduzieren lassen. Die Ft i lie seiner Dokumentation und die Breite seiner Wirkung gehoren znsammen. Beide beglaubigen seine Abkunft von dem burger- lichen Riesengeschlecht um 1830, wie Drumont es kennzeichnet. „Eeinahe alle Fuhrer der Schule von 1830 ", schreibt Drumont, „hatten die gleiche aussergewohnliche Konstitution, die gleiche Fruchtbarkeit und den gleichen Hang zum Grandiosen. Delacroix wirffc Epen auf die Leinwand, Balzac schildert eine ganze Geseli- schaft ab, Dumas umfasst in seinen Romanen eine viertausend- jahrige Geschichte des Menschengeschlechts. Sie verfiigen alle- samt iiber einen Riicken, dem keine Last zu schwer ist. £<1 ) Als 1848 die Revolution kam, da veroffentlichte Dumas einen Appell an die Arbeiter von Paris, in dem er sich ihnen als ihresgleichen vorstellt. In zwanzig Jahren habe er vierhundert Romane und fumunddreissig Dramen gemacht ; 8.160 Leute habe er in Brot gesetzt : Korrektoren und Setzer, Maschinisten und Garderobieren ; er vergisst auch die Claque nicht. Das Gefuhl, mit dem der Univer- salhistoriker Fuchs den okonomischen Unterbau seiner grossartigen Sammlungen sich geschaffen hat, ist dem Dumasschen Selbstgefiihl vielleicht nicht ganz unahnlich. Spater erlaubt ihm dieser Unter* bau, auf dem Pariser Markt fast ebenso souveran wie in seinen eigenen Bestanden zu schalten. Der Senior der Kunsthandler von Paris pflegte um die Jahrhundertwende von ihm zu sagen : „C'est le Monsieur qui mange tout Paris. " Fuchs gehort dem Typus des- ramasseur an ; er hat eine rabelaisische Freude an Quantitaten* die sich bis in die uppigen Wiederholungen seiner Texte bemerkbar macht.


l ) Edouard Drumont, Les hfiros et les pitres. Paris. S. 107/108.


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VII

Die franzosische Ahnentafel von Fuchs ist die des Sammlers, die deutsche die des Historikers. Die Sittenstrenge, die fur den Geschichtsschreiber Fuchs bezeichnend ist, gibt ihm die deutsche Pragung. Sie gab sie bereits Gervinus, dessen „Geschichte der poetischen Nationalliteratur" man einen der ersten Versuche zur deutschen Geistesgeschichte nennen konnte. Es ist fiir Gervinus wie spater fiir Fuchs kennzeichnend, dass die grossen Schopfer in sozusagen martialischer Gestalt auftreten und das Aktive, M&nn- liche, Spontane ihrer Natur auf Kosten des Kontemplativen, Weib- lichen, Rezeptiven sich geltend macht. Freilich geht das Gervi- nus leichter vonstatten. Als er sein Buch verfasste, befand die Bourgeoisie sich im Aufstieg ; ihre Kunst war von politischen Energien erfiillt. Fuchs schreibt im Zeitalter des Imperialismus ; er stellt die politischen Energien der Kunst polemisch einer Epoche dar, in deren Schalfen sie sich von Tag zu Tag minderten. Aber die Masstabe von Gervinus sind noch die seinen. Ja, man kann sie weiter, bis ins achtzehnte Jahrhundert zuruckverfolgen. Und zwar an Hand von Gervinus selbst, dessen Gedenkrede auf F. C. Schlosser dem bewehrten Moralismus aus der revolutionHren Zeit des Biirgertums grossartigen Ausdruck gegeben hat. Man hat Schlosser „gramliche Sittenstrenge" vorgeworfen. „Was Schlosser", so wendet Gervinus ein, „gegen jene Vorwiirfe sagen konnte und sagen wurde, ware dies : dass man in dem Leben im Grossen, in der Geschichte, anders als in Roman und Novelle, eine oberflachliche Freude am Leben bei aller Heiterkeit der Sinne und des Geistes nicht lerne ; dass man aus ihrer Betrachtung zwar nicht menschenfeindliche Verachtung, wohl aber eine strenge Ansicht von der Welt und ernste Grundsatze .iiber das Leben einsauge ; dass wenigstens auf die grossten aller Beurteiler von Welt und Menschen, die an einem eigenen inneren Leben das aus- sere zu messen verstanden, auf einen Shakespeare, Dante, Machia- velli, das Weltwesen stets einen solchen zu Ernst und Strenge bildenden Eindruck gemacht habe." 1 ) Das ist der Ursprung des Moralismus von Fuchs : ein deutsches Jakobinertum, dessen Denk- stein die Weltgeschichte von Schlosser ist, mit der Fuchs in seiner Jugend bekannt wurde. 2 )


  • ) G. G. Gervinus, Friedrich Christoph Schlosser. Ein Nekrolog. Leipzig

1861, S. 30/31.

J ) Diese Ausrichtung seines CEuvres hat sich fiir Fuchs niitzlich erwiesen, als die Anklagen wegen „Verbreitung unzuchtiger Schrtften" durch die kaiserlichen


370 Walter Benjamin

Dieser burgerliche Moralismus enthalt, wie das nicht uberra- schen kann, Bestandteile, die mit den materialistischen bei Fuchs kollidieren. Ware sich Fuchs dariiber klar, so konnte es ihm viel- leicht gelingen, diesen Zusammenstoss abzudampfen. Er ist jedoch davon iiberzeugt, dass seine moralistische Geschichtsbetrachtung und der historische Materialismus miteinander vollkommen harmo- nieren. Hier waltet eine Illusion. Ihr Substrat ist die weitver- breitete, sehr revisionsbedurftige Anschauung, die biirgerlichen Revolutionen stellten, so wie sie vom Burgertum selbst gefeiert werden, den Stammbaum einer proletarischen dar. 1 ) Demgegen- iiber ist es entscheidend, den Blick auf den Spiritualismus zu lenken, der in diese Revolutionen eingewirkt ist. Seine Goldfaden hat die Moral gesponnen. Die Moral des Burgertums — davon tragt die ersten Anzeichen schon die Schreckensherrschaft — steht im Zeichen der Innerlichkeit. Ihr Angelpunkt ist das Gewissen — sei es das des robespierreschen citoyens, sei es das des kantischen Weltbiirgers. Das'Verhalten der Bourgeoisie, das ihren eigenen Interessen zutraglich, aber angewiesen auf ein ihm komplementares des Proletariats war, das den eigenen Interessen des letzteren nicht entsprach, proklamierte als moralische Instanz das Gewissen. Das Gewissen steht im Zeichen des Altruismus. Es rat dem Eigentii- mer, so zu handeln, wie es Begriffen entspricht, deren Geltung mittelbar seinen Mit-Eigentiimern zugute kommt, und es rat den Nicht-Eigentumern leicht das Gleiche an. Wenn die letzteren sich diesem Rat anbequemen, ist der Nutzen ihres Verhaltens fur die Eigentiimer umso unmittelbarer ersichtlich, je fragwiirdiger er fur die so sich Verhaltenden und ihre Klasse ist. Darum steht auf diesem Verhalten der Preis der Tugend. — So setzt die Klassen- moral sich durch. Aber sie tut es unbewusst. Nicht so sehr hatte das Burgertum Bewusstsein notig, urn diese Klassenmoral aufzu-


Staatsanwalte einsetzten. Wir finden den Moralismus von Fuchs naturgemass besonders nachdriicklich in einem Sachverstandigenvotum dargestellt, das im Zuge eines der samtlich mit Freispruch endenden Strafverfahren erstattet wurde. Es stammt von Fedor von Zobeltitz und lautet an seiner wichtigsten S telle : „ Fuchs fiihtt sich ernsthalt als Moralprediger und Erzieher, und diese tiefernste LebensauX- fassung, dies innige Begreifen, dass seine Arbeit im Dienste der Menschheitsgeschichte von hdchster Sittlichkeit getragen sein muss, schiitzt allein ihn schon vor dem Verdacht geschaftseifriger Spekulation, iiber den jeder lacheln musste, der den Menschen kennt und seinen leuchtenden Idealismus."

J ) Diese Revision ist von Max Horkheimer in dem Essay „Egoismus und Freiheitsbewegung" (diese Zeitschrift, Jahrgang V (1936), S. 1C1 ff.) inauguriert vorden. Zu den von Horkheimer versammelten Zeugnissen stimmen eine Reihe von interessanten Belegen, mit denen der Ultra Abel Bonnard seine Anklage gegen jene biirgerlichen Historiker der Revolution belegt, die von Chateaubriand als ,,1'ecole admirative de la terreur" zusammengefasst werden. (Vgl. Abel Bonnard, Les Moderes. Paris, S. 179 ff.)


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richten, als das Proletariat Bewusstsein braucht, um sie zu sturzen. Diesem Tatbestand wird Fuchs nicht gerecht, weil er glaubt, seine Angriffe gegen das Gewissen der Bourgeoisie richten zu miissen. Ihre Ideologie erscheint ihm als Rankespiel. „Das salbadernde Geschwatz ", sagt er, „das auch angesichts der schamlosesten Klas- senurteile von der subjektiven Ehrlichkeit der betreffenden Richter faselt, beweist nur die eigene Charakterlosigkeit derer, die so reden Oder schreiben ; im besten Fall deren Borniertheit. " x ) Auf den Gedanken, dem BegrifT der bona fides (des guten Gewissens) selbst den Prozess zu machen, kommt Fuchs nicht. Und doch wird das dem historischen Materialisten nahe liegen. Nicht nur, weil er in diesem Begriff einen Trager der biirgerlichen Klassenmoral erkennt, sondern auch weil ihm nicht entgehen wird, dass dieser BegrifT die Solidaritat der moralischen Unordnung mit der okono- mischen Planlosigkeit befordert. Jiingere Marxisten haben den Sachverhalt wenigstens andeutungsweise beriihrt. So bemerkte man zur Politik Lamartines, der einen exzessiven Gebrauch von der bona fides machte : „Die biirgerliche... Demokratie... braucht diesen Wert. Der Demokrat... ist gewerbemassig aufrichtig. Damit fiihlt er sich der Notwendigkeit iiberhoben, dem wirkhchen Tatbestand nachzugehen." 2 )

Die Betrachtungi die ihr Augenmerk mehr auf die bewussten Interessen der Individuen lenkt als auf die Verhaltungsweise, zu der ihre Klasse oft unbewusst und durch ihre Stellung im Produk- tionsprozess veranlasst wird, fiihrt zu einer Uberschatzung des bewussten Moments in der Ideologiebildung. Sie ist bei Fuchs handgreiflich, wenn er erklart : „Kunst ist in alien ihren wesentli- chen Teilen die idealisierte Verkleidung des jeweiligen gesellschaft- lichen Zustandes. Denn es ist ein ewiges Gesetz..., dass jeder herrschende politische oder gesellschaftliche Zustand dazu drangt, sich zu idealisieren, um auf diese Weise seine Existenz sittlich zu rechtfertigen. " 3 ) Wir nahern uns hier dem Kern des Missver- standnisses. Es besteht in der Auffassung, die Ausbeutung bedinge ein falsches Bewusstsein, zumindest auf der Seite der Ausbeutenden, vor allem deswegen, weil ein richtiges ihnen moralisch lastig sei. Dieser Satz mag fur die Gegenwart, in der der Klassenkampf das gesamte biirgerliche Leben in starkste Mitleidenschaft gezogen hat, eine eingeschrankte Geltung besitzen. Keinesfalls ist das „schlechte Gewissen " der Bevorrechteten fur die fruheren Formen der Ausbeutung selbstverstandlich. Durch die Verdinglichung


2 ) Der Maler Daumier, S. 30.

a ) N. Guterman et H. Lefebvre, La conscience mystiftee. Paris 1936, S. 151,

  • > Erotische Kunst, Bd. II, Erster TeU, S. 11.


372 Walter Benjamin

werden ja nicht nur die Beziehungen zwischen den Menschen unsichtig ; es werden dariiber hinaus die wirklichen Subjekte der Relationen selbst in Nebel gehullt. Zwischen die Machthaber des Wirtschaftslebens und die Ausgebeuteten schiebt sich eine Apparatur von Rechts- und Verwaltungsburokratien, deren Mitglie- der nicht mehr als voll verantwortliche moraiische Subjekte fungie- ren ; ihr„Verantwortungsbewusstsein " ist gar nichts anderes als der unbewusste Ausdruck dieser Verkriippelung.

VIII

Den Moralismus, von dem Fuchs' historischer Materialismus die Spuren tragt, hat audi die Psychoanalyse nicht erschiittert. „Berechtigt", so urteilt er von der Sexualitat, „sind alle Formen des sinnlichen Gebarens, in denen das Schopferische dieses Lebens- gesetzes sich offenbart... Verwerflich sind dagegen jene Formen, die diesen obersten Trieb zum blossen Mittel raffinierter Genussucht herabwiirdigen. -* 1 ) Ersichtlich ist die Signatur dieses Moralismus die burgerliche. Das rechte Misstrauen gegen die burgerliche Achtung der rein sexuellen Lust und der mehr oder minder phan- tastischen Wege ihrer Erzeugung ist Fuchs fremd geblieben. Grundsatzlich erklart er freilich, dass man „stets nur relativ von Sittlichkeit und Unsittlichkeit " reden konne. Aber er statuiert sogleich an derselben Stelle eine Ausnahme fiir die ^absolute Unsittlichkeit", bei der „es sich um Verstosse gegen die sozialen Triebe der Gesellschaft, also um Verstosse handelt, die sozusagcn wider die Natur sind. " Kennzeichnend fiir diese Anschauung ist der nach Fuchs historisch gesetzmassige Sieg der „immer entwick- lungsfahigen Masse iiber die entartete Individualitat. " 2 ) . Kurz, von Fuchs gilt, dass er „nicht etwa die Berechtigung eines Verdam- mungsurteils gegen die angeblich korrupten Triebe, sondern die Ansicht iiber ihre Geschichte und ihr Ausmass angreift. " 3 )

Dadurch wird die Klarung des sexualpsychologischen Problems beeintrachtigt. Es ist seit der Herrschaft der Bourgeoisie bcson- ders wichtig geworden. Die Tabuierung mehr oder minder weiter Bezirke der sexuellen Lust hat hier ihren Ort. Die durch sie in den Massen erzeugten Verdrangungen fordern masochistische und


1 ) Erotische Kunst, Bd. I, S. 43. — Die sittengeschichtliche Darstellung des Direkto- riums tragt geradezu die Ziige der Moritat. „Das entsetzliche Buch des Marquis de Sade mit seinen ebenso schlechten wie infamen Kupfern lag aufgeschlagen in alien Schaufenstern." Und „die verwiistete Phantasie des schamentwOhnten Wtistlings" spricht aus Barras. (Karikatur, Bd. I, S. 202 u. 201.)

  • ) Karikatur, Bd. I, S. 188.
  • ) Max Horkheimer, Egoismus und Freiheitsbewegung, a. a. O., S. 166-


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sadistische Komplexe zutage, denen von den Machthabern diejeni- gen Objekte geliefert werden, die sich ihxer Politik als die gelegen- sten darstellen. Ein Altersgenosse von Fuchs, Wedekind, hat in diese Zusammenhange hineingeblickt. Ihre gesellschaftliche Kri- tik hat Fuchs versaumt. Desto bedeutender ist die Stelle, an welcher er sie auf einem Unrwege iiber die Naturgeschichte nach- holt. Es handelt sich um sein glanzendes Pladoyer der Orgie. Nach Fuchs „gehort die... Lust am Orgiastischen zu den wertvoll- sten Tendenzen der Kultur... Man muss sich daruber klar sein, dass die Orgie zu dem... gehort, was uns vom Tier unterscheidet. Das Tier kennt im Gegensatz zum Menschen die Orgie nicht... Das Tier wendet sich vom saftigsten Futter und von der klarsten Quelle ab, wenn sein Hunger und Durst gestillt sind, und sein Geschlechtsdrang ist meist auf ganz bestimmte kurze Perioden des Jahres beschrankt. Ganz anders der Mensch, vor allem der schopferische Mensch. Dieser kennt den Begriff des Genug iiber- haupt nicht. U1 ) In den Gedankengangen, in denen Fuchs sich kritisch mit den iiberkommenen Normen befasst, liegt die Starke seiner sexualpsychologischen Feststellungen. Sie sind es, die inn befahigen, gewisse kleinbiirgerliche Illusionen zu zerstreuen. So die der Nacktkultur, in der er „eine Revolution der Beschrankt- heit" mit Recht erkennt. „Der Mensch ist erfreulicherweise kein Waldtier mehr, und wir... wollen, dass die Phantasie, auch die erotische, eine Rolle in der Kleidung spielt. Was wir dagegen nicht wollen, das ist einzig jene soziale Organisation der Menschheit, die alles dies... depraviert. " 2 )

Die psychologische und historische Anschauungsweise von Fuchs ist vielfach fur die Geschichte der Kleidung fruchtbar geworden. In der Tat gib t es kaum einen Gegenstand, der dem


  • ) Erotische Kunst, Bd. II, Erster Teil, S. 283. — Fuchs ist hier auf der Spur eines

bedeutsamen Tatbestandes. Sollte es iibereilt sein, die tiermenschliche Schwelle, die Fuchs in der Orgie sieht, in unmittelbaren Zusammenhang mit jener anderen Schwelle zu setzen, die der aufrechte Gang darstellt ? Mit ihm tritt in die Natur- geschichte die vordem unerh&rte Erscheinung ein, dass die Partner im Orgasmus einander ins Auge sehen konnen. Damit erst wird die Orgie mflglich. Und nicht sowohl durch den Zuwachs an Reizen, auf die der Blick trifft. Entscheidend ist vielmehr, dass der Ausdruck der UbersSttigung, ja des UnvermOgens nun selbst zu einem erotischen Stimulans werden kann.

2 ) Sittengeschichte, Bd. Ill, S. 234. — Wenige Seiten spater findet sich dieses sichere Urteil nicht mehr — ein Beweis, mit welcher. Kraft es der Konvention abgerungen sein wollte. Dort heisst es vielmehr : „Die Tatsache, dass Tausende von Menschen sich am Anblick einer weiblichen oder mannlichen Aktphotographie geschlechtlich erregen..., beweist, dass das Auge nicht mehr das harmonische Ganze, sondem nur das pikante Detail zu sehen vermag." (a. a. O., S. 269) Wenn hier etwas geschlechtlich «rregend wirkt, so ist es viel mehr die Vorstellung von der Ausstellung des nackten KOrpers vor der Kamera als der Anblick der Nacktheit selbst. Auf diese Vorstellung diirfte es denn auch wohl mit den meisten dieser Photographien abgesehen sein.


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dreifachen Interesse des Autors — dem geschichtlichen, dem gesell- schaftlichen und dem erotischen — mehr entgegenkame als die Mode. Das erweist sich bereits an ihrer Definition, die eine an Karl Kraus gemahnende sprachliche Pragung hat. Die Mode, so heisst es in der Sittengeschichte, gibt an, „wie man das Geschaft der offentlichen Sittlichkeit... zu betreiben gedenkt." 1 ) Fuchs ist im iibrigen dem landlaufigen Fehler der Darsteller (man denke an einen Max von Boehn) nicht verf alien, die Mode lediglich nach asthetischen und erotischen Gesichtspunkten zu durchforschen. Seinem Auge ist ihre Rolle als Herrschaftsinstrument nicht entgan- gen. Wie sie die feineren Unterschiede der Stande zum Ausdruck bringt, so wacht sie vor allem iiber die groben der Klassen. Im dritten Band seiner Sittengeschichte hat Fuchs ihr einen grossen Essay gewidmet, dessen Gedankengang der Erganzungsband mit der Aufstellung der fur die Mode entscheidenden Elemente zusam- menfasst. Das erste wird von den „Interessen der Klassenschei- dung" gebildet ; das zweite stellt „die privatkapitalistische Produk- tionsweise ", die ihre Absatzmoglichkeiten durch vielf achen Wechsel der Mode zu steigern sucht ; an dritter Stelle sind „die erotisch stimulierenden Zwecke der Mode" nicht zu vergessen. 2 )

Der Kultus des Schopferischen, der das Gesamtwerk von Fuchs durchzieht, hat aus seinen psychoanalytischen Studien neue Nah- rung gezogen. Sie haben seine ursprunglich biologisch bestimmte Konzeption bereichert, freihch nicht darum auch schon berichtigt. Die Lehre von dem erotischen Ursprung der schopferischen Impulse nahm Fuchs begeistert auf. Seine Vorstellung der Erotik aber haftete weiter eng an der drastischen, biologisch determinierten der Sinnlichkeit. Der Theorie der Verdrangung und der Komplexe, welche seine moralistische Auffassung der gesellschaftlichen und sexuellen Verhaltnisse vielleicht modifiziert hatte, ist er, so weit angangig, ausgewichen. Wie der historische Materialismus bei Ftichs eine Herleitung der Dinge mehr aus dem bewussten okono- mischen Interesse des einzelnen als aus dem in dem letzteren unbewusst wirkenden Interesse der Klasse gibt, so ist auch der sehopferische Impuls mehr der bewussten sinnlichen Intention als dem bildschaffenden Unbewussten von ihm genahert worden. 3 ) Die erotische Bilderwelt als eine symbolische, wie Freuds „Traum-


x ) Sittengeschichte, Bd. Ill, S. 189.

  • ) Sittengeschichte, Erganzungsband III, S. 53 /54.

3 ) Kunst ist fiir Fuchs unmittelbare Sinnlichkeit wie die Ideologic unmittelbares Erzeugnis von Interessen. „Das Wesen der Kunst ist : die Sinnlichkeit. Kunst 1st Sinnlichkeit. Und zwar Sinnlichkeit in potenziertester Form. Kunst ist Form gewordene, sichtbar gewordene Sinnlichkeit, und sie 1st zugleich die hOchste und edelste Form der Sinnlichkeit." (Erotische Kunst, Bd. I, S. 61.)


Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker 375

deutung " sie erschlossen hat, kommt bei Fuchs da, und nur da, zur Geltung, wo seine innere Beteiligung die hochste ist. In diesem Fall erfiillt sie seine Darsteliung sogar dann, wenn jeder Hinweis auf sie vermieden ist. So in der meisterhaften Charak- teristik von der Graphik des Revolutionszeitalters : „Alles ist starr, straff, militarisch. Die Menschen liegen nicht, denn der Exercierplatz duldet kein ,Ruhrt Euch*. Selbst wenn sie sitzen, ist es, als wenn sie aufspringen wollten. Ihr ganzer Korper ist in Spannung wie der Pfeil auf der Bogensehne. Wie dieLinie, so die Farbe. Wohl wirken die Bilder kalt, blechern... gegeniiber denen des Rokoko... Die Farbe musste hart sein..., metallisch, sollte sie zum Inhalt der Bilder passen." 1 ) Expliziter ist eine aufschlussreiche Bemerkung zum Fetischismus. Sie geht seinen historischen Aquivalenten nach. Es ergibt sich, dass „die Zunahme des Schuh- und Beinfetischismus auf die Ablosung des Priapkultus durch den Vulvakultus" hinzuweisen scheint, die Zunahme des Busenfetischismus dagegen auf eine rucklaufige Ten- denz. „Der Kultus des bekleideten Fusses und Beines spiegelt die Herrschaft des Weibes iiber den Mann ; der Busenkultus spiegelt die Rolle des Weibes als Objekt der Lust des Mannes. " 2 ) Die tiefsten Blicke in den Symbolbereich tat Fuchs an Daumiers Hand. Was er iiber die Baume bei Daumier sagt, ist einer der gliicklichsten Funde des ganzen Werks. Er erkennt in ihnen „eine ganz eigen- artige symbolische Form,... in der das soziale Verantwortlichkeits- gefiihl Daumiers zum Ausdruck kommt und seine Uberzeugung, dass es Pflicht der Gesellschaft sei, den einzelnen zu schutzen... Die fur ihn typische Gestaltung yon Baumen... stellt sie stets mit weitausgreifenden Asten dar, und zwar vor allem dann, wenn einer darunter steht oder sich lagert. Die Aste recken sich besonders bei solchen Baumen wie die Arme eines Riesen, sie scheinen form- lich ins Unendliche greifen zu wollen. So formen sie sich zu einem undurchdringlichen Dach, das jede Gefahr von alien denen fernhalt, die sich in ihren Schutz begeben haben. " 3 ) Diese schone Betrach- tung geleitet Fuchs auf die mutterliche Dominante in Daumiers Schaffen.

IX

Keine Gestalt wurde fur Fuchs lebendiger als Daumier. Sie hat ihn durch sein Arbeitsleben begleitet. Fast konnte man sagen, an ihr sei Fuchs zum Dialektiker geworden. Zumindest hat er


  • ) Karikatur, Bd. I, S. 223.

«) Erotische Kunst, Bd. II, Erster TeU, S. 390.

») Der Maler Daumier, S. 30.


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sie in ihrer Fiille und in ihrem lebendigen Widerspruch konzipiert. Wenn er das Mutterliche in seiner Kunst erfasst und in eindrucks- voller Weise umschrieben hat, so ist ihm nicht minder der andere Pol, das Mannliche, Streitbare der Gestalt vertraut gewesen. Mit Recht hat er darauf hingewiesen, dass in Daumiers Werk der idyl- lische Einschlag fehlt ; nicht aliein die Landschaft, das Tierstiick und das Stilleben sondern auch das erotische Motiv und das Selbstportrait. Was Fuchs bei Daumier eigentlich mitriss, das ist das agonale Moment gewesen. Oder ware es zu gewagt, der grossen Karikatur von Daumier ihren Ursprung in einer Frage zu suchen ? Wie nahmen, so scheint Daumier zu fragen, die biirger- lichen Menschen meiner Zeit sich aus, wollte man sich ihren Kampf ums Dasein gleichsam in einer Palastra denken ? Daumier hat das private und offentliche Leben der Pariser in die Sprache des Agon iibersetzt. Seine hochste Begeisterung gilt der athletischen Spannung des ganzen Korpers, seinen muskularen Erregungen. Dem widerspricht es in keiner Weise, dass vielleicht niemand pak- kender als Daumier die tiefste ErschlafTung des Korpers gezeichnet hat. Daumiers Konzeption hat, wie Fuchs bemerkt, ticfe Ver- wandtsdiaft mit einer plastischen. Und so entfiihrt er die Typen, die seine Zeit ihm bietet, um sie, verzerrte Olympioniken, auf einem Sockel zur Schau zu stellen. Es sind vor allem die Richter- und Advokatenstudien, welche sich so betrachten lassen. Unmittel- barer deutet der elegische Humor, mit dem Daumier das griechische Pantheon zu umspielen liebt, auf diese Inspiration hin. Vielleicht stellt sie die Losung des Ratsels dar, das schon Baudelaire in dem Meister entgegentrat : wie seine Karikatur bei all ihrer Wucht und Durchschlagskraft von Rankiine so frei sein konne.

Spricht er von Daumier, so beleben sich bei Fuchs alle Krafte. Es gibt keinen anderen Gegenstand, der seiner Kennerschaft derart divinatorische Blitze entlockt hatte. Der kleinste Anstoss wird hier bedeutsam. Ein Blatt, so fliichtig, dass es unvollendet zu nennen ein Euphemismus ware, reicht Fuchs hin, einen tiefen Einblick in Daumiers produktive Manie zu geben. Es stellt nur die obere Halfte von einem Kopfe dar, an dem aliein sprechehd Nase und Auge sind. Dass die Skizze sich auf diese Partie beschrankt, einzig den Schauenden zum Objekt hat, das wird fur Fuchs zum Fingerzeig, dass hier das zentrale Intejresse des Malers im Spiele ist. Denn bei der Ausfiihrung seiner Bilder setze jeder Maler an eben der Stelle an, an der er triebhaft am meisten beteiligt sei. 1 ) „Unzahlige von Daumiers Gestalten ", so heisst es im Werke


  • ) Hierzu ist folgende Reflexion zu vergleichen : „Nach meinen... Beobachtungen

dunkt es mich, dass die jeweiligen Dorainanten der Palette eines Kunstlers in seinen


Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker 377

iiber den Maler, „sind mit dem konzentriertesten Schauen beschaf- tigt, sei es ein Schauen in die Weite, sei es ein Betrachten bestimm- ter Dinge, sei es ein ebenso konzentrierter Blick in das eigene Innere. Die Daumierschen Menschen schauen formlich mit der Nasenspitze." 1 )

X

Daumier ist der gliicklichste Gegenstand fur den Forscher gewesen. Nicht minder war er der gliicklichste GrifF des Sammlers. Mit berechtigtem Stolz bemcrkt Fuchs, dass nicht staatliche Initia- tive, sondern seine eigene die ersten Mappen von Daumier (und Gavarni) in Dcutschlancl angelegt habe. Er steht mit seiner Abneigung gegen Muscen nicht allein unter den grossen Sammlern. Die Goncourts sind ihm darin vorangegangen ; sie iiberbieten ihn darin an Heftigkeit. Wenn offentliche Sammlungen sozial minder problematisch, wissenschaftlich niitzlicher sein konnten als private, so entgeht ihnen doch deren grosste Chance. Der Sammler hat in seiner Leidenschaft eine Wunschelrute, die ihn zum Finder von ncuen Quellen macht. Das gilt von Fuchs, und darum musste er sich im Gegensatz zu dem Geiste fiir^len, der unter Wilhelm II. in den Museen herrschte. Sie hatten es auf die sogenannten Glanz- stiicke abgesehen. ,,Gcwiss", sagt Fuchs, „ist diese Art des Sam- melns fiir das hcutige Museum schon aus raumlichen Griinden bedingt. Aber diese... Bedingtheit vermag an der Tatsache nichts zu andern, dass wir dadurch ganz unvollstandige... Vorstellungen von der Kultur der Vergangenheit bekommen. Wir sehen diese... im prunkvollen Festtagsgewand und nur sehr selten in ihrem meist diirf tigen Werkeltagskleid. " 2 )


pointiert erotischen Bildern immer besonders klar auftreten und dass sie in diesen... ihre... hOchste Leuchtkraft erleben." (Die grossen Meister der Erotik, S. 14.)

J ) Der Maler Daumier, S. 18. — Zu den in Rede stehenden Gestalten zahlt auch der beri'ihmte „Kunstkenner" — ein Aquarell, das in mehreren Versionen vorkomrat. Eine bisher nicht bekannte Fassung des Blattes wurde Fuchs eines Tages vorgelegt : ob eine echte, war zu crinitteln. Fuchs nahm die Hauptdarstellung dieses Motivs in einer guten Reproduktion zur Hand, und nun ging es an den uberaus instruktiven Vergleich. Keine Abweichung, nicht die kleinste, blieb unbeachtet, und von jeder gait es, Rechenschaft abzulegen, ob sie unter einer Meisterhand entsprungen oder ein Erzeugnis der Ohnmacht sei. Immer wieder ging Fuchs auf das Original zuruck. . A!)er die Art und Weise, wie er das tat, schien zu zeigen, dass er wohl davon hatte abschen kOnnen ; sein Blick erwies sich in ihm so heimisch, wie das nur bei einera Blattc der Fall sein kann, das man jahrelang im Geist vor sich hatte. Unzweifelhaft war das fur Fuchs so gewesen. Und nur darum war er imstande, die verborgensten Unsicherheiten des Konturs, die unscheinbarsten Fehlfarben in den Schatten, die kleinsten Entgleisungen in der Strichfiihrung aufzudecken, die das fragliche Blatt an semen Platz stellten — ubrigens nicht den einer Falschung, sondern einer guten alten Kopie, die von einem Amateur stammen mochte.

2) Dachreiter, S. 5/6.


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Die grossen Sammler sind meist durch die Originalitat ihrer Objektwahl ausgezeichnet. Es gibt Ausnahmen : die Goncourts gingen weniger von den Objekten aus als von dem Ensemble, das diese zu bergen hatte ; sie unternahmen die Verklarung des Inte- rieurs, als es gerade eben verschieden war. In der Regel sind aber die Sammler vom Objekt selber geleitet worden. Ein grosses Beispiel sind an der Schwelle der Neuzeit die Humanisten, deren griechische Erwerbungen und Reisen von der Zielstrebigkeit Zeug- nis geben, mit der sie sammelten. Mit Marolles, dem Vorbild des Damocede, ist der Sammler, von La Bruyere geleitet, in die Literatur eingefuhrt worden (und zwar sogleich auf unvorteilhafte Art). Marolles hat als erster die Bedeutung der Graphik erkannt ; seine Sammlung von 125.000 Blattern bildet den Grundstock des Cabinet des Estampes. Der siebenbandige Katalog, den im fol- genden Jahrhundert der Graf Caylus von seinen Sammlungen herausgebracht hat, ist die erste grosse Leistung der Archaologie. Die Gemmensammlung von Stosch ist im Auftrage des Sammlers von Winckelmann katalogisiert worden. Selbst dort, wo der wis- senschaftlichen Konzeption, die in solchen Sammlungen sich ver- korpern wollte, keine Dauer beschieden war, war sie es doch biswei- len der Sammlung selbst. So der von Wallraf und Boisseree, deren Begriinder, von der romantisch-nazarenischen Theorie ausgehend, die kolnische Kunst sei die Erbin der alten romischen, mit ihren deutschen Gemalden des Mittelalters den Fond des Kolner Museums geschaiTen haben. In die Reihe dieser grossen und planvollen, unablenkbar der einen Sache zugewandten Sammler ist Fuchs zu ^tellen. Sein Gedanke ist, dem Kunstwerk das Dasein in der Gesellschaft zuriickzugeben, von der es so sehr abgeschnurt worden war, dass der Ort, an dem er es auffand, der Kunstmarkt war, auf dem es, gleich weit von seinen Verfertigern wie von denen, die es verstehen konnten, entfernt, zur Ware eingeschrumpft, uberdauerte. Der Fetisch des Kunstmarktes ist der Meistername. Geschichtlich wird es vielleicht als das grosste Verdienst von Fuchs erscheinen, die Befreiung der Kunsthistorie von dem Fetisch des Meisternamens in die Wege geleitet zu haben. „Deshalb ist", heisstes bei Fuchs von der Plastik der Tang-Periode, „die voll- standige Namenlosigkeit dieser Grabbeigaben, die Tatsache, dass man auch nicht in einem einzigen Falle die individuellen Schopfer eines solchen Werkes kennt, ein wichtiger Beweis dafiir, dass es sich in dem alien niemals um einzelne kunstlerische Ergebnisse handelt, sondern um die Art und Weise, wie die Welt und die Dinge damals von der Gesamtheit angeschaut wurden. " x ) Als


x ) Tang-Plastik, S. 44.


Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker 379

einer der ersten entwickelte Fuchs den besonderen Charakter der Massenkunst und damit Impulse, die er vom historischen Mate- rialismus erhalten hatte.

Das Studium der Massenkunst fiihrt notwendig auf die Frage der technischen Reproduktion des Kunstwerks. „Jeder Zeit ent- sprechen ganz bestimmte Reproduktionstechniken. Sie reprasen- tieren die jeweilige technische Entwicklungsmoglichkeit und sind... Resultat des betreffenden Zeitbediirfnisses. Aus diesem Grunde ist es eine gar nicht verwunderliche Erscheinung, dass jede grossere historische Umwalzung, die andere Klassen als die seither herr- schenden... zur Herrschaft... bringt, regelmassig auch eine Veran- derung der bildlichen Vervielfaltigungstechnik bedingt. Auf diese Tatsache muss mit ganz besonderer Deutlichkeit hingewiesen werden. "*) Mit solchen Einsichten ist Fuchs bahnbrechend gewe- sen. In ihnen hat er Gegenstande gewiesen, an deren Studium der historische Materialismus sich schulen kann. Der technische Standard der Kiinste ist einer von deren wichtigsten. Ihm nach- zugehen macht manche Schadigung wieder gut, die der vage Kulturbegriff in der landlaufigen Geistesgeschichte (und bisweilen auch bei Fuchs selbst) anrichtet. Dass „Tausende der simpelsten Topfer imstande gewesen sind,... technisch und kiinstlerisch gleich kuhne... Gebilde formlich aus dem Handgelenk zu formen" 2 ), das erscheint Fuchs mit Recht als eine konkrete Bewahrung der altchinesischen Kunst. Technische Erwagungen fiihren ihn hin und wieder zu lichtvollen, seiner Epoche vorauseilenden Aper^us. Nicht anders ist die Erklarung des Umstandes einzuschatzen, dass das Altertum keine Karikaturen kennt. Welche idealistische Geschichtsdarstellung sahe darin nicht eine Stiitze des klassizisti- schen Griechen-Bildes : seiner edlen Einfalt und stillen Grosse ? Und wie erklart Fuchs sich die Sache ? Die Karikatur, meint er, ist eine Massenkunst. Keine Karikatur ohne massenweise Verbreitung ihrer Erzeugnisse. Massenweise Verbreitung heisst billige. Nun aber hatte „das Altertum... ausser der Miinze keine billige Reproduktionsf orm. " 3 ) Die Miinzflache ist zu klein, urn einer Karikatur Raum zu geben. Daher kannte das Altertum keine.


2 ) Honor6 Daumier, Bd. I, S. 13. — Man vergleiche mit diesen Gedanken die allego- rische Auslegung der Hochzeit von Kana durch Victor Hugo : „Das Wunder der Brote bedeutet die Vermehrung der Leser urn ein Vielfaches. An dem Tage, da der Christ auf dieses Symbol geraten war, hatte er die Erfindung der Buchdruckerkunst geahnt." (Victor Hugo, William Shakespeare. Zitiert von Georges Batault, Le pontife de la dfimagogie : Victor Hugo. Paris 1934, S. 142.)

  • ) Dachreiter, S. 46.

3 ) Karikatur, Bd. I, S. 19. — Die Ausnahme bestatigt die Regel. Ein mechanisches Reproduktionsverfahren diente bei Herstellung der Terrakotta-Flguren. Unter ihnen linden sich viele Karikaturen.


380 Walter Benjamin

Die Karikatur war Massenkunst, auch das Sittenbild. Dieser Charakter trat, diffamierend, fur die iibliche Kunstgeschichte zu ihrem sonst schon bedenklichen. Anders fur Fuchs; der Blick auf die verachteten, apokryphen Dinge macht seine eigentliche Starke aus. Und den Weg zu ihnen, von welchem ihm der Marxis- mus kaum mehr ais den Anfang gezeigt hatte, bahnte er sich als Sammler auf eigene Faust. Dazu bedurfte es einer an das Mania- kalische grenzenden Leidenschaft. Sie hat die Ziige von Fuchs gepragt, und in welchem Sinne erfahrt am besten, wer in Daumiers Lithographien die lange Reihe von Kunstfreunden und von Hand- lern, von Bewunderern der Malerei und von Kennern der Plastik durchgeht. Sie gleichen Fuchs bis in den Korperbau. Es sind hochaufgeschossene, hagere Figuren, und die Blicke schiessen aus ihnen wie Flammenzungen. Nicht mit Unrecht hat man gesagt, in ihnen habe Daumier die Nachkommlinge jener Goldsucher, Nekromanten und Geizhalse konzipiert, die auf den Biidern der alten Meister zu finden sind. 1 ) Ihrem Geschlecht gehort Fuchs als Sammler an. Und wie der Alchimist mit seinem ,niederen* Wunsch, Gold zu machen, die Durchforschung der Chemikalien verbindet, in denen die Planeten und Elemente zu Biidern des spiritualen Menschen zusammentreten, so unternahm dieser Samm- ler, indem er den ,niederen 4 Wunsch des Besitzes befriedigte, die Durchforschung einer Kunst, in deren Schopfungen die Produktiv- krafte und die Massen zu Biidern des geschichtlichen Menschen zusammentreten. Bis in die spaten Biicher ist der leidenschaftliche Anteil spiirbar, mit dem Fuchs diesen Biidern sich zugewandt hat. „Nicht der letzte Ruhm", schreibt er, „der chinesischen Dachreiter ist es, dass es sich in ihnen um eine... namenlose Volkskunst handelt. Es gibt kein Heldenbuch, das von ihren Schopfern zeugt." 2 ) Ob aber solche den Namenlosen und dem, was die Spur ihrer Hande bewahrte, zugewandte Betrachtung nicht mehr zur Humanisierung der Menschheit beitragt als der Fuhrerkult, den man von neuem liber sie verhangen zu wollen scheint, das muss wie so manches, woriiber die Vergangenheit vergeblich belehrte, immer wieder die Zukunft lehren.

Eduard Fuchs, Historian and Collector.

This study treats the writings of Fuchs as an example of recent material- istic historiography. Critical appreciation of his work involves critical appreciation of the whole concept of cultural history which prevailed in


x ) Vgl. Erich Klossowski, Honore Daumier. Munchen 1908, S. 113. 2 ) Dachreiter, S. 45.


Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker 381

Socialist popular science in the last decade of the nineteenth century. The influence of dialectical materialism was slight, that of positivism greater. An excursus attempts to show how, with technical progress, the work of philosophers and scholars was impaired by this positivism even in the middle of the century. The way in which Fuchs, writing from a Socialist position, attacked the bourgeois art history of a man like Wolfflin is describ- ed, but without neglecting his kinship to great bourgeois scholars like Brandes and Bastian. His biological conception of art is then analyzed in its historical conditions, and its close relationship to the intuitive methods of the collector demonstrated. As a collector Fuchs was rooted in the French tradition, but he brought to it the strict morality of German histo- riography. The Jacobin element in his historical writing is traced back to Schlosser. It appears that Fuchs could not entirely avoid collisions between his Jacobin morality and the materialist conception of history. His work displays a similar tension between that theory of history and his sexual ethics. On the other hand, he was able to throw much light on creative art from the study of sex. His most brilliant theoretical work is in his studies of Daumier. Daumier was also one of his chief subjects as a collector. The study closes with Fuchs's role in the history of art collecting.

Edouard Fuchs, collectionneur et historien.

Ce travail porte sur les Merits de Fuchs, considered comme exemple de la melhode materialiste contemporaine.

Le jugement critique porte sur Tceuvre de Fuchs se confond avec un jugement critique sur la notion d'histoire de la culture, qui dominait alors la science populaire d'inspiration socialiste. L'influence du materialisme dialectique sur celle-ci etait limitee ; Tinfluence du positivisme etait d'autant plus grande. Une disgression essaie de montrer, comment deja au milieu du xix e siecle, ce positivisme avait nui aux reflexions des philosophes et des savants sur le progres technique. On indique comment Fuchs, d'un point de vue socialiste, suppose a Thistoire de Tart bourgeois d'un Wolfflin, sans meconnaitre la parents entre Fuchs et de grands savants bourgeois comme Brandes et Bastian. On precise ensuite les conditions historiques dans lesquelles Fuchs a developpe son interpretation biologique de Tart ; la methode intuitive qui correspond k la tendance spontanee du collec- tionneur, se revele etroitement liee a cette interpretation. Le collec- tionneur Fuchs se rattache a la tradition francaise, a laquelle se joint le moralisme rigide qui vient de Thistoriographie allemande. On remonte jusqu'a Schlosser pour expliquer les origines du jacobinisme qui apparait dans les recits historiques de Fuchs. On apercoit que celui-ci n'a pu eviter completement les con flits entre jacobinisme moraliste et materialisme historique. De meme, son mode de consideration historique n'est pas toujours en accord avec son ethique sexuelle. Par ailleurs, il apporte a la science des connaissances import antes sur le rdle de la sexualite dans la creation artis- tique, Les 6tudes sur Daumier sont sans doute 1'ceuvre la plus haute du theoricien Fuchs. Daumier a ete egalement pour le collectionneur Fuchs un des themes les plus significatifs.

La fin de r article 6claire le r61e de Fuchs dans Thistoire des collections artistiques.




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