The Discovery of the Soul  

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In Die Entdeckung der Seele ("The Discovery of the Soul", 1878) is a book by Gustav Jäger.

Full text

ARTES 1817 SCIENTIA VERITAS LIBRARY OF THE UNIVERSITY OF MICHIGAN PLURIOUS UNUN TUEBOR SIQUERISPENINSULAM AMENAM CIRCUMSPICE From the Library of Edward Dorsch M. D. THE GIFT OF Mrs. Edward Dorsch BF 183 J22 1880


Ladian Lehrbuch der allgemeinen Zoologie. Ein Leitfaden für Vorträge und zum Selbststudium von Gustav Jäger, med. et chir . Dr., Professor an der Kgl. polytechnischen Schule und der Kgl . Thierarzneischule zu Stuttgart, sowie der land- und forstwirthschaftlichen Akademie zu Hohenheim. III. Abtheilung: Psychologie. Leipzig , Ernst Günther's Verlag. 1880. Die 365-93 Entdeckung der Seele von Gustav Jaeger. = Zweite Auflage enthaltend A) Gesammelte ältere Aufsätze. B) Neue Beweise und Aufschlüsse. Zugleich Lehrbuch der allgemeinen Zoologie. III. Abtheilung : Psychologie. Leipzig. Ernst Günther's Verlag. 1880. eSt Vorrede. Mit diesem Buche übergebe ich der Oeffentlichkeit nebst einem Wiederabdruck aller meiner früheren zerstreuten Publikationen über die fragliche Materie (erster Abschnitt) eine Fülle neuer und zwar mit exactem, ziffermässigem Ausdruck erscheinender Ermittelungen über die Seele (zweiter Abschnitt) . Mit letzteren wird nicht nur Alles bestätigt , was ich schon in meinen ersten Veröffentlichungen auf Grund minder zuverlässiger Methoden vorhersagte, sondern auch so viel Neues im Detail gegeben, dass das von mir erschlossene Gebiet sich ausnimmt wie eine neue Welt. Ich werde selbstverständlich noch nicht die Hände in den Schooss legen, sondern soweit es meine schwachen Kräfte und noch schwächeren Mittel erlauben , das Gebiet auch weiter cultiviren ; ich werde aber glücklich sein , wenn ich Genossen finde, sollten sie selbst Anfangs wider mich auftreten . In erster Linie fühle ich mich gedrängt , den zahlreichen Freunden zu danken , welche mir theils durch Mittheilung einschlägiger Thatsachen , sei es mündlich oder schriftlich , theils durch Rath, Zuspruch und Aufmunterung , so wesentliche Unterstützung brachten , theils durch Verfechtung meiner Sache in der Publicität den Druck milderten, den, wie ich wohl weiss , jede neue Entdeckung, insbesondere aber eine, die so revolutionirend auftritt, wie die meine, auszuhalten hat. Ich darf an diesen Dank wohl noch die Bitte knüpfen , im Eifer für die Sache nicht zu erlahmen. Da meine Publikationen und Studien keineswegs abgeschlossen sind , so bin ich für jede Zusendung von Material, VI Einsendung von Besprechungen etc. dankbar und werde sie ebenso objectiv und uneigennützig verwerthen, wie ich es mit dem bisher Eingegangenen in der vorliegenden Schrift gethan zu haben mir bewusst bin. Soll ich nun noch zu meinen Lästerern reden? In der ruhigen Ueberzeugung, dass mit diesem Buch meine Lehre als ein rocher de bronze in die Oeffentlichkeit tritt , der zwar noch dringend der Ausarbeitung und Feilung bedarf, an dem aber Jeder, der ihn umzustossen versucht , den Kopf brechen wird, thue ich es nicht. So bereitwillig ich auf eine wissenschaftliche Discussion mit solchen eintreten werde, welche darthun, dass sie selbst wissenschaftlich nachgeprüft haben , so freudig ich mich von solchen da, wo ich geirrt haben sollte, belehren lassen werde, so wenig werde ich mich um Bekrittelungen seitens anonymer oder namenloser Scribenten kümmern. Wenn sie fortfahren , Verwirrung und Hass zu verbreiten, statt aufklärend und fördernd in der von mir angebahnten , so hohe praktische und wissenschaftliche Interessen fördernden Richtung zu wirken, so kann ich blos sagen : ,,Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun !" Stuttgart, den 1. September 1879. GUSTAV JAEGER. Inhalts -Verzeichniss. A) Gesammelte ältere Aufsätze. 1. Ueber die Bedeutung der Geschmack und Geruchstoffe . 2. Physiologische Briefe über Vererbung 3. Der todte Punkt in der Zoologie 4. Die Entdeckung der Seele 5. Der Angststoff 6. Zur Pangenesis 7. Seele und Geist • · • 8. Völkergeruch (von Rich Andrée) 9. Der Nasengruss ( von Rich Andrée) Seite 1 14 41 50 78 87 99 106 110 B) Neue Aufschlüsse und Beweise. 10. Allgemeines über den Affect • · 11. Sympathie . 12. Antipathie • · 13. Endogene Affecte. Allgemeines 14. Die cerebralen Affecte 15. Die Sexual- Affecte 16. Trieb 17. Instinct 18. Gelüste · · 19. Idiosynkrasie 20. Sexuale Idiosynkrasie. Allgemeines 21. Monosexuale Idiosynkrasie 22. Homosexuale Idiosynkrasie 114 • 127 • 144 • 155 . 165 173 198 • 210 218 226 245 · 255 • 265

Vorrede. Mit diesem Buche übergebe ich der Oeffentlichkeit nebst einem Wiederabdruck aller meiner früheren zerstreuten Publikationen über die fragliche Materie (erster Abschnitt) eine Fülle neuer und zwar mit exactem, ziffermässigem Ausdruck erscheinender Ermittelungen über die Seele (zweiter Abschnitt). Mit letzteren wird nicht nur Alles bestätigt , was ich schon in meinen ersten Veröffentlichungen auf Grund minder zuverlässiger Methoden vorhersagte, sondern auch so viel Neues im Detail gegeben, dass das von mir erschlossene Gebiet sich ausnimmt wie eine neue Welt. Ich werde selbstverständlich noch nicht die Hände in den Schooss legen, sondern soweit es meine schwachen Kräfte und noch schwächeren Mittel erlauben , das Gebiet auch weiter cultiviren ; ich werde aber glücklich sein , wenn ich Genossen finde, sollten sie selbst Anfangs wider mich auftreten. In erster Linie fühle ich mich gedrängt , den zahlreichen Freunden zu danken , welche mir theils durch Mittheilung einschlägiger Thatsachen , sei es mündlich oder schriftlich , theils durch Rath, Zuspruch und Aufmunterung , so wesentliche Unterstützung brachten , theils durch Verfechtung meiner Sache in der Publicität den Druck milderten, den, wie ich wohl weiss, jede neue Entdeckung, insbesondere aber eine, die so revolutionirend auftritt, wie die meine, auszuhalten hat. Ich darf an diesen Dank wohl noch die Bitte knüpfen , im Eifer für die Sache nicht zu erlahmen. Da meine Publikationen und Studien keineswegs abgeschlossen sind , so bin ich für jede Zusendung von Material, VIII Seite 23. Parasit und Seuche . 24. Desodorisation 25. Seuchenfestigkeit 26. Affect- und Wetterfestigkeit 27. Die Heilkunde 28. Die Verwitterung · 267 281 295 306 312 327 29. Die Pflanzenseele 333 30. Bildungstrieb . 340 31. Sprachliches über die Seele 348 32. Geist 367 33. Körperregierung • 382 Mitdie 1. Ueber die Bedeutung der Geschmack- und Geruchstoffe. (Wieder abgedruckt aus Siebold u. Köllicker, Zeitschrift f. wissensch. Zoologie. Band XXVII. 1876.) Schwerlich wird ein Zoologe darüber im Unklaren sein, dass unsere Wissenschaft neuerdings an einem Wendepunkt angekommen ist. Bis zu DARWIN'S Auftreten verfolgte die wissenschaftliche Zoologie in hervorragender Weise die morphologische Richtung. Mit DARWIN trat die bisher sehr stiefmütterlich behandelte und lediglich für Casuistik gehaltene biologische Richtung in ihr volles, von jetzt an nicht mehr zu bestreitendes Recht ; denn dass die natürliche Auswahl" das letztinstanzliche , regulirende Princip des organischen Kosmos ist, darf wohl jetzt als unumstössliche Wahrheit betrachtet werden. Dass mit dem Auftauchen der biologischen Richtung das höchste Problem der Organismenlehre, die Abstammungsfrage , in Angriff genommen wurde, hat die jetzt abgelaufene biologische Epoche der Zoologie zu der interessantesten , fruchtbarsten und animirtesten gemacht , welche die Geschichte dieser Wissenschaft hinter sich hat ; allein wenn wir das Facit ziehen, so muss Jedem sich die Ueberzeugung aufdrängen, dass das Ziel , das wir schon mit Händen greifen zu können glaubten , nicht erreicht worden ist , dass wir ihm uns nur um einen, allerdings hochbedeutsamen Schritt genähert haben; hochbedeutsam namentlich deshalb , weil wir jetzt mit Bestimmtheit wissen, dass das Ziel in der Richtung der Descendenztheorie und keiner andern liegt. Dass das Ziel auf dem bisherigen biologisch-morphologischen Wege nicht erreicht werden kann, ist mir niemals klarer geworden , als durch die jüngste Schrift HAECKEL'S über die Perigenesis der Plastidule. Sie ist der schlagendste Beweis , 1 ) dass wir uns in einer Sackgasse befinden, 2 ) dass selbst die verzweifeltste naturphilosophische Anstrengung Jaeger, Entdeckung der Seele. 1 2 den Berg , vor dem wir stehen , und der „Vererbung" heisst, nicht zu durchbohren vermag, kurz, dass wir mit der Philosophie und dem Wissen zu Ende sind. In dem Schlussheft meiner „ zoologischen Briefe", dessen Ausgabe unmittelbar bevorsteht ,*) unternehme ich den Versuch , die Zoologie auf eine andere noch ganz brach liegende Bahn empirischer Forschung zu bringen. Ich greife daraus vorliegendes Kapitel hauptsächlich deshalb heraus , weil ich in der genannten Schrift den vorliegenden Gegenstand nur sehr cursorisch behandelte , während er mir, je länger ich mich damit beschäftige, um so wichtiger und deshalb eingehenderer Erörterung werth erscheint. Es kann darüber wohl kaum ein Zweifel sein , dass die Vererbung des Charakters (so will ich zusammenfassend alle Eigenschaften eines Thieres nennen) nur zu einem kleinen Theil auf die Entwickelungsumstände, der Hauptsache nach auf chemischphysikalische Qualitäten des Keimprotoplasma zurückzuführen ist. Bezüglich der physikalischen Qualitäten , die bei der Vererbung eine entscheidende , namentlich morphogenetisch entscheidende Rolle spielen , will ich meiner Schrift nur insofern vorgreifen, als ich andeute, dass der Wassergehalt des Protoplasma und der davon abhängige Grad der Adhäsivität und Permeabilität desselben ein Hauptfactor ist. Dagegen will ich mich über die chemischen Qualitäten des Keim protoplasma , auf denen die Vererbung beruht , ausführlicher aussprechen, allerdings nicht über alle, sondern nur über den in der Ueberschrift dieses Aufsatzes genannten Theil. Der Zoologe ist in Bezug auf die chemische Frage sehr übel daran. Wenn man ein Handbuch der Zoochemie aufschlägt und die daselbst aufgeführte Handvoll Thierstoffe mit der nach Hunderttausenden zu messenden Zahl der Thierarten vergleicht, so könnte man sich versucht fühlen, den chemischen Weg für gänzlich hoffnungslos zu halten, denn die Chemie bietet uns so gut wie nichts. Dennoch betrachte ich die Sache nicht so verzweifelt, denn glücklicherweise ist jeder Mensch im Besitze zweier ausserordentlich feiner chemischer Beobachtungswerkzeuge , seines Geschmackund seines Geruchsinnes , bei denen nur das das Missliche ist, dass hier die Verständigung über die Qualität sehr schwierig, weil nicht ziffermässig möglich ist, und weil der Culturmensch die Ausbildung seiner chemischen Sinne vernachlässigt und sie so gering-

  • ) Inzwischen erschienen : G. Jaeger, Zoologische Briefe. Heft III. Wien 1876. W. Braumüller.

3 schätzig behandelt , dass er zur Bezeichnung der Unwichtigkeit einer Eigenschaft oder eines Dinges das Wort „ Geschmacksache" gebraucht. Die Thatsache, von welcher ich ausgehe , ist die , das jede Thierart ihren specifischen Ausdünstungsgeruch hat. Selbst ein ungeschultes Geruchsorgan wird mit verbundenen Augen ein Pferd von einem Rind, eine Ziege von einem Reh, einen Hund von einer Katze, einen Marder von einem Fuchs, eine Krähe von einer Taube , einen Papagei von einer Henne , eine Eidechse von einer Schlange zu unterscheiden vermögen, und mein als Ornithologe bekannter Freund , Dr. JULIUS HOFFMANN , hat mich davon überzeugt, dass man eine Rabenkrähe und eine Nebelkrähe , also Localformen der gleichen Art, am Ausdünstungsgeruch mit Sicherheit unterscheiden kann. Bei den Thieren, die dem Menschen zur Nahrung dienen, überzeugen wir uns leicht, dass jedes Thier auch seinen specifischen Geschmack besitzt ; wir wollen uns jedoch im Folgenden mehr an die Geruchstoffe als an die Geschmackstoffe halten, weil wir für die zoochemische Untersuchung von dem Geruchsinn einen ausgedehnteren Gebrauch machen können, als von dem Geschmacksinn. Obiger Satz vom specifischen Geschmack und Geruch ist nun zunächst in folgender Richtung zu erweitern : Nicht blos jede morphologische Art hat ihren specifischen , von dem der nächstverwandten verschiedenen Ausdünstungsgeruch , sondern auch jede Race, jede Varietät und in letzter Instanz sogar jedes Individuum. Ueber letzteren Punkt belehrt uns allerdings unser verwahrloster eigener Geruchsinn nicht mehr,*) dagegen der hochentwickelte Geruchsinn des Hundes durch die Thatsache, dass ein feinnasiger Hund die Spur seines Herrn mit derselben Bestimmtheit von der anderer Menschen unterscheidet, mit der wir die Individuen mittelst unserer physikalischen Sinne auseinander halten. Die biologische Beobachtung der Thiere überzeugt uns davon , dass diese chemische Individualisirung nicht etwa ein Privilegium des Menschen ist, sondern vielleicht eine allgemeine Eigenschaft. Was mir diese Ueberzeugung aufdrängt, sind insbesondere folgende Umstände. Wenn der Imker einem weisellos gewordenen Bienenstock eine neue Königin geben will, so muss er sie verwittern, d. h. ihr den Ausdünstungsgeruch beibringen , welcher dem ganz bestimmten Stock eigen ist , und manche Umstände sprechen dafür, dass die

  • ) Wie im zweiten Abschnitt gezeigt werden wird , besitzen die Menschen

diese Fähigkeit doch und zwar in einem überraschend ausgedehnten Masse. 1* 4 Biene eines Bienenstockes und die Ameise einer bestimmten Colonie für die Bewohner eines anderen Stockes oder einer anderen Colonie einen fremden Geruch hat. In den zoologischen Gärten hat man beim Zusammenbringen der Thiere, namentlich dem der beiden Gatten einer Art, in der Verwitterung ein vorzügliches Mittel erkannt, um sofort Sympathiebeziehungen herzustellen , während bei Vernachlässigung dieser Massregel die ärgerlichsten Conflicte entstehen. Bei den monogamischen Thieren ist die Sicherheit , mit der sich die Ehegatten stets, selbst in der Nacht, zusammenfinden , ohne Annahme eines Individualgeruches schlechterdings nicht zu erklären. Bei dem Einwerfen monogamischer Vögel behufs Züchtung macht der Thiergärtner die Erfahrung, dass durchaus nicht jedes beliebige Männchen von jedem beliebigen Weibchen acceptirt wird , und umgekehrt, sondern dass diese Thiere eine sehr entschiedene Auswahl treffen, die ohne Zuhilfenahme von Individualgerüchen eben nicht zu erklären ist. Selbst bei Thieren, die in Gemeinschaftsehe leben, wie bei Hunden , kann man derlei Beobachtungen von Zurückweisungen und ganz besondern Zuneigungen machen, die bei diesen eminenten Geruchthieren wohl nur durch Individualgerüche zu erklären sind. Zugänglicher wird unseren Sinnen bereits die chemische Varietäten- und Racendifferenz , allerdings erstere bei den Thieren weniger als bei den Pflanzen : die Varietäten unserer Culturpflanzen, z. B. unserer Obstsorten, zeigen eine Differenzirung der Geschmack- und Geruchstoffe, die bei genauerer Ueberlegung unser höchstes Interesse herausfordert. Dagegen ist die Racedifferenz unserem Geruchsinn bei dem Menschen in hohem Grade zugänglich, wofür ich mich auf den Aufsatz von RICHARD ANDREE über „ Völkergeruch" in Nr. 5 des Correspondenzblattes für Anthropologie berufe. Wie weit die ganz charakteristischen Stände- und Handwerksgerüche (z. B. der Bauerngeruch , Schneidergeruch, Schustergeruch etc.) exogen oder endogen sind, will ich hier nicht entscheiden , doch halte ich sie nicht ausschliesslich für exogen, werde aber darauf noch zurückkommen. Die weitere Ergänzung des Satzes vom specifischen Geschmack und Geruch ist folgende: Es gibt nicht blos Individual- , Varietäten- , Race- und Speciesgerüche, sondern auch Gattungs- , Familien- , Ordnungs- und Klassengerüche, d. h. die Speciesgerüche der verschiedenen Arten einer Gattung zeigen bei aller Verschiedenheit eine deutliche, oft sehr auffällige Uebereinstimmung, und dasselbe gilt von den Gerüchen der Gattungen 5 derselben Familie, Ordnung, Klasse etc., kurz: Die Aehnlichkeit und Differenz der Geruch- und Geschmackstoffe steht in merkwürdig genauer Beziehung zu dem Grade der morphologischen Verwandtschaft. Ich will hierfür einige leicht wahrnehmbare Beispiele anführen. Prägnanten Gattungsgeruch haben unter den Säugethieren z. B. die Marder, die Katzen , die Stinkthiere , die Ziegenarten, Einhufer, Antilopen, Hirsche. Unter den Vögeln ist der Taubengeruch, Rabengeruch, Geiergeruch, Reihergeruch, Straussengeruch für unsern Geruchsinn am fassbarsten. Als Beispiele für die Uebereinstimmung der specifischen Ausdünstungsgerüche grösserer systematischer Gruppen nenne ich den Affengeruch, Wiederkäuergeruch (Einhufergeruch ist schon oben genannt) , Nagethiergeruch, Schweinsgeruch, Eidechsengeruch, Schlangengeruch, Amphibiengeruch, Fischgeruch ; ja ich stehe nicht an, ebensogut von einem Säugethiergeruch, Vogelgeruch und Reptiliengeruch zu reden, als von einem Fisch- und Amphibiengeruch. Von den wirbellosen Thieren gilt unstreitig dasselbe. Der Geruch einer Schmetterlingssammlung ist ein entschieden anderer als der einer Käfersammlung , und der Wanzengeruch ist zu bekannt, als dass ich davon sprechen sollte. Die unter Baumrinden steckende Cossusraupe findet der Erfahrene sicher durch den säuerlichen Geruch, den sie ausströmt, ebenso die Colonien des Eremitkäfers an dem Juchtengeruch, von Moschusbock, spanischer Fliege, Meloë etc. nicht zu reden. Die Männchen der Sphingiden und Noctuen finden ihre Weibchen auf Grund des specifischen Ausdünstungsgeruchs bei stockfinsterer Nacht auf weite Distanzen. Für die Mollusken appellire ich weniger an den Geruch als an den Geschmack. Niemand wird eine Auster im Geschmack mit einer Miesmuschel oder einer Weinbergschnecke , einer Murex , einem Cardium verwechseln, und für die Krebse verweise ich auf die Geschmacksdifferenz von Hummer , Flusskrebs , Garnelle , Languste, Seespinne etc. Der Trepang schmeckt anders als die Eierstöcke von Echinus esculentus , und wieder ganz eigenartig ist der Geschmack der Cynthia microcosmus , die man am Mittelmeer isst. Kurz , der Satz von der Specifität der Geschmack- und Geruchstoffe gilt offenbar für alle Thiere so gut wie für alle Pflanzen, und im Grossen und Ganzen ist die Differenz in Uebereinstimmung mit der morphologischen Differenz , was uns die Ueberzeugung aufnöthigt , dass bei der Vererbung auch der morphologischen Charaktere die Geschmack- und Geruchstoffe eine causale Rolle spielen. Ehe wir nun unsere Erwägungen weiter fortsetzen, müssen wir 6 zuerst die Frage aufwerfen : Woher stammt der specifische Ausdünstungsgeruch und der specifische Geschmack?* ) Soviel ist gewiss , dass die Geruchstoffe sich nicht blos im Koth der Thiere finden, sondern fast noch entschiedener im Harn, aber ausserdem haften sie fast allen Theilen des Thieres entweder unmittelbar an , z. B. den Hautabsonderungen , Haaren, Federn etc. , oder können daraus entwickelt werden. So geben unsere zoochemischen Handbücher schon längst die Thatsache an, dass das Blut , mit Schwefelsäure behandelt , den gleichen Geruch entwickelt wie der Koth des betreffenden Thieres. Der Geruch ist also nicht ein blos äusserlich anhaftender (exogener) , von Verunreinigungen stammender , sondern ein endogener, von der lebendigen Substanz entwickelter , was für die Geschmackstoffe ohnedies keines Beweises bedarf. Weiter zeigt uns die Thatsache , dass der Geruch aus dem Blute durch Zersetzung desselben genommen werden kann , offenbar , dass wir es mit zweierlei Molekularzuständen zu thun haben: 1 ) mit den riechenden und schmeckenden Stoffen selbst, 2) mit ihren noch nicht oder wenigstens in geringerem Masse wirkenden Erzeugern , welchen ich die Namen Saporigen und Odorigen geben will , wie die Chemiker einen Farbstofferzeuger Chromogen nennen. Die weitere Frage ist die : In welcher Beziehung steht das Saporigen und Odorigen zu dem Protoplasma der Thiere? Der Gedanke liegt sehr nahe , dieselbe auf die Nahrung zurückzuführen , die ja immer schmeckende und riechende Stoffe enthält. Allein die Sache ist nicht so einfach. Es unterliegt keinem Zweifel , dass die jeweilige Nahrung einen entschiedenen Einfluss auf die Art des Ausdünstungsgeruches ausübt, z. B. duftet ein Hund, den wir mit Pferdefleisch füttern, entschieden nicht blos penetranter , sondern auch anders , als wenn wir ihn mit allerlei Küchenabfällen füttern , also als Omnivoren behandeln. Weiter erinnere ich an den interessanten Versuch HOLMGREN'S , der bei Tauben, die er ausschliesslich mit Fleisch fütterte, eine raubvogelähnliche Abänderung des Ausdünstungsgeruchs erzielte. Endlich wissen wir , dass nach endermatischer Aufnahme von Terpentinöl der Harn des Menschen einen Veilchengeruch erhält, dass die Aas fressenden Thiere , die Fischfresser eine gewisse Aehnlichkeit im Ausdünstungsgeruch haben. Auf der anderen Seite ist aber mit vollkommener Entschieden-

  • ) Diese Frage wird im Kapitel „ Die Entdeckung der Seele" eine viel präcisere Lösung finden.

7 heit eine ausschliessliche Entstehung des Ausdünstungsgeruchs aus der jeweiligen momentanen Nahrung in Abrede zu ziehen. Wenn Jude und Christ , Weisser und Neger noch so lange die gleiche Kost geniessen , so verschwindet die Differenz des Ausdünstungsgeruchs nicht, sie wird höchstens geringer. Der Mensch kann einen Hund oder ein Schwein noch so lange mit seinen Küchenabfällen, also mit dem füttern, was er selbst geniesst, und doch entsteht keine Harmonie zwischen seinem Ausdünstungsgeruch und dem dieser Hausthiere. Meine Affen im Wiener Thiergarten bekamen fast genau die gleiche Nahrung wie ein Mensch und behielten ihren Affengeruch unverändert. Meine Pelikane , Reiher, Möven , Fischottern , Cormorane , Seehunde erhielten zur Nahrung die gleichen Fischspecies (meist Alburnus lucidus) jahraus jahrein, trotzdem behielt der Cormoran seinen rabenartigen Geruch , die Fischotter ihren an Moschus erinnernden Mustelengeruch , und zwischen Seehund und Fischreiher war wenigstens für mein Geruchsorgan die Differenz stets so gross , wie sie zwischen einem Vogel- und Säugethiergeruch ist ; endlich, vor zwei Jahren, frappirte mich der mir ganz fremdartige Geruch der Leiche eines ja ebenfalls Fische fressenden Delphins. Die Viehzüchter wissen längst, wie ausserordentlich unabhängig Geruch und Geschmack der Milch von der Art der Nahrung der Kühe ist. Pferd und Rind , die jahraus jahrein das gleiche Heu und Stroh als Nahrung erhalten, verlieren nie die Differenz ihres Ausdünstungsgeruchs , und die Versuchsmäuse, die ich gegenwärtig lebendig halte und seit Monaten mit Brod füttere , haben ihren specifischen Mausgeruch noch wie am ersten Tage. Für die Geschmackstoffe gilt offenbar dasselbe: d. h. dass die chemische Zusammensetzung der momentanen Nahrung wohl nicht ganz ohne Einfluss auf den Geschmack des Fleisches ist , allein nur von einem sehr untergeordneten : Rindfleisch schmeckt eben wie Rindfleisch , mögen wir das Thier mit Wiesenheu ernähren oder ihm Schlempefütterung geben wie einem Schwein. Darausgeht hervor, dass derAusdünstungsgeruch und-Geschmack eines Thieres eine Mischung verschiedenartiger Geruch- und Geschmackstoffe ist. Die eine Gruppe entstammt der jeweiligen Nahrung (Nahrungs- Geruch und Geschmack) , die andere weit überwiegende Gruppe entstammt der lebendigen Substanz des Thieres selbst, ist sein Protoplasmageruch und -Geschmack. Für unsere ferneren Zwecke können wir von dem ersteren , dem Nahrungsgeruch und Geschmack , absehen , bei der Vererbung spielt offenbar nur der Protoplasmageruch und Geschmack eine Rolle. - 8 Wir haben bisher nur vom fertigen Thiere gesprochen, bei der Vererbung handelt es sich dagegen um die chemische Zusammensetzung des Keimprotoplasma. Hier wird die Sache schwieriger; die winzigen Eier der Säugethiere, Insecten etc. entziehen sich völlig näherer chemischen Prüfung durch unsere Sinne; günstiger steht die Sache bei den Sauropsiden und Fischen , hier können wir untersuchen. Dabei zeigt sich sofort ein gewisser Gegensatz gegen das erwachsene Thier; 1 ) sind die Differenzen entschieden geringer als bei den letzteren, 2) treten namentlich die Riechstoffe sehr in den Hintergrund. Deutlicher wahrnehmbar sind dagegen die Geschmacksdifferenzen. Um an das Bekannteste zu erinnern: Einigermassen feinschmeckende Leute unterscheiden Hühnereier, Enteneier und Gänseeier leicht von einander, die Kibitzeier wird vollends Niemand mit einem Hühnerei verwechseln. Die Eier des neuholländischen Casuars haben , wie ich aus Erfahrung weiss , einen ganz entschieden specifischen, an süssen Rahm erinnernden Geschmack. Im Wiener Thiergarten habe ich Gelegenheit gehabt, den Geschmack von Truthuhneiern, Pfaueneiern, Perlhuhneiern, Fasaneneiern, Eiern californischer Wachteln etc. zu prüfen, die Unterschiede sind zwar sehr fein, aber doch deutlich. Als Student habe ich eine kleine Vogeleiersammlung angelegt und nicht angebrütete Eier oft genug dadurch entleert, dass ich sie aussaugte ; ich habe zwar der Sache damals nicht die Aufmerksamkeit geschenkt, die ich ihr jetzt zuwenden würde , allein noch jetzt, nach mehr als 20 Jahren , erinnere ich mich mit Bestimmtheit , mitunter sehr auffallende Geschmacksunterschiede wahrgenommen zu haben. Deutlicher werden die Geschmacksdifferenzen, sobald wir weiter gehen. Von Reptilien habe ich nur Eidechseneier kennen gelernt, und hier ist der Unterschied gegenüber Vogeleiern frappant. Schildkröteneier kenne ich nicht, aber aus den Schilderungen Reisender ist zu entnehmen , dass der Geschmack anders ist als der von Vogeleiern. Gehen wir zu den Fischen über : nicht nur wird Niemandem der grosse Unterschied zwischen dem Geschmack der Fischeier und dem der Vogeleier entgehen, sondern der auffallende Unterschied zwischen Heringsrogen und Caviar, der sicher nicht auf Rechnung des Unterschiedes in der Behandlung zu setzen ist , ist ein Beweis , dass die Specificirung nicht bei der Klasse stehen bleibt. Ferner: während der Rogen des Karpfen ein sehr schmackhaftes Essen ist, ist der des Alet (Squalius cephalus), gleich zubereitet, eine fade Speise. Dass die Eier der Flusskrebse einen eigenartigen, höchst pikanten Geschmack haben , ist leicht zu constatiren , und ich habe mich überzeugt, dass mit diesem nur der der Spinneneier verglichen werden kann. 9 Durch all' das komme ich zu dem Resultat, dass die saporigenen und odorigenen Substanzen nicht erst im Laufe der Ontogenese im Thier auftreten , also nicht eine ontogenetische Erwerbung sind , sondern dass sie bereits dem Keimprotoplasma zukommen, also Gegenstand der Vererbung sind. Weiter komme ich zu dem Resultat , dass die Vererbung des Charakters , und zwar des morphologischen so gut wie des biologischen , grösstentheils darauf beruht , dass das Keimprotoplasma jeder Art , jeder Gattung , jeder Ordnung etc. ganz specifische saporigene , odorigene und , wie ich nebenher bemerken will, chromogene Substanzen enthält, wenn wir auch zunächst noch nicht übersehen können , wie diese Stoffe eine morphogenetische Wirkung entfalten können. In dieser Beziehung muss aber jetzt schon folgende Thatsache, die ebenfalls Jeder leicht constatiren kann, hervorgehoben werden. Im Lauf der Ontogenese nimmt die Entwickelung der specifischen Geschmack- und Geruchstoffe an Intensität und Specification in gleichem Masse zu , wie die morphologische Detaillirung des Körpers. Hierüber belehren folgende Thatsachen : Ein bebrütetes Vogelei hat einen viel ausgesprochneren Geschmack als ein unbebrütetes , und um so mehr, je vorgeschrittener die Bebrütung ist. Dies ist so auffallend, dass ein Eiersammler, der ein frisches Ei mit Appetit aussaugt, den Inhalt eines angebrüteten sofort ausspuckt. Die zweite Thatsache ist, dass das Fleisch neugeborener Thiere einen faden Geschmack hat im Vergleich zu dem der erwachsenen. Auch überzeugt man sich an Thieren mit starkem Ausdünstungsgeruch , z. B. Ziegen , leicht, dass derselbe bei jungen Thieren ganz entschieden schwächer ist als bei alten; und dass der Hebräergeruch bei Kindern ebenfalls viel schwächer ist als bei Erwachsenen, wird Niemand ein Geheimniss bleiben, der es untersuchen will. Dieser doppelte Parallelismus zwischen Geruchs- und Geschmacksdifferenzen einerseits , und ontogenetischen und systematischen morphologischen Differenzen andererseits begründet einen so dringenden Verdacht für einen Causalzusammenhang , dass ich sage: Wer die Lehre von der Vererbung vom Fleck bringen will , darf nicht länger achtlos an diesen Thatsachen vorbeigehen. Zunächst frägt es sich nun: Wo stecken diese Saporigene, Odorigene (und Chromogene) ? Sind sie selbstständige Protoplasmabestandtheile oder stecken sie im Molekül eines der bereits bekannten Protoplasmastoffe und werden erst bei deren Zersetzung frei ? Bei dieser Frage bewegt man sich lediglich auf dem Boden 10 der Vermuthung , und doch möchte ich eine solche wagen. *) Die Thatsache, dass die Entwickelung des specifischen Ausdünstungsgeruchs durch körperliche Arbeit eine quantitative Steigerung erfährt , scheint mir eher dafür zu sprechen , dass die genannten Stoffe im Molekül derjenigen Protoplasmabestandtheile enthalten sind, die bei Protoplasmaarbeit in grösseren Mengen zersetzt werden, und da richtet sich der Verdacht in erster Linie auf die Fette , von denen ohnedies bekannt ist , dass es deren eine ganze Reihe verschiedenartiger gibt. Auf die Fette weist auch die Thatsache hin , dass mehrere der Ausdünstungsgerüche notorisch flüchtige Fettsäuren oder Gemenge von solchen sind. Ich glaube aber, dass wir dabei nicht stehen bleiben können, denn die hohe vererbungsgeschichtliche Bedeutung der Saporigene und Odorigene muss in uns den Gedanken erwecken , dass sie in dem Molekül noch wichtigerer Protoplasmabestandtheile stecken , als es die neutralen Fette sind, denn diesen letzteren kann doch mehr nur die Rolle des Nahrungsdotters, nicht die des Bildungsdotters zugeschrieben werden. In erster Linie tritt uns hier das Lecithin , jene wichtige phosphorhaltige Substanz entgegen, die wir im erwachsenen Thier vorzugsweise in der Nervensubstanz finden, im Ei in Verbindung mit Eiweiss als Vitellin , Ichthidin, Ichthin, Emydin etc., und die, was nicht minder wichtig ist, auch im männlichen Samen enthalten ist. Nach DIACONOW betrachten die Chemiker diesen Stoff gegenwärtig als glycerinphosphorsaures Cholin , worin indess im Radical der Glycerinphosphorsäure zwei Wasserstoffatome durch ein Fettsäureradical ersetzt sind. Für die Specificirung des Keimprotoplasma der verschiedenen Thiere ist nun von der grössten Wichtigkeit, dass es verschiedene Lecithinsorten zu geben scheint, und zwar dadurch, dass verschiedene Fettsäuren an die Stelle der zwei Wasserstoffatome treten können, so dass man von einem Distearinlecithin , Dioleïnlecithin , Oleïn- Palmitinlecithin etc. spricht, je nachdem die Stearinsäure , Oleïnsäure , Palmitinsäure etc. im Molekül desselben enthalten sind. Soweit also die riechenden Stoffe flüchtige Fettsäuren sind, könnte das Lecithin die odorigene Substanz des Keimprotoplasma sein. Die Fette leiten uns aber auch noch auf die Albuminate. Obwohl die Acten darüber noch nicht geschlossen sind , so dürfte doch jetzt ziemlich feststehen, dass aus der Zersetzung der Albuminate neutrales Fett entsteht. Dies führt zu dem Rückschluss,

  • ) Aus dem Kapitel ,, Die Entdeckung der Seele" wird hervorgehen , dass diese Frage jetzt unzweifelhaft zu Gunsten der Eiweissstoffe entschieden ist.

SO 11 dass das Molekül der Albuminate entweder das Molekül der neutralen Fette oder das der Fettsäuren enthält , ganz ähnlich wie das Lecithin , und darin läge die Möglichkeit für die Existenz specifisch differenter Albuminate , z. B. Oleïnalbuminat , Stearinalbuminat, Palmitinalbuminat etc. Auf die Albuminate als odorigene Substanz weist auch noch das Tyrosin, ein bekanntes Zersetzungsproduct der Albuminate, hin. Wenn es richtig ist, dass das Tyrosin zu den aromatischen Verbindungen mit dem Benzolkern (Ce He) gehört , so hätten wir hier eine ausgiebige Quelle für Geruchstoffe in dem unbestreitbar wichtigsten der Protoplasmabestandtheile. Auf das Tyrosin, d. h. eben auf ein stickstoffhaltiges Odorigen, weist auch der Umstand hin, dass der Harn der Thiere den specifischen Geruch in eminentem Masse entwickelt. Hierzu möchte ich noch bemerken , dass die eine Quelle die andere nicht ausschliesst, im Gegentheil : die ungeheure Specificirung der Geruchstoffe und Geschmackstoffe weist darauf hin, dass es sich auch bei den Protoplasmagerüchen um eine Mischung verschiedener Geruchstoffe bei einem und demselben Thiere handelt, geradeso wie ja auch das Neutralfett einer Thierart stets eine Mischung mehrerer Neutralfette ist, und die Verschiedenheit oft nur darauf beruht, dass die Mischungsverhältnisse anders sind. Mögen sich die Chemiker recht bald dieser Sache bemächtigen, denn der Fortschritt der Vererbungslehre ist auf's Innigste mit den Fortschritten der organischen Chemie verknüpft. Damit ist jedoch nur die eine Seite der specifischen Geschmackund Geruchstoffe erörtert. Die andere Seite ist , dass sie die wichtigsten Regulatoren für die biologischen Beziehungen, und zwar nach zwei Richtungen hin sind. 1 ) Die Geschmack- und Geruchstoffe bestimmen die Wahl der Nahrung. Wir dürfen uns nicht verhehlen, dass die Nahrung nicht blos die Aufgabe der Lebenserhaltung überhaupt hat, sondern die der Erhaltung der ganz bestimmten Eigenartigkeit des Lebens jeder Thierart, d. h. sie hat den specifisch chemischen Mischungszustand des betreffenden Protoplasma aufrecht zu erhalten, und ich glaube, dass es sich hierbei um eine ganz bestimmte, aber vorläufig noch ganz dunkle chemische Relation zwischen den Geschmack- und Geruchstoffen der Nahrung und den Geschmack- und Geruchstoffen des die Nahrung aufnehmenden Thieres handelt , die ich mit dem Ausdruck Adaequat heit bezeichnen will. *) Den von aussen auf die chemischen

  • ) Auch das wird in den folgenden Aufsätzen weit klarer werden.

12 Sinne des Thieres wirkenden Stoffen gegenüber verhält sich das Thier in zweierlei Weise ; es weist sie zurück, wenn sie ihm inadaequat sind, es nimmt sie auf, wenn sie ihm adaequat sind ; letztere nennen wir angenehm, erstere unangenehm. Ob ein Geschmackoder Geruchstoff angenehm ist , hängt nun von zwei Umständen ab: 1 ) von seiner eigenen chemischen Natur, 2) von der chemischen Natur des Sinnesträgers. Ich behaupte nun, die für die Adaequatheit in Betracht kommende chemische Natur des Sinnesträgers hängt von dessen eigenen saporigenen und odorigenen Bestandtheilen ab , oder mit andern Worten: diese sind die Träger des Nahrungsinstinctes. 2) Die zweite Seite liegt in ihrer Bedeutung für die Beziehung der Geschlechter. Es kann zwar nicht in Abrede gezogen werden , dass bei den Sympathiebeziehungen zwischen den verschiedenen Geschlechtern innerhalb einer Art oder Klasse , und bei den Antipathiebeziehungen zwischen den Geschlechtern verschiedener Arten auch die physikalischen Sinne in Betracht kommen; allein die biologische Beobachtung lässt darüber keinen Zweifel, dass bei ganzen Thiergruppen , z. B. bei den Säugethieren , den Nachtschmetterlingen , den Nachtkäfern etc. die Geruchstoffe eine ganz allein ausschlaggebende Rolle spielen, und auch bei den Gesichts- und Gehörthieren kommt, wie die Verwitterung bei den Vögeln zeigt, doch auch der Ausdünstungsgeruch als gewichtiger Factor hinzu. Wir können uns wohl so ausdrücken : Die Träger des Fortpflanzungsinstinctes sind in hervorragender Weise die odorigenen und saporigenen specifischen Protoplasmabestandtheile. Hierdurch ist natürlich ein neuer doppelter Einfluss der Ge- schmack- und Geruchstoffe auf die Vererbung gegeben. Als Regulatoren für die Nahrungsauswahl erhalten sie während der Ontogenese die specifische Protoplasma- Zusammensetzung aufrecht, so dass eine Generation der andern gleicht ; als Regulatoren des Fortpflanzungsinstinctes sorgen sie dafür , dass das Keimprotoplasma stets die gleiche Mischung aus Eiprotoplasma und Samenprotoplasma ist, sie sind also nicht blos die Träger der Vererbung überhaupt, sondern auch die der Constanz der Vererbung. Ich habe in meiner Schrift „ In Sachen Darwin's" S. 15 von constanten und variirenden Thierformen gesprochen, und wenn ich jetzt meine praktischen Erfahrungen als Thiergartendirector mir vergegenwärtige , so komme ich zu dem Schluss : die constanten Formen sind die, welche am strengsten monophag sind, bei denen also die chemische Adaequatheit zwischen Thier und Nahrung den höchsten Grad erreicht hat. 13 Dem entsprechend stelle ich auch eine neue Transmutationslehre auf, die ich die chemische nennen und so präcisiren will : Eine phylogenetische Abänderung ist nur zu erzielen, wenn es gelingt, eine saporigene , odorigene ( oder chromogene ) Metamorphose des Keimprotoplasma zu bewerkstelligen. Hiergegen verhält sich aber das Keimprotoplasma äusserst obstinat , und zwar aus Gründen, welche zum Theil im Schlussheft meiner „Zoologischen Briefe" entwickelt sind. Die hohe Bedeutung , welche ich im Obigen den Geschmackund Geruchstoffen für die continuirlichen Verrichtungen des Protoplasma zuschreibe , zeigt sich auch in ihrem Einfluss auf die rhythmischen Functionen desselben : sie sind alle Protoplasmareize. Als solche functioniren sie nicht blos bei der Wahl der Nahrung und bei der Zuchtwahl, sondern auch bei der Verdauung der Nahrung , ein Umstand , dem man von Seite der Physiologie erst neuerdings die gebührende Aufmerksamkeit schenkt, und zum Schluss erinnere ich noch an die dominirende Rolle, welche die Geschmack- und Geruchstoffe in der Medicin spielen. Ich möchte sagen : was nicht schmeckt oder riecht , wirkt auch auf das Protoplasma nicht , kann also weder ein Nahrungsmittel , noch ein Arzneimittel sein. Das sind die Erwägungen, welche ich meinen Fachgenossen vorlegen wollte. Ich weiss zwar wohl , dieser neue Weg empirischer Forschung , den ich vorschlage, hat seine sehr grossen Schwierigkeiten, und es mögen viele Decennien vergehen, ehe wir hier durchschlagende Erfolge für die Theorie der Organismenlehre erzielen. Allein schwer oder nicht : philosophirt ist jetzt genug geworden, die Detailforschung muss wieder in ihr Recht treten und muss neue Wege einschlagen , da die alten nicht zum Ziele führen. Der neue Weg ist meiner festen Ueberzeugung nach der physiologische, und wenn auch die zwischen Physiologie und Zoo- logie von mir hier geschlagene Brücke auch so luftig" ist , wie die Geruchstoffe selbst, so ist sie doch wohl kein Luftschloss. Stuttgart, 11. Juni 1876. B " 12 Sinne des Thieres wirkenden Stoffen gegenüber verhält sich das Thier in zweierlei Weise ; es weist sie zurück , wenn sie ihm inadaequat sind, es nimmt sie auf, wenn sie ihm adaequat sind ; letztere nennen wir angenehm, erstere unangenehm. Ob ein Geschmackoder Geruchstoff angenehm ist , hängt nun von zwei Umständen ab: 1 ) von seiner eigenen chemischen Natur, 2) von der chemischen Natur des Sinnesträgers. Ich behaupte nun, die für die Adaequatheit in Betracht kommende chemische Natur des Sinnesträgers hängt von dessen eigenen saporigenen und odorigenen Bestandtheilen ab , oder mit andern Worten : diese sind die Träger des Nahrungsinstinctes. 2 ) Die zweite Seite liegt in ihrer Bedeutung für die Beziehung der Geschlechter. Es kann zwar nicht in Abrede gezogen werden , dass bei den Sympathiebeziehungen zwischen den verschiedenen Geschlechtern innerhalb einer Art oder Klasse , und bei den Antipathiebeziehungen zwischen den Geschlechtern verschiedener Arten auch die physikalischen Sinne in Betracht kommen; allein die biologische Beobachtung lässt darüber keinen Zweifel, dass bei ganzen Thiergruppen , z. B. bei den Säugethieren , den Nachtschmetterlingen , den Nachtkäfern etc. die Geruchstoffe eine ganz allein ausschlaggebende Rolle spielen, und auch bei den Gesichts- und Gehörthieren kommt , wie die Verwitterung bei den Vögeln zeigt, doch auch der Ausdünstungsgeruch als gewichtiger Factor hinzu. Wir können uns wohl so ausdrücken : Die Träger des Fortpflanzungsinstinctes sind in hervorragender Weise die odorigenen und saporigenen specifischen Protoplasmabestandtheile. Hierdurch ist natürlich ein neuer doppelter Einfluss der Geschmack- und Geruchstoffe auf die Vererbung gegeben. Als Regulatoren für die Nahrungsauswahl erhalten sie während der Ontogenese die specifische Protoplasma- Zusammensetzung aufrecht, so dass eine Generation der andern gleicht ; als Regulatoren des Fortpflanzungsinstinctes sorgen sie dafür , dass das Keimprotoplasma stets die gleiche Mischung aus Eiprotoplasma und Samenprotoplasma ist, sie sind also nicht blos die Träger der Vererbung überhaupt, sondern auch die der Constanz der Vererbung. Ich habe in meiner Schrift 99 In Sachen Darwin's" S. 15 von constanten und variirenden Thierformen gesprochen, und wenn ich jetzt meine praktischen Erfahrungen als Thiergartendirector mir vergegenwärtige , so komme ich zu dem Schluss : die constanten Formen sind die, welche am strengsten monophag sind, bei denen also die chemische Adaequatheit zwischen Thier und Nahrung den höchsten Grad erreicht hat. 13 Dem entsprechend stelle ich auch eine neue Transmutationslehre auf, die ich die chemische nennen und so präcisiren will : Eine phylogenetische Abänderung ist nur zu erzielen , wenn es gelingt , eine saporigene , odorigene ( oder chromogene) Metamorphose des Keimprotoplasma zu bewerkstelligen. Hiergegen verhält sich aber das Keimprotoplasma äusserst obstinat , und zwar aus Gründen, welche zum Theil im Schlussheft meiner „Zoologischen Briefe" entwickelt sind. Die hohe Bedeutung , welche ich im Obigen den Geschmackund Geruchstoffen für die continuirlichen Verrichtungen des Protoplasma zuschreibe , zeigt sich auch in ihrem Einfluss auf die rhythmischen Functionen desselben : sie sind alle Protoplas- mareize. Als solche functioniren sie nicht blos bei der Wahl der Nahrung und bei der Zuchtwahl, sondern auch bei der Verdauung der Nahrung , ein Umstand , dem man von Seite der Physiologie erst neuerdings die gebührende Aufmerksamkeit schenkt, und zum Schluss erinnere ich noch an die dominirende Rolle, welche die Geschmack- und Geruchstoffe in der Medicin spielen . Ich möchte sagen: was nicht schmeckt oder riecht , wirkt auch auf das Protoplasma nicht , kann also weder ein Nahrungsmittel , noch ein Arzneimittel sein. Das sind die Erwägungen , welche ich meinen Fachgenossen vorlegen wollte. Ich weiss zwar wohl, dieser neue Weg empirischer Forschung , den ich vorschlage, hat seine sehr grossen Schwierigkeiten , und es mögen viele Decennien vergehen, ehe wir hier durchschlagende Erfolge für die Theorie der Organismenlehre erzielen. Allein schwer oder nicht : philosophirt ist jetzt genug geworden, die Detailforschung muss wieder in ihr Recht treten und muss neue Wege einschlagen , da die alten nicht zum Ziele führen. Der neue Weg ist meiner festen Ueberzeugung nach der physiologische, und wenn auch die zwischen Physiologie und Zoologie von mir hier geschlagene Brücke auch so luftig" ist , wie die Geruchstoffe selbst, so ist sie doch wohl kein Luftschloss. Stuttgart, 11. Juni 1876. 2. Physiologische Briefe über Vererbung. (Wieder abgedruckt aus Kosmos , Zeitschrift f. einheitl . Weltansch. Bd. I , 1877 , S. 17 und 306.) Erster Brief. In der Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie" Bd. XXVII. habe ich unter dem Titel „ Ueber die Bedeutung der Geschmack- und Geruchstoffe" eine Erörterung der chemischen Seite der Vererbungsfrage gegeben, nachdem ich schon vorher in meinen „ Zoologischen Briefen " der physikalischen Seite einige Betrachtungen gewidmet habe. Ich will es im Folgenden versuchen, dieser Frage einige neue Anhaltspunkte abzugewinnen und das dort Gesagte zu ergänzen. Meine früheren Auseinandersetzungen gingen dahin : Das Fundament der Vererbung besteht darin, dass durch grosse Reihen von Generationen hindurch das Keimprotoplasma eines Thieres eine sich stets gleichbleibende specifische Beschaffenheit allen Anfechtungen von aussen zum Trotz bewahre. Ich sagte : Bei der jedesmaligen Ontogenese scheide sich das verfügbare Keimprotoplasma in zwei Gruppen, die ontogenetische, aus welcher das jeweilige Individuum aufgebaut wird , und die phylogenetische , welche reservirt werde, um zur Zeit der Geschlechtsreife die Fortpflanzungsstoffe zu bilden. Diese Reservirung des phylogenetischen Materials bezeichnete ich als Continuität des Keimprotoplasma. Ich fand den Grund seiner Beharrung in unverändertem Zustand , während das ontogenetische Material der Gewebsdifferenzirung unterworfen wird und seine embryonalen Eigenschaften verliert , darin , dass das phylogenetische Material von dem ontogenetischen eingekapselt und so vor der Einwirkung der in den umgebenden Medien vorhandenen Differenzirungs-Ursachen geschützt werde. Auf Grund 15 dieses Schutzes bewahre das Keimprotoplasma 1 ) seine embryonale Beschaffenheit, 2) seine Specifität. Im Folgenden möchte ich mich nun mit den Vererbungserscheinungen an dem ontogenetischen Protoplasma-Material befassen und untersuchen , worin seine Specifität in chemischer Richtung besteht, und wieso es kommt, dass auch das ontogenetische Protoplasma bei den Wachsthums- und Anpassungsvorgängen während der Ontogenese seine Specifität trotz fortwährender Berührung mit andern specifischen Protoplasmastoffen und -Producten hartnäckig bewahrt. Bei dieser Untersuchung werden wir dann auch einen interessanten Einblick in die Thatsache gewinnen, dass die verschiedenen Organismen in stets sich gleichbleibenden , auf vererbten Qualitäten ihres Protoplasma beruhenden biologischen Beziehungen zu einander stehen , und dass die Träger dieser Beziehungen gerade die specifischen Protoplasmabestandtheile, speciell die von mir als solche bezeichneten Geschmackund Geruchstoffe sind. Der Auseinandersetzung sende ich die Bemerkung voraus, dass ich bei einem Thiere stets zweierlei Functionen bezw. Qualitäten unterscheide : 1 ) die elementaren , d. h. die , welche jedem Protoplasmastück oder , kurz , jeder einzelnen Zelle zukommen; 2) die sociologischen , die bei den Multicellulaten damit gegeben sind , dass ihr Leib ein nach dem Princip der Arbeitstheilung organisirter Staat aus different gewordenen Protoplasmastücken ist. Allerdings werde ich sehr häufig genöthigt sein , aus den sociologischen Eigenschaften auf elementare zu schliessen, und damit ist die Gefahr zu Fehlschlüssen stets vorhanden. Ich lege deshalb auch meinen Erörterungen nur den Werth einer anregenden Orientirung bei. Der interessanteste Vorgang bei der ontogenetischen Seite der Vererbung ist die Thatsache, welche die Physiologie kurzweg als Assimilation bezeichnet, ohne bis jetzt diesen merkwürdigen Vorgang näher analysirt und noch weniger seine Bedeutung für die Vererbungsfrage genügend gewürdigt zu haben. Eine Hauptfrage ist ja doch: Wie kommt es , dass das Fleisch des fischfressenden Vogels sich nicht in Fischfleisch, das des wurmfressenden Fisches nicht in Wurmfleisch, das des diatomeenfressenden Protisten sich nicht in Diatomeen- Protoplasma verwandelt ? Die erste Frage ist dabei : An welchem chemischen Bestandtheil der Nahrung ist die Assimilationsarbeit zu vollziehen ? Die Antwort ist natürlich zunächst die : An dem specifischen Bestandtheile der Nahrung. Wir haben lediglich keine Andeutung dafür , dass die in der Nahrung enthaltenen Salze und Kohle- 16 hydrate Gegenstand der betreffenden Assimilation sind, und auch für die Fette ist die Veränderung geringfügig. Ich habe in meiner Eingangs erwähnten Abhandlung die Frage offen gelassen , welche der bekannten Protoplasma- Bestandtheile die Träger bezw. Erzeuger der specifischen Geschmack- und Geruchstoffe seien. Jetzt, nach näherer Ueberlegung, stehe ich keinen Augenblick an, zu behaupten, dass es die Albuminate entweder ganz allein oder höchstens neben ihnen noch die LecithinVerbindungen sind. In den Lehrbüchern der Zoochemie wird angegeben, dass die Albuminate geschmack- und geruchlos sind, dass sie aber bei Zersetzung durch Säuren oder Alkalien die specifischen Fäcalgerüche ihrer Träger entwickeln. Diese Thatsache muss nun einerseits für uns der Ausgangspunkt weiterer Untersuchungen sein, und ich bin sehr erfreut darüber, dass mein College Dr. O. SCHMIDT, Professor der Chemie an der Thierarzneischule in Stuttgart , mir zugesagt hat , einschlägige Versuche in Verbindung mit mir zu machen, da die vorliegenden Angaben uns durchaus noch keine sichere Basis geben. Andererseits muss aber, gerade um solchen Versuchen ihr Ziel zu stecken und die Wahrheit derselben in's Licht zu setzen, ein Raisonnement an diese Thatsache angeknüpft, d. h. eine Hypothese aufgestellt werden, deren Erhärtung oder Verwerfung oder Richtigstellung das Ziel der empirischen Forschung sein soll. Diese Hypothese formulire ich so : Die Albuminate , welche wir in den verschiedenen Thieren antreffen , sind nicht völlig einander gleich, sondern bestehen aus einem , wahrscheinlich bei allen Albuminaten gleichen Kern , mit welchem Atomgruppen verbunden sind , die bei ihrer Loslösung aus dem Eiweissmolekül als die specifischen Geschmack- und Geruchstoffe entweichen und dann durch andere, zwar ähnliche, aber doch verschiedene Atomgruppen ersetzt werden können. Der Process der Assimilation bestünde somit darin : 1 ) Dass bei der Verdauung die Albuminate ihrer Specifität entkleidet werden, indem sich ihr Molekül in zwei Atomgruppen hydrolytisch spaltet ; die eine bei allen Albuminaten gleiche (?) Atomgruppe wäre das Eiweisspepton , die andere Atomgruppe wären die specifischen Geruch- und Geschmackstoffe. 2) Während die letzteren ausgestossen werden und unter den Fäcalstoffen sich , wenn auch vielleicht in etwas veränderter Form , als Fäcalgeruch (und -Geschmack) finden müssen, tritt das Pepton in das lebendige Protoplasma ein, trifft dort auf die specifischen Geschmack- und Geruchstoffe des Nahrungsnehmers, die bei den Krafterzeugungs-Vorgängen 17 durch die begleitende Eiweisszersetzung frei wurden, und tritt mit ihnen unter Wasserabgabe zusammen, um wieder Eiweiss zu bilden, aber das specifische des Nahrungsnehmers. Der Physiologe HERMANN nennt die Albuminate die Anhydrite des Peptons und hat somit die Anschauung , als handle es sich bei der Verdauung und Assimilation nur um Ein- oder Austritt von Wassermolekülen , während meine Anschauung dahin geht , dass es sich ausser dem Eintritt und Austritt von solchen auch noch um die der specifischen Geschmack- und Geruchstoffe , d. h. flüchtiger Fettsäuren oder deren Aether und sonstiger Abkömmlinge handelt. Die Aufgabe des experimentellen Chemikers ist nun, zu prüfen, ob bei der Peptonbildung aus einem möglichst rein dargestellten Albuminat der specifische Geruch des Thieres , von welchem das Albuminat stammt , oder wenigstens ein verwandter specifischer Geruch auftritt, und ob die Peptone, welche man aus den Albuminaten verschiedener Thiere bereitet, wirklich gleich sind, oder ob in ihnen doch noch eine specifische Atomgruppe steckt. Die Lösung dieser Aufgabe ist jedenfalls sehr schwierig. Ist diese Ansicht von Verdauung und Assimilation richtig, so besteht die Zähigkeit der Vererbung bei der Ontogenese darin, 1 ) dass alles fremdartige Albuminat nicht als solches in das Protoplasma des Nahrungsnehmers aufgenommen , sondern zuvor entspecificirt und dann assimilirt wird ; 2 ) darin , dass das eigene Albuminat des Nahrungsnehmers bei den Umwandlungen, die mit ihm während der Ontogenese zweifellos stattfinden (bei der Bildung von Globulin, Fibrin, Caseïn, Haemoglobin, Nucleïn etc. ) , seine Specifität bewahrt, d. h. dass hierbei seine specifischen Atomgruppen nicht abgeschieden werden, sondern dass die einschlägigen Aus- und Eintritte anderer Atomgruppen an anderen Punkten der Molekularstructur stattfinden. Damit erweitert sich unsere Vorstellung von dem Bau des Eiweissmoleküls dahin , dass dasselbe jedenfalls zweierlei Punkte besitzt : 1) Punkte, an welchen die specifischen Atomgruppen angefügt sind, d. h. diejenigen, welche bei der Verdauung abgeschieden, bei der Assimilation durch andere Verwandte ersetzt und bei allen denjenigen Veränderungen, welche das Protoplasma erleidet, ohne abzusterben, nicht tangirt, sondern festgehalten werden, worauf die Zähigkeit der Vererbung beruht. Ich möchte diese Punkte des Kerns des Eiweissmoleküls die Assimilations- und Vererbungspunkte nennen. 2) Punkte , an welchen bei der Syntoninbildung das SäureJaeger, Entdeckung der Seele. 2 18 radical, bei der Caseïnbildung das Kali, bei der Haemoglobinbildung das Haematin, bei der Nucleïnbildung das Lecithin dem Peptonkern sich anfügen. Da diese chemischen Vorgänge die ontogenetische (elementare) Anpassung begleiten, so nenne ich diese Punkte die Anpassungspunkte. Vergleicht man diese beiderlei Punkte des Molekularbaues, so findet man als charakteristisch Folgendes : Die ersteren halten ihre Atomgruppen mit viel grösserer Festigkeit zurück als die letzteren, und Veränderungen an den Anpassungspunkten rauben , trotz der Verschiedenheit der an ihnen aus- und eintretenden Atomgruppen, dem Molekül seinen Charakter als Albuminat , und namentlich seine Fähigkeit, eine lebendige Membran zu bilden, nicht. Dagegen sind Veränderungen an den Vererbungspunkten mit einschneidenden Folgen verbunden , indem mit Ablösung der betreffenden Atomgruppen das Eiweissmolekül seine Fähigkeit, eine lebendige Membran zu bilden, verliert und sein Atomgewicht bedeutend reducirt wird , kurz, der Charakter des Albuminats verloren geht und erst wieder hergestellt wird, wenn eine verwandte Atomgruppe eintritt. Damit haben wir eine ganz bestimmte, an die Anschauungen der theoretischen Chemie möglichst eng sich anschliessende Vorstellung von den merkwürdigen, wie es scheint sich widersprechenden Eigenschaften des Albuminats, nämlich der Vererbungsfähigkeit und der Anpassungsfähigkeit , d. h. dass es gewisse Qualitäten mit ausserordentlicher Zähigkeit festhält, andere Qualitäten leicht ändert. Verknüpfen wir mit dem Gesagten noch eine Vorstellung über das , was bei der von der Descendenztheorie geforderten Transmutation an dem Eiweissmolekül vor sich gehen muss. Wenn die Grundanschauung , von der ich ausgehe , richtig ist , dass die Specifität des Eiweissmoleküls in dem Besitz der eigenartigen, bei ihrer Befreiung schmeckenden und riechenden Atomgruppen liegt, die an den Assimilations- und Vererbungspunkten des Molekülkerns hängen, so handelt es sich bei der Transmutation um einen ähnlichen Vorgang wie bei der Assimilation, d. h. um einen Wechsel der an den Assimilations- und Vererbungspunkten hängenden specifischen Atomgruppen. Wenn wir deshalb die Transmutation nach DARWIN'S Vorschlag Anpassung nennen , so müssen wir, wie das auch schon andere gethan haben, ganz genau zwischen der ontogenetischen Anpassung und der phylogenetischen Anpassung, wie man dann die Transmutation zu nennen hätte, unterscheiden. Auf der anderen Seite ist aber klar , dass für das Verständniss der die wissenschaftlichen Zoologen so tief interessirenden Vererbungs- und Transmutations-Erscheinungen ein möglichst genaues 19 Studium der Molekularvorgänge bei der Verdauung und der Assimilation grundlegend sein muss, und deshalb erlaube ich mir, den Vorgang noch nach einer anderen Seite hin zu besprechen. Oben sagte ich, die Zähigkeit des ontogenetischen Theils der Vererbung beruhe darauf, dass bei der Ernährung das fremde Albuminat nicht als solches in das Protoplasma des Nahrungnehmers eintreten , sich also nicht mit ihm mischen könne, dass es vorher entspecificirt d. h. peptonisirt werde und erst dann eintreten könne. Es erheben sich nun zwei Fragen: 1 ) Warum kann es nicht als solches eintreten ; 2) wodurch wird es peptonisirt? Die erste Frage ist durch TRAUBE'S glänzende und capitale Versuche über künstliche Zellbildung beantwortet und dadurch zugleich die höchst merkwürdige , dominirende Stellung erklärt worden, welche die Albuminate unter allen organischen Verbindungen einnehmen, und die wir uns etwas näher besehen müssen, weil sie für das Verständniss aller Lebenserscheinungen , mithin auch für das der Vererbung von grösster Wichtigkeit sind. TRAUBE hat uns gelehrt, dass ein membranbildender Stoff auch dann, wenn er in Lösung sich befindet, durch seine eigene Membran nicht diffundiren kann, was er so deutet: Wenn ein Stoff eine Membran formirt , so lagern sich seine Moleküle so , dass die zwischen ihnen bleibenden Lücken kleiner sind als die Moleküle selbst, was auch augenscheinlich eine physikalische Nothwendigkeit ist. Die eigenthümliche beherrschende Stellung , welche die Albuminate unter allen übrigen membranbildenden Verbindungen einnehmen , beruht zunächst darauf, dass sie das grösste Molekül besitzen. Kraft dieser Eigenschaft können Eiweissmembranen allen übrigen chemischen Verbindungen, sofern diese überhaupt in dem umspülenden Medium löslich sind und das Eiweissmolekül nicht gänzlich zerstören, den endosmotischen Eintritt gestatten, nur sich selbst nicht. Die eine Seite der Lebenserscheinungen , die von den Albuminaten ausgehen, ist mithin zu verstehen als die Herrschaft des grössten Moleküls über alle kleineren , und die physikalische Unmöglichkeit der Autophagie eines Mem- branbildners. Eine zweite Seite ist , dass nur die Albuminate im Stande sind, eine lebendige Membran zu bilden, d . h. eine Membran, die nach dem Princip einer voltaischen Säule, d. h. aus zwei in elektromotorischem Spannungsverhältniss stehenden, zu elektrisch- dipolaren und -peripolaren Molekülen sich gruppirenden Bestandtheilen aufgebaut ist, wodurch sie in den Besitz einer auslösenden Kraft 2* 20 gelangt, mit der sie allen in sie eintretenden Stoffen , die leicht oxydirbar sind, den Anstoss zur Zersetzung geben kann. Die dritte Seite ist die Fähigkeit der Albuminate zur Aufspeicherung und Ozonisirung des Sauerstoffs. Im Besitze des Ozons , der zur Auslösung nöthigen elektrischen Kraft und des grössten Moleküls , tritt die lebendige Albuminatmembran den niederatomigen oxydablen Kohlenhydraten und Fetten souverain gegenüber; sie lässt sie durch ihre grossen Lücken herein (das Fett allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen) und mordet sie , so dass sie ihm nichts anhaben können. Dazu kommt nun noch , dass die lebendige Eiweissmembran hydrolytische Fermente absondert , die auf die unlöslichen Kohlenhydrate per Distanz wirken und sie in diffusible Verbindungen umwandeln. Dadurch sind die Albuminate vor Veränderungen , die von diesen Stoffen, mit denen sie fortwährend in Berührung kommen, ausgehen könnten, in hohem Grade sicher gestellt. Wenden wir uns jetzt noch einmal zu dem Process der Eiweissverdauung, um ihn von einer andern Seite zu betrachten, bei der sich die merkwürdige Rolle der Geschmack- und Geruchstoffe als Träger des Nahrungsinstinctes , als auf elementaren Verhältnissen beruhend , ergeben wird. Ich muss aber hier eine Bemerkung voraussenden. Unser Einblick in die Beziehungen zweier specifisch verschiedenen Albuminate bei den Ernährungsvorgängen wird dadurch so sehr getrübt und erschwert, dass wir diese Vorgänge immer nur bei den höchsten , einen äusserst complicirten Zellstaat bildenden Organismen studiren. Wir haben uns deshalb daran gewöhnt, bei dem Wort „ Verdauung" an die ganze Maschinerie von Darmdrüsen, Verdauungssäften, mechanischer Verdauungsarbeit etc. zu denken, und vergessen ganz , dass ein Protist, der nichts anderes ist als eine lebendige Eiweissmembran, ebensogut eine andere , ebenfalls lebendige Eiweissmembran d. h. eine Diatomee oder ein Geissel- oder Flimmer- Infusorium frisst und verdaut, dass also die Verdauungsfähigkeit eine elementare Eigenschaft des Protoplasma d. h. wahrscheinlich jeder lebendigen Eiweissmembran ist. Wir finden es völlig begreiflich und eigentlich gar nicht des Besprechens werth, dass die Katze die Maus frisst und verdaut, und belächeln die Frage, warum frisst nicht umgekehrt die Maus die Katze ? Es ist zu augenscheinlich , dass der Protoplasmastaat, den wir „ Katze" nennen, dem Protoplasmastaat ,, Maus" so sehr überlegen ist wie ein Grossstaat einem Kleinstaat ; allein neben diesem sociologischen Missverhältniss ist denn doch noch zu untersuchen, ob die Katze über die Maus auch noch eine elementare 21 d. h. in der specifischen Qualität ihres Protoplasma liegende Ueberlegenheit besitzt. Diese Frage wird uns nicht nur durch das Verhältniss nahe gelegt , in welchem die Protisten und Unicellulaten zu einander stehen, sondern auch durch die biologischen Beziehungen und durch die Rolle , welche hierbei gerade die specifischen Stoffe d. h. die schmeckenden und riechenden spielen. Wir wissen, dass ein Thier für's erste nur solche Gegenstände frisst , die riechen und schmecken (die Ausnahme, dass die körnerfressenden Vögel auch Quarzkörner verschlucken, stösst diese Regel nicht um), und für's zweite nur solche Gegenstände , welche einen bestimmten d. h. specifischen Geschmack und Geruch besitzen, der wiederum eine ganz bestimmte Qualität, nämlich die des Angenehmen haben muss; eine Qualität , welche nichts dem schmeckenden und riechenden Stoff absolut Zukommendes , sondern nur der Ausdruck für ein Gegenseitigkeits - Verhältniss ist. Die Kehrseite zu der Thatsache, dass ein Thier nur frisst, was gut schmeckt und gut riecht, ist die bisher fast gar nicht erörterte, aber ebenso feststehende Thatsache, dass die Geschmack- und Geruchstoffe, die ein Raubthier producirt , auf sein Beutethier den gerade entgegengesetzten Eindruck machen: sie wirken auf dasselbe unangenehm , abstossend , ekelerregend. Wenn die Biologen sagen : Das Thier flieht seinen Feind instinctmässig , so sage ich bestimmter : es flieht ihn , weil er stinkt". Daraus ergibt sich nun, dass die specifischen Geschmack- und Geruchstoffe in ganz bestimmte Beziehungen treten, wenn zwei verschiedene auf einander treffen : Die einen wirken als Ekelstoff, die andern entgegengesetzt als Lüsternheitsstoff. Damit ist jedoch nur die eine Beziehungsart zwischen den specifischen Stoffen gekennzeichnet, die zweite Beziehungsart ist die der Indifferenz d. h. die Stoffe wirken gar nicht aufeinander : Indifferenzstoffe. Suchen wir diese Beziehungsart in die chemische Sprache zu übersetzen, so können wir etwa sagen: Wenn zwei verschiedene Albuminate auf einander treffen, so hängt das Ergebniss (abgesehen von der Lebensfrage) davon ab, wie sich die specifischen Atomgruppen zu einander verhalten ; sind sie gleich, so wirken sie gar nicht auf einander (chemischer Horror gegen Autophagie, Freundschaftsverhältniss) ; sind sie verschieden , so ist die mächtigere Atomgruppe der Ekelstoff, die schwächere der Lüsternheitsstoff; die erstere verdrängt zunächst die letztere (Verdauung und Peptonbildung) und setzt sich an seine Stelle ( Assimilation), 22 ähnlich , aber nicht so direct wie eine schwächere Säure durch eine stärkere verdrängt wird. Dabei muss aber bemerkt werden , dass es durchaus nicht gleichgiltig ist , ob die beiden in Kampf tretenden Albuminate todt oder lebendig sind. Greifen wir aus dieser Casuistik einige Verhältnisse heraus : 1 ) Beide Albuminate sind todt. In diesem Fall wird nichts geschehen, was uns für unsere Frage interessirt. 2 ) Das eine ist todt, das andere lebendig. Hier sind wieder zwei Fälle zu unterscheiden: a) Ist der Träger des Lüsternheitsstoffes todt , der Ekelstoffträger lebendig , so wird der erstere natürlich ohne weiteres verdaut und resorbirt ; b) ist der Ekelstoffträger todt und der Lüsternheitsstoffträger lebendig , so kann dreierlei eintreten : der erstere kann , wenn der Ekelstoff, der ja auch schon jetzt frei im Albuminat liegt und auch bei der Peptonbildung abgeschieden wird ; den Lüsternheitsstoffträger noch im Tode überwältigen, in diesem Falle nennen wir den Ekelstoff ein Gift. Die zweite Möglichkeit ist , dass der Lüsternheitsstoff nicht kräftig genug ist, um den Ekelstoff auch im todten Zustande auszutreiben, dann läge das Verhältniss der Unverdaulichkeit vor. Der dritte Fall ist , dass die Verdauung doch gelingt , weil bei dem Lüsternheitsstoffträger der Factor des Lebendigseins gegenüber dem todten Ekelstoffträger zur Geltung kommt und zwar durch elektrolytische Austreibung und Zerstörung des Ekelstoffes. 3) Sind beide Albuminate lebendig , so handelt es sich um einen Albuminatkampf, der mit zweierlei Waffen, nämlich mit chemischen und physikalischen geführt wird. Es wird nicht blos Ekelstoff gegen Lüsternheitsstoff in's Feld geführt , sondern auch elektrolytische Kraft gegen elektrolytische Kraft, und mechanische Kraft ( Contractilität) gegen mechanische Kraft. Das Resultat ist wie bei jedem Kampf, dass der schwächere Theil unterliegt, und in diesem Falle wird er auch noch gefressen. Also hier entscheidet die chemische Differenz nicht immer unbedingt direct, sondern auch indirect dadurch, dass sie die Grundlage physikalischer Differenzen ist. Wenn z. B. das hochamöboide Protoplasma eines Protisten eine Diatomee oder ein Infusorium umfliesst und einkapselt, so nützt letzterem auch eine allenfallsige chemische Ueberlegenheit schliesslich nichts , weil es durch Erstickung getödtet wird und jetzt eine seiner Waffen d. h. seine physikalische, verloren hat. Hier soll eine , wie mir scheint , unter obigen Gesichtspunkt fallende Beobachtung angeführt werden. Die Ophthalmologen haben wiederholt die Bindehaut eines 23 lebenden Kaninchens auf das Auge eines lebenden Menschen transplantirt. Sie wächst an, bleibt lebendig und wird zum Schluss doch regelmässig verzehrt. Es wäre nun von höchstem Interesse für die Theorie der allgemeinen Zoologie, zu wissen, wie die Sache zu erklären ist , und zu diesem Zwecke comparative Transplantationsversuche , namentlich zwischen Raubthieren und ihren Beutethieren über's Kreuz zu machen, um zu sehen, ob es sich hier um den Fall einer elementaren Ueberlegenheit des einen Albuminats über das andere , also um den Fall , den ich oben unter Nr. 3 besprochen habe, handelt. Jedenfalls begründet das Gegenstück zu obigem Transplantationsergebniss , die erfolgreiche und dauerhafte Transplantation, wenn man den auf- oder einzuheilenden Theil dem gleichen Thiere oder wenigstens der gleichen Thierart entnimmt , den Verdacht, dass nicht etwa eine mit der Operation nothwendig verbundene Schädigung der Lebensenergie die Resorption der aufgepflanzten Kaninchenbindehaut verschuldet, sondern wahrscheinlich die angeborene chemische Differenz zwischen Menscheneiweiss und Kanincheneiweiss. Sollte diese meine Auffassung sich bestätigen, was ja durch Experimente geschehen kann , so wäre das ein nicht zu unterschätzender Fortschritt zu Gunsten einer mechanischen Anschauung der Lebenserscheinungen und zunächst ein Verständniss der Vererbung. Denn wir hätten jetzt eine völlige Erklärung des Nahrungsinstinctes , also eine der merkwürdigsten der ererbten Eigenschaften. Das unendlich complicirte biologische Getriebe, das von den specifischen Nahrungsinstincten ausgeht, würde sich in das merkwürdig einfache und dem chemischen Verständniss sehr nahe gerückte Gesetz auflösen , dass das stärkere Albuminat stets Jagd auf das schwächere macht, letzteres das erste stets flieht und dass gleichstarke Albuminate sich in different gegen einander ver- halten. Wir müssen nun aber die vorgelegte Anschauung in einem Punkte noch etwas näher präcisiren. Die Physiologie lehrt uns, dass zur Eiweissverdauung ein bestimmtes Ferment, das Pepsin gehört, dass dieses von gewissen Drüsen des Darmschlauches abgesondert wird und dass dieses durchaus nicht identisch mit den specifischen Geschmack- und Geruchstoffen ist. Dadurch erweitert sich unsere Vorstellung von dem Eiweissmolekül dahin, dass es ausser seinem Peptonkern und den riechenden und schmeckenden Atomgruppen noch eine dritte Atomgruppe besitzt, die bei ihrer Loslösung aus dem Molekül als eiweisszerlegendes Ferment (Pepsin) wirkt. 24 Ist nun meine Lehre von der Specifität der Albuminate und dem elementaren Albuminatkampfe richtig, so muss die Fähigkeit der Pepsinbildung eine elementare Eigenschaft aller Protoplasma - Arten sein und nicht eine specifische gewisser Drüsenprotoplasmen. In der That hat man auch bereits in den Muskeln Pepsin nachweisen können, und die Angabe der Physiologie, dass alle Albuminate die Rolle von Fermenten spielen können, wäre dahin zu erweitern, dass jedes Albuminat pepsigen ist . Jetzt würde sich der oben besprochene Kampf zweier ungleich starken Albuminate so ausnehmen: Das schwache Albuminat erregt durch die bei seiner Zersetzung freiwerdenden Lüsternheitsstoffe das stärkere zu vermehrter physiologischer Thätigkeit (Beschleunigungsreiz) . Die Folge dieser Thätigkeit im stärkeren Protoplasma ist eine Zersetzung eines Bruchtheils seiner Eiweissmoleküle (Albuminatabnutzung). Hierbei spaltet sich das Albuminat in dreierlei Atomgruppen, die Ekelstoffe , das pepsinartige Ferment und einen Kern (Peptonkern) , der durch weitere Zersetzung die bekannten Amidosäuren, Amide und verwandte Stoffe der rückschreitenden Metamorphose liefert, die den Körper verlassen. Der Ekelstoff wirkt zuerst als Lähmungsreiz auf das schwächere Protoplasma, und erst , wenn das geschehen ist , thut das Pepsin seine Schuldigkeit als eiweisszersetzendes Ferment und verwandelt das schwächere Albuminat in Pepton , wobei es entspecialisirt wird. Bei der Assimilation bemächtigt sich dann der freigewordene Ekelstoff direct oder auf Umwegen des gebildeten Peptons. Hier ist nun die Thatsache beizufügen , dass niemals alles Pepton zur Assimilation gelangt , denn die Zunahme eines wachsenden Thieres an Albuminatgewicht bleibt stets weit hinter der Masse des in der Nahrung aufgenommenen Albuminates zurück. Es ergibt sich die Nothwendigkeit dieser Thatsache auch einfach aus Folgendem: Wenn meine Anschauung richtig ist , dass die Assimilation gleichbedeutend ist mit einer Synthese von Pepton und den Ekelstoffen , so können letztere nur so viel Pepton sättigen , als sie gesättigt hatten, so lange sie im Eiweissmolekül des Nahrungsnehmers sich befanden. Sonach könnte die Menge des durch Assimilation gewonnenen Eiweisses nie mehr betragen, als die zur Verdauungsarbeit nöthige Albuminatabnutzung des stärkeren Albuminates betrug ; ja nicht einmal so viel , weil bei der flüchtigen und diffusibeln Natur der Ekelstoffe jedenfalls stets ein Theil verloren geht. Dem steht die Thatsache gegenüber , dass das Ergebniss der 25 Assimilation wenigstens in der Wachsthumsperiode eine Massezunahme ist. Hieraus erhellt , dass es ausser der Freimachung der Ekelstoffe bei der Albuminatzersetzung noch eine Quelle für ihre Neubildung geben muss. So wie die Sache liegt, können wir nur vermuthen, dass diese Quelle die Lüsternheitsstoffe des schwächeren Albuminats sind, die bei der Peptonbildung freigemacht wurden. Somit würde dann in letzter Instanz es sich auch noch um eine der Eiweissassimilation vorausgehende Assimilation der specifischen Schmeck- und Riechstoffe handeln , ein Vorgang , der jedenfalls chemisch nicht undenkbar ist , allein bei unserer Unkenntniss von der Natur der specifischen Geschmack- und Geruchstoffe uns vorläufig ein Räthsel bleibt. Es erübrigt jetzt noch die nähere Präcisirung eines zweiten Ausspruchs, den ich über die specifischen Geschmack- und Geruchstoffe gethan habe , dass sie nämlich auch die Träger des Fortpflanzungsinstinctes seien. Ich will jedoch diese Erörterung für einen folgenden Brief aufsparen. Zweiter Brief. Haben wir uns im ersten Briefe die Bedeutung der specifischen Stoffe für den Nahrungstrieb und den Assimilationsvorgang in das nöthige Licht zu stellen gesucht , so soll im heutigen Briefe dasselbe für das Fortpflanzungswesen geschehen. Ich knüpfe hierbei an die interessante Mittheilung von Dr. FRITZ MÜLLER über Schmetterlingsdüfte an , über die im dritten Hefte des Kosmos ( Bd. I. S. 260) Bericht erstattet wurde. Stellt man sich im Mai in einem lichten Buchenwalde zur Seite eines Stammes auf, an welchem man ein Weibchen des Buchenspinners entdeckt hat , so wird man bald beim Ausspähen dieses oder jenes Männchen da oder dort in gaukelnd revierendem Fluge dahin eilen sehen. Nähert es sich auf seinem Wege nicht zufällig auf geringere Distanz als 20-30 Schritt dem Stamme, so zieht es vorüber. Hat es dagegen sein Flug näher herangebracht und wenn es unter den Wind kommt, so genügt auch eine Distanz von über 40 Schritten , so ändert es plötzlich seine Flugrichtung und stürzt schnurgerade auf den Stamm los, umkreist ihn suchend und gaukelnd ein und das andere Mal, bis es das Weibchen entdeckt hat, um sich dann bei ihm niederzulassen. Dass das Männchen nicht durch den Gesichtsinn auf die angegebene -- 26 Entfernung von der Anwesenheit des Weibchens Kunde erhält, wird durch die Fälle bewiesen, in welchen das Weibchen auf der entgegengesetzten Seite des Stammes sitzt. Es kann also auf der einen Seite nur der Geruchsinn , auf der andern nur der Besitz eines specifischen, auf so weiten Abstand wirkenden Ausdünstungsduftes die Vereinigung herbeiführen. Auch noch in anderer Weise erhält der Schmetterlings-Sammler Beweise hierfür. Hat man ein frischgefangenes Weibchen eines Schmetterlings in eine Umhängschachtel gesteckt, so kann es einem begegnen , dass sich ein Männchen der gleichen Art zudringlich auf die geschlossene Schachtel setzt : es hat das Weibchen durch den Deckel hindurch gewittert. Hat man das Weibchen eines Schwärmers gefangen, so kann man, selbst mitten in Städten , entfernt von jeder Vegetation, Männchen, und zwar oft in staunenswerther Zahl , fangen, wenn man das lebende Weibchen Nachts im Zimmer an einem Faden um den Leib aufhängt ; die Männchen stürmen in's Zimmer herein, und zwar nur solche der gleichen Art, und man macht dabei die Erfahrung, dass der Anflug zum Weibchen erst tief in der Nacht, in der Regel erst nach Mitternacht beginnt, die Zeit der Dämme- rung wird nur zum Nektarschmaus auf Blüthen benutzt. Hat man nun auch den grössten Respect vor der Befähigung der Nachtthiere , im Dunkeln zu sehen , so wäre es doch eine starke Zumuthung, zu glauben, dass es etwa dem dahinstürmenden Männchen eines Ligusterschwärmers gelinge, ein vielleicht ebenfalls in raschem Fluge vorbei eilendes Weibchen seiner Art von dem ihm so ähnlichen Windigweibchen in stockfinstrer Nacht zu unterscheiden, oder die Unterscheidungsmöglichkeit zwischen so ähnlich gefärbten Arten anzunehmen , wie es Wolfsmilch- und Labkrautschwärmer, oder die Weinschwärmer sind. Selbst bei Tagschmetterlingen besteht für mich kein Zweifel darüber , dass der Geruchsinn die Zusammenführung der Geschlechter vermittelt, denn bei Betrachtung der einander so äusserst ähnlich gefärbten und gezeichneten Arten der Bläulinge , der Perlmutterfalter , Scheckfalter und Augfalter muss man doch billigerweise zweifeln , dass sich die Arten mittelst des Gesichtsinnes unterscheiden. Hierzu kommt noch folgende Erwägung : das Schmetterlingsmännchen hat ja bezüglich der Farbe und Zeichnung des zu ihm gehörigen Weibchens lediglich keine Erfahrungen. Weder als Raupe, noch als Puppe sieht es dasselbe, und wenn es nach dem Ausschlüpfen das Weibchen erblickt, woher soll es dann wissen, dass dieser oder jener winzige Unterschied in Farbe und Zeichnung das Kennzeichen seines Weibchens ist ? Dies würde Detailkennt- 27 nisse voraussetzen , die nur auf dem Wege langer Erfahrung und comparativer Beobachtung zu gewinnen sind. Im Gegentheil , es ist nur das Werk des chemischen, durch den Geruchsinn vermittelten Instinctes , der chemischen Wahlverwandtschaft der specifischen Duftstoffe. Als letzter Grund ist für mich dabei noch massgebend, dass ich nach dem Bau ihrer Augen die Insecten , ich will zwar nicht sagen für kurzsichtig im Sinne menschlicher Kurzsichtigkeit, jedoch für nicht befähigt halte, aus der Ferne solche Einzelheiten wahrzunehmen , wie es nöthig wäre, um auch nur auf einige Meter Entfernung das eigene Weibchen von anderen ähnlichen zu unterscheiden. Sehen wir uns bei anderen Thiergruppen um, so treten uns überall Thatsachen entgegen, welche den Ausdünstungsduft zum Träger des Paarungsinstinctes stempeln. Unter den Wirbelthieren sind es am unverkennbarsten die Säugethiere, die im eminenten Sinne Riechthiere sind. Bei allen Säugethieren , die ich in der betreffenden Lage im Wiener Thiergarten zu beobachten Gelegenheit hatte , geht der Paarung ausnahmslos ein Beschnüffeln voraus. Hier lässt sich auch noch ein anderer Umstand als Beweis für die Rolle der Riechstoffe bei der Fortpflanzung beibringen. Die Paarung ist bei den meisten Säugethieren an eine ganz bestimmte Zeitperiode , die Brunstzeit , geknüpft. Es zeigt sich nun deutlich, dass in dieser Periode eine Variation des Ausdünstungsgeruches und zwar ohne Zweifel in qualitativer Weise auftritt. Am leichtesten beobachtet man die Sache beim Hund. Der männliche Hund verhält sich gegen die Fährte eines nichtbrünstigen Weibchens ziemlich gleichgiltig , nimmt dagegen die einer brünstigen Hündin sofort auf, und dasselbe gilt von allen Säugethieren. Der Hund belehrt uns darüber, dass auch der Mensch in dieser Beziehung sich wie die Säugethiere verhält. Zunächst muss ich bemerken, dass nicht blos zwischen den beiden Geschlechtern einer und derselben Art Sympathiebeziehungen bestehen, sondern auch zwischen denen verschiedener Arten. Am leichtesten kann dies der Mensch an sich selbst beobachten . Bei wilden Thieren gelingt die Zähmung des Männchens einer Frau leichter, die eines Weibchens dem Manne; meine beiden zahmen Wölfinnen z. B. waren an mich und meine Kinder anhänglich wie Hunde, für Frau und Magd hatten sie nur Knurren und böse Blicke. Eine Hündin attachirt sich viel inniger und leichter einem Manne, als ein Rüde, während es sich bei der Frau umgekehrt verhält. Mancher Hunde- 28 freund würde viel lieber eine Hündin halten , da die Frau aber nicht mit ihr auskommt, muss er sich mit dem Rüden begnügen. Dass die männlichen Stiere von einer Magd sich viel leichter behandeln lassen, als von einem Knechte, ist eine nicht minder bekannte Thatsache. Meine Erfahrungen erstrecken sich über Marder, Füchse, Bären, Antilopen, Hirsche, Katzenarten, Zibethkatzen und Papageien , bei welchen letzteren die kreuzweise Sympathie oft ganz eclatant sich kund gibt. Dass diese Thatsachen auf die dem Gesichtsinne zugänglichen morphologischen Unterschiede der Geschlechter beim Menschen zu beziehen wären, ist undenkbar, das Wirksame kann nur der Ausdünstungsgeruch sein. Dies zeigt sich denn auch am Hund ganz deutlich in dem Umstand, dass die männlichen Hunde in der Menstruationsperiode ihren Herrinnen gegenüber viel liebenswürdiger sind und in demselben Falle auch anderen weiblichen Wesen nachziehen , die sie sonst ganz unbeachtet lassen. Auf der anderen Seite ist dasselbe ein Beweis dafür, dass auch beim menschlichen Weibe während der Brunstzeit (denn als solche ist die Menstruation aufzufassen) der Ausdünstungsgeruch variirt wird. Uebrigens gibt es auch sehr viele Männer, welche diese Variation ebenfalls wahrnehmen. Bezüglich der internen sexuellen Beziehungen beim Menschen lässt sich leicht constatiren , dass trotz des überwältigenden Einflusses rein geistiger Factoren der Ausdünstungsgeruch noch immer seine Rolle spielt. *) Es begegnen dem Manne oft genug weibliche Personen , denen er, auch bei Abwesenheit jeder etwa durch Unreinlichkeit entstehenden Emanation , einen abstossenden Ausdünstungsduft zuspricht. Diese Erfahrung lässt sich namentlich auf Bällen machen, wo die durch Körperbewegung vermehrte Hautausdünstung einen intensiveren Eindruck bewirkt. Ueber einen Kretinen wurde mir mitgetheilt, dass derselbe öfters eine junge Dame seiner Umgebung, die sich seiner besonderen Zuneigung zu erfreuen hatte, mit wohlgefälliger Miene beschnüffelte und dazu sagte : „Riekele, du schmeckst (riechst) so gut! " - Wenig Sprichwörter bergen so viel naturwissenschaftliche Wahrheit als das, dass die Liebe blind sei ; ich möchte aber dasselbe dahin ergänzen, dass die Liebe eine sehr feine Nase hat , und dass bei einer grossen Zahl sogenannter Neigungsehen, ohne dass die Betreffenden nur eine Ahnung davon hätten , das wahre Motiv die in dem individuellen Ausdünstungsgeruch gegebene

  • ) Dass dies viel zu wenig gesagt ist , wird aus dem zweiten Abschnitt dieser Schrift klar werden.

29 chemische Wahlverwandtschaft ist, und umgekehrt, dass das Verunglücken mancher Vernunftehen nur auf das Fehlen der richtigen chemischen Wahlverwandtschaft zurückzuführen ist. Die Rolle, welche die Kosmetik beim Menschen spielt , ist deshalb meiner Ansicht nach eine zweifache : Einmal wirken die meisten angenehmen Gerüche allgemein und damit auch geschlechtlich anregend , dann aber dienen diese Fremdgerüche zur Maskirung der Individualgerüche , wodurch sich das Gebiet, auf welchem ein weibliches Wesen erotisch zu wirken vermag, vergrössert. Dem entspricht auch durchaus die Anwendung, welche das weibliche Geschlecht von der Kosmetik macht. Den grössten Consum an Kosmetica haben die im Dienste der Venus vulgivaga stehenden Frauenzimmer, dann kommen die heirathslustigen Mädchen und gefallsüchtigen Frauen , während die sittsame Ehefrau mit völlig richtigem Gefühl die kosmetischen Künste verschmäht und verachtet. Ueber die enorme individuelle Differenzirung des Ausdünstungsgeruchs beim Menschen, für welche diese intersexuellen Wahlverwandtschaftsverhältnisse mir ein eben so guter Beweis sind als die Thatsache , dass der Hund mittelst des Geruchsinnes das Individuum so scharf unterscheidet , wie wir mittelst der physikalischen Sinne, will ich mich hier nicht äussern, ich behalte mir das für einen spätern Brief vor. Wohl aber muss ein Punkt, der aus den oben mitgetheilten Thatsachen hervorgeht , constatirt werden. In meinen früheren Auslassungen über die specifischen Stoffe habe ich nachgewiesen , dass ein ganz genauer Zusammenhang zwischen der Verschiedenheit der Riech- und Schmeckstoffe, sowie der durch die Systematik zum Ausdruck gebrachten morphologischen Differenz der Thierarten besteht. Hierzu tritt die neue Thatsache, dass auch die zwischen den beiden Geschlechtern einer und derselben Thierart bestehende morphologische Differenz von einer Differenz im Bereich der specifischen Stoffe , speciell der Riechstoffe, begleitet ist , so dass meine Behauptung, alle und jede morphologische Differenz sei von einer chemischen begleitet, auch von dieser Seite gestützt wird. Ferner scheint mir die hohe Bedeutung der specifischen Stoffe für die Vererbung ganz ausserordentlich durch die Thatsache gestützt zu werden, dass die specifischen Geschlechtsgerüche der verschiedensten Thierarten etwas Gemeinschaftliches haben, denn das geht unwiderleglich aus den oben mitgetheilten Thatsachen über die intersexuelle Anziehung hervor, die so verschiedene Thiere wie Mensch und Papagei verknüpft. Dem Satze, dass jede morphologische Verschiedenheit von einer Verschiedenheit 30 - des Ausdünstungsgeruches begleitet ist, wird der ergänzende Satz an die Seite gestellt, dass jeder morphologischen Aehnlichkeit - denn eine solche besteht zwischen den Weibchen verschiedener Thiere auch eine Aehnlichkeit im Ausdünstungsgeruch entspricht. Wir müssen nun aber der Geruchsdifferenz zwischen Männchen und Weibchen noch etwas näher treten. Aus dem Obigen folgt, dass der Riechstoff einer jeden Species in zwei Modificationen existirt, als männlicher und als weiblicher. Die männliche Modification wirkt als Aphrodisiacum auf das weibliche Thier , die weibliche als eben solches auf das männliche Thier; wir können also die Differenz aus Mangel einer exact chemischen Definition ex effectu die aphrodisische Differenz nennen und uns die Frage vorlegen : Was lehrt uns die biologische Beobachtung über die Natur der Differenz ? Wir werden am leichtesten zur Beantwortung dieser Frage gelangen , wenn wir sie mit der im ersten Briefe besprochenen Assimilations differenz vergleichen. Damals mussten wir bei den specifischen Schmeckund Riechstoffen zwei einander gegenüberstehende , aber in einander überzuführende chemische Modificationen eines und desselben Specificums annehmen : Es ist der Lüsternheitsstoff, welcher die Nahrung dem Thiere angenehm und begehrenswerth macht. Bei der Assimilation aber verwandelt das Specificum sich in den Ekelstoff, welcher bewirkt , dass der Pflanzenfresser das Raubthier flieht. Wir sahen weiter , dass der Ekelstoff dem Lüsternheitsstoff chemisch überlegen ist. Die Frage ist nun: Sind Anzeichen vorhanden , dass es sich bei der aphrodisischen Differenz um etwas Aehnliches handelt wie bei der Assimilationsdifferenz? Diese Frage ist zu bejahen , wenn eine Ungleichheit in Bezug auf chemische Wirkung , ein chemisches Subordinationsverhältniss besteht , und wenn der anziehenden Wirkung des chemisch schwächeren Stoffes (Lüsternheitsstoffes) eine gewisse abstossende Wirkung des stärkeren Stoffes (Ekelstoffes) gegenübersteht. Prüfen wir die Thatsachen. Beim Säugethier steht unbedingt fest, dass der weibliche Ausdünstungsgeruch auf das männliche Thier eine ganz entschieden stärkere Anziehung ausübt als der des Männchens auf das Weibchen : Während das männliche Säugethier sofort die Fährte des brünstigen Weibchens aufnimmt , ignorirt das letztere die Fährte des Männchens vollständig. Beim Schmetterling verhält es sich ebenso : Während man mit einem weiblichen Schmetterling die Männchen herbeilocken kann, gelingt das Umgekehrte nicht. Dass 31 bei den Käfern dasselbe Verhältniss besteht, trage ich hier nach. Hat man z. B. das Weibchen eines Hirschkäfers gefunden , so kann man damit Männchen anlocken , während das Umgekehrte nicht gelingt. Es liegen aber auch auf der andern Seite Anhaltspunkte genug dafür vor , dass die instinctive Wirkung des Männchens auf das Weibchen eine gewisse Abstossung ) ist. Jedermann hat schon beobachtet , wie eine läufige Hündin den sie verfolgenden Rüden entflieht und nach ihnen beisst . Bei den Füchsen sieht man zur Ranzzeit Fuchs und Füchsin tagelang umher schnüren : sie vorausfliehend , er dicht hinterdrein verfolgend. Jeder Jäger kennt das Sprengen bei Reh und Hirsch: das weibliche Thier flieht, das männliche verfolgt dasselbe Verhältniss wie zwischen Raubthier und Beute. Mir ist kein Thier bekannt, bei welchem das weibliche Geschlecht das verfolgende , überwältigende , das männliche das verfolgte und Widerstand leistende wäre , es ist stets umgekehrt , auch in solchen Fällen , in denen , wie bei den Spinnen , das weibliche Thier das stärkere ist und nach der Begattung sogar oft genug das Männchen auffrisst. Trotz aller Maskirung, die der Instinct beim Menschen durch erzieherische Einflüsse erfährt, verlengnet sich dasselbe auch bei ihm nicht die Sprödigkeit ist eine Eigenschaft des Weibes , die Zudringlichkeit kommt dem Manne zu. - -- Die Aehnlichkeit der aphrodisischen Differenz mit der Assimilationsdifferenz tritt sogar noch ausgesprochener in dem Umstande hervor , dass das Männchen sehr häufig das Weibchen in der Wollust- Erregung beisst, dass also von dem Ausdünstungsgeruch so glaube ich es auffassen zu müssen in ähnlicher Weise ein indirecter Reflexreiz zu den Beissmuskeln geht , wie vom Nahrungsgeruch. Ich habe dieses Beissen gesehen bei Pferden, Eseln , Quagga , Katzenarten , Mardern , Enten, Hühnern etc. , wenn es auch freilich in manchen Fällen nur ein Halten des Weibchens mit den Beisswerkzeugen ist. Dabei ist das Charakteristische , dass das Beissende immer das Männchen , nie das Weibchen ist. Eine weitere Aehnlichkeit besteht in der Wirkung auf die Speicheldrüsen: In der Wollust- Erregung geifern die männlichen Säugethiere, so weit ich es kenne, mehr oder weniger deutlich. Eine andere Aehnlichkeit besteht darin , dass das Weibchen überhaupt stets das Ergriffene, Gehaltene, Umklammerte, Gerittene

  • ) Dieser Punkt wird im zweiten Abschnitt (Kap. Sympathie) auf Grund

der Beobachtung beim Menschen eine genauere Analyse erfahren. 32 oder sonst wie durch Muskelkräfte physisch Ueberwältigte ist, und es ist mir kein Fall bekannt, in dem das Umgekehrte stattfindet. Damit kommen wir zur zweiten Parallele zwischen aphrodisischer und Assimilationsdifferenz : Es besteht offenbar ein chemisches Subordinationsverhältniss. Bei der Assimilation zeigt sich dies, wie wir seiner Zeit sahen, darin, dass der Ekelstoffträger den Lüsternheitsstoffträger chemisch überwältigt. Auf dem Gebiet der sensitiven Beeinflussung ist dies allerdings bei der aphrodisischen Differenz nicht so deutlich, wie auf dem später zu besprechenden Gebiet der Befruchtungswirkung, allein es ist doch auch auf dem ersteren nicht zu verkennen. Schon der Ausdruck das Weibchen ergibt sich dem Männchen" ist ganz bezeichnend, denn warum sagt man nicht umgekehrt? Es geht eben vom Männchen ein den Widerstand des Weibchens lähmender , instinctmässiger Einfluss aus, der dadurch seine Bedeutung erhält , dass der aphrodisische Einfluss , den das Weibchen auf das Männchen ausübt, gerade das Gegentheil von Lähmung und Bewegungshemmung, nämlich Beschleunigung und Anregung zu den heftigsten Kraftentfaltungen ist. 99 Haben wir im Bisherigen die Aehnlichkeit zwischen der Assimilationsdifferenz und der aphrodisischen Differenz der Specifica besprochen, so müssen wir jetzt auch die Unterschiede hervorheben. Auf dem Gebiete der sinnlichen Beeinflussung, das wir bisher allein besprochen haben , tritt als ein Hauptunterschied hervor, dass die aphrodisische Differenz in ihren Wirkungen geringer ist als die Assimilationsdifferenz. Dies zeigt sich nach beiden Seiten hin : Die aufregende , anziehende , Bewegung auslösende Wirkung des weiblichen Sexualgeruchs auf das Männchen ist geringer als die des Nahrungsgeruchs, er treibt dasselbe zwar zur Ueberwältigung, aber nicht zur Vernichtung des Weibchens , und die abstossende, lähmende Wirkung des männlichen Sexualgeruchs auf das Weibchen erreicht nie die Höhe der Tödtlichkeit. Ein weiterer Unterschied ist qualitativer Natur. Bei der Assimilationsdifferenz löst der Lüsternheitsstoff Thätigkeit der Ernährungsapparate (Fress- , Kau- und Verdauungsarbeit) aus , der Ekelstoff wirkt auf diese Apparate gerade entgegengesetzt. Bei der aphrodisischen Differenz geht die Wirkung auf einen andern Organapparat , die Geschlechtswerkzeuge , über , und auf diesem Gebiet ist die Wirkung auf die beiden in Betracht kommenden Theile nicht entgegengesetzt ( d. h. bei dem einen hemmend, beim andern beschleunigend), sondern gleichartig, d. h. beschleunigend , die Organthätigkeit erhöhend. 33 Nun müssen wir uns aber einem andern Punkte, nämlich den Befruchtungsvorgängen zuwenden. Das bis jetzt behandelte, vom Nervenleben beeinflusste Gebiet der Sinnesempfindungen, Willensacte und Reflex-Erscheinungen ist in mancher Beziehung ein schlüpfriger Boden, weil hier die durch Erziehung geschaffene geistige Beeinflussung ein sehr schwer zu berechnender , weil gar zu unbekannter Factor ist. Bei der Befruchtung , d. h. der Einwirkung des männlichen Samens auf das weibliche Ei, liegen die Verhältnisse viel einfacher. Nur erhebt sich hier der andere Uebelstand, dass diese Verhältnisse noch viel zu wenig beobachtet sind , theils weil die Wissenschaft sie in dieser Richtung allzu sehr ignorirt , theils weil hier die Beobachtung mit viel grösseren Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Ich hatte beabsichtigt, in den nächsten Herbstferien hierüber Beobachtungen anzustellen und erst dann mich darüber zu äussern, wenn ich die nöthige empirische Grundlage mir verschafft. Da ich mich aber schon jetzt an der Ausführung dieses Vorhabens verhindert sehe , so lege ich hier mein Raisonnement , von dem ich bei den Untersuchungen ausgegangen wäre , in der Hoffnung nieder , dass ein glücklicher situirter College die Anregung aufnimmt und die nöthigen Versuche und Beobachtungen anstellt. Ich richte jedoch diese Einladung nicht nur an die Zoologen, sondern auch an die Botaniker, weil bei den Pflanzen die nöthigen Versuche unendlich viel leichter anzustellen sind , als bei den Thieren. Die eine Frage ist die : Kommt dem männlichen Samen eine gewisse Distanzwirkung auf das Ei zu , die auf die Emanation specifischer Schmeck- und Riechstoffe zurückzuführen ist? Hier ist zuerst die Thatsache zu erwähnen , dass der männliche Samen einen sehr lebhaften , ganz eigenthümlichen Ausdünstungsgeruch hat , der zwar bei den Thierarten , die ich darauf prüfen konnte (Mensch , Schwein, Pferd , Kaninchen , Hund), entschieden ähnlich , aber auch deutlich verschieden ist ; der erstere Punkt ist ein Seitenstück zu der Aehnlichkeit der Hautausdünstung der weiblichen Thiere, die wir oben kennen lernten. Der Geruch ist so auffallend, dass bekanntlich vor der Keber'- schen Entdeckung vom Eindringen der Samenfäden in das Ei dieser Samengeruch,,,Aura seminalis", von vielen für das be fruchtende Princip gehalten wurde. So wenig es mir einfällt , diese jedenfalls einseitige Befruchtungstheorie wieder aufleben lassen zu wollen, für so dringend nöthig halte ich es, die der Vergessenheit anheim gefallene aura seminalis wieder auf's Tapet zu bringen Jaeger, Entdeckung der Seele. 3 34 H und die Behauptung aufzustellen, dass sie der Träger des Befruchtungsinstinctes ist, und zwar so : Dass überhaupt eine Befruchtung stattfindet , ist die Folge der Vermischung der Ei- und Samensubstanz , allein dass diese Vermischung zu Stande kommt und zwar nur zwischen den Geschlechtsproducten derselben oder nahe verwandter Arten , halte ich für die Wirkung der aura seminalis und einer aura ovulalis, wenn ich diesen Ausdruck gebrauchen darf. - Bei denjenigen Thieren, bei welchen die Befruchtung im Innern des Körpers stattfindet, ist die Constanz des Befruchtungsverhältnisses schon durch den von der Hautausdünstung getragenen Begattungsinstinct gesichert und bei Instinctverirrungen , die ja bekanntlich vorkommen, werden schon durch die morphologischen Differenzen Hindernisse geschaffen. Allein bei den zahlreichen Thieren, bei denen die Befruchtung äusserlich vor sich geht, fällt diese Sicherung gegen Mesalliance vollständig fort . Man hat darauf aufmerksam gemacht , dass die Oeffnung der Eizelle (Mikropyle) hier stets genau den gleichen Durchmesser habe wie der Kopf des Samenfadens. Dass dies aber eine höchst unvollkommene Sicherung ist, liegt auf der Hand , insofern hier nur die grösseren nicht aber auch die schmächtigeren Samenfäden ausgeschlossen wären. Es kann sich mithin nur um chemische Wirkungen handeln, die wiederum nur von den specifischen Bestandtheilen der chemischen Mischung ausgehen können, denn die gegenseitige Befruchtungsfähigkeit ist streng an die specifische Zusammengehörigkeit geknüpft. Auch aus einem allgemeinen Grunde müssen wir die Untersuchung der aura seminalis wieder aufnehmen, denn dass eine so constante Erscheinung ein lediglich gleichgiltiges Begleitungsphänomen sei, ist von vornherein höchst unwahrscheinlich , sie muss einen Zweck oder, anders gesagt, eine wichtige physiologische Wirkung haben. Wie soll man sich nun, ehe das Experiment sein entscheidendes Wort gesprochen hat, die Wirkung des Samenduftes auf das Ei denken ? (Dabei möchte ich auf einen formalen Einwand antworten: Manche Forscher stellen das Experiment voran und sparen sich das Nachdenken auf nachher. Ich halte das nicht für richtig ; wer sich die Frage , die ihm das Experiment beantworten soll , nicht zum voraus klar legt, hängt vom Zufall ab. ) Wenn der Samengeruch überhaupt eine Wirkung auf das Ei hat, so muss es eine die Befruchtung d . h. die Vermischung von Samen und Ei vorbereitende sein. Hier ist folgendes möglich : 35 1 ) Kann er die Quellung des Eiprotoplasma beschleunigen. Dass die Quellung auf eine mechanische Anziehung der Samenfäden hinausläuft, kann man bei den Forelleneiern deutlich sehen, denn die Befruchtungsfähigkeit des Eies ist erloschen , sobald die sehr bedeutende Quellung des aus dem Körper in's Wasser gelangten Eies vorüber ist. Hier hätten wir also zu beobachten, ob das Ei eines solchen Thieres bei Anwesenheit von Samen rascher aufquillt als bei Abwesenheit desselben, und ob, wenn dem so ist, diese Beschleunigung nur Wirkung der aura ist, also auch eintritt, wenn Samen und Ei durch eine , zwar die aura , nicht aber die Samenfäden durchlassende Scheidewand getrennt sind. Dann muss die Prüfung mit einem fremden Samen gemacht und untersucht werden, ob eine fremde aura die Quellung hemmt oder ganz verhindert oder aber übertreibt. 2) Kommt es darauf an , ob neben den passiven noch active Bewegungen , d. h. Contractionen im Protoplasma des Eies durch die aura ausgelöst werden , und wie sich die adäquate und die fremde aura in dieser Beziehung verhalten. Wir können uns z. B. hinsichtlich dieser zwei Punkte folgende Vorstellung machen. Auf dem sensitiven Gebiete haben wir gesehen, dass der vom männlichen Thiere ausgehende Geruch auf das Weibchen einen lähmenden , widerstandbrechenden , überwältigenden Einfluss ausübt. Das RANKE'Sche Imbibitionsgesetz lehrt uns , dass jede Schwächung der Lebensenergie die Quellungsfähigkeit des Protoplasma steigert , dass also der Quellung ein activer Widerstand von den contractilen Elementen des Protoplasma entgegengesetzt wird. Dadurch ist die Vermuthung äusserst nahe gelegt, dass die Wirkung der adäquaten aura auf das Eiprotoplasma eine lähmende und dadurch die Quellung befördernde ist. Ist dem so , so kann die Erfolglosigkeit der Einwirkung einer fremden aura zweierlei Ursachen haben: Entweder ist der lähmende Einfluss zu schwach : Das Eiprotoplasma gibt seinen Widerstand gegen die Imbibition nicht auf, und so fällt die in der Quellung liegende Anziehung der Samenfäden weg; solche Samenfäden aber, die trotzdem herankommen, finden die Poren des Protoplasma, welche bei der Quellung sich öffnen, geschlossen ; hierbei denke ich nämlich nicht blos an die Mikropyle, deren Weite von der Quellung beeinflusst werden muss , sondern auch an die Structurporen des Protoplasma selbst. Oder der lähmende Einfluss der fremden aura auf das Ei ist zu stark : Es wird (durch Ueberquellung oder sonst wie) getödtet - die aphrodis ische Differenz ist zur Assi13* 36 milationsdifferenz geworden. Hier wären namentlich künstliche Befruchtungsversuche zwischen Raubthieren und ihren Beutethieren zu machen, um festzustellen, ob die aura der Raubthiere eine ebenso überwältigende , vernichtende Wirkung auf das Ei der Pflanzenfresser besitzt, wie die andern Riechstoffe derselben. Und wenn man dann die Wirkung der Raubthier- aura auf das Pflanzenfresser-Ei mit der Wirkung der Pflanzenfresser- aura auf das Raubthier- Ei vergleicht, so muss sich ein tiefer Einblick, nicht nur in die Physiologie der Befruchtung , sondern gerade in den Theil der Physiologie eröffnen , der die räthselhaftesten Erscheinungen birgt. Wir können uns auch noch einen weitergehenden Einfluss des Samengeruchs denken , der uns der alten Befruchtungstheorie von der aura seminalis allerdings noch näher brächte. Hierbei muss ich jedoch Einiges vorausschicken : Warum entwickelt sich ein Ei nicht, wenn es unbefruchtet bleibt ? Meiner Ansicht nach geschieht es deshalb : Das Ei besteht aus zweierlei Bestandtheilen, aus activem, amöboid contractilem Protoplasma - gebrauchen wir für dasselbe den Namen Bildungsdotter und einem passiven, nicht erregbaren Material, das eine Verbindung von Eiweiss und Lecithin, eine sogenannte Nucleïnverbindung (Vitellin, Emydin, Ichthidin etc.) ist. Dieses Material nennen wir es Nahrungsdotter oder Dotterkörner - ist inactiv und dem Bildungsdotter gegenüber Hemmungsmaterial, so dass wir es auch Hemmungsdotter und im Gegensatz dazu den andern Theil den Beschleunigungsdotter nennen können. Ist Vertheilung und Mengeverhältniss der beiden antagonistischen Dotterarten derart , dass der Beschleunigungsdotter die Oberhand hat , dann entwickelt sich das Ei parthenogenetisch, d. h. ohne vorgängige Befruchtung. Halten sie sich dagegen die Wage, oder überwiegt die Hemmung die Beschleunigung, so ist Befruchtung nöthig, und diese besteht darin, dass der active Beschleunigungsdotter die Oberhand gewinnt. Hierbei liegen aber zweierlei Möglichkeiten vor: Entweder wird vom Befruchtungsanstoss ein Beschleunigungsreiz auf den activen Dotter ausgeübt, oder es wird, was mir angesichts der lähmenden Wirkung der aura seminalis wahrscheinlicher dünkt die Hemmung durch Zerstörung (chemische Zersetzung) des passiven Dotters vermindert. Wir haben nun bei Besprechung der Assimilations-Differenz gefunden, dass die Erscheinungen uns zur Annahme zwingen , es handele sich um zwei specifische Stoffe, von denen der eine (Ekelstoff) eine überlegene Anziehungskraft für den Eiweisskern besitzt. TT 37 Wir sahen oben , dass bei der aphrodisischen Differenz eine ähnliche chemische Ueberlegenheit des männlichen Ausdünstungsgeruches dringend vermuthet werden darf. Könnte es nun nicht sein, dass der aura die Fähigkeit zukäme, den Nucleïnkörper des Eiprotoplasma in Lecithin und Eiweiss zu spalten und so wahrhaft befruchtend zu wirken , aber vielleicht mit der Einschränkung, dass der von der aura ausgehende Anstoss nicht ausreicht? Wir können durch das Experiment hierüber sehr wohl Aufschluss erhalten , wenn es uns gelingt , eine Versuchsmethode zu finden , bei welcher nur die aura auf das Ei wirken kann , nicht aber die Samenfäden. Vergleicht man dann die Veränderungen an diesen nur von der aura beeinflussten Eiern mit solchen , die mit Samen in toto in Berührung kamen, sowie mit andern , die ganz unbefruchtet blieben , so muss sich ergeben , ob an meiner Vermuthung etwas richtiges ist.


Bestätigt sie sich das wäre der Fall , wenn an den nur auratisch" befruchteten Eiern ein Theil wenigstens die ersten Entwickelungs- Studien durchmachte , während alle unbefruchteten dies unterliessen so handelte es sich bei dem Misserfolg der Fremdbefruchtung dann entweder darum , dass die aura unfähig ist , die Spaltung der Eiernucleïne in Éiweiss und Lecithin zu bewirken , oder bei Assimilations-Differenz darum , dass nicht nur diese Spaltung , sondern auch noch die Spaltung des Eiweisses in Pepton und Specificum , gewissermassen Zerstörung durch Verdauung, eintritt. - —— Nun müssen wir uns aber auch noch in Betreff des Eies die Frage stellen , ob nicht auch von ihm eine ähnliche Fernwirkung auf die Samenfäden ausgeht, wie es bei dem Ausdünstungsduft des Gesammtthieres in so hohem Masse stattfindet. Davon, dass die Eier der verschiedenen Thiere verschieden schmecken, kann sich jeder leicht überzeugen, und zwar ist dabei dreierlei aus einander zu halten : 1 ) das Ei eines Thieres schmeckt stets anders als das Fleisch desselben ; 2) die Eier verschiedener Thiere schmecken stets deutlich verschieden, auch bei sehr nahe verwandten Thieren , und um so verschiedener, je grösser die morphologische Verschiedenheit der Thiere ist , aber die Unterschiede sind ganz entschieden geringer als beim Ausdünstungsduft ; 3) die Eier verwandter Thiere haben bei aller Verschiedenheit des Geschmacks doch auch eine ganz entschiedene Aehnlich- 38 keit. Es wird Niemandem die Geschmacksähnlichkeit der Vogeleier, der Fischeier, der Schildkröteneier oder die Aehnlichkeit des Geschmacks von Spinneneiern und Krebseiern entgehen. Bezüglich des Geruchs weiss ich nur anzugeben , dass die Eier viel schwächer auf unsere Geruchswerkzeuge wirken als der männliche Samen; dass sie aber keinesfalls geruch los sind , davon kann man sich am Dotter jedes Hühnereies überzeugen. Da bei den Thieren die Befruchtung stets in einem wässrigen Medium vor sich geht, in welchem die Geschmacksstoffe sich ebenso verbreiten können , wie die Stoffe , welche bei uns nur auf den Geruchssinn wirken , so ist die Möglichkeit einer chemischen Fernwirkung des Eies auf den männlichen Samen nicht in Abrede zu stellen. Kommt nun dieser aura ovulalis , wie ich sie nennen will , ein Antheil an der Specifität der gegenseitigen Befruchtungsfähigkeit zu , so muss sich das bei künstlichen Befruchtungsversuchen zeigen. Am besten wird man von Kreuzbefruchtungsversuchen zwischen Raubthier und Beutethier ausgehen. Wenn z. B. Beutethiersamenfäden bei Contact mit einem Raubthier-Ei früher absterben, als wenn man sie getrennt hält , so würde das ganz entschieden für eine chemische Fernwirkung sprechen. Auch der Fall , wenn bei adäquater Befruchtung das Benehmen der Samenfäden in der nächsten Umgebung des Eies deutlich anders z. B. lebhafter ist , als in weiterer Entfernung davon, würde für einen vom Ei ausgehenden, in die Ferne wirkenden Beschleunigungsreiz sprechen, und es würde sich weiter bestätigen, wenn bei inadäquater Zusammenstellung diese Erscheinung ausbliebe oder in ihr Gegentheil umschlüge. So viel steht für mich jedenfalls fest : Wenn auch nur ein kleiner Theil der Thätigkeit, welche die jetzigen Zoologen der zur Modesache gewordenen Untersuchung der Dotterfurchung und Embryonal-Entwickelung widmen, auf die Anstellung künstlicher Befruchtungsversuche in der angedeuteten Richtung verwendet würde, so würde damit der biologischen Wissenschaft auf ihrem gegenwärtigen Standpunkt entschieden mehr genützt , als durch die nahezu langweilig gewordene, immer und immer wieder sich wiederholende Untersuchung der morphologischen Embryonal - Entwickelung. Ich schliesse diesen Brief mit dem Abdruck eines Schreibens, das mir in Folge der Veröffentlichung des ersten Aufsatzes dieser Schrift zuging und eine andere Rolle der specifischen Distanzstoffe bei der Fortpflanzung, nämlich bei der Jungenpflege, behandelt, zugleich auch den Gegenstand eines folgenden Aufsatzes vorbereitet, der von der Rolle der specifischen Stoffe bei der individuellen 39 Variation handeln wird. (Siehe Kapitel Verwitterungs- und Individualdüfte) . Sehr geehrter Herr Professor! Soeben habe ich den Auszug Ihrer Arbeit über „ die Geschmackund Geruchstoffe in ihrer Bedeutung für die Biologie" (Ausland, Nr. 2, 1877) gelesen und will , selbst auf die Gefahr hin , etwas in dem mir nicht zur Hand befindlichen Original Stehendes zu erwähnen, Ihnen Thatsachen mittheilen, welche genügend für das Vorhandensein individueller Geruchs-Eigenthümlichkeiten bei Wiederkäuern sprechen und mir in meiner vieljährigen landwirthschaftlichen Laufbahn wiederholt bemerkbar geworden, wie auch jedem Schäfer bekannt sind. Bei Beginn der Weidezeit im Frühjahr werden sehr häufig die Mutterschafe von ihren Lämmern getrennt und allein zur Weide getrieben, während letztere im Stalle bleiben. Kommt die Mutterheerde Mittags oder Abends nach Hause , so werden die Lämmer wieder dazwischen gelassen, und nun beginnt ein allstimmiges Geblöke, während dessen die Mütter und Lämmer durch einander laufen , um sich zu finden. Die Lämmer laufen sehr häufig auf das nächste beste Schaf zu und versuchen zu saugen, werden aber von demselben sofort abgestossen, wenn dieses nach dem vorgewandten Hintertheil gerochen und das Lamm als nicht ihm gehörig erkannt hat. Die Schafe laufen und beriechen jedes begegnende Lamm, bis sie das ihrige gefunden haben und ihm das Euter bieten können. Näscher, d. h. fremde Lämmer, werden stets abgestossen. Ferner: Oft kommt es vor , dass ein Lamm stirbt; um dann nicht die Milchperiode seiner Mutter ungenützt vorübergehen zu lassen und Mutterschafe mit Zwillingen zu entlasten , sucht man eines der letzteren von der lammlosen Mutter adoptiren zu lassen. Oft gelingt dies schon durch mehrtägiges Zusammensperren, sicher und sofort aber , wenn man das dem todten Lamme abgezogene Fell dem zu adoptirenden überbindet und dieses dann zu jener Mutter setzt. Mit dieser vielleicht willkommenen Mittheilung den Ausdruck meiner Hochachtung verbindend, zeichne ergebenst Dr. F. REHM, k. Lebrer f. Naturgeschichte u. Landwirthschaft. Lichtenberg bei Nürnberg. 40 Dieser Mittheilung, die für mich allerdings nur in dem Stücke neu war , als ich die Manier des Verwitterns des Jungen durch das übergezogene Fell nicht kannte, ist deshalb so beweiskräftig für das von mir behauptete allgemeine Vorkommen von individuellen endogenen, d. h. dem Organismus des Thieres selbst entstammenden Düften , da hier die beim Menschen so sehr nahe liegende Vermuthung wegfällt, als handele es sich bei den Individualdüften um äusserliche Zufälligkeiten, also z. B. darum, dass zwei Menschen in Folge ihrer verschiedenen Aufenthaltsorte, verschiedener Ernährung und Kleidung sich äusserlich mit verschiedenartigen Geruchstoffmischungen umgeben , die ihnen eine Unterscheidbarkeit für einen so feinen Geruchsinn wie den des Hundes sichern. An derartiges kann bei den Lämmern einer und derselben Heerde , die unter fast absolut gleichen äusseren Verhältnissen leben und sich nähren, nicht gedacht werden. 3. Der todte Punkt in der Zoologie. (Wieder abgedruckt aus Deutsche Revue II. Jahr 1878 Juliheft S. 108.) Seit wir durch die physikalischen Beobachtungen , welche HELMHOLTZ, DU BOIS-REYMOND, PFLUEGER und Andere, und durch die chemischen Versuche , welche J. RANKE über den Erregungsvorgang in Muskeln und Nerven angestellt haben , Aeusserungsweise und Grund der thierischen Kraftentbindung kennen, seit ich in einer soeben erschienenen Schrift *) die Ponderabilität der Lebenskräfte nachgewiesen , dürfen wir , wenn auch noch manches zur allgemeinen Aufhellung übrig bleibt, die allgemeinen Lebenserscheinungen als naturwissenschaftlich erklärt ansehen. Nicht das Gleiche können wir von den specifischen Lebenserscheinungen sagen. Besehen wir uns das näher. Das Wachsthum der belebten Wesen durch Intussusception, d. h. durch Aufnahme neuer Theile zwischen die alten anstatt durch Auflagerung von aussen , ist erklärt ; nicht erklärt ist , warum dieses Wachsthum stets in ganz bestimmtem, specifisch, generisch, typisch u. s. w. verschiedenem Rhythmus und verschiedener Richtung erfolgt : kurz, wir kennen die vis formativa nicht. Warum das Thier Sinnes reize mit Bewegungen beantwortet, wissen wir ; allein wir wissen nicht , warum die Thiere gleiche Reize in specifisch verschiedener Weise beantworten , warum ein Thier von dem gleichen Sinnesreiz abgestossen wird, der ein anderes anzieht. Kurz, wir wissen, wodurch es überhaupt lebt, aber nicht, warum es nach einer ganz specifischen Methode lebt. Wir wissen , warum und wie ein Thier überhaupt frisst, aber wir wissen nicht, warum es stets nur ganz bestimmte Nahrung geniesst und andere zurückweist. Wir kennen also das Wesen

  • ) Seuchenfestigkeit und Constitutionskraft und ihre Beziehung zum spe- cifischen Gewicht des Lebenden. Ernst Günther's Verlag. Leipzig 1878.

42 des Ernährungs triebs , *) aber was uns unbekannt geblieben , ist der Ernährungsinstinct. Wir wissen - obwohl gerade hier noch eher eine Lücke in unserem Wissen ist , warum das Thier sich überhaupt fortpflanzt und bei Getrenntgeschlechtlichkeit sich begattet, aber wir wissen nicht, warum dies stets in specifisch eigenartiger Weise erfolgt, warum sich stets nur Männchen und Weibchen gleicher Art begatten, bei specifischer Differenz dagegen sich meiden. Kurz, wir verstehen den Fortpflanzungs trieb und seine Mechanik, allein der Fortpflanzungsinstinct ist uns ein Räthsel. Um es anders zu sagen : Wir kennen so ziemlich die Mechanik des lebenden Körpers , und zwar sowohl die grobe als die feine ; wir wissen, mit welchen Kräften derselbe arbeitet, wir wissen auch, dass etwas in ihm steckt, was ihn treibt , aber warum das immer nur in einer ganz bestimmten Richtung treibt , das wissen wir nicht. Wir kennen die Locomotive , aber der Locomotivführer hat sich bis jetzt unserer Nachsuche zu entziehen gewusst, wir haben nur einen Namen für ihn und dieser lautet „Seele". - Wir stellen uns den Thierkörper wie eine Maschine vor, und eine solche ist er auch: das Leben wickelt sich in ihm ganz ähnlich ab , wie in einer von Menschenhand gemachten und in Gang gesetzten Maschine. Wir können eine künstliche Maschine , so lange sie im Gang ist, lebendig nennen, so gut wir dieses Wort von einem Thierkörper gebrauchen , ja wir können und thun es auch — ganz allgemein von „lebendiger" Kraft sprechen, und die Lebenskräfte auf diesen Nachweis darf die Experimentalphysiologie mit Recht stolz sein sind keine anderen als die, welche auch unsere künstlichen Maschinen und die anorganische Natur bewegen. Aber zwischen einem industriellen Mechanismus und einem organischen Mechanismus , also einem Thier- und Pflanzenkörper, besteht doch ein colossaler Unterschied : der letztere ist beseelt , der erstere nicht. - Was ist die Seele ? Diese Frage muss jetzt ernstlicher als bisher aufgenommen werden, denn hier liegt der todte Punkt der ganzen Zoologie , Physiologie , Biologie und Morphologie , kurz der gesammten Lehre vom Leben. HAECKEL hat die Frage bekanntlich aufgegriffen und sich mit Bestimmtheit dahin ausgesprochen, es sei nicht blos das Thier als Ganzes beseelt , sondern die Seele stecke in jeder Zelle , in jedem Ei, ja, er sagt: sie stecke in jedem Protoplasma- Element, für das

  • ) Wie aus den folgenden Kapiteln erhellt , kannten wir bisher auch das Wesen der Triebe nicht.

43 er den Ausdruck Plastidule gebraucht , er spricht deshalb von einer Plastidulseele. Er bezeichnet uns nun diese Seele als Bewegung , und zwar als eine Bewegung von eigenartigem Rhythmus. Wie nachher gezeigt wird, unterschreibe ich das vollkommen. Das kann uns aber nicht befriedigen, denn HAECKEL sagt uns nicht, was sich bewegt, und warum dieses Was" sich specifisch bewegt. Auch darum kann es uns nicht befriedigen : Jede Bewegung in einem Protoplasma nennen wir Leben; nun kennen wir bei sehr vielen niederen Thieren , namentlich deren Eiern , einen Zustand latenten Lebens , in welchem keinerlei Bewegung stattfindet. Wenn die Seele nur abstracte Bewegung ist , so ist sie in diesem Zustand fort, wo kommt sie wieder her? Kurz, die Seele muss ein Ding sein, das sich zeitweilig bewegt, aber auch die Fähigkeit hat zu ruhen. Weiter: Wir Naturforscher können uns schlechterdings keine Bewegung ohne materielles Substrat vorstellen , denn da , wo der Chemiker kein Substrat mehr nachweisen kann, setzt der Physiker seinen Aether als das sich Bewegende und hält an ihm mit Hartnäckigkeit fest. Deshalb können auch wir Zoologen unmöglich mit der Aussage zufrieden sein : „ Die Seele sei eine eigenartige Bewegung. " Wir verlangen die Materie der Seele, den Seelenstoff kennen zu lernen, und dieser Stoff muss nicht blos im Gesammtkörper , nicht blos in der Zelle und im Ei, sondern noch im letzten Protoplasma- Element , der HAECKEL'Schen Plastidule stecken, es muss ein integrirender Mischungsbestandtheil des Protoplasma sein. Ich glaube das erlösende Wort in der Seelenfrage aussprechen, d. h. sagen zu können , welcher Mischungsbestandtheil des Protoplasma die Seele ist. Ich kenne das Wagniss einer solchen Behauptung wohl, der Streit um die Seele wird noch heftiger entbrennen , als der um die Descendenztheorie , aber das kann nichts helfen : Ohne Kampf gibt es auch in der Wissenschaft keinen Fortschritt, und wir sind auf einem Punkt angelangt, wo jedes weitere Vordringen auf die heftigste Opposition stösst. Zweierlei ist es, was uns bei ernstem Suchen nach der Seelenmaterie dieselbe sofort finden lässt. Betrachten wir die Seelenäusserungen, wie sie uns in den Verrichtungen des Selbsterhaltungs- und des Fortpflanzungstriebes bei einem Thiere entgegen treten, so ist das Massgebendste die specifische Natur derselben. Das Leben ist eine allgemeine Erscheinung, die Seelenthätigkeiten tragen durchaus den Charakter der Specifität, die eines Hundes sind anders als die der Katze 44 u. s . w. Demnach hat jedes Thier eine specifische Seele. Wenn nun die Seele ein greifbarer Stoff ist , so sind sofort alle Protoplasmabestandtheile ausgeschlossen , welche bei allen Thieren vorkommen, und es bleiben nur die Stoffe, welche ganz specifischer Natur sind, als allein verdächtig zurück. Dahin gehört nur eine einzige Stoffgruppe , nämlich die Stoffe , welche uns im Ausdünstungsduft und Fleischgeschmack eines Thieres (und einer Pflanze) entgegen treten, denn diese allein sind vollkommen specifischer Natur. Ich habe mich über die Thatsache von der Specifität dieser Stoffe bereits an vier Orten im Druck geäussert: in meinen zoologischen Briefen , in der Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie (Bd. 27), in der Zeitschrift ,, Kosmos" (Bd. I.) und im zweiten Bande meiner allgemeinen Zoologie. Ich will hier deshalb nur das Allernothwendigste wiederholen. Im Grossen und Ganzen hat die Wissenschaft und die Laienwelt nur der Thatsache ihre Aufmerksamkeit geschenkt, dass die Pflanzen , namentlich deren Blüthen, einen ganz specifischen Ausdünstungsduft haben , und dass dasselbe für den Geschmack gilt. Manche Pflanzen duften und schmecken zwar sehr ähnlich , aber in jedem einzelnen solchen Falle lernt ein Mensch mit halbwegs entwickeltem Geschmack- und Geruchsinn sehr schnell, sie zu unterscheiden , und so weit der Chemiker die Düfte der Pflanzen isolirt und geprüft hat, findet auch er stets Unterschiede, trotzdem seine Prüfungsmittel unendlich plumper sind als unsere Sinne. Dagegen ist Wissenschaft und Laienwelt ziemlich gleichgiltig an der Thatsache vorübergegangen, dass für die Thiere genau dasselbe gilt, dass sie ebenso entschiedene und ebenso specifisch verschiedene Düfte und Fleischgeschmäcke haben, wie die Pflanzen. Hiervon kann sich an unseren Hausthieren und Speisethieren Jeder jeden Augenblick unmittelbar überzeugen. In jedem zoologischen Garten kann man sich Gewissheit darüber verschaffen, dass der Hirsch anders duftet als das Reh, das Schaf anders als die Ziege , die eine Papageienart anders als die andere. Man prüfe das ganze Thierreich durch, man wird finden, dass nicht nur jede Thierart überhaupt einen Ausdünstungsduft hat, sondern auch, dass es nicht zwei Arten gibt, deren Ausdünstungsdüfte nicht bei einiger Uebung von einander unterschieden werden könnten; können ja doch selbst so nahe stehende Thiere wie Rabenkrähe und Nebelkrähe noch am todten Balg von der so wenig geübten Nase eines Menschen unterschieden werden. Ja, die Sache geht noch weiter : Es ist Thatsache, dass ein Hund mit seiner fein geübten Nase sogar das einzelne menschliche Individuum mit Sicherheit von jedem andern am Duft unterscheiden kann, 45 was mit der Thatsache harmonirt , dass kaum zwei ganz gleich geartete Menschenseelen gefunden werden können. Die zweite für meine Behauptung wichtige Thatsache ist, dass für die Richtung der Seelenthätigkeiten auf beiden Gebieten, auf dem der Selbsterhaltung und dem der Fortpflanzung, eben diese specifischen chemischen Stoffe ausschlaggebend sind. Welches Futter ein Thier zu seiner Nahrung wählt , hängt von dessen specifischem Duft und Geschmack ab. Es ist notorisch, dass ein Thier das gar nicht zu erlernen braucht : das Räupchen findet sofort nach dem Verlassen des Eies unfehlbar aus verschiedenen ihm vorliegenden Pflanzen die heraus , welche seine natürliche Nahrung ist, und zwar bei Nacht so gut wie bei Tag. Es wird also hierbei nur von seinem chemischen Sinn geleitet. Wenn man einer neugebornen Katze das Bild eines Hundes zeigt , so lässt sie das , auch wenn sie schon sehen kann , ganz gleichgiltig ; hält man ihr dagegen eine Hand vor die Nase, welche zuvor einen Hund gestreichelt hat, so empört sich ihre Seele, sie verzieht das Gesicht und faucht: sie hasst ihren Feind instinctmässig, d. h. weil er stinkt. Das umgekehrte Experiment kann man bei der Katze mit der Maus machen : ihr Bild lässt sie gleichgiltig , ihr Ausdünstungsduft erregt sofort ihre Begierde , weil er ihr instinctmässig angenehm ist. Das ist das Resultat der chemischen Wechselbeziehung zwischen Katzenseelenstoff und Mausseelenstoff, die von jeder Erfahrung völlig unabhängig ist. Die Erzählung , der griechische Maler Apelles habe Trauben so täuschend gemalt, dass die Vögel danach geflogen seien , ist eine Fabel ; selbst diese exquisiten „Augenthiere" lassen sich bei der Nahrungswahl von dem Geruchsinn leiten , und der Gesichtsinn kommt insofern hinterdrein , als er erst an der Hand des Geruchsinns seine Entwickelung und Erziehung erfährt. Ich glaube, das für alle Augenthiere sagen zu dürfen. Das Gleiche gilt nun für das andere Gebiet der Seelenthätigkeiten, die Fortpflanzung. Dem Zusammenfinden der Geschlechter dienen allerdings verschiedene Veranstaltungen, allein ob sich die Thiere annehmen, das ist „Geschmacksache", oder besser gesagt „ Geruchsache" . Erst das Beriechen entscheidet endgiltig über die Zusammengehörigkeit vom Säugethier an bis hinab zum Wurm, ja ich möchte sagen bis zu den sich conjugirenden Infusorien inunter, und noch weiter: bei der Befruchtung ausserhalb Mutterleibe hängt die Vereinigung von Samenfaden und Ei von dem Samenduft (aura seminalis) beziehungsweise der aura ovulalis ab; es ist regiert von der chemischen Beziehung zwischen Ei- Seele und Sperma-Seele. 46 Habe ich soeben gezeigt, warum wir die angezogenen flüchtigen Stoffe für das „Treibende" beim Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungstrieb halten dürfen, so spricht Folgendes dafür, dass sie auch das Agens beim Bildungs- und Formungstrieb , kurz der Träger der vires formativae, also die materiae formativae sind. Ich habe in meinen früheren Veröffentlichungen nachgewiesen, dass bei den Thieren ein inniger Zusammenhang zwischen der Qualität ihres Ausdünstungsduftes und ihrem morphologischen Bau, oder allgemeiner gesagt, ihrer systematischen Stellung besteht, und zwar so : Trotzdem , dass jede Thierart ihren ganz eigenartigen Duft besitzt , zeigen die Düfte zweier Thiere um so mehr Uebereinstimmendes, je näher ihre systematische Zusammengehörigkeit ist, und um so mehr Differenz, je ferner sie sich im System stehen, d. h. die Speciesdüfte gruppiren sich zu Gattungsdüften , die Gattungsdüfte zu Ordnungs- und Familiendüften , diese zu Klassendüften. Ich will einige Beispiele anführen. a) Für Gattungsdüfte: wir unterscheiden leicht den Ausdünstungsduft eines Esels von dem eines Pferdes , aber beide haben so viel Gemeinsames , dass wir von einem Einhuferduft sprechen können. Rind und Büffel duften auffallend verschieden, aber doch ähnlich. Hund, Fuchs, Wolf, Schakal duften verschieden, und doch werden wir bei einiger Uebung ihre Dufte nie mit denen einer Katzenart zusammen zu bringen geneigt sein; die Katzen duften alle einander ähnlich, aber wesentlich anders als die Hunde. b) Beispiele für Ordnungsdüfte sind : der Raubthierduft, der Affenduft, der Wiederkäuerduft, Nagethierduft etc., die in den Stallungen der zoologischen Gärten leicht zu studiren sind. Ob in einem Stall ein Rind , eine Antilope , eine Ziege oder ein Schaf lebt, nie wird man bei seinem Duft an ein Raubthier, einen Affen oder ein Nagethier denken können. c) Unter den Klassendüften fallen uns die Fischdüfte durch ihre grosse Uebereinstimmung auf, aber bei genauer Prüfung wird man dasselbe auch bei den Amphibien, den Reptilien, Vögeln und Säugethieren finden. Man berieche nur einmal Singvogelkäfige , Entenställe, Hühnerställe, Papageienhäuser, Raubvogelkäfige, Taubenschläge u. s . w.: es bleibt bei aller Verschiedenheit etwas Gemeinsames, was keinen Gedanken an ein Säugethier, einen Fisch oder ein Amphibium aufkommen lässt. Bei den wirbellosen Thieren ist freilich die Prüfung schwerer, aber der Krebsduft, Schmetterlingsduft, Wanzenduft etc. sind Beispiele, von denen man sich leicht überzeugen kann. So stehe ich denn nicht an zu behaupten: die Düfte sind auch die formenden 47 -- Stoffe die specifische Seele ist es , die sich auch ihren specifisch geformten Leib baut, sie ist der Entwickelungsarchitekt, HAECKEL'S Plastidulseele. Betrachten wir nun die Duftstoffe an und für sich und legen uns die Frage vor, ob das , was wir von ihrer Natur wissen , sie zu der ihnen hier zugetheilten Rolle befähigt. Hier glaube ich Folgendes anführen zu dürfen. Das Charakteristische ist ihre grosse Flüchtigkeit , was wir nur so erklären können , dass ihre Atombewegungen äusserst lebhaft sind und sie dadurch über grosse Triebkräfte verfügen. Das macht sie unstreitig geschickt, das „,treibende" Element im Körper zu bilden. Auch von der physiologischen Wirkung der Düfte wissen wir , dass sie alle in kleinsten Mengen energisch erregend, reizend wirken. Das Wichtigste scheint mir die merkwürdige Specifität ihrer Wirkung auf den Geruchsinn zu sein. Hier tritt uns aber sofort die ganze Dürftigkeit unseres Wissens entgegen. Was der Schall und das Licht ist, wodurch sich ein Ton vom andern, eine Farbe von der andern unterscheidet, das wissen wir: es sind regelmässige Schwingungen in verschiedener Schwingungszahl. Wir können auch leidlich erklären, wie es kommt, dass wir mit unseren SinneswerkzeugenTöne und Farben unterscheiden, aber was ist ein Geruch, und wie kommt es, dass wir verschiedene Gerüche unterscheiden können? Dass die Erregung unserer Riechorgane durch den Riechstoff keine einfache chemische Reaction ist , geht schon daraus hervor, dass wir nichts riechen, wenn sich die mit dem Riechstoff beladene Luft nicht in unserer Nase bewegt. Ich schliesse daraus und aus der grossen Flüchtigkeit der Stoffe, dass es sich beim Riechen um die Wahrnehmung eigenartiger feinster Bewegungen handelt, ähnlich wie beim Hören und Sehen , aber die Bewegungen sind andersartig. Das Charakteristische für Töne und Farben ist, dass sie eine Scala bilden (hohe und niedere Töne, stark und schwachbrechbare Farben), dass sie in ziffermässigen Relationen ( Octaven, Terzen etc. ) stehen und sich blos quantitativ unterscheiden. Das alles ist bei den Düften nicht der Fall. Wir kennen keine Scala für Düfte, die Unterschiede sind hier nur qualitativ. Ich glaube an einem Bilde am besten zeigen zu können, wie ich mir die Duftbewegungen vorstelle. Die Gerüche gleichen verschiedenen Tonmelodien, zwischen denen wir ja auch keine quantitativen, sondern nur qualitative Differenzen unterscheiden , und bei denen eine ähnliche wirre, bunte und regellose Mannichfaltigkeit möglich ist. Wir können uns nun eine Melodie verkörpern : dies ist in den Spieluhren geschehen , wo auf einer Walze in verschiedenen 48 Distanzen nach Länge und Umfang Stifte vorstehen , die in einer ganz beliebig wählbaren , jede Unregelmässigkeit wie jede Regelmässigkeit zulassenden Zeitfolge die verschiedenen Töne hervorbringen, sobald die Walze rotirt. Die Physik lehrt uns nun, dass die Moleküle eines wägbaren Stoffes zweierlei Arten von Bewegungen ausführen : 1 ) Bewegungen im Raum von einem Ort zum andern : dieselben erfolgen mit einer regelmässigen Pendelung oder Rotirung und machen sich uns fühlbar als Schall , Licht und Wärme , 2) Rotationen um die eigene Achse , wie die Walze in einer Spieluhr, und diese erkläre ich für das Object des Geruch- und Geschmacksinns , und zwar darum : Die Moleküle einer chemischen Verbindung bestehen aus einer Mehrzahl von Element- Atomen von oft äusserster Complication in Zahl und Stellung. Denken wir uns jetzt das Molekül eines Duftstoffes als rotirende Walze einer Spieluhr und die Atome als die Stifte derselben , d. h. als die Punkte , von denen die Reizstösse auf die Riechnerven ausgehen , so erhalten wir, ähnlich wie bei Schall- und Lichtwellen, eine Reihenfolge von Anstössen ; aber während bei einem Ton und einem Lichtstrahl diese Anstösse in ganz genau denselben Zeitabschnitten sich wiederholen, und jeder folgende Stoss qualitativ derselbe ist, wie der vorhergehende, können , ja müssen die Atomstösse bei den Düften der Zeit nach durchaus unregelmässig erfolgen , und da die Atome verschiedenartig sind (bei den Duftstoffen Kohlenstoff- und Wasserstoffatome, oder diese plus Sauerstoff- oder gar noch plus Stickstoffatome) , so setzt sich die Reihenfolge auch noch aus qualitativ verschiedenartigen Anstössen zusammen (Kohlenstoffstössen , Wasserstoffstössen etc.) , so dass die Aehnlichkeit mit der Leistung einer Uhrenwalze noch grösser wird. Ein Duft ist wie eine Musik, nicht wie ein Ton. Es ist hier nicht Raum und Ort , näher zu erörtern , warum durch diese Vorstellung die Physiologie des Geruchsinns (und beim Geschmacksinn ist es höchst wahrscheinlich ähnlich) um vieles verständlicher wird , es ist nur anzugeben , dass hierdurch auch die Seelenfrage entschieden gewinnt. Die Eigenartigkeit der in den thierischen Trieben zur Aeusserung kommenden Bewegungsrichtungen , sowohl bei den biologischen Thätigkeiten als bei dem Aufbau des Leibes während der Entwickelung, stimmt gut zu der Eigenartigkeit der Bewegungen der Riechstoffe , und das bestärkt den Verdacht, sie seien die Seelenstoffe. Freilich ist es noch sehr weit bis zur Erklärung der Leibesform eines Thieres aus den specifischen Bewegungen seiner Seelenstoffe, aber es beginnt durch 49 meine Vorstellung von der Natur der Seele und ihrer Bewegungen sich etwas Habhaftes aus dem metaphysischen und metachemischen Nebel herauszuschälen, in dessen Verfolgung man meiner Ansicht nach das Seelenräthsel und das morphogenetische Räthsel zur Lösung wird bringen können. Das will ich noch hinzufügen : Die Seelenstoffe können der chemischen Untersuchung zufolge in das Molekül des Eiweisses eintreten und durch Behandlung mit Säuren aus ihnen ausgelöst werden. Das Eiweissmolekül ist also das Beseelte *), aber noch nicht Lebendige. Letzteres ist erst das aus verschiedenen Eiweisskörpern (sauren und alkalischen) aufgebaute und deshalb mit elektromotorischen Kräften versehene ProtoplasmaElement. Bei der Erregung des Protoplasma wird Eiweiss zersetzt ; hierbei wird der Seelenstoff frei und wirkt jetzt treibend auf die Maschine des Körpers. Wenn ein Thier ein anderes frisst, verdaut und assimilirt , so findet hierbei eine Auswechselung der Seelen statt : bei der Verdauung wird das Eiweiss des Beutethiers entseelt, bei der Assimilation neu und andersartig beseelt. Endlich versteht sich von selbst , dass ich auch die Düfte der Pflanzen für die Seelen derselben und mithin die Pflanzen ebenfalls für beseelt erklären will. Das sind meine Gedanken über die Seele , die jedenfalls vor andern den Vorzug haben, dass sie uns auf die Bahnen der exacten chemisch-physiologischen Forschung verweisen. Ob ausser der von mir bezeichneten materiellen Seele noch etwas Immaterielles in Thier- und Pflanzenkörpern steckt , wird durch meine Aussprüche durchaus nicht präjudicirt. **) Wer nach dem Grundsatz tres faciunt collegium" den Organismus aus drei Theilen, Körper, Seele und Geist, aufbaut, opfert durch das Zugeständniss, dass die ersten beiden Theile materiell , also sterblich sind , nichts von seinem religiösen Glauben , dem ich nicht im Entferntesten nahe treten will.

  • ) Ich acceptire deshalb den Namen Plastidulseele nicht , sondern sage

Eiweiss-Seele, denn sie ist die elementare Seele.

    • ) Dass wirklich neben der von mir entdeckten ,, Seele" noch etwas Immaterielles vorhanden ist, werden die folgenden Kapitel lehren.

Jaeger, Entdeckung der Seele. 4. Die Entdeckung der Seele. (Wieder abgedruckt aus Kosmos, Zeitschrift f. einheitl. Weltansch. Bd. 1V. 1878. S. 171.) In einem Aufsatz der Deutschen Revue" habe ich die Behauptung aufgestellt, die Seele entdeckt zu haben, indem ich einen ganz bestimmten chemischen Bestandtheil des Körpers als Seele denuncirte, nämlich jenen Stoff, bez. jene Stoffe, welche die völlige Specifität des Ausdünstungsduftes und des Fleischgeschmacks bedingen. Da ich mich im ersten Bande des Kosmos (S. 17 u. 306) über diese Stoffe ausgesprochen habe, so kann ich mich dem Leser dieser Zeitschrift gegenüber kurz fassen ; aber ein Missverständniss muss ich doch beseitigen : Was wir an einem lebenden Wesen (Thier oder Pflanze) riechen und schmecken, ist wahrscheinlich in keinem einzigen Falle nur eine einzige chemische Substanz , sondern ein Gemenge von Stoffen, deren Bedeutung nicht gleichartig ist ; sicher hat ein Theil davon lediglich die eines Auswurfstoffes , der vorher innerhalb des Körpers als solcher eine Rolle spielt , aber nicht die der Seele. Dahin gehören z. B. beim Säugethier wahrscheinlich alle sogenannten Schweiss- Säuren, d. h. Säuren der Fettsäurenreihe, und die Aether derselben. *) Aber nicht blos solche allgemein vorkommenden Ausdünstungsstoffe, wie die genannten, spreche ich von dem Verdacht, die Seele zu sein , frei , sondern auch viele von denen , die man bisher so nach dem allgemeinen Sprachgebrauch unter die Specifica rechnet. So haben gewiss manche der ätherischen Oele, die man den Pflanzen abgewinnt , entweder direct nichts mit der Seele zu thun , oder bilden wenigstens nur noch ein Zersetzungsproduct

  • ) Hier bemerke ich , dass ich nach meinen neueren Erfahrungen diese

und die folgende Reserve für überflüssig halte , was sich besonders aus dem zweiten Abschnitt ergeben wird. 51 derselben und sind dann lediglich Auswurfstoff. Dies geht schon daraus hervor , dass manche dieser ätherischen Oele mehreren verschiedenen Pflanzenarten gemeinschaftlich zukommen. Der Seelenstoff muss absolut specifisch sein ; er darf sich bei gar keiner anderen Species in völlig identischer Weise vorfinden ; was aber sehr möglich, ja fast nothwendig ist, ist Folgendes : Da zwei verwandte Arten verwandte Seelen haben , so kann es nicht ausbleiben , dass bei der Zersetzung des Seelenstoffes der Art A ein Abspaltungsproduct auftritt, das auch bei der Zersetzung der Seele von B erscheint. Das Rettigöl, das Senföl und andere scheinen mir z. B. solche Stoffe zu sein, die nicht die Seele selbst sind, sondern nur eine in ihrem Molekül enthaltene Atomgruppe, die bei der Zersetzung derselben frei wird. So ist es wohl möglich, dass eine dieser flüchtigen chemischen Verbindungen bei weit verschiedenen Thierarten vorkommt und nun zwar nicht deren Seelenstoff selbst, aber doch ein Abspaltungsproduct desselben ist. Ich habe hier unter den Thieren speciell den Moschusduft im Auge. Derselbe kommt bei Tintenfischen, Käfern, Schmetterlingen, Krokodilen , Geiern , Raben , Wiederkäuern , Raubthieren u. s. w. vor, aber bei genauer Vergleichung dieser Moschusthiere" riecht selbst ein weniger feiner Geruchsinn doch sofort beim Moschuskäfer den Käfer, bei der Eledone moschata den Tintenfisch, bei dem Krokodil das Reptil , beim Geier den Vogel und beim Moschusthier den Wiederkäuer heraus. Hier gibt es nur zwei Möglichkeiten : entweder liegen lauter verschiedene Moschussorten vor , oder wir haben es in jedem Falle mit einem Gemenge des specifischen Seelenstoffes, mit einem allgemeinen Zersetzungsproducte desselben zu thun. - Ueberhaupt , wenn meine Behauptung , die Seele sei eine bestimmte chemische Substanz, richtig ist, so unterliegt diese den Gesetzen des Stoffwechsels gerade so gut wie die übrigen Mischungsbestandtheile des Körpers. Das Material zu ihrer Bildung wird von aussen in der Nahrung aufgenommen, und nachdem sie ihre Dienste im Körper gethan wovon nachher wird sie auch wieder abgesondert, und zwar wahrscheinlich nicht ohne vorher die eine oder andere Zersetzung erfahren zu haben. Da ferner diese Zersetzungsproducte genau so flüchtig sind wie die Seele selbst , so muss der Ausdünstungsduft die erstere eben so sicher enthalten als die letztere. Wir werden übrigens weiter unten noch viel genauer die Sache fixiren können und namentlich auch erfahren, auf welcher Fläche des Körpers der Seelenstoff am reinsten, d. h. nicht getrübt durch Auswurfstoffe anderer Art, zur Abdünstung kommt. 4* 52 I. Meinen weiteren Erörterungen stelle ich am schicklichsten das Wort meines Landsmannes SCHILLER Voran aus seinem Gedicht „Die Weltweisen" : Doch weil, was ein Professor spricht, Nicht gleich zu Allen dringet, So übt Natur die Mutterpflicht Und sorgt, dass nie die Kette bricht, Und dass der Reif nicht springet. Einstweilen, bis den Bau der Welt Philosophie zusammen hält, Erhält sie das Getriebe Durch Hunger und durch Liebe. Hiermit verweist der Dichter die von der Philosophie bisher vergebens angestrebte Lösung des Räthsels nicht blos vor das Forum der Naturwissenschaften überhaupt, sondern speciell vor das der Zoologie, in deren Gebiet die Erscheinungen des Hungers und der Liebe gehören. Wie sehr der Dichter den Nagel auf den Kopf getroffen hat, werden die folgenden Zeilen lehren. Versucht ein Leser sich in einem Handbuch der Physiologie darüber zu belehren , was Hunger und Liebe sei , so wird er dort nichts finden als einige Symptome , aber keine Spur davon , was es denn eigentlich für Kräfte sind , die da als treibend , agitirend und schliesslich dirigirend auftreten. Ich glaube das jetzt ganz genau sagen zu könnnen : Die Erklärung des Hungers um mit diesem zu beginnen - ist natürlich nur dann richtig, wenn sie zugleich den Zustand des Sattseins , das Sättigungsgefühl erklärt. Beide Zustände eines lebenden Wesens unterscheiden sich dadurch von einander , dass das Sattsein ein Zustand der Ruhe oder wenigstens des Beruhigtseins, der Hunger ein Zustand der Unruhe, der Aufregung und zwar einer Nervenaufregung ist. Welcher Art ist nun der hier wirksame Nervenreiz ? Die Sache verhält sich folgendermassen : Ein Thier ist satt, wenn seine Körpersäfte so viele leicht oxydirbare Substanzen, insbesondere Fette und Kohlehydrate, enthalten , dass der fort und fort in den Körper eindringende Sauerstoff in der Hauptsache von diesen dingfest gemacht und verhindert wird , die Eiweisstheile des Körpers anzugreifen und zu zersetzen. Sobald nun der Vorrath von Circulationsfett und circulirenden Kohlehydraten erschöpft ist , beginnt , wie die Experimente bei hungernden Thieren unwiderleglich darthun, eine umfänglichere Eiweisszersetzung , und mit ihr erscheint der Hunger. Er ist ein Symptom der Eiweisszersetzung. 53 Wie ich in meinen oben erwähnten Artikeln im Kosmos und in der Deutschen Revue sagte, steckt der Stoff, welchen ich als die Seele bezeichne , im Molekül des Eiweisses . So lange dieses unversehrt ist, befindet sich die Seele im gebundenen Zustand und ist völlig wirkungslos. Mit der Eiweisszersetzung dagegen wird die Seele frei und tritt als selbständig agirender Factor auf. Betrachten wir zuerst die Eiweisszersetzung ausserhalb des Körpers im Reagensglase. Wenn man aus Blut oder Fleisch eines Thieres sich ein möglichst reines , geschmack- und geruchloses Eiweiss darstellt und dasselbe durch eine Säure zersetzt , so erscheint ein flüchtiger Stoff, der bei jeder Thierart anders, also völlig specifisch ist. Je nach der Intensität der Zersetzung gleicht der auftretende Geruch dem specifischen Kothgeruch des Thieres oder dem Geruch, welchen das Fleisch beim Kochen entwickelt - dem specifischen Bouillongeruch. Ersteren erhalten wir z. B., wenn wir zur Zersetzung Phosphorsäure verwenden, letzteren mit der schwächeren Schwefelsäure. Auf diese Differenz kommen wir später zurück. Das von mir gemeinte Specificum steckt im Eiweiss, wird frei, sobald dieses zersetzt wird , und ist in unserem Fall der Nervenreiz , das Excitans oder Nervinum , das die Nervenaufregung des Hungers erzeugt. Dass der specifische Ausdünstungsgeruch eines Thieres (oder einer Pflanze) für ein Thier , das sich von ihm (resp. ihr) nährt, als sehr energischer Nervenreiz wirkt , ist unumstössliche Thatsache und somit die Qualität dieser Stoffe als „Nervina" ausser Zweifel. Was man bisher übersehen hat , ist die Rolle , die sie als Nervina im Leibe ihres Erzeugers spielen. Sie sind hier so gut Nervina, wie ausserhalb desselben; dabei ist es aber nicht so gemeint, dass wir uns selbst riechen oder schmecken, das wäre eine Sinnesempfindung, und eine solche ist der Hunger nicht, sondern ein Gemeingefühl. Der chemische Stoff, um den es sich handelt, durchdringt, als in hohem Grade flüchtig und löslich, den ganzen Körper und wirkt direct auf das ganze Nervensystem, genau so wie ein in unsere Säftemasse gelangtes Medicament oder die von J. RANKE nachgewiesenen Ermüdungsstoffe. - Wenn meine Lehre vom Hunger richtig ist , dann muss ein Thier im Hungerzustand eine stärkere specifische Ausdünstung haben, als wenn es satt ist. Dies ist in der That der Fall : verhungerte Thiere haben einen viel stärkeren Ausdünstungsduft, und ihr Fleisch ist viel reicher an schmeckenden Bestandtheilen. Ein weiterer wesentlicher Punkt bei der Erklärung des Hungers ist , dass die vom Hunger in Scene gesetzte Thätigkeit 54 - unter den geniessbaren Naturgegenständen eine bestimmte Auswahl trifft ; mit andern Worten: die Nahrungswahl muss aus der gleichen Ursache erklärt werden. Auch hierzu reicht meine Lehre vollständig aus. Das Thier nimmt, wenn es die Wahl hat, nur solche Nahrung, deren Ausdünstungsduft bezüglich - Geschmack ihm angenehm ist , und weist alles Unangenehme zurück. Der Kernpunkt der Frage ist also : Was ist angenehm und was ist unangenehm ? Es ist das keine den fraglichen Stoffen an und für sich eigene Qualität wie könnte sonst ein und derselbe Duft dem einen Thier angenehm, dem anderen höchst fatal sein? Die Bewegung , welche das Molekül eines Duftstoffes ausführt, ist an und für sich eben so wenig angenehm oder unangenehm, als ein einzelner Ton. Auf dem Gebiet der Schallschwingungen kommt die Qualität von „ angenehm“ oder „unangenehm“ erst dann in Frage, wenn mindestens zweierlei Töne zugleich erklingen. Angenehm ist dann das, was wir die Harmonie der Töne nennen ; unangenehm ist das Dissonanzverhältniss. Worauf das beruht, setze ich als bekannt voraus. Bei den Gerüchen ist es genau ebenso ; es gehört hierzu das Zusammentreffen von mindestens zweierlei Duftstoffen ; harmoniren die Duftbewegungen des einen mit denen des anderen, so ist das Resultat ein angenehmer, andernfalls ein unangenehmer Eindruck. Die zwei Duftstoffe nun, um die es sich bei der Nahrungswahl handelt , sind erstens der Nahrungsduft, zweitens der Selbstduft und zwar so : Wenn ein Thier hungrig ist, so entströmt sein specifischer Ausdünstungsduft allen Körperoberflächen, also auch der Riechschleimhaut, ja ihr sogar am reinsten , d. h. nicht verunreinigt durch Schweiss- Säuren wie in der Hautausdünstung. Bei einem Hungrigen ist also der Selbstduft in verstärktem Masse auf der Riechschleimhaut vorhanden, und dort findet das entscheidende Zusammentreffen desselben mit dem Nahrungsduft statt. Bezüglich der Geschmackstoffe findet die Begegnung auf den Geschmackspapillen statt. Diese Erklärung leistet alles, was man verlangen kann, nämlich auch das, warum ein und derselbe Speiseduft, der den Hungrigen reizt , ihn gleichgiltig lässt , wenn er satt ist. Im letzteren Fall fehlt das die Reizung begleitende Moment der Harmonie, weil bei einem satten Menschen mit der Einstellung der Eiweisszersetzung auch die Entwickelung des Selbstduftes fortfällt, also letzterer auf der Riechschleimhaut nicht oder nicht in genügender Menge vorhanden ist, wenn der Speiseduft ankommt. Der Ekel vor einer Speise, von der man einmal zu viel oder zu lange Zeit hindurch gegessen hat , lässt sich danach so erklären, dass eine Sättigung 55 des Körpers mit dem Duft- und Geschmackstoff jener Speise stattgefunden hat , beim Hunger nun ein Zersetzungsproduct derselben flüchtig wird und auf Riech- und Geschmacksfläche erscheint, das in Disharmonie mit dem frischen Duft- und Geschmackstoff der Speise steht. So erklärt es sich auch, dass die Zeit diesen Widerwillen heilt. Wenden wir uns nun zur Erklärung der Liebe , wobei ich jedoch etwas voraussenden muss. Es ist eine bekannte Thatsache, dass die verschiedenen Organe eines und desselben Thieres verschiedenartige Duft- und Geschmackstoffe besitzen. Jeder weiss, dass bei gleicher Zubereitung Niere, Leber, Bröschen, Hirn, Muskelfleisch, Kutteln u. s. w. eines Thieres leicht am Geschmack unterschieden werden, und mittelst der Nase überzeugt man sich, dass auch ihre Duftstoffe verschieden sind. Der Arzt weiss ferner, dass Knocheneiter, Lungeneiter, Abdominaleiter , Muskelwundeneiter am Duft deutlich unterschieden werden können. Ja es ist Thatsache , dass manche Aerzte die Krankheiten „riechen" d. h. am Ausdünstungsduft erkennen. Ich sage daher: Jedes differente Organ hat seinen eigenartigen Seelenstoff; es gibt eine Muskelseele , Nierenseele , Leberseele, Nervenund Gehirnseele, die aber alle nur Modificationen d. h. Differencirungen des primären Eiseelenstoffes sind. In welchem Verhältniss sie zu einander stehen, davon später, hier soll nur gesagt werden, dass die Geschlechtstoffe d. h. Eier und Samen ebenfalls ihre eigenthümliche Seelenstoffmodification im Molekül ihres Albuminates führen. Der stark auffallende Geruchstoff des Samens hat längst einen eigenen wissenschaftlichen Namen, aura seminalis; den des Eies nenne ich aura ovulalis. Die Liebe*) - ich meine natürlich hier zunächst nur die geschlechtliche ist ein Zustand der Nervenaufregung, genau wie der Hunger, nur dass sie sich auf andere Gebiete des Nervenapparates wirft: Auch hier ist das Excitans ein flüchtiger, chemischer Stoff, dessen Flüchtigkeit dadurch zu Tage tritt, dass auch er im Ausdünstungsgeruch erscheint: zur Brunstzeit ist der Ausdünstungsgeruch bei allen Thieren nicht blos verstärkt , sondern „modificirt"; dies gilt auch vom Menschen. Allgemein bekannt ist , dass das menschliche Weib zur Zeit der Menstruation einen anderen Ausdünstungsduft hat , an den sich eine Menge von Volksaberglauben knüpft. Erfahrene riechen ihn sofort , und ich kann hinzufügen , dass auch beim Manne mit dem Eintritt der

  • ) Die Erscheinungen der Liebe werden im zweiten Abschnitt eine noch

vollständigere Erklärung finden. 56 Geschlechtsreife eine Veränderung des Ausdünstungsduftes eintritt. Ein Jeder kann sich durch Beriechung der Leibwäsche überzeugen, dass Knabenwäsche anders duftet, als Männerwäsche. Ob zwischen derjenigen von weiblichen Kindern und mannbaren Mädchen ein Unterschied besteht, *) konnte ich noch nicht prüfen, dagegen ist der Geruch von Männerwäsche und Frauenwäsche deutlich erkennbar verschieden. -- Das Excitans , das sich im Geschlechtstrieb äussert, ist beim Manne nun die aura seminalis , beim Weibe die aura ovulalis. An dem unreifen Hoden eines jungen Thieres mangelt die aura seminalis , sie tritt erst auf, wenn der Samen reif ist und wie das ja bei den meisten Thieren der Fall ist sich bewegt. Diese vermehrte physiologische Arbeit ist mit einer Zersetzung der SamenNucleïne, da aber Nucleïn eine Synthese von Lecithin und Eiweiss ist, mit einer Eiweisszersetzung verbunden und zwar, da in dessen Molekül der Duftstoff steckt, unter Entwickelung des letzteren. Dieser durchdringt die ganze Säftemasse und bei manchen Thieren, z. B. den Gemsböcken , so sehr, dass das Fleisch derselben für viele Menschen ekelhaft, ungeniessbar wird. Dass die Geschlechtsdüfte in hohem Grade nervenaufregend sind, wissen wir aus der Wirkung, die sie auf das andere Geschlecht ausüben. Was bisher übersehen wurde , ist , dass sie auch im Leibe ihres Erzeugers als Nervina wirken und die charakteristische Nervenaufregung des Geschlechtstriebes erzeugen. Beim weiblichen Thiere spielt die aura ovulalis die gleiche Rolle. Sie ist nicht so bekannt wie der Samenduft, aber wer z. B. einen reifen Fischrogen beriecht, wird finden, dass sie so energisch ist , wie letzterer. Bei dem Säugethier-Ei entzieht sie sich nur der directen Ermittelung durch die Kleinheit und versteckte Lage des Objects. Bei dem Vogel-Ei kommt uns dieselbe in einem späteren Stadium, dann aber ebenfalls sehr energisch zur Wahrnehmung, denn ein angebrütetes Ei riecht auffallend stark und schmeckt ganz anders als zur Zeit, wo es ruht. Die bei vielen Eiern, namentlich FischEiern, constatirten, schon vor der Befruchtung ähnlich wie bei den Samenfäden eintretenden Dotterbewegungen , die mit Eiweisszerstörung , also auch mit Duftentbindung verbunden sind , sind die Symptome der Eireife. Wie beim Hunger ist auch bei der Liebe der Trieb nicht richtungslos , sondern auf ein bestimmtes Object gerichtet , und die hierbei getroffene Auswahl ist bei allen Thieren , deren physikalischer Seelenapparat nicht zu so überwiegender Entwickelung geIst jetzt ermittelt, siehe Artikel ,, Die sexualen Affecte". 57 langt ist, wie beim Menschen und zum Theil auch den Vögeln, ganz allein von dem Geruchsinn beeinflusst und hängt von der Harmonie und Disharmonie der beiden in Betracht kommenden Duftstoffe ab: Auf der Riechschleimhaut des Männchens ist der Samenduft präsent und begegnet dort dem Eiduft des Weibchens, mit dem es entweder harmonirt oder nicht; das Umgekehrte ist beim Weibchen der Fall. Mit der Ausstossung des Samens und des Eies ist die Quelle der Duftstoffe versiegt, und der Geschlechtstrieb verschwindet. Auch in dem Stück verhält sich die Liebe wie der Hunger, dass der Geschlechtsduft dann keine Wirkung auf das andere Geschlecht macht , wenn dieses nicht selbst im Zustande der Liebe sich befindet : Weil dann der eigne Geschlechtsduft auf der Riechschleimhaut des letzteren nicht präsent ist , so kann der fremde Geschlechtsduft keine angenehme" Qualität erlangen. Ja es kann sogar die Sache . wie beim Ekel vor einer sonst gern genossenen Speise , in's Gegentheil umschlagen. Dies zeigen uns die Thiere. bei denen die Weibchen nach erfolgter Conception ihre Männchen meiden, ja fliehen. Am deutlichsten ist das bei den vielen - wenn auch nicht allen Säugethieren , deren Eier sich im Leibe der Mutter fortentwickeln. Wir müssen deshalb und weil dabei noch andere psychische Erscheinungen auftreten, diesen Fall noch weiter verfolgen. Die geschlechtliche Aufregung legt sich beim Weibchen nach erfolgter Conception deshalb , weil mit ihr offenbar die Quelle für die Entbindung der specifischen aura ovulalis versiegt : Das Ei ist jetzt ein Gemenge von Samen und Dotter und damit seine Ausdünstung entschieden anders geworden ; dieselbe hat ihre nervenreizende Eigenschaft verloren, wir können vielleicht sagen: sie ist neutralisirt. Beim Menschen können wir aber deutlich sehen, dass auch von dem sich entwickelnden Ei noch eine psychische Beeinflussung ausgeht, die nur durch die Emanation eines Duftstoffes aus der Frucht erklärt werden kann , da sie sich in dem Auftreten von Idiosynkrasien des Geschmack- und Geruchsinnes und psychischen Umstimmungen äussert. Thatsache ist, dass schwangere Frauen Speisen und Gerüche zurückweisen , die ihnen vorher angenehm waren , ja oft allen Appetit nach Speisen verlieren , alle Speisen zurückweisen oder umgekehrt Gelüste nach Dingen bekommen, die sie vorher verabscheuten. Dies erklärt sich völlig durch den Umstand , dass auf der Riech- und Schmeckschleimhaut chemische Stoffe vorhanden sind , die vorher nicht gegenwärtig waren, und dass somit für die Speisedüfte und -Geschmäcke andere Harmonie- 58 und Disharmonie-Verhältnisse bestehen. Die psychischen Alterationen erklären sich daraus , dass diese Stoffe auch in der Säftemasse präsent sind und die Erregbarkeit der Nerven beeinflussen. Da das mit der Ausstossung der Frucht aufhört , so können diese chemischen Stoffe nichts Anderes sein , als die Ausdünstungsstoffe der Frucht. Auch der Wechsel der Idiosynkrasien während der Schwangerschaft erklärt sich leicht daraus, dass mit der fortschreitenden Gewebe- und Organdifferencirung der Frucht neue Modificationen der Duftstoffe auftreten : Muskeldüfte, Leberdüfte, Nierendüfte u. s. f. Die Flucht trächtiger Weibchen vor den Männchen erklärt sich vollkommen durch die Annahme , dass die jetzt auf der Oberfläche der Riechschleimhaut zur Präsenz gelangenden Ausdünstungsdüfte der Leibesfrucht in Disharmonie mit dem Brunstduft des Männchens stehen. Bekanntlich kommt diese Mannesscheu während der Schwangerschaft manchmal in einem bis zur Geisteskrankheit sich steigernden Grade vor. Das Charakteristische der sexuellen Liebe ist : 1 ) dass sie nur zur Zeit der Geschlechtsreife vorhanden ist , weil eben das sie bedingende Excitans die Brunstdüfte sind , 2) dadurch , dass sie ein Zustand der Nervenaufregung und vom Verstand d. h. den Erfahrungsmechanismen wenig beeinflusst ist. Hiervon unterscheiden sich die zwei andern Arten der Liebe , die familiäre, Eltern und Kinder zusammenbindende, und die sociale (Freundesliebe) dadurch, 1 ) dass die in Frage kommenden Seelenstoffe nicht die sexuellen , sondern die allgemeinen sind , diese Liebe also unabhängig ist von der Geschlechtsreife ; 2) dass sie viel weniger den Charakter der Aufregung oder Leidenschaft tragen. Am nächsten steht der sexuellen Liebe die Eltern- resp. Jungenliebe , kurz die interfamiliäre ; sie trägt noch am meisten den Charakter des Instinctiven , Leidenschaftlichen , von den Erfahrungsmechanismen weniger Beeinflussten. Deshalb ist auch bei ihr die Betheiligung der Duftstoffe noch sehr deutlich. Schon die Thatsache, dass junge Meerschweinchen, deren Geruchsorgan man zerstört , ihre Mutter nicht mehr erkennen und lieben, und eine Meerschweinchenmutter , deren Geruchsinn zerstört ist, ihre Kinder nicht mehr findet und liebt , ferner die früher (Kosmos Bd. I, S. 316) von mir berichtete Thatsache, dass die Schafmütter ihre Elternliebe nur unter der Bedingung sympathischer Ausdünstung des Jungen bethätigen , zeigt , dass auch bei diesem psychologischen Verhältniss die Duftstoffe der spiritus rector sind. Ich kann ein neues, höchst interessantes, zu leicht anzustellenden Versuchen aufforderndes Beispiel anführen : Einer meiner Bekannten , der von meiner Theorie der Seele 59 gehört hatte, interpellirte mich über die Sache bei einem Besuch, den ich ihm machte, in Gegenwart seiner Frau und seiner Schwiegermutter. Als ich nun davon sprach, dass jeder Mensch vom andern durch seinen Ausdünstungsgeruch unterschieden werden könne, stimmte die Schwiegermutter sofort bei und erzählte mir, sie habe bei ihren verheiratheten Töchtern wiederholt die Beobachtung gemacht , dass ein kleines Kind seine Mutter rieche" d. h. durch den Geruchsinn von andern Personen unterscheide , und zwar in der Weise , dass ein mit geschlossenen Augen daliegendes Kind sich nach der vorübergehenden Mutter gewendet und nach ihr die Arme ausgestreckt habe , während dies niemals geschehen sei , wenn eine andere Person vorüberging. Die Frau eines andern meiner Bekannten behauptet das Gleiche. Dem kann ich hinzufügen : Wenn ein Säugling die gewohnte Brust mit einer fremden vertauschen soll , so passirt es zwar nicht immer , aber oft, dass das Kind die fremde Brust durchaus nicht annehmen will ; dieser Widerstand kann dann gebrochen werden , wenn man die fremde Brust verwittert", indem man Milch von der gewohnten Brust dazu nimmt. Ich bin überzeugt, dass es sogar genügt, wenn die Mutter auch nur das oberflächliche Hautsecret ihrer Brust der fremdenBrust aufstreicht. Ferner: wenn die Mutter einem schlafenden, aber durstigen Kind auch nur die Hand gibt , so sucht das Kind nach der Warze oder sucht zu saugen , während der Vater einen solchen Versuch meist resultatlos machen wird : das Kind unterscheidet Vater und Mutter nach der Hautausdünstung. Es wäre höchst interessant, wenn einer der Leser, der augenblicklich dazu in der Lage ist , Versuche hierüber machen und im Kosmos zur Veröffentlichung bringen würde. 99 Die Erklärung liegt nun wohl darin : Der erste Punkt ist, dass der Ausdünstungsduft von Mutter und Kind verschieden ist, was man am Duft der Wäsche in concentrirter, niemand verborgen bleibender Weise constatiren kann. Damit ist die Möglichkeit sowohl von Harmonie und Disharmonie , als auch von Indifferenz beider Düfte gegeben, und deshalb sehen wir auch, dass bei zahlreichen Thierarten die Alten sich um ihre Jungen , beziehungsweise Eier , nicht im Geringsten kümmern , ja manche sie sogar auffressen und tödten ; letzteres geschieht allerdings meist nur väterlicherseits. Interfamiliäre Bande sind also keine allgemeine Erscheinung , sondern geknüpft an die Harmonie der allgemeinen Duftstoffe von Mutter und Kind. Durch diese Annahme wird auch erklärt , warum die interfamiliäre Liebe meist von begrenzter Dauer ist. Mit der bei den heranwachsenden Jungen vor sich gehenden Abänderung des Duftstoffes, wobei namentlich der Moment 60 der Geschlechtsreife der Jungen oder umgekehrt das Auftreten einer neuen Brunstperiode bei der Mutter eine grosse Rolle spielt, schlägt das Harmonieverhältniss oft plötzlich in's Gegentheil um, in Disharmonie oder in Indifferenz. Die sociale Liebe , welche die gesellig lebenden Thiere verbindet, und deren sublimste Form die Freundesliebe beim Menschen ist, entwickelt sich offenbar erst secundär, zunächst aus der interfamiliären , und darum spielt bei ihr die Erfahrung und Gewohnheit , bei der die physikalischen Sinne natürlich in hohem Grade Antheil nehmen, eine erhebliche Rolle. Deshalb ist die Mitwirkung der Duftstoffe hier nicht so augenfällig , wenigstens in positiver Bedeutung, aber um so deutlicher doch in negativer. Wir denken z. B. nie daran , dass ein Theil der Sympathie , die uns an einen Freund und Genossen bindet , auch dem Umstande zuzuschreiben ist , dass er eine uns sympathische Ausdünstung hat , aber doch hat Jeder schon erfahren, dass ein Mensch, dessen Ausdünstung uns permanent unsympathisch ist, nie Object eines eigentlichen Freundschaftsbundes wird. Ich will endlich nur daran erinnern, dass die sociale Spaltung zwischen Juden und Christen eine „ instinctive" und auf die mangelnde Harmonie ihrer Ausdünstungsdüfte zurückzuführen ist. Der Volksmund nennt ja deshalb den Juden „ stinkend“ , eleganter spricht man jetzt von „ psychischer Disharmonie" . Dieselbe Disharmonie besteht zwischen Weissen und Negern, zwischen ersteren und Chinesen u. s. f. Diese Differenz der Rassen- und Völkerdüfte spielt eine gewaltige Rolle in der Geschichte der Menschen und Völker. Das führt uns natürlich auf die Kehrseite der Liebe, auf Hass , Angst und Furcht. „ Instinctiver" Hass und „,instinctive" Furcht entspringen dem Verhältnisse der Disharmonie zwischen Selbstduft und Objectduft . MORITZ CARRIÈRE hat in der Beilage der Allgemeinen Zeitung ( Nr. 220 und 221 ) meine Seelentheorie besprochen. Er sagt, Anfangs habe er geglaubt, er habe es mit einer Mystification zu thun , ein Schalk wolle den Einfall : in der Seele einen greifbaren Stoff und Mischungsbestandtheil zu sehen , persifliren, allein er habe sich doch bald vom Gegentheil überzeugt. Nur zu meiner Bemerkung, dass das Thier seinen Feind instinctmässig, d. h. weil er stinke, fürchte, macht er die Anmerkung : „Hier ist aber doch der Spass offenbar. " Ich entgegne ihm, dass ich dabei in völligem Ernste bin, und dass Jeder sich davon äusserst leicht überzeugen kann. Herr CARRIÈRE verfüge sich nur einmal in die Raubthierhäuser eines zoologischen Gartens und er wird finden, dass alle Raubthiere für unsere Nase stinken, ja dass den infamsten, geradezu fascinirenden Gestank dasjenige Raubthier besitzt, welches 61 - des Menschen natürlichster „, instinctmässiger" Feind ist , das sich zu ihm verhält, wie die Katze zur Maus, nämlich der Tiger. Es ist bekannt , dass die Anwesenheit einer Katze in einem Haus, selbst wenn diese keine einzige Maus fängt wie das von den zahlreichen Angorakatzen der Pariser Ladenbesitzer und Portiers fast ohne Ausnahme behauptet werden darf -, meist genügt, um die Mäuse aus einem Hause zu vertreiben. Es geschieht das durch nichts Anderes , als dadurch, dass der Maus die Ausdünstung der Katze so fürchterlich ist , wie uns die des Tigers. Was ist es denn, was den Hasen mit einemmal in panischen Schreck versetzt, wenn ihm die Witterung eines Fuchses, eines Hundes oder des Jägers in die Nase kommt? oder das Schaf, wenn es den Wolf wittert? Gestank ist es. Doch damit ist die Sache durchaus nicht erledigt, wie schon einfach daraus hervorgeht , dass Hass, Angst, Furcht , Freude, Trauer , Zorn , Wuth etc. nicht blos von Empfindungen der chemischen Sinne, sondern auch von den physikalischen Sinnen, ja sogar von blossen Vorstellungen etc. aus angeregt werden. Wenn aber die specifischen Duftstoffe nicht noch in anderer Weise, als durch Erregung von Sinnesempfindungen betheiligt wären, so könnte meine Deutung desselben als „ Seele" mit Recht verworfen werden. Doch will ich das einem besonderen Abschnitt vorbehalten , und zum Schlusse hier nur noch die Erwartung aussprechen, es möchte, nachdem ich dem vom Dichter dem Zoologen zugewiesenen Problem, „ Hunger“ und „ Liebe “ zu erklären, gerecht geworden, der analytischen Chemie gefallen, die hier activ und selbständig auftretenden Stoffe zum Gegenstand ihres Studiums zu machen. II. Haben wir im ersten Abschnitt gesehen , dass die mehr physischen Affecte , wie Hunger und Liebe , die Folge der Emanation von flüchtigen, mit grossen Triebkräften ausgestatteten Stoffen sind, die der Eiweisszersetzung entspringen, so ist es die Aufgabe dieses Abschnittes, zu zeigen, dass sich dies bei den vorwiegend psychischen Affecten ebenso verhält, und dass aus der Wirkung dieser Stoffe sich auch die Erscheinungen des Willens erklären lassen. Zuerst muss die qualitative Frage erörtert werden. Ich habe früher gesagt , jedes Organ, beziehungsweise jede Gewebsart, enthalte ihren specifischen Seelenstoff in Gestalt ihres specifischen Duftes. Beim Hunger handelt es sich nun um eine Entbindung 62 aller dieser Duftarten , weil die Eiweisszerstörung in allen Geweben, wenn auch nicht in allen gleich stark, stattfindet ; was somit hier als Nervenreiz auftritt, ist ein mixtum compositum aus allen. Bei der sexuellen Liebe handelt es sich um die sogenannnten „ Brunstdüfte" d. h. den Samenduft und den Eiduft. Bei den im engeren Sinne „psychischen Affecten", wie Trauer, Freude , Zorn, Wuth , Hass, Hoffnung , Angst , Furcht etc. , sowie bei den Erscheinungen des Willens *) handelt es sich nun um die specifischen Duftstoffe des Gehirns, also um den Gehirnseelenstoff. Jede Erregung des Nervenapparats , mag sie von Sinnesorganen oder von innen heraus erfolgen, verläuft mit einer Zersetzung von beseelten Gehirnstoffen, wobei deren Seelenstoff frei wird. Diesem kommt ebenso , ja wahrscheinlich in noch höherem Grade als den Duftstoffen der anderen Organe, die Eigenschaft eines Nervinum d. h. eines Stoffes zu , der sehr energisch auf den Nervenapparat wirkt. Ehe wir nun die dabei obwaltenden Umstände betrachten, muss zuvor das Verhältniss besprochen werden, in welchem der Gehirnseelenstoff zu den Seelenstoffen der übrigen Organe steht : Das Verhältniss ist das der Beherrschung. Gerade so wie das Nervensystem den ganzen Körper physikalisch beherrscht , übt es auch die chemische Herrschaft aus ; die Gehirnseele spielt jedesmal mit, wenn irgend etwas im Körper vor sich geht, und bei allen Empfindungen ist sie die erste, welche ihren Einfluss in die Wagschale legt, weil sie hierbei jedesmal frei wird und selbständig handelnd auftritt. Wie ? werden wir später sehen. Die Herrschaft ist jedoch keine unbedingte; schon bei der Liebe sahen wir , dass hier ein Seelenstoff zur Wirkung kommt, der anderswo, nämlich aus den Generationsstoffen entspringt und die Gehirnseele gelegentlich fast vollständig zu unterjochen vermag. „ Die Liebe ist blind. " Auch beim Hunger geräth der letztere unter die Botmässigkeit von Seelenstoffen, die anderwärts ihren ursprünglichen Sitz haben. Einen dritten Fall bieten uns die Krankheiten , wovon ich übrigens erst weiter unten ausführlicher sprechen will. ― Für die Erscheinungen , welche der Gehirnseelenstoff hervorbringt, ist es von grösster Wichtigkeit , dass bei der Eiweisszersetzung der darin enthaltene Duftstoff, wie schon oben gesagt , in zwei antagonistischen Modificationen auftritt , nämlich bei Anwendung schwächerer Zersetzungsmittel als „ Bouillonduft" , bei An-

  • ) Was in diesem Artikel über den Willen gesagt wird , ist ungenau

und wird in späteren Artikeln richtig gestellt werden. 63 wendung von stärkeren als „ Kothduft" . Wir wissen nun längst, dass diese Duftstoffe für den , der sie riecht , ganz entschiedene Nervina sind und zwar von entgegengesetzter Wirkung: der Bouillonduft wirkt belebend , angenehm , excitomotorisch , Appetit erregend , der Fäcalduft unangenehm , ekelerregend , depressorisch. Was man bis jetzt übersehen hat, ist erstens, dass auch im lebenden Körper , je nach der Stärke des Reizes , beide Modificationen , die ich in der Folge als „Lustduft" oder Lustmodification der Gehirnseele , und „Unlustduft" oder Unlustmodification unterscheiden will , auftreten und dass sie dann im Körper ihres Erzeugers gerade so auf den Nervenapparat wirken , als wenn sie mit der Athmungsluft oder mit Speisen in ihn eindringen. Der Erstere wirkt dann excitomotorisch, erhöht die Erregbarkeit und Leitungsfähigkeit des Nervenapparates und bedingt so den psychischen Affect der Lust, Freude , Fröhlichkeit und des Thätigkeitstriebes, steht also in nächster Beziehung zu den Beschleunigungsnerven. Der Letztere dagegen bewirkt den Affect der Unlust; Trauer, Niedergeschlagenheit , Angst etc. und steht in näherer Beziehung zu den Hemmungsnerven. Dass dem so ist, lässt sich leicht zeigen, denn im Zustand der Angst ist der Ausdünstungsgeruch und Fleischgeschmack eines Thieres ganz anders, als in der Freude. Am leichtesten gelingt der Nachweis bei der Angst, speciell beim höchsten Grade derselben, der Todesangst. Das hat Jeder erfahren , der öfter Thiere getödtet hat. Ich will hierzu eines eigenen, mir in peinlicher Erinnerung gebliebenen Falles aus meiner Studentenzeit erwähnen, bei dem ich einen Fachgenossen, Dr. ALBERT GÜNTHER am britischen Museum, zum Zeugen habe. Als völlige Neulinge wollten wir in des Letzteren Elternhause behufs Fertigung eines Skelettes eine Katze tödten. Da wir es ungeschickt angriffen, so gelang es uns erst nach mehreren verzweifelten Anstrengungen , wobei die Katze ihren Harn auf den Zimmerboden entleerte. Es erfüllte sich nun nicht blos sofort das Zimmer mit einem intensiven Gestank, sondern dies wiederholte sich durch länger als ein Jahr jedesmal so oft der Zimmerboden wie der aufgewaschen wurde. BREHM sagt in seinem ,,Thierleben" (Bd. I, S. 539), dass einem von Berittenen gehetzten Wolfe, wenn er sich endlich in höchster Todesangst gelähmt und wehrlos stelle, „ ein abscheulicher Geruch entströme". Bekannt ist ferner, dass das Fleisch von Hirschen , die auf der Parforcejagd erlegt werden, so durchtränkt von Ekelstoffen ist , dass man es überall nur den Hunden zu fressen gibt. Ein weiterer, sehr leicht zu beobachtender Fall ist der, dass Hunde, wenn sie geprügelt werden, 64 sobald sie dabei in grosse Angst gerathen, einen intensiven Gestank verbreiten. Derselbe entstammt freilich manchmal einer in der Angst so leicht eintretenten Koth- oder Harnentleerung, aber diese Excrete stinken eben dann viel heftiger als sonst, namentlich der Harn. Oft aber ist von einer Entleerung durchaus nichts wahrzunehmen, sondern der Geruch kommt ganz entschieden nur aus der Haut und mit dem Athem hervor. *) In einer weniger extremen Quantität tritt dieser Stoff als der sogenannte „ Wildgout" auf. Um Hammelfleisch oder Schweinefleisch ,, wild" zu machen , hetzt und ängstigt man das Thier vor dem Schlachten, woraus deutlich zu sehen ist, dass der Wildgout nichts anderes ist als der Angststoff. Gewiss ist Jedem, der öfter Wildpret geniesst, schon aufgefallen, dass manchmal der Wildgeschmack sehr stark, manchmal sehr schwach ist ; dies rührt nur davon her, dass im letzteren Fall das Thier durch einen unvermutheten, rasch tödtenden Schuss, im ersteren erst nach längerer Verfolgung oder längerem Todeskampf erlegt wurde. Ein anderer Fall, der bis zu einem gewissen Grad ein Gegenstück ist, weil wir hier den angenehmen Luststoff zur Wahrnehmung bringen, ist leicht bei Fischen zu beobachten. Jeder Angler weiss aus Erfahrung, dass selbst solche Fische, die von den Hausfrauen auf dem Markt als geschmacklos verachtet werden, wie z. B. die Nase und der Schuppfisch, vortrefflichen Wohlgeschmack haben, wenn man sie unmittelbar nach der Entreissung aus ihrem Element tödtet, während sie allen Wohlgeschmack verlieren , wenn man sie entweder im Trockenen sich zu Tode zappeln oder in einer Legel oder einem Fischkasten sich abängstigen lässt. Es gilt auch von Edelfischen , wie dem Hecht und der Forelle , dass sie frisch aus dem Wasser viel besser sind als aus dem Fischkasten, und ich esse deshalb schon längst , ausser wenn ich anstandshalber dazu genöthigt bin , keinen Süsswasserfisch, den ich nicht selbst gefangen habe. Das kann nur so erklärt werden, dass der Angststoff der Fische zwar für unsere chemischen Sinne kein Ekelstoff, aber doch dem uns angenehmen Luststoff des Fisches entgegengesetzt ist . Da ein Fisch, der nach der Angel fährt , im Stadium der zu den Lustgefühlen gehörigen Begierde ist , so ist der Wohlgeschmack der geangelten Fische die Lustmodification der Fischseele.

  • ) In demselben Augenblicke, da dieser mein Aufsatz fertig zur Druckerei abgehen soll, ist mir die Gelegenheit gegeben worden, den Angststoff auch im Harn des Menschen zu riechen und zwar in einer wahrhaft frappanten und überzeugenden Weise, in Folge einer intensiveren Gefahr, durch die zwei meiner Familienglieder in grosse Alteration und Seelenangst versetzt worden.

65 Beim Hunde und wohl den meisten Säugethieren ist es umgekehrt: hier wirkt der Angststoff stark auf unsere chemischen Sinne, der Luststoff dagegen schwach ; aber schon der Umstand, dass ein Hund in freudig erregter Gemüthsstimmung entschieden nicht stinkt , beweist , dass hier ein antagonistisch sich verhaltender Duftstoff frei wird. Wenn ich übrigens meine langjährigen Erfahrungen mit Hunden zu Rathe ziehe, so bin ich überzeugt, dass wir auch beim Hunde den Luststoff deutlich riechen. Wenn ein Hund in freudiger Erregung seinen Herrn umspringt , an ihm aufsteigt und ihn im Gesicht leckt, so hat sein Athem einen entschieden stärkeren und zwar keineswegs unangenehmen Geruch. Hierzu gehört nun allerdings der Nachweis , dass diese Verstärkung des Athemduftes in der Freude nicht einfache Wirkung der vermehrten Körperarbeit, sondern an die bestimmte psychische Erregung geknüpft ist. Entscheidend würde sein, wenn sich nachweisen liesse, dass ein Hund bei Ableistung einer quantitativ gleichen, aber nicht mit psychischer Erregung verbundenen Körperarbeit, z. B. im Tretrad oder am Hundewagen, diese Steigerung des Athemduftes nicht zeige. Meine Wahrnehmungen sind hierzu nicht frisch genug. Endlich müsste auch festgestellt werden , dass der Hund im Hungerzustand qualitativ anders duftet als in der Freude. Vielleicht ist einer meiner Leser in der Lage, es zu prüfen und in dieser Zeitschrift Mittheilung zu machen. *) Ich kann übrigens in gewissem Sinne den Hund selbst zum Zeugen aufrufen, und das ist zugleich ein neuer Beitrag zum Kapitel der „ Sympathie und Antipathie". Wenn man einen Hund in Gegenwart eines anderen Hundes prügelt oder nur in Angst versetzt, so beisst der letztere in der Regel nach ihm ; ist dagegen ein Hund in freudig erregter Stimmung, so reisst er sehr leicht andere Hunde in die gleiche Stimmung hinein. Sollte das nicht daher kommen, dass der geprügelte Hund, weil er stinkt , den Hass des anderen auf sich zieht , der freudige Hund dagegen , weil er für die Nase seines Genossen wohlriecht , diesen ebenfalls anheitert ? Da der Hund in hervorragendem Masse „ Geruchthier" ist , scheint mir diese Erklärung sehr wahrscheinlich. Uebrigens ist der Sache noch auf andere Weise beizukommen, beziehungsweise muss der Beweis für meine Aufstellungen noch von anderer Seite erbracht werden. Mein Cardinalsatz lautet : Die als Seele wirksamen Duftstoffe stecken im Mo-

  • ) Diese Lücke ist jetzt ausgefüllt : der Hund duftet in der Freude quali- tativ anders als in Seelenruhe und so auffallend , dass Jedermann es riechen kann.

Jaeger, Entdeckung der Seele. 5 66 - lekül des Eiweisses, und die psychischen Erscheinungen gehen deshalb Hand in Hand mit der Eiweisszersetzung. Wenn das richtig ist, so muss sowohl bei freudiger Erregung als auch bei Angst eine stärkere Eiweisszersetzung nachgewiesen werden können, als bei blosser Muskelarbeit. Dies ist in der That der Fall: 1 ) Alle Beobachter stimmen darin überein , dass bei Muskelarbeit entweder gar keine Stickstoffvermehrung oder eine nur sehr unbedeutende im Harn gefunden wird. 2) Dr. BOECKER und Dr. BENECKE *) haben nachgewiesen, dass bei intensiv freudiger Erregung die Menge der im Harn zur Ausscheidung gelangenden Umsatzproducte der Eiweisszersetzung sehr bedeutend vermehrt ist. 3) Das Gleiche ist von PROUT und HAUGHTON beim Menschen für die Angst nachgewiesen. Von den Thieren ist es längst bekannt, dass das Fleisch zu Tode gehetzten Wildes grosse Mengen des der Eiweisszersetzung entstammenden Kreatins , sogar bis zu drei Proc. der Trockensubstanz , enthält. Der dritte Beweis für die Richtigkeit meiner Behauptung, dass bei den antagonistischen Affecten antagonistisch sich verhaltende Duftstoffe die Ursache sind, liegt in der Thatsache, dass die chemischen Sinne entgegengesetzt alterirt sind. Im Zustand der Lust und Freude haben Mensch und Thier nicht blos gesteigerten Appetit , sondern das Essen „ schmeckt ihnen ", wie man sagt , es berührt ihre chemischen Sinne sehr angenehm. Umgekehrt im Zustand der Unlust, Trauer, Angst, Niedergeschlagenheit, schlechter Laune: „ das gleiche Essen schmeckt ihnen nicht“ , d. h. es ist nicht im Stande , einen angenehmen Eindruck auf ihre Sinnesorgane zu machen. Diese bisher unbegreifliche und doch alltäglich zu beobachtende Thatsache erklärt sich aus meiner Seelenlehre höchst einfach Im Zustand der Fröhlichkeit ist auf Riech- und Geschmacksschleimhaut die Lustmodification des Gehirnseelenstoffs präsent, im Zustand gemüthlicher Depression die Unlustmodification , und mit letzterem stehen Speisedüfte und -Geschmäcke , die mit dem ersteren harmonisch sind, in Disharmonie. Der vierte und entscheidendste Beweis wäre natürlich , wenn man auch aus dem todten Gehirn direct die beiden Duftmodificationen durch Zersetzungsmittel so entwickeln könnte , wie dies z. B. beim Hühnereiweiss so leicht gelingt. Mein College Dr. O. SCHMIDT, Professor der Chemie und Physik an der Stuttgarter Thierarzneischule , hat die bei der Knappheit seiner Zeit sehr hoch zu

  • ) Benecke, Pathologie des Stoffwechsels, S. 50.

67 schätzende Güte gehabt , in meiner Anwesenheit einige Versuche vorzunehmen. Ich gebe in kurzem das Resultat. - Das erste ist , dass im Vergleich zu Hühnereiweiss , aus dem erst die Kochhitze den Duft zu entwickeln vermag , selbst wenn man sehr starke Säuren zugesetzt hat die Duftstoffe des Gehirns sehr leicht frei werden , nämlich schon ohne jede Er- hitzung. - Das zweite Resultat ist : Sofort nach dem Säurezusatz tritt blitzartig schnell ein Ekelduft auf, der eben so rasch verfliegt, als er erschienen ist. Von da an kann man machen , was man will , es erscheint nur jener Duft , den Jeder an einem gekochten Hirn wahrnimmt (Bouillonduft). Dieses Resultat deute ich so : Die von uns angewandten Zersetzungsmittel (Phosphorsäure, Oxalsäure, Schwefelsäure) sind auch im verdünnten Zustand schon so starke Reize, dass sie sofort die Unlustmodification entbinden , und es wird sich zeigen , ob es bei weiterer Fortsetzung der Versuche gelingt , Zersetzungsweisen zu finden , welche die Lustmodification entbinden. Ferner : Der als Nachwirkung auftretende Duftstoff scheint mir ein „Tertium" zu sein, nämlich ein Stoff, aus welchem die eigentlichen Gehirnseelenstoffe erst heranreifen müssen ; und zwar so : Wir wissen von den Drüsen , dass sie , um ihr Specificum , z. B. Pepsin , secerniren zu können, erst geladen" werden müssen. Die Ladung stammt von Stoffen , bei denen z. B. das Pepsin nicht schon als solches vorgebildet zu sein braucht , die also bei andersartiger Zersetzung gar nicht Pepsin liefern würden, sondern eine andere Atomgruppe, die man allenfalls ein „ Pepsinogen" nennen könnte. In diesem Sinne ist möglicherweise der dritte Hirnduft nicht Psyche selbst, sondern ein „Psychogen" , das unter normalen Verhältnissen im lebenden Gehirn gar nicht zur Entwickelung kommt, sondern höchstens bei pathologischen Processen. Wenn das Psychogen in diesem Fall, woran ich kaum zweifeln möchte , eine psychische Wirkung ausübt, so wird diese nach dem Eindruck, den sie auf unsere Sinnesorgane macht , eine excitomotorische sein. Vielleicht bedingt dasselbe die Tobsucht-Erscheinungen im Beginne acuter Geisteskrankheiten ? ist vielleicht Delirienstoff ? Kurz , wir stehen hier beim Gehirn in chemischer Beziehung noch vor Räthseln , gerade so wie in morphologischer und physikalischer Beziehung. Jedenfalls liegt in dem Resultat dieser wenigen Entbindungsversuche durchaus nichts gegen meine Seelenlehre Sprechendes, im Gegentheil : die hohe Zersetzbarkeit , die extreme Flüchtigkeit des Ekelstoffes sind Eigenschaften der Gehirndüfte , die durchaus dafür sprechen. Die hier nachgewiesene chemische Empfindlich5* 68 keit entspricht der bekannten physikalischen Empfindlichkeit. Immerhin liegt aber so lange , bis die Versuche besseren Erfolg haben, der Schwerpunkt der Beweisführung darin, dass am lebenden Thier die antagonistische Differenz zwischen Angststoff und Luststoff laut zu unseren chemischen Sinnen spricht. Zum Verständniss der Seelenerscheinungen gehören ferner folgende zwei Punkte: Eine Sinnesempfindung - möge sie nun von den chemischen oder von den physikalischen Sinnen ausgehen - ruft durchaus nicht immer einen Affect hervor, sondern erst wenn der Eindruck einen gewissen Schwellenwerth erreicht. Erreicht er diesen nicht, so bleibt die Thätigkeit des Seelenapparates eine rein contemplative (Wahrnehmung) oder verstandesmässige (Beobachtung, Ueberlegung, Beurtheilung) , kurz einfache , sogenannte geistige Arbeit , bei der es sich nur um physikalische Erregungscirculation durch die Erfahrungsmechanismen handelt. Das von mir als Seele (psyche) Bezeichnete kommt hierbei gar nicht in Betracht , sondern ausser der physikalischen Thätigkeit der Erfahrungsmechanismen und Sinneswerkzeuge nur der Geist (pneuma) , der , wie wir später sehen werden , der Träger des Bewusstseins und etwas von der ,,Seele" ganz Verschiedenes ist. Dass dem so ist, sehen wir erstens daran, dass bei einfacher Wahrnehmung auch bei Reflexen von Affect keine Rede ist , zweitens daran , dass auch sonst keine Symptome von Eiweisszersetzung denn nur bei ihr tritt die Seele in Action - wahrzunehmen sind. BENECKE sagt (a. a. O. S. 117): - „Die Zunahme der Ausscheidung von Phosphorsäure und Chlornatrium in Folge von angestrengter geistiger Thätigkeit wurde von JUL. VOGEL festgestellt. Aber die Gewissheit über die Steigerung des Stickstoffumsatzes durch geistige Arbeit ist bis dahin noch nicht erreicht." Ich bin auch überzeugt , dass es sich hier verhält, wie bei der reinen Muskelarbeit : man wird nichts finden, denn es handelt sich hierbei um keine Eiweisszersetzung. Dafür ist mir das sicherste Zeichen eben das , dass sich kein Affect einstellt ; dieser erscheint erst , wenn die Erregung des Nervenapparates so stark wird, dass eine Eiweisszerstörung erfolgt, oder so lange fortgesetzt wird , bis die leichten oxydabeln Stoffe des Nervenapparates aufgebraucht sind, und der Sauerstoff die Hirnalbuminate angreift. Der zweite Punkt, und zwar ein neuer, bisher von der Physiologie wenig beachteter und nicht erklärter, ist folgender : Ueberschreitet die Erregung der Erfahrungscentra den ich es nennen will Schwellenwerth des Affectes nicht, so klingt wie 69 die Erregung allmählich ab, dieselbe bleibt auf die Erfahrungsmechanismen beschränkt und hinterlässt als Nachwirkung nur die Erinnerung, die als Thätigkeit des Bewusstseins aufzufassen ist. Ist dagegen der Schwellenwerth des Affectes überschritten , so haben wir es mit einer Nachwirkung zu thun. Zum Verständniss derselben gelangen wir , wenn wir annehmen , dass die Erregung die specifischen Gehirnseelenstoffe frei gemacht habe : Diese sind nun zwar wohl flüchtig und werden schliesslich aus dem Körper hinausgeschafft, allein das geht nicht so rasch , namentlich wenn ihre Menge grösser war. Deshalb bedingen sie psychische Zustände" von längerer oder kürzerer Dauer , und darin liegt der gewaltige Unterschied zwischen einer unbeseelten Maschine und einem beseelten Organismus . Beide reagiren auf den Anstoss, aber bei letzterem ist die Nachwirkung eine länger anhaltende Stimmung, weil bei dem Anstoss Stoffe entbunden werden , welche die Erregbarkeit erhöhen fröhliche Stimmung , Lustgefühl - oder herabsetzen traurige, deprimirte Stimmung. Bei der ersteren findet nichts dergleichen statt, eine industrielle Maschine ist weder traurig noch fröhlich, sondern sie arbeitet eben einfach oder ruht. - - Wenden wir uns jetzt , nachdem die Grundlagen gewonnen, zur Erklärung der wesentlichsten Affecte. Trifft ein genügend starker Sinnesreiz harmonischer Qualität die Sinnesorgane eines Thieres, so wird der Zustand der Begierde erzeugt. Der Reiz ist angenehm, und bei der Zersetzung der Gehirnsubstanz tritt die excitomotorisch wirkende Lustmodification des Gehirnseelenstoffes auf: das Thier handelt , ergreift das Object seiner Begierde , seines Hungers oder seiner Liebe. Ist das geschehen, so kommt die Nachwirkung : der excitomotorische Gehirnseelenstoff ist nicht sofort neutralisirt , oder verduftet. Er wirkt. nach und erzeugt die fröhliche, freudige, gehobene Gemüthsstimmung , die wir Freude nennen. Gelingt dagegen die Ergreifung des Objects der Begierde nicht, so dauert die Erregung nicht blos fort , sondern sie gewinnt an Stärke , so dass endlich der Stärkegrad erreicht wird , bei welchem der Gehirnseelenstoff nicht mehr in der excitomotorischen Lustmodification , sondern in der deprimirend wirkenden „ Unlustmodification" erscheint. Das Resultat ist die traurige, niedergeschlagene , deprimirte Stimmung : das, was wir Trauer nennen. Hieran schliesst sich der Zustand der Hoffnung oder Erwartung. Die Ursache der hier vorliegenden Nervenaufregung ist ebenfalls die Lustmodification des Gehirnseelenstoffes, aber die Entbindung desselben geht nicht von den Sinnescentren, sondern von den Erfahrungs- oder Erinnerungscentren aus, und die Sinne 70 entbehren eines Objectes , weshalb die Thätigkeitsauslösung ausbleibt. Werden die Sinnesorgane von einem genügend starken Reiz getroffen, der disharmonischer Natur ist , so sind zwei Fälle möglich: Der eine Fall ist der, dass die Erregung mässige Stärke hat, so dass nun bei der stattfindenden Eiweisszerstörung der Gehirnseelenstoff in der excitomotorischen , Thätigkeit auslösenden oder Thätigkeitslust erzeugenden Lustmodification auftritt . Der niedere Grad des jetzt auftretenden Affectes ist das Muthgefühl. Steigt die Erregungsstärke und damit die Quantität des excitirenden Seelenstoffes, so erscheint der Affect des Zornes , und noch eine Stufe höher auf der Intensitätsscala steht die Wuth. Mit dem Ausdruck Hass bezeichnen wir nur eine sich constant bleibende Beziehung zwischen dem Subject und einem bestimmten Object, wobei von letzterem stets eine disharmonische Sinnesempfindung (oder Vorstellung) des obigen Stärkegrades ausgeht. Ist durch die von dem excitomotorischen Seelenstoff ausgelöste Thätigkeit das widrige Object vernichtet, so bleibt als Nachwirkung des Luststoffes zuerst der Affect der Freude, der dann allmählich zu dem geringeren Affect der Befriedigung abklingt, bis mit der Abdunstung des Luststoffes die Nervenaufregung sich gänzlich gelegt hat und „ Seelenruhe" eintritt. Ist dagegen die Entfernung oder Vernichtung des widrigen Objectes nicht gelungen, so dauert die Erregung fort und cumulirt sich, bis endlich die Stärke erreicht wird, bei welcher der Seelenstoff in der Unlustmodification auftritt. Das Resultat ist die Furcht, von der Trauer dadurch unterschieden, dass sie mit Unruhe verbunden ist, weil der excitomotorische Stoff noch eine Zeit lang fortwirkt. Ist dieser verschwunden , dann kommt die Trauer, Resignation. - Der zweite Fall ist, dass eine Empfindung (oder Vorstellung) eine noch höhere Reizstärke erreicht , so dass jetzt der Gehirnseelenstoff nicht mehr in der excitomotorischen Lustmodification, sondern in der deprimirenden Unlustmodification erscheint, dass die Reizstärke um mich technisch auszudrücken den Schwellenwerth der Unlust überschreitet. Der jetzt auftretende Affect ist die Angst , die sich steigert bis zur Todesangst. Bei niederen Graden sehen wir noch Bewegungsauslösungen , aber dieselben finden in Motionscentren statt , die Antagonisten von denjenigen sind, welche durch die Lustmodification erregt werden. Mässige Gefahr erregt die Angriffscentra , das Vorwärtsbewegungscentrum, die Centra der Streckmuskeln und Schliessmuskeln. Der Angst- 71 stoff erregt die Fluchtcentra , die Centra der Beugemuskeln und der Oeffnungsmuskeln u. s. f. Wird der widrige Eindruck noch stärker , so erfolgt zwar eine plötzliche intensive Bewegungsauslösung, das Erschrecken, Entsetzen, dem aber rasch die Erscheinungen der Lähmung durch Ueberreiz folgen (lähmende Wirkung des Schreckens), und dieser Lähmungszustand ist die Angst. Das ungestörte Abklingen dieses Affectes liefert die Trauer, Niedergeschlagenhe . - Ist dagegen ein Thier der Gefahr glücklich entronnen, so ist die Nachwirkung ganz anderer Art. Der Angststoff kann nicht sofort beseitigt werden, er wirkt noch fort, aber neben ihm tritt jetzt der Lust- oder Freudestoff auf, weil die von der Gefahr ausgegangene Erregung zwar noch nicht aufgehört hat sie wirkt nämlich noch in den Erinnerungscentren nach, aber viel schwächer. So erscheint bei der von ihr bewirkten Eiweisszersetzung nicht mehr die Unlustmodification des Gehirnseelenstoffes , sondern die excitomotorische Lustmodification . Das Geschöpf ist jetzt in einer gemischten, zwischen Angst und Freude hin und her schwankenden Stimmung, bis endlich die freudige deshalb die Oberhand gewinnt, weil die Quelle der Angststoff- Entbindung versiegt ist , der letztere abdunstet, und der Freudestoff allein übrig bleibt, bis endlich mit seiner Ausstossung der Zustand der „ Seelenruhe" zurückkehrt. Das letzte Stadium ist, wenn man sich einer glücklich überstandenen Gefahr erinnert; dann erscheint bei der geringen Reizstärke, welche die Erregung der Erinnerungscentra (im Vergleich zu der der Empfindungscentra) besitzt , nur die Lustmodification der Gehirnseele, und der von ihr erzeugte Affect ist immer der der Freude. Nur wenn die Erinnerung noch recht lebhaft ist , kann im Anfang noch einmal die Angststoffmodification zur Entbindung kommen. Im Bisherigen glaube ich den Leser davon überzeugt zu haben, dass durch die Wirkung der Luststoffe sich die im engern Sinne ,, seelischen Affecte" vollkommen ebenso ungezwungen erklären lassen, als die mehr somatischen Affecte des Hungers und der Liebe , und wenn wir noch das rein somatische Gemeingefühl der Ermüdung hereinziehen würden, so könnten wir die Casuistik völlig erschöpfen , was hier nicht meine Absicht ist. Es bleibt nun zunächst noch übrig zu zeigen, dass auch einige Erscheinungen des Willens aus den Wirkungen der von mir bezeichneten Seelenstoffe erklärt werden. Der Wille ist so recht eigentlich der Spiritus rector der Leibesmaschine , denn er entscheidet zwischen Thun und Lassen und die Richtung von beiden. Hier kommen die Duftstoffe (und Geschmackstoffe) in dreifacher Weise zur Geltung. 72 1 ) Unmittelbar thätig sind sie durch ihre Präsenz auf Riechund Geschmackschleimhaut , indem sie dort die Qualität des chemisch Angenehmen und des chemisch Unangenehmen bedingen und auf diese Weise bestimmen, ob etwas begehrt oder verabscheut wird. 2) Mittelbar thätig bei der Sinnesempfindung sind sie dadurch, dass an der Hand der chemischen Sinne, wie leicht nachgewiesen werden kann, die Erziehung der physikalischen Sinne , Gehörsinn, Gesichtsinn und Tastsinn , erfolgt. Endziel der ganzen Erziehung des lebenden Geschöpfes ist die Selbsterhaltung und die Fortpflanzung, und in beiden Zielen handelt es sich um die Herstellung der richtigen chemischen Relationen : auf dem Gebiet der Selbsterhaltung um die Einverleibung der chemisch richtigen Nahrung und die Feindesflucht , die Flucht vor den chemisch und dadurch auch mechanisch überlegenen Feinden ; auf dem Gebiet der Fortpflanzung um die Auffindung von und die Verbindung mit einem andern lebenden Wesen, dessen Geschlechtsstoffe in der richtigen chemischen Relation mit den eigenen stehen. Hier sprechen überall zuerst und zuletzt die chemischen Sinne das entscheidende Wort, und die physikalischen sind blosse Zwischenstation , blos Mittel zum Zweck und werden deshalb von den ersteren geschult. Am leichtesten kann man das beim neugeborenen Menschenkind sehen. Dasselbe prüft die sich ihm darbietenden Objecte zuerst chemisch, d. h. es steckt sie in den Mund, und da es nach dem früher Gesagten einen sehr feinen Geruchsinn hat, so führt dies auch zu einer Prüfung mit der Nase. An die hierbei gemachten Erfahrungen knüpfen die Empfindungen, die durch die physikalischen Sinne vermittelt werden , an und können allerdings so vollkommen erzogen werden , dass sie der Bemutterung von Seiten der chemischen Sinne nicht mehr bedürfen. 3) Entscheiden die Duftstoffe auch innerlich zwischen Thun und Lassen, Lieben und Hassen , Beschleunigen oder Hemmen, „Ja“ oder „Nein", weil je nach der Intensität des Reizes der Gehirnseelenstoff entweder in der excitirenden, dem „ Ja“ entsprechenden Lustmodification, oder in der dem „ Nein" entsprechenden depressorischen , bewegungshemmenden Ünlustmodification auftritt. Experimentell erhärtet ist, dass durch alle Motionscentra hindurch das Gesetz des Antagonismus geht, jedes Centrum hat seinen das Gegentheil hervorrufenden Antagonisten. Indem nun durchweg die Lustmodification für den einen , die Unlustmodification für den andern der beiden Antagonisten der ädaquate Reiz ist , ist der Luststoff bildlich gesprochen der Steuermann der Maschine, der rechts oder links, vorwärts oder rückwärts, Angriff oder Flucht, 73 Bewegung oder Streckung, Oeffnung oder Schliessung, Beschleunigung oder Hemmung commandirt resp. ausführt. Kurz die Selbstdüfte führen das Commando und handhaben das Steuerruder der Körpermaschine, sie sind der Wille". Dieser ist völlig unfrei , wenn nur die eine Modification auftritt ; erscheinen dagegen gleichzeitig beide , so findet ein Kampf der Antagonisten statt , bis einer die Oberhand bekommt Entschluss. Nun sind noch zwei Nachträge zu machen, der erste bezieht sich auf die psychische Beeinflussung durch pathologische Vorgänge. Sie besteht in Folgendem : Sobald irgendwo ein krankhafter Process eine Eiweisszerstörung in Scene setzt , so werden Duftstoffe entbunden , welche den Seelenapparat afficiren , eben weil sie „nervina" sind. Die krankhaften Eiweisszerstörungen gehören nun fast immer in die Kategorie der Eiweisszerstörung durch starke Reize , wobei die Eiweiss- Seele in der Unlustmodification frei wird. So erklärt es sich , dass fast alle Krankheiten ein lebendes Wesen in den Zustand der traurigen , niedergeschlagenen Seelenstimmung versetzen, dass sie fast alle mit Alterationen der chemischen Sinne verknüpft sind : Appetitlosigkeit, Widerwillen gegen Speisen überhaupt oder bestimmte Speisen, Widerwillen gegen Düfte. Bekanntlich wirken in dieser Weise Krankheiten der Verdauungsorgane ganz besonders stark , und das erklärt sich jetzt sehr einfach dadurch , dass hier ohnehin schon die Bedingungen zur Entbindung der Eiweiss- Seele in der „Fäcal"- oder „Unlustmodification" gegeben sind, denn sie findet ja hier stets auch im gesunden Zustand statt. Sobald nun hier krankhafte Reizung vorhanden ist , so wird sie eine fortdauernde Quelle grosser Mengen von „ Fäcalduft". Indem dieser den ganzen Körper , also auch den Nervenapparat , durchdringt, erzeugt er die für Verdauungskranke so charakteristische psychische Depression. Ich bezweifle nicht, dass meine Seelenlehre auch auf dem Gebiet der Geisteskrankheiten manches Licht bringen wird, muss das aber Andern überlassen, da ich kein Psychiatriker bin. Eine andere Seite der pathologischen Wirkung der Seelenstoffe ist folgende. Bekanntlich ruft Angst wässerige Exsudation im Darm bis zu unfreiwilligen Koth- Entleerungen hervor. Dies glaube ich jetzt als directe , lähmungsartige Beeinflussung der Darmwände durch den in's Blut gelangenden Angststoff ansehen zu müssen. Nun gewinnen wir dadurch und durch das , was ich in meiner kürzlich erschienenen Schrift *) über Immunität gegen Ansteckung sagte, eine weitere Erklärung für die Thatsache, dass

  • ) ,, Seuchenfestigkeit und Constitutionskraft und ihre Beziehung zum

specifischen Gewicht des Lebenden. " Leipzig, 1878, Ernst Günther's Verlag. 74 durch Angst die Seuchenfestigkeit eines Menschen sofort abnimmt (ganz besonders bei der Cholera) : Einerseits begünstigt der erhöhte Wassergehalt der Darmcontenta die Vermehrung der belebten Fermente , andrerseits ist mit der Halblähmung der Darmwände die Energie der mit dem Ferment um die Nährstofflösung kämpfenden Gewebszellen der ersten Wege geschwächt. Der zweite Nachtrag hat das zum Gegenstand , was der Psychologe das Temperament nennt. Auch hier bringt meine Seelenlehre erhöhte Klarheit und ersetzt die blosse Symptomatologie durch die Angabe der Ursache der Symptome. Ich verzichte aber hier ebenso, wie bei den Affecten, auf eine Besprechung der ganzen Casuistik , sondern halte mich an die gewöhnliche Viertheilung der Temperamente. Die Erscheinungen des sanguinischen Temperaments erklären sich so : Der Seelenstoff ist hier mit dem Eiweisskern lockerer verbunden, wird leichter frei, weshalb ein Sanguiniker leicht in Affect zu versetzen ist. Hiermit harmonirt die grössere Flüchtigkeit des Duftstoffes, durch welche die kurze Dauer der Affecte erklärt ist. Endlich weist die Leichtigkeit , mit der der eine Affect wieder in den entgegengesetzten umschlägt, auf eine leichtere Zerstörbarkeit des Seelenstoffes hin. Das Gegenstück ist der Choleriker. Bei ihm haftet der Gehirnduftstoff sehr fest am Eiweisskern , weshalb ein solcher Mensch sehr schwer in Affect zu versetzen ist. Damit harmonirt die Dauerhaftigkeit der Affecte : der einmal entbundene Stoff hat eine grosse mechanische Adhäsion an die lebendige Substanz. Weiter harmonirt damit die geringe Zersetzbarkeit , so dass ein Affect nicht so leicht in einen anderen umschlägt. Ganz besonders beweisend für meinen Cardinalsatz , dass die Affecte Symptome der Eiweisszersetzung sind, ist das phlegmatische Temperament. Dasselbe ist charakteristisch für Leute, die viel Organfett in sich abgelagert haben. Da Fett leichter oxydabel ist als Eiweiss, so nimmt es den Sauerstoff für sich in Anspruch, und es kommen mithin immer nur geringe Mengen von Eiweiss zur Zersetzung , also auch geringe Quantitäten von Seelenstoff zur Entbindung. Magere , fettarme Leute sind keine Phlegmatiker, sondern entweder Choleriker oder Sanguiniker. Das melancholische Temperament scheint darauf zu beruhen, dass der Gehirnseelenstoff eine besondere Neigung dazu hat , in der Unlustmodification frei zu werden grosse Zersetzungsfähigkeit desselben. 75 III. Das bisher Gesagte sind Dinge, die Jeder, dem es Ernst um die Sache ist , nachprüfen kann , und wenn Jemand finden sollte, dass ich hier und da falsch oder ungenau beobachtet habe , so lasse ich mich gern rectificiren. Dass diese Dinge mit einem Schlage völlig klar gestellt werden können , erwarte ich am allerwenigsten. Was ich aber mit Bestimmtheit behaupte, ist das, dass der von mir wohl jetzt ganz klar bezeichnete Mischungsbestandtheil eines lebenden Wesens dessen Seele ist. MORITZ CARRIÈRE, der meine Seelenlehre im Allgemeinen günstig aufnimmt, sagt a. a. O.: „ So seltsam JAEGER'S Hypothese sich ansieht, sie trägt das Wahrheitskorn in sich : der Organismus bedarf einer Gestaltungskraft, und diese ist die Seele , und wir nehmen ihre Individualität in dem Gepräge wahr , das sie dem Ausdünstungsstoff gibt , den die in der Atmosphäre sich auflösenden Theile des Organismus auf ganz eigenthümliche Weise an sich tragen. " Also CARRIÈRE erklärt die Düfte für Producte der Seele , ich für die Seele selbst. Welches Recht habe ich dazu? Erstlich habe ich das des Entdeckers, der seine Sache taufen darf. Wenn CARRIÈRE das entdeckt hätte , was er unter „ Seele“ versteht, dann hätte er das Recht, dem Kind den Namen zu geben. Wir werden übrigens nachher sehen, dass die Sache schon längst getauft ist, ich also nicht einmal mehr freie Wahl habe. Weiter möchte ich ihm Folgendes entgegnen : Die Ausdünstungstoffe sind allerdings wieder das Product irgend einer Ursache , aber sie spielen , wie ich jetzt deutlich genug gezeigt habe, eine höchst active, selbständige Rolle und haben auf Grund dessen das Recht der Majorennität erlangt. Um ein Beispiel zu gebrauchen: So lange Jemand noch ein unselbständiges Kind ist, bezeichnet man ihn als den Sohn seines Vaters, in dem Augenblick aber, wo er majorenn geworden , führt er einen eigenen Namen. Das Gleiche würde ich dem antworten , der mir entgegnen wollte, diese Stoffe seien Producte des Leibes. Ich habe gezeigt , dass diese Stoffe in dem Gehäuse des Leibes die Rolle des Herrn im Hause spielen , und daraus ergibt sich zum mindesten die Gleichberechtigung in der Benennungsweise. Kein Mensch leugnet, dass die Triebe, die Instincte, die Affecte und der Wille in das Kapitel der Seelenerscheinungen gehören. Wenn nun ein Naturforscher die Entdeckung macht, dass alle diese Erscheinungen ihre Erklärung in der Anwesenheit eines ganz bestimmten, „ freien" , greifbaren, chemischen Stoffes finden , so wird er da das Kind ja unter allen Umständen getauft werden 76 99 muss unbedingt nach dem ihm bereits offerirten bekannten und populären Wort greifen , anstatt ein neues mit Hilfe des griechischen Wörterbuches zu schmieden. Eines ist richtig: es könnte ein Streit um das Wort" entstehen. Es gibt wenig Worte, die so maltraitirt worden sind und noch werden , wie das Wort „ Seele". Ich erinnere nur an die Worte ,, Weltseele" und „Atomseele". Das Wort „ Seele" spielt gegenwärtig eine ähnliche Rolle , wie seiner Zeit in der Zoologie das Wort „ Infusorium“ , worunter man all' das kleine Zeug verstand, das man mit blossem Auge nicht sehen kann. Genau so wird jetzt das Wort „ Seele" für alles das gebraucht, was man überhaupt, auch mit dem Mikroscop , nicht sieht. Deshalb ist das Schicksal , welches das Wort durch meine Entdeckung erfährt , genau das gleiche , welches das Wort „Infusorium" über sich ergehen lassen musste. Die Detailforscher auf dem Gebiete der Zwergorganismen haben das letztere zum Namen einer ganz bestimmten, zoologisch wohl abgegrenzten Gruppe derselben gemacht, und so mache ich es auch : es ist das Entdeckerrecht , und wenn in Zukunft einer etwas anderes mit diesem Worte bezeichnete, so hätte er dazu ebenso wenig ein wissenschaftliches Recht , als wenn Jemand heute in EHRENBERG'- scher Manier eine Diatomee ein Infusorium nennen wollte. In einen Wortstreit könnte ich übrigens nur mit den Philosophen kommen, nicht aber mit der Theologie. Allerdings hat sich bei den Theologen unter dem Einflusse der dualistischen Philosophie eine gewisse Laxheit des Ausdrucks eingeschlichen, insofern sie zum Theil die Worte Seele und Geist verwechseln oder synonym gebrauchen. Wenn z. B. von der Unsterblichkeit der Seele gesprochen wird, so ist das gegen die biblische Anschauung, nach welcher die Seele sterblich und, wie Moses sagt, im Blute steckt, und nur der Geist unsterblich ist. So lange die sterbliche Seele, welche durch die Bezeichnung „ sterblich" auch vom Theologen für ein Object der Naturforschung erklärt ist, von letzterer nicht entdeckt war, konnte man eine solche Nachlässigkeit des Ausdrucks sich wohl erlauben. Es wird aber fortan nicht mehr angängig sein, und ich möchte die Theologen auffordern , nicht durch Beibehaltung dieser laxen Methode die schon ohnedies grosse Verwirrung der Geister zu vermehren. Die Frage nach der Natur des „Geistes" kann ich kurz dahin beantworten : derselbe ist transcendent , und seine Function ist die Vorstellung. Dass derselbe von etwas anderem ausgeht als von den Seelenstoffen , schliesse ich ganz einfach daraus : Während , wie der Leser sah, durch die von mir bezeichneten Stoffe sich vollständig all' die Kräfte erklären lassen, 77 die in den Trieben, Instincten und Affecten zu Tage treten ; während wir durch die Annahme einer freilich noch völlig dunklen physikalischen Stimmung der Erfahrungscentren *) uns wenigstens bildweise eine Erklärung der Leistung des morphologischen Nervenapparates auf dem intellectuellen Gebiete geben können , ist und bleibt das Wesen der Vorstellung transcendent. Bei der lakonischen Fassung meiner vorläufigen Notiz in der ,,Deutschen Revue" war es unvermeidlich, dass meine Anschauungen theilweise missverstanden wurden. Durch die obigen Auseinandersetzungen halte ich jede Möglichkeit eines Missverständnisses für beseitigt und glaube deshalb auch der Mühe enthoben zu sein, die in einigen Besprechungen meiner Seelenlehre zu Tage getretenen Missverständnisse einer besonderen Besprechung zu unterziehen. Zum Schluss noch eins : Von theologischer Seite bin ich belehrt worden , dass ich einen Theil der Priorität an Moses abzutreten habe , der erklärt , dass die Seele „im Blute stecke". MORITZ CARRIÈRE bin ich sehr verbunden für die Mittheilung, dass bereits CARUS den Ausdünstungsduft als die Seele" bezeichnet hat. Derselbe nimmt die Seele als das individuelle Bildungsprincip an, das Tiefinnerliche, das sich im Leib ein Symbol seines Wesens gestaltet und aus der Sphäre des Unbewussten sich in das Licht des Bewusstseins erhebt. " Er sagt : „ Es ist nicht blos die feste , bleibende Gestaltung, es ist noch mehr vielleicht die stille, tiefe Erzitterung unbewusster Gefühle , welche in dem Aeussern sich spiegelt , welche im Ton der Stimme anklingt und in Wärme, Duft und elektrischer Spannung sich kundgibt , wodurch auch der bewusste Geist berührt wird. Ueberhaupt ist es diejenige Seite sinnlicher Erkenntniss , welche wir mit dem Namen Geruch belegen , worin , eben weil ihr stets der in der Luft sich auflösende Organismus wahrnehmbar wird, namentlich die Wahrnehmung der Qualität unbewusster Existenz einer anderen Seele gewährt wird. " Ein gewisses Prioritätsrecht gebührt also unstreitig CARUS, und ich will es durchaus nicht verkleinern, namentlich unterscheidet auch er scharf zwischen Seele und bewusstem Geist. Doch glaube ich, ist seine Priorität bei der Entdeckung der Seele kaum grösser , als OKEN'S Priorität bezüglich der Entdeckung der Zelle. Deshalb wird man mir einiges Verdienst bei derselben auch vom objectiven Standpunkt nicht absprechen können. Höchst merkwürdig ist , dass , wie uns M. CARRIÈRE belehrt, GOETHE, der so vieles erst später Klargestelltes gerochen" hat, auch die Seele roch.

  • ) Vergl. m. Lehrbuch der allg. Zool. Bd. II. § 114. Leipzig, 1877. Ernst Günther's Verlag.

5. Der Angststoff. In meiner kürzlich erschienenen Schrift *) sagte ich S. 79 über die Hautausdünstung: - " „Die Therapie hat schon seit lange, ja früher sogar viel mehr als in der letzten Zeit, mit richtigem Instinct die Bedeutung derselben erkannt und in ihr irgend eine Materia peccans gesucht. Als die physiologische Schule entdeckte, dass fast lediglich nichts darin ist als Wasser denn die flüchtigen Säuren sind minimal -, kam die Hautausdünstung officiell in Misscredit , und nur die Beobachtung, dass befirnisste Kaninchen stets sterben, verhinderte, dass man sie zu andern überwundenen Standpunkten in die Rumpelkammer warf. Ich glaube sie wieder in ihr volles Recht einsetzen zu müssen; freilich nicht, weil ich in ihr eine sublime neue Materia peccans entdeckt habe , sondern weil sie fast lediglich Wasser ist." - Diesen Ausspruch muss ich jetzt , nachdem ich die „ Seelenstoffe" entdeckte, erheblich modificiren ich habe nun eine neue sublime Materia peccans darin gefunden , nämlich den Angststoff ohne aber irgend etwas von dem zurücknehmen zu müssen, was ich über das Wasser als Materia peccans in jener Schrift gesagt habe. Die Wichtigkeit der Hautausdünstung für unser Befinden gewinnt jetzt eine damals von mir nicht entfernt geahnte Höhe und meine Lehre von der Seuchenfestigkeit eine werthvolle Bereicherung, worauf ich schon in dem vorhergegangenen Aufsatze kurz hingedeutet habe. Der Zweck dieser Zeilen ist,

  • ) Seuchenfestigkeit und Constitutionskraft und ihre Beziehung zum specif.

Gewicht des Lebenden. Leipzig 1878. Ernst Günther's Verlag. 79 eine weitere Ausführung jener Andeutungen zu geben und die Rolle , die der Angststoff im Körper spielt, einer genaueren Analyse zu unterwerfen , weil darin die praktische Bedeutung meiner Entdeckung der Seele liegt. Die Beobachtung, dass bei Eintritt der Angst , namentlich deutlich bei der Todesangst, ein heftig- und übelriechender Stoff dem geängstigten Wesen entsteigt, ist eine alte. So heisst es z. B. im Simplicius , „dass der Stoff, so einem in Angst und Noth entfähret , ärger stinkt , als wenn man eine starke Purganz ge- nommen". In Schauspielerkreisen ist es allgemein bekannt , dass jene Angst, die als „Lampenfieber" den ausübenden Künstler vor erstmaligem Auftreten , vor neuen Vorstellungen u. s. w. befällt , von der Absonderung eines sehr widrig riechenden, besonders dem fortwährend zur Entleerung drängenden Harn anhaftenden Stoffes begleitet ist . Der stinkende Angststoff lässt sich bei jedem Thiere mit prononcirterem Ausdünstungsduft leicht und jeder Zeit nachweisen . Ich habe ihn neuerdings wiederholt meinen Zuhörern an einer Wechselkröte demonstrirt : Sobald man dieselbe quält, entströmt ihr ein penetranter specifischer Duft, der erheblich verschieden ist von dem schwachen Duft, den man vorher an ihr wahrnimmt. Es kann übrigens hierzu fast jedes andere , nicht zu kleine Thier benützt werden. Der Duft ist nach meinen allerdings noch verhältnissmässig spärlichen Erfahrungen nicht an ein bestimmtes Excret gebunden, sondern haftet allen an. Bei der genannten Kröte war er deutlich im Athem, bei den Hunden ist kein Zweifel, dass er aus der Haut hervorkommt und, ebenso wie beim Menschen, im Harn fixirt ist . Bei den Ringelnattern, wo er äusserst heftig auftritt, haftet er besonders an den Excrementen, die bei dem nicht geängstigten Thiere keinen auffallenden Geruch haben. Das Gleiche fand ich bei einem Gürtelthier, dass ich einer Temperaturbeobachtung wegen in einen engen Raum eingesperrt hatte. Also damit, dass bei der Angst ein specifischer Duftstoff auftritt , sage ich durchaus nichts Neues. Das Neue ist Folgendes : 1 ) Dass die Ursprungsstätte dieses Duftes das Gehirn des Thieres ist : Wenn man das Gehirn eines plötzlich getödteten Thieres das also keine Zeit hatte , seinen Angststoff vorher zu vergeuden in einer Reibschale zerreibt und mit einer Säure begiesst, so erscheint sofort ein Duft, der offenbar identisch ist mit dem einem geängstigten Thiere gleicher Art entströmenden.


- 2) Bisher hat man das Auftreten des Angststoffes theils völlig 80 ignorirt, theils als etwas Accidentelles, als eine Begleit- Erscheinung angesehen, die nicht selbst wieder als wirkende Ursache im Körper auftritt; während meine Lehre dahin geht: Die Entbindung des Angststoffes ist allerdings die Folge einer heftigen Nervenerregung disharmonischer Art, allein in dem Augenblick, in welchem der Stoff frei geworden, und bis zu dem Augenblick , in welchem er, den Gesetzen der Gasdiffusion folgend , den Körper wieder verlassen hat , wird er zur Ursache eines ganz eigenthümlichen , für die Angst charakteristischen Verhaltens des Gesammtkörpers und der einzelnen Theilmechanismen , für das man bisher keine Erklärung hatte. Die Wirkung des Angststoffes im Körper lässt sich im Grossen und Ganzen , wie ich schon im ersten Aufsatz sagte , als eine paralytische und hemmende bezeichnen. Man kannte diese Erscheinung wohl, allein man glaubte bisher, sie als eine von den cerebralen Nervencentren ausgehende, auf den Nervenbahnen sich bewegende Beeinflussung der Theilmechanismen auffassen zu müssen; das ist falsch. Die Erscheinung ist ganz so wie bei einem anderen Gemeingefühl, z. B. dem der Ermüdung: es handelt sich um directe Einwirkung eines in die Säftemasse gelangten und damit alle Gewebe imbibirenden, von der Anwesenheit von Nervenbahnen ganz unabhängigen chemischen Stoffes. Nur so ist es zu erklären , dass die Angst ein „ Gemeingefühl" , nicht eine localisirte Empfindung ist, und dass sie alle Theile des Körpers , also auch die vegetativen Organe ergreift, ja diese sogar in hervorragendem Masse. Betrachten wir dies genauer. Der paralytische Einfluss auf das Nervensystem und den motorischen Apparat tritt in dem von PREYER als Kataplexie , von CZERMAK als Hypnotismus bezeichneten Zustand zu Tage. Wenn die genannten Forscher bei ihren Versuchen ihre Geruchswerkzeuge zu Hilfe genommen hätten , so wäre ihnen nicht entgangen, dass sich bei Eintritt der Kataplexie der Angststoff entwickelt. Zur Kataplexie kommt es jedoch nur in den extremsten Graden der Angst, d. h. wenn grosse Mengen von Angststoff zur Auslösung kamen. In niederen Graden haben wir es nur mit der Erregung von Hemmungscentren zu thun, doch ist auch hierbei ein gewisser Grad von Muskelparalyse unverkennbar. Im Bereich der willkürlichen Bewegung bemerken wir unter ähnlichen Verhältnissen , dass eine ganze Reihe von Bewegungen trotz aller Anstrengung der Beschleunigungscentren ausbleiben : „die Glieder versagen den Dienst", die Stimme oder Sprache stockt in der Kehle (vox faucibus haesit)". Gelingen trotzdem die Bewegungen, so sind sie kraftlos, zitternd, unsicher. 81 Im Bereich der unwillkürlichen Bewegungen finden wir 1) Hemmung der Athmungsbewegungen: „Zusammenschnüren der Brust , Ringen nach Athem"; 2) Hemmung der Herzbewegung bis zu völligem Herzstillstand , dem dann als ErmüdungsPhänomen das Ueberwiegen des Herzbeschleunigungscentrums, galoppirender Puls, folgt ; 3) Hemmung der Blutbewegung durch Erregung der pressorischen , die Blutgefässe verengenden Nerven, worauf das sichtbare Erblassen der Haut beruht. Liesse sich nun alles vorher Gesagte am Ende durch einfache Weiterleitung des physikalischen Erregungsvorganges in den Nerven erklären - wobei freilich immer noch wunderbar wäre , warum die Erregung so wenig localisirt bleibt , und der Vorgang so sehr dem Gesetz der isolirten Leitung widerspricht, so schliesst die Alteration der vegetativen Organe jede rein physikalische, ,,nervöse" Erklärung aus. - In den vegetativen Organen ist das Charakteristische für den Angstzustand das Auftreten paralytischer Secretionen : 1 ) In der Haut der Angstschweiss : Dieser ist um so charakteristischer, als sonst die Schweissbildung eintritt, wenn die Hautcapillaren erweitert und reich durchblutet sind. Wir bezeichnen deshalb auch mit völligem Recht den Unterschied zwischen ,,Angstschweiss " und „ Erhitzungsschweiss" damit, dass wir ersteren den ,, kalten Schweiss" nennen. Er tritt ein trotz der Contraction der Capillaren , die sonst der Schweissbildung ungünstig ist, weil eben die Schweissdrüsenzellen durch den Angststoff gelähmt sind. 2) In der Darmwand sehen wir als Wirkung des Angststoffes ebenfalls eine paralytische Secretion ; wässrige Entleerung in den Darm , welche unter Mitwirkung der von dem Angststoff ausgelösten peristaltischen Bewegungen des Darms und der Lähmung der Schliessmuskeln des Afters zur unfreiwilligen Entleerung wässriger Excremente führt. 3) Auch in der Leber tritt paralytische Secretion auf, freilich mit dem Unterschied , dass das , was der Volksmund trefflich als „Ueberlaufen der Galle" bezeichnet, kein Symptom des reinen Angstzustandes ist , sondern eines gemischten Gemüthszustandes, bei welchem noch der erethische oder excitomotorische Seelenstoff neben dem hemmenden und lähmenden Unluststoff wirkt. 4) Paralytische Secretion von Harn , auf die schon mehrmals hingewiesen ist. 5) Ausschliesslich chemisch ist die nicht zu leugnende Thatsache zu erklären , dass bei hochgradiger und langandauernder Angst die Haare bleichen. Es scheint dem Angststoff Jaeger, Entdeckung der Seele. 6 82 eine ähnliche bleichende Wirkung zuzukommen wie manchen ätherischen Oelen , z. B. dem Terpentinöl, indem sie Ozon bilden. Aehnliche Wirkungen kommen nun aber nicht blos dem Gehirn- Angststoff zu , sondern der Unlustmodification aller in den verschiedenen Organen vorhandenen Seelenstoffe , und ausserdem noch den Fäcalmodificationen der Speisedüfte , welche im Körper stets zur Entbindung gelangen. Der Körper producirt also fortwährend „ Angststoffe im weiteren Sinne des Wortes", und die Bestimmung derselben ist : nach aussen abgegeben zu werden. Sobald nun die Abgabe derselben gehemmt wird , wird der Körper in Folge ihrer Ansammlung psychisch afficirt : er kommt in einen Zustand , der der Angst vollkommen ähnlich ist und auch vom vulgären Sprachgebrauch ganz ebenso bezeichnet wird. Man hat bisher die Ansicht gehegt, die Entleerung der Ekeldüfte, die sich z. B. aus den Speisedüften bilden, erfolge nur mit dem Koth, ohne zu bedenken, dass Stoffe von so extremer Flüchtigkeit unmöglich im Darm länger festgehalten werden können, sondern nothwendig in die Säftemasse gelangen müssen. Ein schlagender Beweis dafür, dass dies wirklich geschieht , ist der fäcale Geruch , den der Eiter von den Abscessen in der Bauchhöhle stets an sich trägt; sowie auch, dass man beim Schlachten eines Thieres ihn sofort beim Eröffnen der Bauchhöhle überlaut riecht, ehe noch der Darm verletzt ist . Meine Behauptung geht also dahin, dass der Haut- und Lungenausdünstung die Hauptaufgabe bei der Entfernung der Angststoffe zufällt ; denn von dieser Annahme aus erklären sich jetzt sofort einige bisher unerklärlich gebliebene Erscheinungen: Thatsache ist, dass Unterdrückung der Hautausdünstung eine Verschlechterung der psychischen Stimmung zur Folge hat: „ es wird Einem angst und bang" . Dieses Gefühl überkommt einen nicht blos, wenn man in einer die Ausdünstung hemmenden Kleidung , z. B. einem Kautschukmantel , steckt , sondern genau so , wenn man in einem mit Menschen überfüllten, schlecht ventilirten Raum weilt. Auch dann , wenn durch eine plötzliche Dislocation des Blutes aus der Haut in die Tiefe die Ausdünstung gehemmt wird, stellt sich Bangigkeit ein, Beispiel : Fieberangst. Das Entgegengesetzte zeigt uns der günstige Einfluss , den jede Beförderung der Ausdünstung auf die psychische Stimmung hat. Wie eine Wolke hebt es sich von uns , wenn wir aus einem überfüllten Raum in die freie Luft treten. *) Ja

  • ) Siehe über dieses und die vorhergehende Alinea die mathematischen Experimente im zweiten Abschnitt.

83 selbst im Freien ist der Gegensatz zwischen ruhiger, stagnirender Luft bei Windstille und zwischen frischer, bewegter Luft noch höchst auffallend: Die erstere versetzt uns in niedergedrückte Stimmung, die letztere erfrischt“ uns, stimmt uns heiter und munter. Dies lässt sich durch alle Momente verfolgen , welche auf die Hautausdünstung befördernd wirken, z . B. Wäschewechsel, kalte Waschungen, Bäder, insbesondere Schwitzbäder. Wenn wir uns lebhaftere Körperbewegung machen, so kann sich, wenn man schwer zum Transspiriren kommt, zuerst ein Gefühl von Bangigkeit einstellen; dieses weicht sofort einer gehobenen , fröhlichen Stimmung, sobald mit dem Ausbruch des Schweisses nicht blos die Abgabe von Wasser und Wärme, sondern auch die der Angststoffe flott wird. Endlich muss ich hier von einer Selbstbeobachtung berichten , welche die praktische Bedeutung der Angststoffe in ein ungeahntes Licht stellt. Das praktische Ergebniss meiner Studien über den Gewebswassergehalt , die ich in der obengenannten Schrift niedergelegt und auch im Kosmos Bd. II. S. 492 kurz besprochen habe, war für mich und meine Familienglieder die Annahme einer Bekleidung, die durchaus aus Wollstoffen besteht, unter Vermeidung aller Baumwolle und Leinwand, weil die Wolle für Wasserdampf weit durchgängiger ist , als die beiden anderen Bekleidungsmaterialien. Neben dem klar vorliegenden Erfolg in Bezug auf Widerstandsfähigkeit gegen schädliche Potenzen, constatirte ich auch eine entschiedene Verbesserung der psychischen Stimmung. Sie besteht erstens darin, dass bei uns allen die Luststimmung fast permanent überwiegt, die Unluststimmungen seltener auftreten, schwächer sind und rascher verschwinden als früher; zweitens darin, dass die explosiven psychischen Alterationen wie die Zornausbrüche und das sogenannte „ Verlieren des Kopfes", „aus der Fassung kommen" etc. sich nur selten und leise andeuten. *) Zur Erklärung dieser Erscheinungen dient theils das oben Gesagte , theils Folgendes. Nicht blos die Beobachtung, sondern auch die Theorie lehrt , dass die Unlustmodification der Seelenstoffe eine grössere Flüchtigkeit besitzt , als die Lustmodification. Wenn zur Entbindung des Unluststoffes stärkere Zersetzungsmittel gehören, als zu der des Luststoffes, so haben wir ersteren als das Product einer Zersetzung des letzteren anzusehen. Ein Zersetzungsproduct hat aber stets eine geringere Atomzahl, also ein kleineres Molekül, als der Stoff, aus dem es entstand. Dass - ceteris paribus ein Stoff mit einem kleineren Molekül rascher

  • ) Ausführliches hierüber erst im zweiten Abschnitt.

6* 84 aus einem Körper entweicht, als einer mit grösserem, steht durchaus in Harmonie mit den Entdeckungen TRAUBE's über die Osmose. Wenn nun der Angststoff flüchtiger ist als der Luststoff, so muss eine flotte Hautausdünstung dem letzteren entschieden das Uebergewicht sichern. Das ist der Zustand, welchen der genannte Bekleidungswechsel bei uns zur Folge gehabt hat. Um jedoch die auffälligste Erscheinung hierbei , das Seltenerwerden der Zornanfälle , zu erklären, müssen wir uns eingehender mit der Analyse dieses Affectes befassen, als dies im vorigen Auf- satz geschehen ist. Dort äusserte ich mich dahin, dass beim Zorn der excitomotorische Luststoff in Thätigkeit sei. Das ist ungenau : er ist allerdings in Thätigkeit , allein der Unluststoff ebenfalls. Beim Zorn ist das Charakteristische , dass er ausbricht , wenn der Thätigkeit, die durch den Luststoff ausgelöst wird, Hemmnisse in den Weg treten. Diese sehe ich als die Wirkung von gleichzeitigem Auftreten oder Vorhandensein des Unluststoffes an. Der Zorn ist deshalb ein „gemischter" Affect , und die Hemmung erklärt das Explosive. Die Erklärung fordert jedoch noch ein Weiteres, und ich glaube , dass uns die Beobachtung über die Wirkung des Be- kleidungswechsels dieses Weitere liefert. Die Frage ist : Was geschieht, wenn die vom Luststoff ausgelöste Thätigkeit eine Hemmung erfährt ? Das erste ist , dass die Erregung fortdauert, weil sie an der Entladung gehindert ist. Damit dauert auch die Entbindung des weniger flüchtigen , also an seinem Entstehungsort haftenden excitomorischen Stoffes fort , was wir als eine Verstärkung der „ Ladung" bezeichnen dürfen . Wird nun diese Ladung so stark, dass sie das hemmende Element d. h. die Erregung der Hemmungscentren durch den Unluststoff überwindet, wozu ihr noch die Ermüdung der letzteren zu Hilfe kommt, so erfolgt eine „ Explosion", d. h. eine explosive Thätigkeit der Beschleunigungscentren des Nervensystems : das ist der Zornesausbruch , der sich in heftigen Bewegungen äussert. Damit ist die prophylaktische Wirkung permeablerer Kleidung völlig klar : Indem sie den flüchtigeren , hemmenden Unluststoff stets frei abziehen lässt , kann die Hemmung nie einen hohen Grad erreichen. Damit wird auch die Ladung der Beschleunigungscentra durch den minder flüchtigen Luststoff nicht so gross werden, was vollständig mit den gesammten Erscheinungen harmonirt : Ein Zornesausbruch wird um so heftiger , je ausgesprochener die vorhergehende Hemmung ist , je mehr man, wie man sagt , seinen Aerger in sich hineindrückt", oder je mehr man verhindert ist , das auszuführen, was man thun möchte , oder je länger die Hemmung anhält. Kann sich dagegen die Erregung der Beschleunigungs- 85 centra in die Bewegungsorgane nach und nach entladen , wenn auch nur in Nebenbahnen , z. B. in die Sprachwerkzeuge , so gewinnt die Ladung nie eine solche Höhe, und die Explosion bleibt ganz aus oder ist gering. Es ist z. B. bekannt , dass man durch Singen, Pfeifen , Sprechen , Schreiben , Schimpfen u. dergl. sich, wie man sagt, „ Luft schafft" und dadurch verhindert , dass der Zorn in der Form von Thätlichkeiten sich entladet. Je bälder dieses „Luft schaffen" anfängt, um so sicherer verläuft die ganze Sache, ohne den Charakter der Explosion anzunehmen. *) Nun muss aber auch noch der pathogenetischen Bedeutung der Angststoffe einige Aufmerksamkeit geschenkt werden. Ich habe dieselbe zwar schon in dem ersten Abschnitt kurz erwähnt, aber sie bedarf einer näheren Erläuterung. Thatsache ist, dass ein Mensch, der Angesichts eines Choleraoder Typhus- oder Pestkranken oder bei der Leiche eines solchen von Angst befallen wird , oder der auch nur während der Anwesenheit einer Epidemie fortwährend in Angst vor der Krankheit lebt, äusserst empfänglich für die Ansteckung ist. Bei Pest und Cholera kann ein solcher Mensch sogar blitzartig befallen und getödtet werden. Dass zur Erklärung dieser Erscheinung die Annahme eines blossen „physikalischen" Nervenreizes durchaus nicht ausreicht, liegt auf der Hand. Dagegen erklärt sich die Sache völlig, wenn wir die unzweifelhaften Einwirkungen des Angststoffes auf die lebendige Substanz , NAEGELIS Angaben über die Existenzbedingungen der Seuchenpilze und meine Angaben über „ Seuchenfestigkeit" herbeiziehen und zwar so : Der Angststoff hat eine paralytische Secretion in die Darmlichtung zur Folge. Hieraus resultirt zweierlei : 1 ) Es steigt plötzlich der Wassergehalt des Darminhalts , was für den Seuchenpilz den Werth eines günstigeren Concentrationsgrades der Nährstofflösung hat er wird sich jetzt rapid vermehren können ; 2) die Darmwände , speciell die Darmepithelien , welche zuerst mit dem Seuchenpilz den Kampf um die Nährstofflösung aufzunehmen und die Invasion desselben in die Säftemasse zu verhindern haben, sind gelähmt und unterliegen jetzt chemisch und physikalisch . Die Frage ist : Können wir diese Einsicht in die seuchenbegünstigende Wirkung der Angststoffe praktisch zur Bekämpfung der Seuchen verwerthen? Ich antworte unbedenklich mit „ Ja“. Wenn wir durch die von mir angegebene richtige Bekleidung

  • ) Wie mich meine späteren Untersuchungen lehren, ist dieses ,, Luftschaffen"

Ausathmung der Duftstoffe durch vermehrte Athmungsthätigkeit. Siehe zweiten Abschnitt. 86 und durch Anwendung sonstiger bekannter Massregeln die Hautausdünstung flott erhalten, so geschieht zweierlei : 1) Der „eiserne Bestand" des Körpers an Angststoffen bleibt, ganz ähnlich wie sein Gewebswasserstand , ein sehr niederer, und wenn jetzt auch durch Vorstellungen und Sinneseindrücke Seuchenangst eingeleitet wird, so erreicht durch den nun hinzutretenden Gehirn-Angststoff der Gehalt des Körpers an Angststoffen keine so beträchtliche Höhe, als wenn der Angststoffstand schon vorher ein höherer gewesen wäre. Damit ist auch der Grad der Darmparalyse ein geringerer. 2) Wenn jemand sich eine flotte Hautausdünstung erhält , so erfreut er sich auch einer rascheren Durchblutung der Haut, d. h. einer anderen Blutvertheilung , als einer , dessen Hautthätigkeit gering ist. Da der im Gehirn zur Entbindung gelangende Angststoff von dem Blut an seine Auswurfspforten transportirt wird, so ist der Unterschied zwischen einem gut und einem schlecht perspirirenden Menschen folgender : Beim ersteren gelangt ein viel grösserer Theil des Angststoffes in die Hautcapillaren und wird durch Ausstossung unschädlich gemacht ; beim letzteren dagegen wird der Angststoff viel länger im Körper zurückgehalten, kann sich mit voller Wucht auf den Darm werfen und denselben paralysiren. So wird der erstere auch allen Schrecken einer Seuche gegenüber seine Immunität zu behaupten im Stande sein, während der schlecht perspirirende Mensch, selbst wenn er vorher seuchenfest war, diese Immunität unter Umständen mit einem Schlag verlieren wird. Seitdem ich die bemerkenswerthen, von mir zur Zeit der Abfassung der genannten Schrift noch nicht entfernt geahnten Wirkungen durchaus wollener Bekleidung kennen gelernt habe, stehe ich nicht an, zu behaupten, dass jeder Mensch für die gewöhnlichen Stärkegrade der Infection fast absolut cholerafest, ruhrfest und vielleicht auch allgemein seuchenfest gemacht werden kann. * )

  • ) Auch hierüber wird der zweite Abschnitt weiteres Wichtige bringen.

6. Zur Pangenesis. (Wieder abgedruckt aus Kosmos, Zeitschrift f. einheitl. Weltansch. Bd. IV. S. 377.) Nachdem ich in den früheren Aufsätzen die Thätigkeit der Seelenstoffe auf verschiedenen Gebieten abgehandelt habe , fällt mir heute die Aufgabe zu , auch zu versuchen, ihre Rolle bei der Vererbung aufzuhellen. Schon in früheren Arbeiten habe ich sie mit voller Bestimmtheit als Träger der vires formativae (der Formungs- und Vererbungskräfte) bezeichnet und hierfür dringende Verdachtgründe beigebracht. Nachdem ich nun anderwärts ihr Walten beobachtet habe , bin ich in der Lage, auch auf jenes geheimnissvolle Gebiet einige neue Streiflichter fallen zu lassen. Ich thue dies mit um so grösserer Freude , als ich damit im Stande bin , unserem allverehrten Lehrer und Vorbilde , CHARLES DARWIN, zu seinem 70. Geburtstage eine eclatante Genugthuung zu bereiten und zugleich ein Unrecht gut zu machen , welches ich dadurch beging, dass ich mit manchen Anderen seine Theorie von der Pangenesis mit Kopfschütteln entgegennahm und in mehreren meiner Publicationen bekämpfte. Die Genugthuung besteht darin , dass ich seine divinatorische Theorie nicht blos zu restituiren, sondern auch auf exacten, chemisch- physikalischen Boden zu stellen, weiter auszuführen und dadurch fester zu begründen in Stande zu sein glaube. DARWIN'S Lehre entsprang dem Bedürfniss , zu erklären , wie die Generationsstoffe, Ei und Samen, die Fähigkeit erlangen, dem aus ihnen sich entwickelnden Wesen genau dieselbe Form, denselben Bau und dieselben Eigenschaften zu verleihen, welche die Elternwesen besassen. Kurz, sie entsprang dem Bedürfniss nach Fixirung der vis 88 formativa in den Zeugungsstoffen. Ich glaube, bei den Lesern dieser Zeitschrift die Bekanntschaft mit DARWIN'S Lehre voraussetzen zu dürfen, und fasse mich deshalb kurz. DARWIN nahm an , jedes Organ und jeder differente Gewebstheil entsende kleinste „ Keimchen" nach den Geschlechtsorganen, die dort in die reifenden Eier und den reifenden Samen eindringen, so dass derselbe danach gleichsam eine Quintessenz aller Theile des Erwachsenen nach quale und quantum sei . Bei der Embryonal- Entwickelung hätte man es dann nur damit zu thun, dass diese Keimchen in der richtigen Reihenfolge zur selbständigen Thätigkeit gelangen, und jedes den betreffenden Körpertheil , dem es entstammt, erzeuge. DARWIN hat sich über die Natur der Keimchen nicht physikalisch exact ausgesprochen, und ich musste, wie viele Andere , damals sofort an kleinste feste Körperchen (Mikrozellen oder dergleichen) denken, und unbewusst hat vielleicht auch DARWIN an solche gedacht. Unter dieser Voraussetzung konnte einem Physiologen die Sache nicht einleuchten , da er die Wege nicht erkennen konnte, auf welchen diese Keimchen zu den so sorgfältig abgekapselten Geschlechtsstoffen gelangen sollten. Deshalb verhielt ich mich ablehnend gegen die Pangenesis. - Nachdem ich aber jetzt die Ueberzeugung gewonnen habe, dass die specifischen Duftstoffe und Würzestoffe die Träger der vis formativa in Gestalt des Rotationsmodus ihrer Moleküle - ihrer latenten Wärme sind, liegt die Sache anders. Die Düfte sind gasförmig, und die Würzestoffe zum Theil ebenso oder jedenfalls in den Säften des Körpers löslich, und damit fällt die Transportschwierigkeit sofort hinweg. Wenn die formungskräftigen Keimchen DARWIN'S keine im festen Aggregatzustand befindlichen Mikrozellen, sondern Gasmoleküle oder flüssige Moleküle sind, dann gibt es keinen Ort im Körper, wo sie nicht hingelangen könnten. Ich bin natürlich weit davon entfernt , die Anmassung zu hegen, als könnte jetzt das ganze Räthsel der Vererbung und des Formungstriebes nur so aus dem Stegreife gelöst werden ebenso wenig als DARWIN glaubte, mit seiner Theorie sofort alles Weitere überflüssig gemacht zu haben ; was ich aber glaube, ist : 1 ) dass wir alle Ursache haben, an DARWIN'S Pangenesis, wenn auch in etwas modificirter Form, festzuhalten ; 2 ) dass sich derselben eine den Gesetzen der Chemie und Physik besser entsprechende Formulirung und Begründung geben lässt, als DARWIN es gethan hat , und was ich im Folgenden versuche : - Jedes differente Organ und jede differente Gewebsart eines Thieres (und einer Pflanze) enthält im Molekül ihres Eiweisses 89 mindestens Einen specifischen Duft- und Würzestoff, wovon wir uns mittelst unserer chemischen Sinne ja sehr leicht überzeugen können, denn der Speiseduft und Geschmack eines jeden Organs desselben Thieres ist eigenartig. Denken wir uns z. B. ein erwachsenes Thier : So oft es Hunger hat , tritt in allen Organen und Gewebstheilen Eiweisszersetzung ein, wobei ihre verschiedenartigen Duft- und Würzestoffe (Seelenstoffe) frei werden und den ganzen Körper durchdringen. Befindet sich nun irgendwo im Körper eine Protoplasma-Art, welche diese Stoffe festzuhalten vermag, so ist sie damit auch in den Besitz ihrer vires formativae gelangt. Ich habe in meinen „ Zoologischen Briefen" *) sowie in meinem „Lehrbuch der Zoologie" **) mit Nachdruck auf die embryologische Thatsache hingewiesen , dass die Bildung der Zeugungsstoffe bei einem Thiere schon in die ersten Stadien seines Embryonallebens fällt , und habe dies als Reservirung des Keimprotoplasma bezeichnet. Sobald nun im Embryo die von mir geschilderte itio in partes, d. h. die Sonderung der Embryonalzellen in die ontogenetischen und phylogenetischen Zellen (Keimzellen) stattgefunden hat, so wird Folgendes eintreten : Das ontogenetische Zellinaterial , welches das Thier aufbaut, liefert fortwährend , so oft eine Eiweisszersetzung eintritt im Hunger und bei jedem Affecte - freie Seelenstoffe. Diese dringen, den Gesetzen der Gasdiffusion folgend, nicht blos als Ausdünstungsduft nach aussen , sondern auch in das Keim-Protoplasma. Letzteres möchte ich nun der „ Seelenfängerei" beschuldigen und zwar in diesem Sinne: Der chemische Stoff, aus welchem der wesentlichste Theil der Eier und der Samenfäden besteht, wird neuerdings Nuclein genannt , weil man gefunden hat , dass er die grösste Uebereinstimmung mit der wesentlichsten Substanz der Zellkerne zeigt. Man nennt jetzt den Dotterstoff nicht mehr Vitellin , sondern Ei - Nuclein , und den Samenstoff nicht mehr Spermatin, sondern Samen- Nuclein. Weiter ist festgestellt , dass das Nucleïn eine Synthese von Eiweiss und dem phosphorhaltigen Lecithin ist. Unsere Frage verwandelt sich jetzt einfach in diejenige nach dem Hergang der Nucleïnbildung in Ei und Sperma, und das wird sich folgendermassen verhalten : Die Generationsorgane erhalten von ihrem Mutterkörper (dem ontogenetischen Material) nicht, wie man gewöhnlich sagt, Circulations- Eiweiss. Nach dem TRAUBE'schen

  • ) Wien, Braumüller, Abschn. III . 1876.
    • ) Leipzig, Ernst Günther's Verlag. Bd. II.

90 Gesetz kann ein Membranbildner nicht oder nur bei starkem Filtrationsdruck durch seine Membran gehen, weil sein Molekül grösser ist, als die Poren der von ihm gebildeten Membran. Die Keimzelle ist als Eiweissmembran aufzufassen, lässt ålso kein Eiweissmolekül durch. Sie erhält nur den Eiweisskern , der nach Abspaltung der Seelenstoffe übrig bleibt, also einen peptonartigen Körper, der, weil er seine Seelenstoffe verloren hat, ein kleineres Molekül besitzt. Dieser ist nun natürlich auch entspecificirt, „ entseelt" , und der Vorgang der Assimilation, der sich jetzt in den Keimzellen abwickelt, kann als „ Wiederbeseelung" bezeichnet werden. Die hierzu nöthigen Seelenstoffe" liefert die Eiweiss zersetzung in dem ontogenetischen Zellmaterial. Diese Assimilation bildet nun zunächst specifisches Eiweiss, und dieses verbindet sich darauf mit dem Lecithin zu Ei- resp. Samen- Nucleïn, welches letztere sich vor dem Eiweiss durch seine grosse Resistenz gegen zersetzende Einflüsse auszeichnet. 99 Diese Auffassung der Pangenesis liefert uns jetzt auf einmal eine Erklärung für die bis jetzt völlig räthselhafte , allen Thierzüchtern wohlbekannte Thatsache, dass bei einem Thiere (wie bei dem Menschen) die Fruchtbarkeit durch Ansatz von Körperfett sofort gemindert , ja schliesslich ganz aufgehoben wird , und umgekehrt gestaltet sich diese Thatsache zu einem sehr kräftigen Beweis für die oben vorgetragene Lehre von der Bildung der Zeugungsnucleïne. Diese wird natürlich nur dann begünstigt, wenn eine ausgiebige Menge von Seelenstoffen frei wird. Dies hängt aber nach meiner Seelenlehre von der Intensität der Eiweisszersetzung ab, und diese fällt um so spärlicher aus , je mehr das Eiweiss durch Fette und Kohlehydrate vor der zerstörenden Einwirkung des Sauerstoffes beschützt wird. Das ist bei fetten Thieren der Fall. In diese Form gefasst , erklärt jetzt die Pangenesis fast alle Vererbungserscheinungen und lässt uns in ihnen Processe erkennen, die den Gesetzen der Chemie und Physik gehorchen. Um das zu zeigen, will ich dieselben Punkt für Punkt vornehmen. Der erste Punkt ist die qualitative Vererbung. Wenn wir, was den Lehren der chemischen Synthese durchaus nicht widerspricht , annehmen , dass das Molekül der Zeugungsnucleïne die differenten Seelenstoffe sämmtlicher differenten Gewebsarten und Organe in sich gebunden enthält, so werden bei seiner Zersetzung sämmtliche von ihnen repräsentirten Organ- und Gewebs- Formungskräfte frei und erzeugen bei der Ontogenese diese Gewebe und Organe wieder. Der zweite Punkt ist die quantitative Vererbung, d. h. 91 die Thatsache , dass bei der Entwickelung des Thieres nicht nur alle Organe und Gewebstheile des Erzeugers wieder erscheinen, sondern auch in einem annähernd gleichen Mengeverhältniss , wie in letzteren ; denn wenn z. B. ein Thier eine relativ stark entwickelte Muskulatur hat, so wird relativ viel Muskelse el en stoff in demselben entbunden und somit auch in Ei und Samen relativ mehr Muskel formungsstoff zur Fixirung gelangen, was zur Entwickelung eines ebenfalls muskulösen Jungen führt. Der dritte Punkt ist die Vererbung erworben er Charaktere. Wenn ein Thier durch Mehrgebrauch ein Organ zu besonderer Masse-Entfaltung gebracht hat, so wird jetzt auch dessen Seelenstoff im Hungerzustand reichlicher auftreten; die Zeugungsstoffe werden mehr davon enthalten , und wenn nun diese zur Entwickelung kommen, so werden sie auch über die Formungskräfte verfügen , um das betreffende Organ zu besonderer quantitativer Entwickelung zu bringen. Der vierte Punkt , der klar wird , ist , dass die Vererbung der Charaktere bei der Entwickelung eine bestimmte zeitliche Reihenfolge einhält ( Vererbung auf das entsprechende Lebensalter) . Da die Nucleïnbildung in den Zeugungsstoffen nicht mit einem Male geschieht, sondern eine sehr geraume Zeit fortdauert , wahrscheinlich ebenso lange als die Ontogenese des Elternthieres , so sind die Nucleïnmoleküle eines Eies (und einer Samenbildungszelle) einander nicht gleich , sondern jedes trägt die Seelenstoffe in der Beschaffenheit und in dem Mengeverhältniss in sich, in welchem sie zur Zeit der Bildung des betreffenden Nucleïnmoleküls präsent waren. So sind jetzt alle ontogenetischen Entwickelungs-Epochen des Thieres gewissermassen actenmässig_in den differenten Nucleïnmolekülen deponirt. Jetzt gehört zur Erklärung der Vererbung auf das gleiche Lebensalter nur noch die Annahme, dass diejenigen Nucleïnmoleküle , welche sich zuerst, also in den frühesten Stadien der Ontogenese der Elternthiere, gebildet haben, auch bei der Ontogenese des befruchteten Eies sich zuerst zersetzen und ihre formungskräftigen Seelenstoffe frei werden lassen, und dass die Nucleïnmoleküle , welche zuletzt gebildet wurden, sich auch zuletzt zersetzen. Dass diese Annahme keine willkürliche ist, darüber belehren uns die Thiere, deren Eier einen Gegensatz von Nahrungsdotter und Bildungsdotter haben. Bei ihnen besteht darüber kein Zweifel , dass der Bildungsdotter der primäre, zuerst gebildete, der Nahrungsdotter der secundäre, erst später hinzugetretene ist. Weiter besteht darüber kein Zweifel, dass der Bildungsdotter bei der Ontogenese zuerst an die Reihe kommt und der Nahrungsdotter zuletzt. 92 Ich will die Sache an einem Beispiel erläutern, das sich leicht handhaben lässt. Bei einer Raupe sind die Generationsorgane bekanntlich schon angelegt, ehe sie selbst das Ei verlassen hat. Während des Eiund Raupenstadiums wird nun in dem reservirten Keimzellenmaterial nur Raupennucleïn gebildet. Im Puppenstadium tritt hierzu Puppennucleïn, und endlich, während der Schmetterling sich in der Puppe entfaltet, tritt Falternucleïn auf. Das reife Ei und der reife Samen bestehen also aus dreierlei Nucleïnsorten, Raupennucleïn , Puppennucleïn und Falternucleïn . Im Beginn der Entwickelung zersetzt sich nur die erstere und formt eine Raupe, die zwei anderen Sorten bleiben unzersetzt und sind in dem (ja ebenfalls aus Nucleïn bestehender) Zellkern aller Gewebszellen , welche directe Abkömmlinge des Eikerns sind , enthalten. Am Schluss der Raupenzeit zersetzt sich das Puppennucleïn und formt die Puppe, und zuletzt tritt das Falternucleïn in Thätigkeit. Freilich bleibt dies noch exact zu beweisen, was aber meiner Ansicht nach nicht ausser dem Bereich der Möglichkeit liegt, und zwar zunächst so, dass wir constatiren, ob die Ausdünstungsdüfte im Beginn der Puppenruhe anders sind, als während der Raupenperiode, und ob sie noch einmal sich ändern, wenn in der Puppe die Falterbildung beginnt. Als Leiter der Seidenrauperei an der Anstalt Hohenheim werde ich in der kommenden Saison darauf achten. Ferner möchte ich Forscher, die sich mit der Embryologie des Hühnchens befassen , auffordern , zu untersuchen , ob während der wichtigeren Entwickelungsphasen des Eies ein Wechsel im Ausdünstungsduft und Geschmack des Eies auftritt. Der fünfte Punkt ist folgender : Zwischen den praktischen Thierzüchtern , noch mehr aber dem Volksglauben , und zwischen den Physiologen besteht eine Meinungsverschiedenheit. Die ersteren halten mit Zähigkeit daran fest , dass Gemüthsaffecte schwangerer Thiere und Menschen einen ganz bestimmten Einfluss auf die Leibesfrucht haben , während die Physiologen dies in Abrede stellen , weil kein Nervenzusammenhang zwischen Mutter und Kind bestehe. Meine Seelenlehre entscheidet zu Gunsten der Volksmeinung. Da die Gemüthsaffecte Folge des Freiwerdens der gasigen und löslichen Seelenstoffe sind, die alle Säfte und Gewebe des Körpers, also auch die Leibesfrucht, durchdringen können, so bedarf es gar keiner Nervenverbindung : Die Leibesfrucht nimmt an den Affecten der Mutter Theil, sobald die Affectstoffe in grosser Quantität auftreten. Ja, es ist aus dem , was der Volksmund behauptet, zu ersehen, dass ganz vorzüglich die Unlustaffecte (Angst, Schrecken etc. ) einer Einwirkung auf die Leibesfrucht beschuldigt 93 werden. Dies stimmt vollständig mit der leicht zu demonstrirenden grösseren Flüchtigkeit und Diffusibilität des Angststoffes überein. Dass letzterer, wenn er in die Säftemasse der Leibesfrucht gelangt, dort die gleichen paralytischen Erscheinungen hervorrufen muss, wie in der Mutter, ist selbstverständlich, und so halte ich es nicht nur für möglich, dass ein grosser Schreck die Leibesfrucht tödten und anhaltende seelische Depression der Mutter, wegen fortdauernder Entwickelung von Angststoff, eine Verkümmerung der Leibesfrucht zur Folge haben kann, sondern auch , dass Bildungshemmungen, also Missgeburten , erzeugt werden hönnen. Damit bin ich weit entfernt, an das zu glauben, was der Volksmund das „Versehen“ nennt, denn namentlich die sogenannten Muttermale , die zumeist damit erklärt werden sollen, können wegen ihrer scharfen Localisirung unmöglich auf die Wirkung eines gasigen Stoffes zurückgeführt werden. Die häufigsten missgeburtlichen Bildungshemmungen sind Hasenscharte und Wolfsrachen. Es ist nicht zu bezweifeln, dass der Angststoff der Mutter auf die chemischen Sinne der Leibesfrucht , die, wie wir am Neugebornen gefunden haben, auch beim Menschen einer ausserordentlichen Feinheit sich erfreuen, einen heftigen und zwar ekelhaften Eindruck machen. Wird ein Kind in dem Moment davon betroffen , wo die Gaumenplatten mit der Nasenscheidewand , die Oberkiefer mit den Zwischenkiefern und die Zwischenlippen mit den Seitenlippen verwachsen sollen, so können dort Bewegungen ausgelöst werden, welche die Verwachsung verhindern. Es darf z. B. nur durch krampfhaften Verschluss der Kiefer die Zunge in den Gaumenspalt hineingepresst oder die Gaumenplatte nach aufwärts gedrängt und dort so lange festgehalten werden, bis die Periode der Verwachsungstendenz vorüber ist, so ist die Bildungshemmung fertig. Ferner müssen wir uns Folgendes klar machen : Das Material, welches die Leibesfrucht von der Mutter zum Aufbau ihres Körpers erhält, kann kein specificirtes, beseeltes Eiweiss sein, dessen Diffusibilität , wie schon früher besprochen , wegen der bedeutenden Molekulargrösse viel zu gering ist. Es werden also , gerade wie wir es bei der Bildung der Zeugungsnucleïne sahen, von dem kindlichen Blute nur entseeltes Eiweiss und anderer freier Seelenstoff dem Mutterkörper entnommen und dann deren Synthese bewerkstelligt werden. Damit haben wir ohne Weiteres eine psychische Beeinflussung und, da die Seelenstoffe auch die Träger der Formungskraft sind, auch eine morphogenetische , und zwar eine doppelte : einmal eine momentane, während die Seelenstoffe in die Leibesfrucht eindringen, und dann eine Nachwirkung (Vererbungswirkung), 94 wenn dieselben , nachdem sie eine Zeit lang im Nucleïnmolekül gebunden lagen, später wieder frei werden. Ein sechster Punkt ist folgender : Die Thierzüchter und zwar ganz besonders die Hundezüchter behaupten trotz aller Einsprachen von physiologischer Seite steif und fest: Wenn eine Hündin von einem Rüden fremder Rasse auch nur einmal belegt worden sei , so züchte sie nie mehr rein. Ich habe lange nicht daran geglaubt , weil ich die chemischphysikalische Möglichkeit nicht einsah, jetzt halte ich dagegen die Sache für vollkommen möglich. Wie ich in einem früheren Artikel darlegte , werden auch in der Leibesfrucht Seelenstoffe frei , welche in den schwangeren Müttern die Alterationen des Geschmack- und Geruchsinnes erzeugen. Wenn nun eine Hündin eine Bastardfrucht im Leibe hat, so entbindet letztere Bastardseelenstoffe", und da währenddessen die Nucleïnbildung in den im Eierstoff schlummernden Eiern fortdauert, so werden dort Nucleïnmoleküle gebildet, welche mit Bastardformungsstoffen geladen sind. 99 Ich muss hier noch etwas nachtragen. Meine Vererbungslehre nimmt an, dass die reifen Zeugungsstoffe mit verschiedenartigen Nucleïnsorten , entsprechend den verschiedenen Entwickelungsphasen des Elternthieres, geladen sind. Sollte das nicht zum sichtbaren Ausdruck kommen ? In einem Punkte ist das schon bestätigt , indem sich Haupt- und Nebendotter oder Bildungs- und Nahrungsdotter unterscheiden lassen. Sollte nun nicht auch das bunte Bild des Dotters, das schon durch die ausserordentlichen Grössenunterschiede der Dotterkörner , aber auch durch kaum bestreitbare Formunterschiede entsteht, ein Ausdruck hierfür sein ? Der siebente Punkt , den ich berühren will, ist die Latenz und Evidenz bei der Vererbung und die Frage : Wie ist es chemisch und physikalisch möglich, dass Eigenschaften der Eltern in den Kindern latent bleiben und erst in einer späteren Generation zur Evidenz gelangen ? Das ganze Geheimniss bei der Vererbung liegt in den Vorgängen der Nucleïnbildung und Nucleïnzersetzung. Hierbei haben wir es nun aber nicht blos mit dem Samen- und Ei- Nucleïn zu thun, sondern auch noch worauf ich schon oben hinwies - mit dem Nuclein der Gewebszellkerne. In dem Nucleïn , das der Zersetzung viel grösseren Widerstand leistet als das Eiweiss, befinden sich die von den Seelenstoffen repräsentirten vires formativae

  • ) Siehe S. 57.

95 latent; evident werden sie, wenn sich das Nucleïn zersetzt. Von diesem Satze aus scheint mir eine Erklärung möglich und zwar so : Thatsache ist, dass Inzucht das Latentbleiben von vererbten Charakteren begünstigt, Blutauffrischung dagegen die Evidentwerdung latent vererbter Charaktere , also das Auftreten des sogen. Rückschlages , begünstigt. Thatsache ist ferner, dass Thiere , welche im Inzuchtverhältniss erzeugt wurden, zahmer, temperamentloser sind, d. h. seltener und von schwächeren Affecten bewegt werden als Thiere , die mittelst Blutauffrischung erzeugt wurden, und deren lebhaftes, temperamentöses Wesen jedem Züchter bekannt ist. Da die Affecte, wie ich früher nachgewiesen, die Wirkung der frei werdenden Seelenstoffe sind, so kommen wir zu dem zwingenden Schlusse: Blutauffrischungsproducte verfügen über stärkere Seelenentbindungskräfte als Inzuchtproducte. Die Seelenstoffe liegen nun nicht nur im Molekül des Eiweissstoffes, sondern auch in dem des Nucleïns, also in allen Zellkernen, aber mit dem Unterschied, dass sie aus dem Eiweiss leichter zu entbinden sind , als aus dem schwer zerstörbaren Nucleïn . Ein Inzuchtproduct wird also von einem Blutauffrischungsproduct sich ganz besonders dadurch unterscheiden, dass es weniger im Stande ist, seine Zellnucleïne zu zersetzen, und da speciell in diesen die vererbten vires formativae stecken , so wird es nicht in Stande sein, alle dort vorhandenen auch zur Entbindung, also zur Evidenz zu bringen. Damit stimmt die bekannte Thatsache, dass diejenigen Charaktere am leichtesten latent bleiben, welche in der Ontogenese am spätesten auftreten. Wir haben oben gesehen, dass wir Gründe haben , anzunehmen , diejenigen Nucleïnmoleküle , welche zuletzt gebildet werden, gelangten auch in der Ontogenese zuletzt zur Zersetzung, d. h. zur Entbindung ihrer formungskräftigen Seelenstoffe. Latenz wird also eintreten, wenn ein Thier nicht über genügende ( elektrolytische) Seelenentbindungskräfte verfügt, um auch noch die „ posthumsten" (sit venia verbo) Nucleïnmoleküle zu zersetzen. Nun tritt noch Folgendes dazu : Im Beginn der Embryonalentwickelung scheidet sich das Zellmaterial , wie früher gesagt , in zwei wesentlich verschiedene Theile, das ontogenetische, welches zum Aufbau des Thierleibes verwendet wird , und das phylogenetische, das zur Bildung der Geschlechtsorgane und später als Zeugungsstoff dient. Beide Zell-Arten enthalten in dem Nucleïn ihrer Kerne sämmtliche vires formativae im Zustande der Latenz. 96 Die phylogenetischen Zellen überliefern alle ihre Formungskräfte unfehlbar der nächsten Generation, da ihr Nucleïn im Mutterkörper nie zersetzt wird ; die ontogenetischen können aber zweierlei thun : Entweder entbinden sie durch Zersetzung auchder posthumsten Nucleïnmoleküle alle Formungskräfte, also auch die der spätesten ontogenetischen Stadien; oder sie lassen, da ihre nucleolytischen Kräfte nicht ausreichend sind, einen Theil und zwar den posthumsten Theil der Nucleïnmoleküle unzersetzt. So bleiben die in den letzteren enthaltenen Formungskräfte latent, und zwar in dem Nucleïn der ontogenetischen Gewebszellen. Diese Erklärung der Latenz- und Rückschlags - Erscheinungen bei der Vererbung scheint mir der Wahrheit jedenfalls sehr nahe zu kommen. Ich erwähnte schon früher der Thatsache, dass Fettsncht die Fruchtbarkeit d. h. die Bildung der Samen- und Eiernucleïne beeinträchtige , weil in Folge der schwachen Eiweisszersetzung zu wenig Seelenstoffe frei und den Generationsorganen zugeführt werden. Das Seitenstück hierzu ist , dass Thiere , welche während ihrer ontogenetischen Entwickelung zu mastig gefüttert werden, ganz besonders leicht Latenz-Erscheinungen aufweisen. Das ist also auf dieselbe Ursache zurückzuführen , wie die Abnahme der Fruchtbarkeit : Das Fett beschützt nicht nur das Eiweiss, sondern auch das mit Formungskräften geladene Nucleïn vor der Zersetzung durch den Sauerstoff, und so bleiben posthume Charaktere leicht latent. Darin liegt ein praktischer Wink für die Thierzüchter, weshalb ich ihnen an's Herz legen will, darauf zu achten. Auch für die menschliche Pädagogik ist dieser Punkt beachtenswerth. Und schliesslich kann ich es nicht unterlassen , hier auch noch ein paar Worte über die verbreitetste vererbungsfähige Menschenkrankheit, die Tuberkulose , zu sagen, bei der es ja fast Regel ist , dass sie durch eine Generation hindurch latent vererbt wird und erst in der übernächsten wieder zur Evidenz gelangt, und dass sie auch dann in der Regel bis zur Pubescenzzeit, ja öfter noch länger, latent bleibt. 99 Ein Arzt, dem ich meine Vererbungslehre vortrug , fragte mich : Wie ist es möglich , dass ein Mann die Tuberkulose auf ein von ihm erzeugtes Kind überträgt , noch ehe bei ihm die Tuberkulose zum Ausbruch gekommen ist ?" Die Frage ist einfach zu beantworten : Wenn seine Tuberkulose eine ererbte ist, so steckt sie bei ihm an zwei Orten : in seinem eigenen Samennucleïn , mit welchem er sie auch unfehlbar dem von ihm befruchteten Ei überliefert, und in dem Nucleïn seiner Gewebszellen. Ob und in welchem Zeitpunkt sie hier aus dem Zustand der Latenz in den der Evidenz tritt, hängt ganz davon ab, ob und wann sein 97 Gewebsnucleïn so zur Zersetzung gelangt, dass diese latente Eigenschaft zum Vorschein kommt. Oder sagen wir vielleicht noch besser : Die Tuberkulose ist vielleicht gar keine specifische, d. h. von dem Vorhandensein eines bestimmten Tuberkulosestoffes in dem Nucleïn bedingte Krankheit, sondern einfach darauf begründet, dass das Nucleïn der betr. Personen eine grosse Neigung zum Zerfall hat. Sollte nicht die anerkannt günstige Wirkung des Fettgenusses eben darauf beruhen, dass das Fett die Nucleïne vor Zersetzung durch den Sauerstoff schützt ? Ich fordere hiermit die pathologischen Anatomen auf, ihr Augenmerk einmal auf die Zellkerne der Tuberkulosen zu richten, und zwar nicht blos mikroskopisch sondern auch so, dass man die Kerne des tuberkulösen Eiters , die man ja isoliren kann *) , auf den Grund ihrer Zersetzungsfähigkeit prüft, indem man sie mit Nuclein von Wundeiter vergleicht. Jede vererbbare Krankheit ist eine Nucleïnkrankheit , und die Tuberkulose am Ende nichts anderes als Nucleolyse. Da das Nucleïn der Zersetzung viel grösseren Widerstand leistet als Eiweiss, so begreift es sich, dass Nucleïnkrankheiten, wie die Tuberkulose, jedem Heilversuch spotten. Dass Schwindsüchtige in hochgelegenen Orten sich besser conserviren, rührt meiner Ansicht nach einfach davon her, dass in verdünnter Luft weniger Sauerstoff sich befindet, und deshalb das Nucleïn leichter vor ihm zu schützen ist. Denselben Zweck erreicht man natürlich durch warmes Klima- Luftverdünnung durch Wärme. Der letzte Punkt bei der Vererbung ist der räumliche: Wie kommt es , dass die einzelnen Organe nicht blos überhaupt und in der richtigen zeitlichen Aufeinanderfolge , sondern auch in dem richtigen räumlichen Nebeneinander auftreten? Diese Frage ist der Hauptsache nach eine physikalische , weshalb dieselbe durch meine ausschliesslich chemische Seelenlehre nicht zu lösen ist. Ich habe mich über die ontogenetische Gewebsdifferenzirung in meinen „ Zoologischen Briefen" und in meinem „Lehrbuch der allgemeinen Zoologie" so ausführlich vom physikalischen und architektonischen Standpunkt aus geäussert, dass ich mich auf die folgenden Bemerkungen beschränken darf. Es wäre eine grobe Vorstellung von der Nucleïnbildung, wenn wir annehmen wollten, in dem Nucleïnmolekül seien die differenten Seelenstoffe so gelagert , dass , wenn das Molekül gespalten werde, diese jetzt alle zumal frei auftreten ; das müsste nothwendig eine Confusion geben. Man hat sich vielmehr die Atomgruppen so unter einander und mit dem unbeseelten Eiweisskern verkettet

  • ) Hofmann , Lehrbuch der Zoochemie, S. 5.

Jaeger, Entdeckung der Seele. 7 98 zu denken , dass je nach den äusseren Umständen, unter welche eine Gewebszelle gelangt ist , je nach dem Grad ihrer wässrigen Durchfeuchtung, ihren Beziehungen zu den Aufenthaltsmedien und den circulirenden Ernährungsflüssigkeiten u. s . f. entweder der eine oder der andere specifische Gewebseelenstoff auftritt und seine gewebsbildende Kraft entfaltet. Dass die Sache sich so verhalte , widerspricht dem, was wir von den hochatomigen organischen Verbindungen bis jetzt wissen, durchaus nicht. Dass die Lehre von der Pangenesis in der Form , welche ich ihr in diesen Zeilen gegeben, alles leistet, was man billiger Weise angesichts der chemischen Unkenntniss von den Seelenstoffen verlangen darf, wird kaum bestritten werden können , namentlich enthält sie und das ist ja bei einer Theorie immer die Hauptsache den stärksten Anstoss zur Detailforschung. Die Specialforscher und Analytiker möchte ich mit Bezug auf mein synthetisches Lehrgebäude von den Seelenstoffen dabei noch auf Folgendes hinweisen: - - Die organische Chemie nahm einen ungeahnten Aufschwung und gewann in der Kettentheorie eine wundervolle Klarheit , als man anfing, die aromatischen Substanzen zu studiren. Schon damals hätte man vermuthen können , dass die Geheimnisse , an deren Lösung die Physiologie, Zoologie , Morphogenese , Biologie und Pathologie vergeblich sich abmühen , in den aromatischen Stoffen zu suchen seien, mit denen sich bis vor Kurzem nur die Gastronomen abgegeben haben. Ein Blick auf die unglaubliche Dürftigkeit der Kapitel „ Geschmacksinn“ und „Geruchsinn“ in unseren physiologischen Lehrbüchern und Handbüchern musste gleichfalls in jedem denkenden Physiologen die Vermuthung wachrufen, dass hier, wie man zu sagen pflegt, der Hund begraben liege" . Ich glaube nun durch die Entdeckung der Seelenstoffe demselben zur Auferstehung verholfen zu haben und lade die Detailforschung ein, ihn vollends herauszugraben. 7. Seele und Geist. (Wieder abgedruckt aus Ausland, Jahrg. 1879. Nr. 10.) Nachdem in diesen Blättern schon wiederholt über meine „Entdeckung der Seele" referirt worden ist, erlaube ich mir selbst das Wort zu ergreifen , um den Leser über einen Punkt aufzuklären , den ich in meinen bisherigen Veröffentlichungen so gut wie nicht berührte. Dass solche Personen, die naturwissenschaftlichen Forschungen gänzlich ferne stehen , meine Veröffentlichungen mit Spott beantworteten, verdenke ich ihnen nicht, antworte ihnen auch nicht, in dem Bewusstsein, dass am besten lacht , wer zuletzt lacht. Eine andere Gruppe von Personen sind die , welche zwar wissenschaftliche Forschungen beachten und auch zu beurtheilen wissen, allein denen die nöthige Schärfe des hier entscheidenden Geruchsinnes total abgeht *) ; zu diesen spreche ich natürlich wie zum Blinden von der Farbe. Eine dritte Gruppe , die glücklicherweise weit zahlreicher ist, als ich je zu hoffen wagte, ist die , deren Geruchsinn fein genug ist , um alle meine Angaben prüfen zu können. Ich habe zahlreiche Mittheilungen, theilweise der allerinteressantesten Art, von solchen, welche meine Angaben durchaus bestätigen, und zähle in meiner Bekanntschaft mehrere Personen , die jeden Menschen mittelst des Geruchs von jedem andern, selbst von Geschwistern , zu unterscheiden , ja sogar die gewaschene Wäsche von Geschwistern mittelst der Nase zu sortiren vermögen, welche Regenwürmer in einem Blumentopfe riechen , welche riechen , sobald Jemand in Affect kommt u. s. f. ich werde darüber

  • ) Diesen Ausspruch nehme ich jetzt zurück ; das, was ich angab, kann ein Jeder riechen , woraus folgt, dass die genannten Kritiker sich nicht einmal die

Mühe genommen haben , nachzuprüfen ; weshalb ihr Urtheil ein ,, leichtfertiges" genannt werden muss. 7* 100 nächstens an anderem Orte berichten. Nun , aus diesen Kreisen, die also meine Entdeckung verstehen , anerkennen und bestätigen, ist mir wiederholt die Frage gestellt worden, warum ich die fraglichen Stoffe gerade Seele genannt und nicht mit einem andern Worte bezeichnet habe, denn dadurch habe ich mir in den Augen des Publikums geschadet. Diesen möchte ich hier Rechenschaft ablegen. Wenn der Physiologe die Stoffe eines Thierkörpers klassificirt , so gibt er ihnen Benennungen , welche ihre physiologischen Leistungen bezeichnen. So spricht er von Ermüdungsstoffen, Brennoder Heizstoffen , Gewebsbildnern u. s. f. Meine neueste Entdeckung besteht darin, dass ich in den specifischen Duft- und Würzestoffen des Körpers die Erzeuger derjenigen Erscheinungen erkannte , welche alle Welt seit jeher seelische , psychische Stimmungen oder Seelenaffecte nennt. In meinen ersten Publicationen hatte ich die Stoffe als Träger der Instincte und Triebe, als Instinctstoffe, bezeichnet, weil ich diese ihre physiologische Leistung zuerst erkannte. Durch meine neueste Entdeckung hatten sie sich in meinen Augen das Recht auf die Bezeichnung psychische oder Seelenstoffe erworben. Dazu trat , dass ich sie schon früher auch als Träger des Bildungs- und Formungstriebs , als materiae formativae, erkennen zu müssen glaubte. Diese mehrfache Bezeichnung musste einer einheitlichen weichen, und so benannte ich sie nach ihrer praktisch wichtigsten Function als „ Seele." Ich that das zunächst , ohne mich viel um den bisherigen Gebrauch dieses Wortes zu kümmern, aber ich habe mich seitdem überzeugt , dass ich damit die ursprüngliche Bedeutung des Wortes richtig getroffen habe und dassich höchstens noch das Wort „Geist", aber mit entschieden geringerer Berechtigung, hätte wählen können. Alle einschlägigen Worte, die hebräischen näƒäsch und ruach, die griechischen psyche und pneuma, die lateinischen anima und spiritus, die deutschen Seele und Geist sind ursprünglich Bezeichnungen für die specifischen, riechbaren Ausdünstungen organischer Wesen und Stoffe , was sowohl aus dem Laut der Worte, als aus ihrem Gebrauch in der Sprache unwiderleglich hervorgeht. *) Speciell bei lebenden Wesen bezeichnete man damit das, was durch die Nase ein- und ausgeht, auf unsere Nase wirkt , denn die meisten dieser Namen sind dem Klange prononcirter Athembewegungen entnommen. In näfäsch

  • ) Im zweiten Abschnitt wird neueres Beweismaterial für diesen Satz ge- bracht.

101 sind es der Nasal n , das fauchende ƒ und der Zischlaut sch, in psyche und pneuma das ps und pn , in anima der Nasal n, in spiritus das spuckende sp , in Geist das st , was alles Onomatopoëtica oder besser gesagt Demonstrativa für das Fauchen, Pusten, Spucken , Niesen , Schnauben , Schnüffeln sind. Bei Seele (goth. saiala) ist die Athembewegung mit dem rhythmischen Wogen des Meeres, der See, verglichen. Die gewöhnliche Auffassung , die durch den Sprachgebrauch gerechtfertigt erscheint , ist , dass man eben darunter die Athembewegung, d. h. nur den physikalischen Act derselben, als Ausdruck des Lebens verstand , und diese Worte ursprünglich für gleichbedeutend mit Leben resp. Lebenskraft oder Lebensprincip hielt. Darüber ist kein Zweifel , dass mit der Zeit ein Theil dieser Worte auch in diesem Sinn gebraucht wurde , denn dafür spricht die Bedeutung von anemos, Wind, pneuma, Athem. Allein dass das doch nicht die ursprüngliche Bedeutung war, geht daraus hervor, dass mehrere dieser Worte ganz unzweifelhaft eine chemische Bedeutung hatten oder noch haben, und etwas Riechbares bezeichnen. Das hebräische näfäsch kommt in der Bibel an mehreren Stellen in der Bedeutung „ Duft", "Wohlgeruch" vor , z. B. bei Jesaias heisst botte hanäfäsch das „ Riechfläschchen“, und wenn Moses sagt , „ das näfäsch eines Thieres stecke im Blut", so bezeichnet er damit handgreiflich den specifischen Blutgeruch (die aura sanguinis der Physiologen). Bei der Erschaffung des Menschen (1. Mos. 2, 7) ,,blies Gott ihm ein das näschamah (synonym mit näfäsch) des Lebens, und so ward der Mensch zur lebendigen näfäsch. " Dieser Satz beweist deutlich , dass im Sprachgebrauch auch etwas Todtes ein „ näfäsch ," also einen specifischen Duft, haben konnte. Das hebräische Wort für Geist , ruach , heisst als Verbum „athmen“ , „ riechen“ , „etwas beriechen" , und, weil man nur an dem riecht, was man angenehm findet: ,, Gefallen haben an etwas" (s . Maurer hebr. Wörterbuch S. 814). Daher heisst es auch 1. Mos. 8, 21 : „Der Herr roch (ruach) den lieblichen Geruch des Opfers Noah's. " Auch in der deutschen Sprache besteht der gleiche Zusammenhang zwischen „riechen“ und „ Wohlgefallen haben" in dem schwäbischen Ausdruck für den höchsten Grad des Missfallens: „ ich kann ihn nicht schmecken (schwäb. riechen)". Ferner bedeutet im Hebräischen das Wort baasch*) sowohl „ stinken" als „ verhasst sein“, „ schlecht sein“ , „ schlecht handeln", und : „einen oder sich

  • ) Offenbar onomatopoëtisch : ,, bsch", ausspucken, wegblasen.

102 verhasst machen" wird ausgedrückt mit „ stinkend machen" (hiphil von baasch). Im Chaldäischen bedeutet das Wort b'esch „ stinken" und „missfallen". Als Hauptwort heisst ruach nicht blos „ Geist" , sondern auch „ Wohlgeruch. Der gleichen chemischen Bedeutung begegnen wir bei dem deutschen ,,Geist" und dem lateinischen spiritus , in dem sie den Namen für den duftenden „ Alkohol" (Weingeist, geistige Getränke) abgegeben haben , und wenn man von Blumengeistern spricht , so versteht man darunter die specifischen Blumendüfte. Diese chemischen Bedeutungen wären nicht möglich , wenn nicht das chemische Element schon in der Grundbedeutung der Worte liegen würde. Hierzu kommt ein psychologischer und ein sprachgeschichtlicher Grund. Als die Menschen diese Worte schufen, waren sie sicher noch sogenannte Naturvölker , welche , wie unsere heutigen Naturvölker , im Vollbesitz aller ihrer Sinnesfähigkeiten , also auch des Geruchsinnes waren. Wenn wir heute die Rolle betrachten, welche bei der Jagd der feine Geruchsinn des Hundes spielt , so kommen wir sofort zur Einsicht, dass Jägervölker, so lange sie den Hund noch nicht zum Jagdgehilfen sich gezähmt hatten , bei der Jagd auf ihren eigenen Geruchsinn angewiesen waren und diesen zu gleicher Vollkommenheit entwickeln mussten , wie ihre andern Sinne. Einer meiner Zuhörer , Hr. Secondelieutenant L. , versicherte mich : wenn er sich in Gesellschaft von sechs bis acht Personen befinde , so rieche er fortwährend jede einzelne Person, und rieche, wenn eine derselben in Affect komme. Meine Tochter nimmt sofort den widrigen Angstduft wahr , wenn eines meiner kleineren Kinder weint. Zwei Lehrer , frühere Zuhörer von mir, bestätigen mir das Gleiche von Schülern, wenn sie in Angst kommen. Sollte jenen wilden Jägervölkern , diesen vollendeten Sinnesmenschen, so etwas entgangen sein? Unmöglich. Es ist Thatsache , dass der Ausdünstungsduft eines Menschen sofort stärker wird, wenn er in die Seelenstimmung des Muthes versetzt wird ; sollte es nicht damit zusammenhängen , dass animus im Lateinischen auch die Bedeutung von „Muth" hat ? " Kurz, für mich steht fest : Jene Naturvölker schufen die genannten Worte nicht , um damit das Physikalische in der Erscheinung des Athmens und Riechens , sondern hauptsächlich das Chemische darin zu bezeichnen , d. h. die Thatsache , dass die Ausathmungsluft eines Menschen deutlich und specifisch duftet, seine specifische und individuelle Witterung enthält, und dass in der Einathmungsluft die auf den Geruchsinn wirkenden specifischen Duftstoffe der Objecte enthalten sind. 103 Dass dem so ist , geht auch aus der Thatsache hervor , dass diesen Worten stets noch die Bedeutung des Specifischen und Individuellen anhängt. Wäre blos das Physikalische der Athembewegung , das ja allen höheren Thieren gleicherweise gemein ist und durchaus nichts Specifisches und Individuelles an sich trägt, gemeint , so wäre es nicht begreiflich , wie man dazu kommen könnte, in der Seele den Träger des Individuellen und Specifischen zu sehen und von Verschiedenheiten der Seelen zu sprechen, z. B. von Thierseele und Menschenseele, von feigen Seelen, niedrigen Seelen, Seelenharmonie u. s. f. Wie kam man nun aber dazu, aus der gleichen Sprachquelle zwei Worte von verschiedener Bedeutung zu schöpfen ? Denn im alten Testament wurden „ näfäsch und ruach, " im neuen Testament psyche und pneuma, " im Deutschen ,, Seele und Geist" als etwas Grundverschiedenes einander gegenübergestellt. Das ist ein späteres , gereifterer Erkenntniss und Sprachentwickelung angehörendes Stadium. Wir können es noch heute sehen : das Wort „riechen" wird im gewöhnlichen Leben jetzt noch subjectiv und objectiv gebraucht. Wenn man aber genauer über die betreffenden Vorgänge sprechen will , ist man sofort gezwungen , zwischen duften" und riechen" zu unterscheiden. Offenbar wollte man ursprünglich mit der Gegenüberstellung von Seele und Geist das Gleiche thun , d. h. das Objective und Subjective auseinanderhalten : näfäsch, psyche und „ Seele" sind das Riechbare, Duftende, Gerochene, der Ausfluss des Objectes ; ruach, dneuma , „ Geist", das Riechende , Wahrnehmende , die Thätigkeit oder das Thuende im Subject. So wurden die letzteren Worte allmählich die Namen für das Metaphysische im Menschen, für das Bewusstsein , das „Ich" als Organ der Vorstellung - aber immer im Sinne des Specifischen und Individuellen ; die ersteren Worte dagegen blieben zur Bezeichnung des physischen Trägers der Individualität, d. h. des specifischen, riechbaren Ausdünstungsduftes eines Objectes der Vorstellung. -- 2 In dem Masse, als aus den Naturvölkern Culturvölker wurden, der Gebrauch des Geruchsinnes immer mehr in den Hintergrund trat selbst beim Jäger, der seinen Hund für sich riechen lassen konnte verblasste die Bedeutung der Worte ,,Seele" , psyche, näfäsch, als Bezeichnung für die specifische Witterung immer mehr. Da auch die Naturforschung , als sie in den Erkenntnissprocess eingriff, diese Stoffe ignorirte , was ja für die Thiere noch heute (bis zu meinen Arbeiten und denen von FRITZ MÜLLER über die Duftorgane der Schmetterlinge) gilt, So verzog sich der Begriff „Seele" in das metaphysische Gebiet hinüber. So ist es dem - 104 Philosophen CARTESIUS am Ende nicht zu verdenken , wenn er es für überflüssig hielt, zweierlei metaphysische Principien im Körper anzunehmen, demnach Seele und Geist für gleichbedeutend nahm und die Trichotomie der Theologen von Leib, Seele und Geist durch die dualistische Lehre von Leib und Seele ersetzte. Wenn ihm darin nun ein grosser Theil der Philosophen gefolgt ist , so haben erstens andere Philosophen stets an der Trichotomie festgehalten und das Unbewusste (nur ein anderes Wort für Seele) und das Bewusste (gleichbedeutend mit Geist) stets auseinander gehalten. Noch neuerlich hat ja Herr E. v. HARTMANN eine Philosophie des Unbewussten geschrieben , an deren Stelle ich jetzt - wenn auch nur erst in rohen Umrissen - eine Naturgeschichte des Unbewussten setzen kann. Zweitens hat der allgemeine Sprachgebrauch allen dualistischen Philosophen zum Trotz treu an der Trichotomie festgehalten. Derselbe unterscheidet heute noch zwischen Denken und Fühlen , zwischen Gefühl oder Gemüth und Verstand, zwischen Herz und Kopf, zwischen Instinct und Verstand. Es verwechselt Niemand Seelenruhe und Geistesruhe, Geistesabwesenheit oder Bewusstlosigkeit ; man spricht von Seelenschmerz , Seelenangst , aber nie von Geistes schmerz und Geistesangst; das Nachdenken nennt jeder Geistesarbeit und nicht Seelenarbeit; man sagt , die Seele fühlt und der Geist denkt, niemals umgekehrt. Drittens hat die Theologie stets an der Trichotomie festgehalten und nur dem Geist metaphysische Eigenschaften zugesprochen ; wenn sich auch später eine Laxheit des Gebrauches einschlich , dogmatisch werden Seele und Geist heute noch von den Theologen scharf unterschieden. Ich habe also für meine Benennung 1 ) das Recht des Entdeckers, 2) das Recht der physiologischen Bedeutung, 3) das Recht der ursprünglichen sprachlichen Bedeutung , 4) das Recht des gegenwärtigen allgemeinen Sprachgebrauchs, 5) das Recht einer der ältesten Sprachurkunden , der Bibel , 6) das Prioritätsrecht der wissenschaftlichen Theologie. So glaube ich denn hierüber keine weiteren Worte mehr verlieren zu müssen, sondern mich ungestört der weiteren experimentellen Arbeit über die Materie hingeben zu können. Dieselbe geht zwar weit über die Kräfte eines einzelnen Mannes , zumal über meine , da ich obgleich Lehrer an drei Hochschulen doch alle zu solchen Arbeiten unentbehrlichen, andern Hochschullehrern zustehenden äusseren Hilfsmittel entbehre. Glücklicherweise - 105 haben sich mir mehrere freiwillige Mitarbeiter angeboten, so dass ich beruhigter der Entwickelung der Sache entgegensehen kann. Allein ich benütze diese Mittheilung zur Aufforderung : Erstens an alle mit feinem Geruchsinn ausgestattete Personen meine Freunde nennen sie scherzweise „Seelenschmecker" mir ihre Beobachtungen mitzutheilen, resp. meine Angaben zu prüfen. Man nehme sich ein Beispiel an den Engländern, die ihrem Landsmann DARWIN solche auf seine Lehre Bezug habende Mittheilungen in reicher Fülle zugehen liessen und ihm dadurch hauptsächlich die feste Begründung seiner Lehre ermöglichten. Wesentlich ist dabei die Ermächtigung zur Veröffentlichung, mit der Angabe, ob mit oder ohne Nennung des Namens. Zweitens wünschte ich mich in Verbindung zu setzen a) mit einem Physiker, der Studien über die latente Wärme der Duftstoffe machen kann ; b ) mit einem Chemiker , der sich der Aufgabe widmen wollte, die Seelenstoffe der Thiere zu isoliren und zu untersuchen; c) mit einem Botaniker , der die morphogenetische Rolle der Duftstoffe bei den Pflanzen zum Gegenstand seiner Studien zu machen bereit wäre ; d) mit einem Sprachforscher, der sich der Mühe unterziehen wollte, in den Sprachen der lebenden Naturvölker nach den entsprechenden Worten zu fahnden, ob sich auch an ihnen meine Behauptung über die ursprüngliche Bedeutung derselben erweisen lässt. Die Arbeiten derselben könnten je nach Uebereinkommen entweder separat erscheinen oder selbständige Theile eines gemeinschaftlich herauszugebenden wissenschaftlichen Werkes bilden. Wichtig wäre natürlich , wenn die drei erstgenannten Forscher über einen feinen Geruchsinn verfügten. 8. Völkergeruch. (Mit Genehmigung des Verfassers wieder abgedruckt aus Correspondenzblatt der Anthropologischen Gesellschaft 1876 , Nr. 5.) In anthropologischen Werken wird nur sehr wenig Rücksicht genommen auf den Geruch, welchen die verschiedenen Menschenrassen ausströmen , und der ihnen mehr oder weniger specifisch eigen ist. Trotzdem scheint dieser Gegenstand mehr der Beachtung werth, da es sich hier um ein Rassenmerkmal handelt, welches allerdings schwer difinirbar ist und an Wichtigkeit hinter anderen Kennzeichen zurücksteht. Wir können die Völkergerüche nicht in eine Scala bringen, wie BROCA z. B. die verschiedenen Hautfarben , wir können nur vergleichsweise angeben , diese oder jene Rasse duftet so oder so, immerhin mag es aber gerechtfertigt sein, diesen Gegenstand hier einmal zur Sprache zu bringen, sei es auch nur, um zu einer weiteren und eingehenderen Behandlung desselben anzuregen. Die von mir gesammelten Belege dürften willkommen sein. Der eigenthümliche, seinen ganz besonderen Charakter zeigende Hautgeruch der Völker verliert sich unter keinen Umständen, und die grösste Reinlichkeit , das sorgfältigste Waschen vermögen ihn nicht zu entfernen. „Er gehört eben zur Art, wie der Bisamgeruch zum Moschusthier, und beruht auf der Ausdünstung der Schweissdrüsen. "*) Am bekanntesten ist das Beispiel der verschiedenen Negerstämme , bei denen der Geruch sich nicht verliert, mag der Schwarze sich nun reinigen und nähren wie er will. Die Schweissdrüsen sollen bei den Negern grösser und zahlreicher als bei anderen Rassen, im Uebrigen aber wie bei diesen angeordnet sein. Vorhanden ist der Geruch bei Abantu-, wie bei Sudannegern.

  • ) C. Vogt , Vorlesungen über den Menschen. Giessen 1863. I. S. 157.

Diese Deutung der Duftquelle ist natürlich falsch. Jaeger. 107 FRITSCH *) bemerkt , bei den Amakosa müsse eine starke unsichtbare Perspiration vorhanden sein , die sich durch einen eigenthümlichen, penetranten Geruch erkennen lässt . „Derselbe scheint von einer der Buttersäure verwandten Fettsäure herzurühren; er ist aber unabhängig von etwa dem Körper anhaftenden Unreinigkeiten, denn Waschen nimmt den Geruch nicht fort , vielmehr erscheint er dadurch viel stärker , sobald heftige Muskelthätigkeit ausgeführt wird. " - In den stärksten Ausdrücken schildert Consul THOMAS HUTCHINSON **) den specifischen Geruch, welchen die auf dem Markte von Alt- Kalabar versammelte Menge ausströmte. No vile compound of drugs or chemicals the vilest that could be fabricated by human ingenuity would rival the perspiratory stench from the assembled multitude. It is not only tangible to the olfactory nerves, but you feel conscious of its permeating the whole surface of your body. Even after going from the sphere of its generation it hovers about you and sticks to your clothes and galls you to such an extent, that with stick and umbrella in your hands, you try to beat it off, feeling as if it were an invisible fiend endeavouring to become assimilated with your very lifeblood." Ueber die Stärke dieses Negergeruchs und seine Bemerkbarkeit selbst in grosser Ferne darf kein Zweifel aufkommen ; hat man doch Sclavenschiffe auf offenem Meere an diesem Geruche erkannt. ***) Dieser Negergeruch ist den Indianern Guyana's , wie APPUN bezeugt, †) gerade so widerwärtig wie den Europäern, und indianische Frauen und Kinder hielten sich deswegen bei der Annäherung eines Negers die Nase zu und spuckten aus . Wir wollen hervorheben , dass dieser den Negern eigenthümliche Geruch bei den Galla nicht vorhanden ist + ) , was um so beachtenswerther erscheint, als man die Galla neuerdings (cf. HARTMANN, die Nigritier) als ein Uebergangsglied zu den eigentlichen Negern darstellen will. Dass der Weisse eine specifische Ausdünstung hat, unterliegt nach den Aeusserungen, welche Angehörige anderer Rassen darüber machen, kaum einem Zweifel. In Mexiko wird sogar behauptet, dass Mischlinge aus europäischem und amerikanischem Blute theilweise den Geruch beibehalten , welcher der Hautausdünstung der beiden Urgeschlechter eigen ist. Doch vermochte MÜHLENPFORDT

  • ) Eingeborene Südafrika's S. 14.
    • ) Impressions of Western Africa. London 1858. p. 123,
      • ) Quatrefages , Rapportes sur les progrès de l'Anthropologie. Paris

1867. p. 290. †) Ausland 1872. S. 827. + ) v. d. Decken's Reisen in Ostafrika II, 374. 108 bei Mestizen wie Trigenios nichts hiervon zu bemerken. Vielleicht gehört aber zur Unterscheidung dieses Geruches das feine Organ der Indianer Peru's , welche die verschiedenen Rassen bei Nacht durch den Geruch unterscheiden können und den Geruch der Europäer „ Pezuna", den der Indianer „Posco", und den der Neger „Grajo“ nennen. Bei den Mulatten und Terzeronen ist der Geruch allerdings bemerkbar. *) Es fehlt nicht an Belegen , dass auch bei asiatischen Völkerschaften ein specifischer Geruch vorhanden ist. Pater BoURIEN sagt von den Mantras im Innern der malayischen Halbinsel : „like the Negroes they emit a very strong odour" **) , und ein so feiner Beobachter wie ADOLF ERMAN gibt zu , dass den Chinesen ein be- sonderer Geruch zukomme. Er erzählt: „Bei der Rückkehr nach Kiachta besuchte ich daselbst das Haus des Kaufmanns Kotelnikow. Diesesmal und in mehreren anderen Fällen bemerkte ich schon beim Eintritt in das russische Haus , durch einen eigenthümlichen Geruch, dass Chinesen in dem Besuchszimmer waren ! Personen, welche plötzlich in gewisse Gegenden der Erde versetzt wurden, um deren specifischen Charakter ohne vermittelnde Uebergänge aufzufassen , haben von einem Landesgeruch oder Nationalgeruch gesprochen , und ich verstehe ihre Meinung genugsam , seitdem ich mehrere Beispiele dazu erlebte. Zuerst beim Eintritt in Russland und dann hier an der chinesischen Grenze, woselbst ein Blinder bemerken würde , dass er die sibirischen und russischen Umgebungen verlassen hat. Zu dem Geruche in Maimatschen trugen freilich die Rauchkerzen vor den mongolischen Kapellen und der Dampf von chinesischem Pulver einiges bei ; aber weit wesentlicher die Chinesen selbst , von denen Jeder um sich eine Atmosphäre verbreitet , die an den strengen Geruch des Lauches erinnert. Ich glaube kaum, dass dieses auf so directe Weise, wie die Russen es behaupten, von gegessenen Zwiebeln herrühre; man würde dann diese Eigenthümlichkeit nicht , so wie es hier an der Grenze geschieht, bei allen Individuen, zu jeder Zeit und an allen Gegenständen, welche mit ihnen in Berührung gewesen sind, wahr- nehmen. Man überzeugt sich vielmehr durch diese und manche verwandte Erfahrungen, dass die Ausdünstungen des menschlichen Körpers bei den einzelnen Nationen eine constant unterscheidende und vererbliche Beschaffenheit annehmen ; noch ausser denjenigen individuellen Merkmalen , die jeder Hund an den Ausdünstungen

  • ) E. Mühlenpfordt , Versuch einer getreuen Schilderung der Republik

Mejico. Hannover 1844. S. 201.

    • ) Transactions of the Ethnolog. Soc. New Series III. p. 72 ( 1865) .

109 seines Herrn aufzufassen weiss, und deren Untersuchung in ein noch zu bebauendes Feld der Chemie gehört. " *) Wohl zu unterscheiden von dem Völkergeruch ist jener individuelle Geruch, der auf der Nahrung beruht und der leicht, wenn ganze Völker von gewissen Speisen leben , als ein ihnen eigenthümlicher betrachtet werden kann. Isländer , die von Fischen leben, zeigen einen Fischgeruch. Von den Kamtschadalen erzählt der alte biedere STELLER: **) „ Die Haut über den ganzen Leib ist subtil , weich , mit kleinen häufigen Schweisslöchern , ohne Haare, sie sind auch zur Ausdünstung nicht disponirt, und dahero ohne allen üblen Schweissgeruch, ausser dass sie wie die Bagaren und Maven nach Fischen riechen, wenn man sie auf der Haut reibet und beriechet gewiss eine Folge der vorherrschenden Fischnahrung dieses Volkes. Anderseits erwähnt KITTLITZ von demselben Volke, dass es wegen des starken Genusses von Knoblauch auf weithin im Freien an diesem Geruch kenntlich sei . ***) -- · Lauchduftig sind auch Italiener und Provençalen. Die Juden, seit sie im Wüstensande sich des egyptischen Knoblauchs weh- müthig erinnerten, blieben alle Zeit unerschütterliche Freunde desselben, sowohl vor als nach der Zerstörung Jerusalem's, wie einst daheim in Palästina , so in der Diaspora unter der Herrschaft des Talmud und der Rabbinen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Sage von dem foetor judaicus," wegen dessen die Juden von allen Nationen alter und neuer Zeit verhöhnt und zurückgestossen wurden, von dem unter ihnen allgemein verbreiteten Genusse dieses streng riechenden Gewürzes zu allererst herrührte. Ein komischer Zug, den AMMIANUS MARCELLINUS aus dem Leben des Marcus Aurelius erzählt, beweist, dass schon damals die Juden in dem erwähnten bösen Rufe standen : Als dieser Kaiser , der Sieger über die Markomannen und Quaden, auf einer Reise nach Egypten durch Palästina kam , da wurde ihm Gestank und Lärm der Juden (foetentium Judaeorum et tumultantium, wie heute an der Börse) so lästig , dass er schmerzlich ausgerufen haben soll : O Markomannen, o Quaden und Sarmaten! habe ich doch noch schlimmere Leute, als ihr, gefunden ! †) Leipzig. Richard Andree.

  • ) Erman, Reise um die Erde. Historischer Bericht II. 145.
    • ) G. W. Steller's Beschreibung von Kamtschatka. Frankfurt und

Leipzig 1774. S. 299.

        • ) F. H. v. Kittlitz , Denkwürdigkeiten einer Reise. Gotha 1858. II. 202.

Victor Hehn, Culturpflanzen und Hausthiere. Zweite Auflage. S. 171 . 9. Der Nasengruss. (Mit Erlaubniss des Verfassers wieder abgedruckt aus Globus, Jahrg. 1879. Nr. 10. ) Wer die ganze Reihe nationaler Begrüssungsarten aufführen wollte, könnte damit leicht ein Buch füllen. Der wissenschaftliche Gewinn aus einem solchen wäre aber ein geringer. Man würde nur auf eine ungeheure Mannigfaltigkeit stossen, mehr oder minder unerklärbar scheinende Sonderbarkeiten finden und sich über die Zeitverschwendung oder die fein ausgebildete Etikette der Grussformen wundern. Nirgends z. B. sind dieselben förmlicher als in Afrika , worüber GERHARD ROHLFS ein ganzes Kapitel geschrieben. Die Tibbus brauchen zu ihrem Kauern und Fragen und Antworten fast eine Stunde , soll der Gruss in aller Form vor sich gehen ; kaum minder umständlich sind die Herero. Bei den Fan setzt der Heimkehrende sich zum Gruss seinen Freunden der Reihe nach in den Schooss und wird dabei von allen von hinten umarmt, während auf den Andaman-Inseln zwei Freunde ihr Wiedersehen feiern , indem sich der eine Brust an Brust dem andern auf den Schooss setzt, worauf beide sich umarmen und hi, hi weinen (JAGOR). Weinen als Begrüssung kommt noch mehrfach vor; Anblasen, Küssen, Bestreichen mit Speichel, Hutabnehmen, Händedruck u. s. w. spielen ihre Rolle. Während nun die erwähnten Arten der Begrüssung sporadisch sich vertheilen , und ein tieferes ethnographisches Interesse ihnen kaum innewohnt, ist der Nasengruss an eine mehr bestimmte Sphäre gebunden und kann als eine charakteristische Sitte einzelner Rassen und Völkerfamilien aufgefasst werden. Man hat denselben auch als Nasenkuss , Nasenreiben bezeichnet , nicht immer jedoch das Wesentliche ergriffen, worauf es hierbei ankommt. Nicht das Reiben, die mechanische Berührung, ist dabei die Hauptsache, sondern 111 der Geruchsinn. Wie die Völker ihren specifischen Geruch haben , worüber ich die erste Zusammenstellung gegeben habe*) , so hat auch jedes Individuum seine Ausdünstung, und diese ist es , die der Freund vom Freunde durch den Nasengruss einzieht, gleichsam um einen Theil des befreundeten oder geliebten Wesens in sich aufzunehmen. Man muss sich dabei erinnern , dass der Geruchsinn bei vielen Naturvölkern viel feiner ausgebildet ist, als bei uns , wie dieses z. B. von den Indiern der Philippinen uns JAGOR bestätigt. Sie sind im Stande, durch Beriechen der Taschentücher zu erkennen , welcher Person sie angehören. Verliebte tauschen dort beim Abschiede Stücke getragener Wäsche aus und schlürfen während der Trennung daran den Geruch des geliebten Wesens ein. **) Der Nasengruss, der nun auf dieser Einschlürfung beruht, hat seine ganz bestimmten Verbreitungsbezirke. Er beginnt einmal in Lappland und geht von hier durch den Norden der alten und neuen Welt bis Grönland. Er begegnet uns alsdann wieder in Hinterindien, um von da sich östlich bis zur Osterinsel fortzusetzen. Schon der alte LINNE beobachtete in Lappland den Nasengruss ***); und dass derselbe noch heute in voller Anwendung sei, darüber belehrt uns FRIJS, einer der ausgezeichnetsten Kenner der Lappen. „Die lappische Begrüssung," sagt er, besteht in einer halben Umarmung, wobei man die rechte Hand auf des Andern linke Schulter legt, Wange an Wange und Nasenspitze an Nasenspitze reibt, mit dem Wunsche därvan , därvan , wohl , wohl ! " +) . Uns östlicher wendend , treffen wir auf die Samojeden , von denen CASTREN den Nasengruss bestätigt. tt) Ich zweifle nicht, dass dieser Gebrauch bei den verwandten Völkern des nördlichen Sibiriens sich nachweisen lässt , wiewohl ich jetzt keine Beweise dafür beizubringen vermag , denn an der Beringsstrasse stellt derselbe sich sofort wieder ein. Bei den Aïno's auf Sachalin ist ein sehr complicirtes Grussverfahren vorhanden, doch scheint mir darin noch ein Anklang an den Nasengruss enthalten , da Freunde , die sich nach einer Reise wiedersehen, gegenseitig ihre Köpfe auf die Schulter des andern legen. †††) Unzweifelhaft findet sich der Nasengruss bei allen Correspondenzblatt der Anthropol. Ges. Mai 1876. Jagor, Philippinen 132.

      • Tylor, Researches 51.

+) Globus XXII, 52. + Reise im Norden 258. + ) Holland im Journ. Anthropolog. Instit. III, 237. 112 Eskimostämmen. „ Die Begrüssung der Eingeborenen (am KotzebueSund) bestand im Zusammenbringen der Nasen und dem Streicheln des Gesichts mit ihren Handflächen," sagt BEECHEY *), und so bei allen Eskimos im Norden Amerika's hin bis Grönland, wo die alte Sitte beim Liebkosen der Kinder noch allgemein angewandt wird und auch bei den Erwachsenen noch nicht völlig ausser Gebrauch ist. **) Die zweite Zone des Nasengrusses beginnt mit Hinterindien, WO LEWIN Von den Bergvölkern Tschittagong's erzählt : Ihre Art zu küssen ist sonderbar : statt Lippe an Lippe zu pressen, legen sie Mund und Nase auf die Wange und ziehen den Athem stark ein. In ihrer Sprache heisst es nicht: „gib mir einen Kuss, sondern rieche mich" . ***) Genau so, wie hier der Nachdruck auf dem Einziehen des Geruches liegt , ist dies auch bei den weiter östlich wohnenden Birmanen der Fall, von denen MACKENZIE dieselbe Procedur beschreibt und hinzufügt : Instead of saying " give me a kiss", they say "give me a smell" .†) Vom malayischen Archipel bemerkt CRAWFURD, dass dort für unsern Kuss „bei allen Stämmen" das Riechen eintrete : überall seien die Wörter riechen" und ,,grüssen“ gleichbedeutend ; Kopf und Nacken sind die gewöhnlichen Objecte der Umarmung, wobei ein Schnüffeln hörbar wird. ††) Die Alfurus von Ceram streichen und reiben sich dabei mit dem Oberkörper aneinander, was stark an die Katzen erinnert" ; sie krümmen sogar den Rücken, um ihr wohliges Gefühl zu äussern. †††) Von Mangkasser auf Celebes haben wir das Zeugniss von WALLACE, dessen Leute bei der Abfahrt mit ihren Verwandten ein allgemeines Nasenreiben veranstalteten , der „, malayische Kuss" , fügt WALLACE hinzu. *†) 99 Wie sich nun an die malayischen Völker des Festlandes und des Archipels die Polynesier der Südsee ethnisch angliedern , so finden wir sie auch mit ihnen durch die Sitte des Nasengrusses verknüpft. Bei den Melanesiern vermag ich denselben dagegen nicht nachzuweisen, wenigstens sind mir keine Beobachtungen darüber aufgestossen. DARWIN beschreibt das „ Nasendrücken" von NeuSeeland. Die Weiber kauerten nieder und hielten ihr Gesicht aufwärts ; meine Begleiter standen über ihnen , legten die Rücken 99

  • Reise nach dem Stillen Ocean. Weimar 1832. I. 396.
    • ) Rink, Danish Greenland. , London 1877, 223.
      • ) Jagor , Philippinen 132.

†) Mackenzie, Burmah and the Burmese 86. ++) Crawfurd , Hist. Indian Archipelago I, 100. ttt) Schulze , in Verhandl. Berl. Anthropol. Ges. 1877, 118.

  • +) Der malayische Archipel II, 152.

113 ihrer Nasen in einem rechten Winkel über die ihrigen und fingen das Drücken an. Das dauerte etwas länger als ein herzlicher Händedruck bei uns. Während des Vorgangs liessen sie ein behagliches Grunzen hören. "*) Heutzutage wird auf Neu- Seeland der Nasengruss fast nur noch von alten Weibern und Männern geübt ; die jüngere Generation hat sich schon das europäische Küssen angewöhnt, und die modernen Maorimänner schütteln sich einfach die Hände nach englischem Vorbilde. Es ist übrigens nicht ein einfaches Drücken gewesen , wie DARWIN angibt. Wie aus dem Worte hongi, welches sowohl „ riechen" als auch den Nasengruss und das von den Weissen importirte Küssen bedeutet , hervorgeht, lag auch hier der Sinn des Nasengrusses darin , dass man den Geruch des geliebten Wesens einathmen wollte. **) Es kann nicht befremden, dass wir auf den Chatham- Inseln, deren Bewohner auch Maoris sind, den Nasengruss nach neuseeländischer Art finden ***) ; von den Markesas- und Penrhyn - Inseln wird er bestätigt durch LAMONT †) und GEORG FORSTER ††) ; die Missionäre sahen ihn noch neuerdings auf der Ellice-Gruppe†††), er ist beobachtet auf den Marianen *+) und Kingsmill - Inseln ** ) , ist also überall in der Südsee. Ausserhalb der beiden bestimmten Zonen wird der Nasengruss noch erwähnt von den Schwarzfussindianern Nordamerika's und den Australiern in Queensland ****) , indessen stehen diese Fälle so isolirt da, dass sie näherer Bestätigung bedürftig erscheinen. Richard Andree.

  • ) Darwin, Naturwissenschaftliche Reisen, deutsch von Dieffenbach II. 198.

Buchner, Reise durch den Stillen Ocean 167.

      • ) Vancouver's Reisen nach der Südsee. Berlin 1799, I, 65.

†) Wild, Life among the Pacific Islanders 18, 296. ++) Sämmtliche Schriften II, 30. +

Petermann's Mittheil. 1871. 203.

  • ) Waitz , Anthropologie V, 2. Abtheilung, 127.

Wilkes , Voy. round the World. New-York 1851 , 558.

      • ) Waitz , Anthropologie III , 136. VI, 749.

Jaeger, Entdeckung der Seele . 8 Zweiter Abschnitt. Neue Aufschlüsse und Beweise. 10. Allgemeines über den Affect. Wie der Leser aus dem Bisherigen gesehen haben wird, nahm meine Seelenlehre ihren Ausgangspunkt von der objectiven Beobachtung der Thiere. Ich traute dem menschlichen Geruchsinne nicht die genügende Schärfe zu - wenigstens für die Regel - um subjective Beobachtungen anstellen zu können, wenigstens legte ich auf das gänzlich vorurtheilslose Verhalten eines Thieres gegenüber den Riechobjecten mehr Werth als auf das Urtheil meiner eigenen Nase oder der eines anderen Menschen. Hiervon bin ich jetzt völlig zurückgekommen. Für's Erste ist die Zahl der Personen mit leidlich feinem Geruchsinn eine viel grössere , als ich zu vermuthen wagte , und es fehlt nirgends an Personen mit sehr feiner Nase. Für's Zweite sind die Unterschiede , um deren Beurtheilung es sich bei der Seelenfrage handelt, beim Menschen noch viel auffälliger als beim Thiere. So stehe ich denn nicht mehr an, zu behaupten : Jeder Laie ist im Stande, sich am Menschen von der Richtigkeit meiner Angaben zu überzeugen , und um dem Leser das zu erleichtern, mache ich folgende einleitende Bemerkungen. Der oberste Satz für die Chemie des Affectes , von dem sich Jeder überzeugen kann, ist folgender : Der Mensch entwickelt im Allgemeinen drei verschiedenartige Düfte. 1) Den Seelenruheduft : diesem kommt die geringste Flüchtigkeit zu, er haftet deshalb an der Wäsche am längsten (Schwarzwäscheduft) , insbesondere den Holzfasergeweben (Leinwand, Baumwolle) , ist aus ihnen fast gar nicht zu vertreiben, denn man riecht ihn ohne Weiteres noch an der gewaschenen Wäsche 115 (Bügelduft), und haftet an den Kleidern fast unbegrenzt lange, so dass man ihn noch nach vielen Jahren diagnostociren kann. Dr. M. schreibt mir: „Als die Mutter meines Vaters starb, war ich drei Jahre alt. Ich hatte nicht viel Anhänglichkeit an sie , denn sie roch mir körperlich auf nicht sympathische Art. Das weiss ich daher, weil ich noch dreissig Jahre danach , so oft ich in den überfüllten Wäschekasten meiner Mutter griff und irgend ein Weisszeug, einen Kleiderstoff, Sammet oder Seide in die Hand bekam, ich dasselbe blos zu beriechen brauchte, um sofort zu sagen, ob er der Grossmutter gehört habe, und ich täuschte mich nie. " ,,Meine theure Mutter starb 1868 in W. Ich weilte eben in Hannover und hatte sie seit 1859 nicht wieder gesehen , konnte auch als Verbannter sie jetzt nicht mehr sehen. Ihren ganzen Nachlass überliess ich der Wittwe meines Bruders, bedingte nur, dass man mir einige hundert photographische Portraitkarten sende , welche ich während Jahren der alten Frau zugeschickt hatte. Als ich das Paket öffnete, roch Karte für Karte nach der Unvergesslichen, so dass es mir Thränen entlockte -- nur etwa zehn Karten nicht, die meine Schwägerin beigelegt hatte." - Dieser Thatsache, dass Holzfaser den Körperduft so ungemein annimmt und festhält, steht die andere gegenüber, dass Wollstoffe ihn viel weniger festhalten, namentlich nicht so lange. Man kann deshalb diesen Seelenruheduft ungemein leicht sammeln , und ich habe bereits eine Sammlung begonnen, die mir jetzt schon, so klein sie ist , die interessantesten Aufschlüsse zu geben anfängt. Am leichtesten gelingt es , den Kopfhaarduft mittelst Baumwollnetzen zu sammeln, welche man das Individuum etwa 8 Tage lang tragen lässt. Pomade darf aber dann während dieser Zeit und etwa 8 Tage zuvor nicht gebraucht werden. Diese Netze duften überraschend stark und durchaus individuell verschieden : Ihr Träger kann sofort daran diagnosticirt werden. Bezüglich der übrigen Personaldüfte kann man sich an jedem länger getragenen Baumwoll- oder Leinenhemd von Folgendem überzeugen: 1 ) Das Hemd duftet an keiner Stelle ganz gleich wie ein getragenes Kopfnetz. 2) Man unterscheidet an ihm vier deutlich verschieden duftende Stellen : Die Achseln, die Brustmitte (besonders beim Mann mit Brusthaar deutlich) , die Schamstelle, die Afterstelle . 3) Einen sechsten eigenartigen Duft haben Strümpfe, die man, um den Fussbekleidungsduft fern zu halten, nur Nachts getragen hat. Wir haben also von Seelenruhedüften den Kopfduft , Achselduft, Brustduft, Schamduft, Afterduft, Sohlenduft, die selbst bei grösster Reinlichkeit vorhanden sind, am Lebenden gerochen und aus der 8* 116 Wäsche in deutlichster Weise gesammelt werden können. 4) Endlich ist noch einzuschalten , dass völlige Seelenruhe nur im tiefen Schlafe herrscht ; deshalb ist der reine Seelenruheduft nur an Nachtwäsche zu finden. Ein Haarnetz , das bei Tage getragen wird, duftet erheblich anders , als ein Nachtnetz , durchschnittlich entschieden angenehmer; ersterem sind eben die Gehirn- und Muskeldüfte beigemengt. 2) Die Affectdüfte, die zweierlei Art sind : der wohlduftende Luststoff und der stinkende Unluststoff. Sie sind im Allgemeinen weit flüchtiger, als die Seelenruhedüfte, haften der Wäsche weniger gut an , dagegen sind sie sehr leicht am Lebenden zu riechen, insbesondere bei Kindern , die so oft und leicht in Affect fallen. Von den verschiedenen Affectdüften sind am leichtesten die der Cerebralaffecte zu riechen. Die beste Körperstelle hierfür ist der Hals , insbesondere die Stellen , wo die Blutadern aus dem Schädel heraustreten , und längs der Drosselvene ; auch an den Augenbrauen riecht man sie sehr gut, weil dort die Supraorbitalvene herauskommt. Für den , der die Sache nachzuprüfen wünscht , bemerke ich Man überzeugt sich am leichtesten von dem Unterschied des Affectduftes vom Seelenruheduft, wenn man gleich am Anfang des Affectes den Duft am Halse, hinter den Ohren, mit dem Duft auf dem Scheitel vergleicht. Oben herrscht dann noch der Seelenruheduft , am Halse erscheint der Affectduft, und zwar geht das sehr rasch sobald das Kind zu weinen oder zu lachen beginnt, nimmt ihn eine feinere Nase wahr, und nach Kurzem wird er , wenn der Affect ernstlich ist , so überlaut, dass Personen, die ich zur Prüfung beim Unlustaffect aufforderte , erschrocken zurückfuhren. An den Personen , bei welchen ich den Affectduft selbst prüfen konnte (eigenen Kindern), hat der Gehirnlustduft etwas Blumig -Weiniges, kurz Bouquetartiges, der Angstduft ist übelriechend, aas- oder kothartig mit einem Stich in's Knoblauchartige , besonders bei Erwachsenen , oder , um den im Wort Bouquet aufgenommenen Vergleich zu vollenden : er duftet fuselig. Mehrere Personen haben mich versichert , dass sie ihn sofort an sich selbst riechen, wenn sie von irgend einer Art von Angst (Lampenfieber, Kathederfieber, Examenfieber , Kanonenfieber , Subordinationsfieber u. s. w. ) befallen werden , und zwei dieser Personen haben mir ihn übereinstimmend als „ staubig" bezeichnet. Näheres über ihn siehe auch im Artikel „ Cerebralaffecte". Die Thatsache , dass die Cerebralaffectdüfte am Hals zuerst und am stärksten gerochen werden, ist in dem Sprichwort fixirt „Der hat's hinter den Ohren". Dasselbe besagt also : Man sieht dem 117 Menschen den Affect nicht an der Miene an , sondern man muss hinter die Ohren riechen , um zu wissen, woran man mit ihm ist. Weiter erklärt sie die bekannte Erscheinung , dass das Raubthier seinem Opfer ohne dazu angelernt zu sein, rein instinctmässig vorzugsweise nach dem Halse beisst , weil es eben hier den als Lustduft auf seine Nase wirkenden Angstduft seines Opfers am stärksten riecht. Auch bei der Liebe ist dasselbe zu beobachten. Bei Vögeln, z. B. Hühnern, ist es zu sehen, aber auch bei den Säugethieren: Der Hengst , bevor er die Stute bespringt , beriecht mit offenen Nüstern ihren Hals und beisst sie während der Begattung oft geradezu in den Nacken. Das Gleiche sah ich von Esel und Quagga. Die Katzen zeigen dieselbe Erscheinung, auch sie beissen die Kätzin im Wollustaffect in den Nacken, und der Mensch macht keine Ausnahme: in Wollusterregung presst er den Kopf an den Hals des Partners, küsst ihn, ja beisst unter Umständen wirklich hinein. Aber wohlgemerkt , was hier bei der Wollust am Hals gerochen wird, ist nicht der Sexualduft, sondern der Cerebrallustduft des Weibchens , der in dem Augenblick entwickelt wird , in welchem die Gehirnerregung in die Lustphase tritt. Sein Auftreten ist für das Männchen das Signal der Erhörung und Begattungsbereitwilligkeit. (Näheres siehe in dem Artikel „ Die Sexualaffecte".) Ueber die regionale Verschiedenheit der Affectdüfte werde ich später an einem andern Orte sprechen und mich zu dem zweiten Cardinalsatz der Psychologie wenden: Die Haare sind die Duftorgane des Menschen und der Säugethiere, und beim Vogel sind es die Federn. Die Sache ist also hier so, wie sie zuerst FRITZ MÜLLER an den Schmetterlingsmännchen nachwies. Er fand, dass ihre Duftorgane eigens geformte, öfter haarförmige Schuppen sind, die oft förmliche Pinsel bilden und entfaltet werden , wenn das Männchen um das Weibchen wirbt ; er constatirte, dass bei der Entfaltung der Duft- pinsel eine auch der menschlichen Nase sehr wahrnehmbare Wolke von Duft auftritt. Ich kann nun mittheilen, dass das bei den Vögeln gerade so ist. Wenn der Truthahn oder der Pfauhahn ihr Rad schlagen, die Federn sträuben und schütteln, so entströmt ihnen eine Wolke von Duft , die ein nahe stehender , feinriechender Mensch leicht wahrnimmt, und bei einer Masse von Vögeln ist das Sträuben und theilweise noch das Sehütteln der Federn eine bekannte Manier, wenn das Männchen das Weibchen umwirbt , z. B. bei Trappen, Paradiesvögeln, allen Fasanarten, dem Haushahn, den Tauben, den Sperlingen e tutti quanti. Damit sind jetzt auf einmal die lang 118 entwickelten Putzfedern erklärt, von denen man bisher mit DARWIN glaubte, sie seien nur dazu da, um auf das Auge des Weibchens zu wirken. Das ist Nebensache , die Hauptsache ist : sie sind hochentwickelte Duftorgane , und da die Duftstoffe zugleich die Chromogene sind , so erklärt sich daraus auch ihre häufige Buntheit ursächlich. Auf Letzteres werde ich noch in einem späteren Artikel zurückkommen. Beim Säugethier ist die Sache nicht so deutlich , aber doch kann man z. B. bei jedem Hunde sehen, dass er die Rückenhaare sträubt , wenn er um die Hündin wirbt ; auch der Gemsbock thut es ; ferner haben die Brunsthaare am Hals und Bauch des männlichen Hirsches dieselbe Bedeutung, und bei genauer Prüfung wird man es noch bei vielen anderen Säugethieren finden. دو Beim Menschen ist die Sache vollständig deutlich und ,,Volksbekannt", wie z. B. das Sprichwort lehrt : Wo Haar steht, ist Freude". Ich bemerke hier ein für allemal : Man deutet solche Volksausdrücke gewöhnlich als Metaphern ; ich halte das für falsch : sie sind das Ergebniss handgreiflicher, auch dem poësielosesten Menschen , ja ihm vielleicht ganz besonders , deutlicher Sinneseindrücke ; hier also Ausdruck für die Thatsache , dass an dem Menschen die behaarten Körperstellen einen weit stärkeren Ausdünstungsduft haben, als die unbehaarten, und dass diese Düfte lusterregend sind. Weiter ist Thatsache , dass stark behaarte Menschen viel stärker duften als schwachbehaarte. Ich werde auf diesen höchst interessanten Punkt bei Besprechung der morphogenetischen Rolle der Duftstoffe zurückkommen. Hier soll nur die Beziehung derselben zur Affectfrage in Betracht gezogen und constatirt werden , dass sie wirklich die biologische Rolle von Duftorganen spielen. Einer meiner Correspondenten schreibt mir hierüber : Struppig trockenes Haar bei Frauenzimmern erregte mich in meinen jungen Jahren stets geschlechtlich, glattgestrichenes, niederpomadisirtes Haar gerade entgegengesetzt. " Damit stimmt die andere Thatsache, dass lockige, langhaarige, kraushaarige Männer stets viel mehr Anziehungskraft auf das weibliche Geschlecht ausüben als glatthaarige , schlichthaarige , kurzgeschorene und kahlköpfige ; in der That kann man sich leicht überzeugen , dass bei ersteren der Haarduft viel intensiver ist als bei letzteren : begreiflich, weil die verdunstende Oberfläche grösser ist . Verliebte krauen ihren Partner häufig leidenschaftlich gern in den Haaren, und ich habe wiederholt auf das Befragen nach dem Beweggrund die Antwort erhalten : „Es riecht so gut." Auch im Verhalten von Eltern und Kindern kann man das Gleiche beobachten. Die Kinder 119 spielen z. B. sehr gern mit den Haaren ihrer Eltern, flechten ihnen Zöpfe und dergleichen . So kann ich mich noch recht gut erinnern, dass ich als kleiner Knabe meinem Vater , der lange Haare trug, und den ich ungemein liebte , leidenschaftlich gern Zöpfe flocht. Umgekehrt, besteht zwischen zwei Personen instinctive Antipathie, so ist ihnen nichts fataler, als ihr Haarduft. Die langen Haare des menschlichen Weibes sind verlängerte Duftorgane, und langes reiches Haar gilt bei Frauen unbedingt als werthvolles Schönheitszeichen. Hieraus erklärt sich auch die wichtige Rolle, welche die Haare auf dem Gebiet des Aberglaubens als Sympathiemittel spielen, und die noch bestehende Gewohnheit , dass man sich Haare als Andenken. an geliebte Personen aufbewahrt. Man conservirt sich damit aber ihren Seelenduft schlecht, da die Haare keine Duftorgane wären, wenn sie den Duft festhalten, anstatt abgeben würden. Das Haar wird viel schneller geruchlos, als ein mit Haarduft getränktes Netz aus Baumwolle oder Leinenfasern. Treten wir jetzt dem Affect etwas näher und fragen zuerst nach der Ursache desselben : Es ist das stets und ohne jede Ausnahme das Auftreten eines freien Duftstoffes in der Säftemasse und verräth sich jedesmal am Lebenden durch die Veränderung seines Ausdünstungsduftes , wie schon aus den früheren Artikeln erhellt , denen ich hier jedoch Folgendes beizufügen habe. Bei der Affectlehre haben wir zweierlei zu unterscheiden : 1 ) die Afficirbarkeit, 2 ) den Affect selbst d. i. den Act des Afficirtwerdens und den Zustand des Afficirtseins . Die Sache verhält sich nämlich folgendermassen : Im lebenden Körper werden jederzeit, auch in der Seelenruhe, Duftstoffe durch Eiweisszersetzung frei, so dass wir von einem Duftstoffstand sprechen können. Hiernach sind zwei Fälle möglich : Entweder der Stand bleibt längere Zeit gleich dies bedingt die seelische Stimmung , oder es tritt eine Schwankung ein. In letzterem Falle gibt es natürlich wieder eine Alternative . Steigt der Duftstoffstand, so haben wir den Eintritt des Affectes im engeren Sinn, das Afficirtwerden oder den nascirenden Affect ; sinkt dagegen der Affectstoffstand , so nenne ich dies das Abklingen des Affectes oder den negativen Affect. ― Betrachten wir zuerst die Stimmung und die Afficirbarkeit , wobei wir aber sofort zweierlei auseinander zu halten haben. Bezüglich der Zersetzungsfähigkeit des Eiweisses, also der Leichtigkeit der primären Duftstoffentbindung, bestehen die grössten specifischen und individuellen Unterschiede, worüber ich mich bei der Besprechung der Temperamente (S. 73) geäussert habe. Für's Zweite 120 ―― - kommt für den Grad der Afficirbarkeit der momentane Duftstoffstand in Betracht : Je grösser die Summe der freien Duftstoffe ist , um so erregbarer, afficirbarer oder, wie man sich auch ausdrückt, um so nervöser ist das Individuum in diesem Augenblick. Ist der Luststoffstand z . B. hoch, also das Individuum in lustiger Stimmung, so genügt ein geringer Anstoss, um einen Lustaffect zu erzeugen, und in der Unluststimmung ist es mutatis mutandis gerade so. Man kann sich nun leicht überzeugen : Menschen , die auch im Zustand der Seelenruhe einen sehr starken Ausdünstungsduft haben, sind sehr reizbarer Natur und gerathen ceteris paribus leicht in Affect ; z. B. die Frauen duften stets stärker als die Männer und sind bekanntlich weit afficirbarer. Zwischen alten und mittelalten Leuten besteht der gleiche Unterschied, während der Unterschied zwischen Kindern und Mittelalten darauf beruht , dass das jugendliche Eiweiss zersetzbarer ist als erwachsenes. Wir können nun bei der Stimmungsafficirbarkeit, wie ich sie zum Unterschied von der im „Temperament" liegenden nenne, folgenden gradweisen Gegensatz unterscheiden. Ist der Affectresp. Duftstoffstand ein sehr niedriger , so ist ein solcher Mensch nicht blos affectfrei , sondern er ist auch schwer in Affect zu bringen , was ich mit dem Wort „affectfest" bezeichne. Ich werde mich hierüber im praktischen Theil näher äussern. Sobald nun der Duftstoffstand steigt , verfällt das Geschöpf in Affect , und zwar ist derselbe um so stärker , je rascher er steigt. Besprechen wir zuerst die Quelle dieser Vermehrung der Duftstoffe. Ein Kapitalsatz meiner Seelenlehre und einer der wichtigsten Theile meiner Entdeckung ist , dass es bezüglich der Quelle zweierlei Affecte gibt : die exogenen und die endogenen. Wenn Bei den letzteren liegt die Quelle der Duftstoffentbindung im Innern des Körpers , und hierbei kann wieder zweierlei unterschieden werden: 1 ) die Duftquelle sind die lebenden Gewebe der Person selbst, wobei wir es mit den verschiedenen Organen und Geweben , (Hirn , Muskeln, Geschlechtstheilen etc.) zu thun haben ; 2) die Duftquelle ist der Darm - Inhalt. letzterer die Duftquelle ist , können wir natürlich den Affect in gewissem Sinne auch exogen nennen , weil der Duftstoffbildner erst von aussen eingeführt wurde ; allein ich stelle denselben doch lieber zu den endogenen , weil das Freiwerden der Duftstoffe erst im Körper stattfindet. Als exogen bezeichne ich den Affect, wenn die Duftstoffentbindung ausserhalb des Körpers stattgefunden hat , der Duftstoff im freien Zustand eingeathmet worden ist und so in die 121 Säftemasse gelangt ist. Ich nenne ihn den Einathmungs- oder Inhalations affect , und dieser ist es , der bisher fast ganz übersehen worden ist, und dem ich in den folgenden Artikeln eine detaillirte Besprechung angedeihen lassen werde. Die Quelle für den Inhalationsaffect ist die ganze Aussenwelt , sofern sie Düfte ausströmen lässt , also insbesondere andere Lebewesen , und ich unterscheide hierbei folgende Hauptgruppen : 1) Nahrungsdüfte , weil sie Object des Nahrungsinstinctes sind ; 2 ) Beschäftigungsdüfte , die Objecte des Beschäftigungsinstinctes ; 3) die socialen oder Gesellschaftsdüfte, weil sie die Regulatoren des socialen Instinctes, im weiteren Sinn also des geschlechtlichen, im engeren Sinne die des socialen sind. Alle Affectdüfte, die exogenen und die endogenen, zerfallen in zwei Gruppen : 1 ) Lustdüfte , die belebend, excitomotorisch, anziehend , Lustaffect erzeugend wirken ; 2) Unlustdüfte , die hemmend , depressorisch , abstossend , Unlustaffect erzeugend auftreten. Um hierbei zwischen exogen und endogen unterscheiden zu können , nenne ich die endogenen Selbstlustdüfte und Selbstunlustdüfte die exogenen sympathischen und antipathischen Düfte. Was die physiologische Wirkung der letzteren Art von Düften betrifft , so ist die der antipathischen genau wie die der Selbstunlustdüfte ; insbesondere wie die des Gehirnangststoffes, und die sympathischen wirken bei Einathmung fast genau wie die Selbstlustdüfte , insbesondere der aus dem Gehirn kommende Freudenstoff. Ein Cardinalsatz meiner Seelenlehre lautet daher: Ein Affectstoff wirkt physiologisch ganz gleich, mag er endogen auftreten oder durch Einathmung in den Körper kommen. (Das Nähere werden die folgenden Artikel beibringen.) Einer weiteren Erörterung bedarf die Frage: Wie wirken die Affectstoffe auf das Geschöpf, in dem sie aufgetreten sind; worin besteht denn eigentlich das Wesen des Affectes ? Ich beschränke mich hier auf die Betrachtung seiner Wirkung auf den Nervenapparat und die Consequenz derselben für den Geist. Die Wirkung auf den Nervenapparat ist eine Veränderung seiner Erregbarkeitsverhältnisse, worüber ich mich zum Theil schon im Artikel No. 4, pag. 50 geäussert habe. Das dort Gesagte habe ich durch Folgendes zu ergänzen. Mittelst eines HIPP'schen Chronoscops , bei dem der Theilstrich 1/500 Secunde ist , konnte ich. die Wirkung neuerdings auch mathematisch feststellen. Diese Messungen sind zwar noch lange nicht zum Abschluss gekommen, und werde ich über dieselben seiner Zeit an anderem Orte mit der von fachmännischen Kreisen verlangten Ausführlichkeit Mit- - 122 theilung machen; aber das wichtigste jetzt schon Ermittelte kann und will ich hier mittheilen , und zwar an der Hand einiger Messungsreihen. Zum Verständniss der Ziffern Folgendes : Am Chronoscop steht der Uhrenzeiger still. Sobald ein galvanischer Strom geschlossen wird, läuft er, um sofort wieder still zu stehen, wenn man den Strom wieder unterbricht. Ich sehe nun bei den Versuchen am eigenen Leib auf den stehenden Zeiger und hebe langsam mit der Linken einen Anker, so dass ich nicht weiss, wann dieser zum Contact kommt. Ist dies geschehen , und springt der Zeiger ab, so fahre ich so rasch als möglich zurück , worauf der Strom wieder unterbrochen ist, und der Zeiger steht. Es wird also die Zeit gemessen , die vom Empfang des Sinneseindrucks bis zur Ausführung einer Zuckung mit der Hand verstreicht. Bezüglich des absoluten Zeitunterschiedes zwischen der Beobachtung I und II bemerke ich, dass ich bei Nr. I mit beiden Händen, bei Nr. II mit einer Hand operirt habe. Den tausendsten Theil einer Secunde nenne ich eine Millsecunde (Ms.) , 1 in den Reihen ist also 12 Millsecunde. 1. nach der Mittagsruhe. 3 Uhr Mitt. I. Beobachtung betreffend Unlustaffect (4. Mai) . 2. nach 4 stündiger angestrengter, unan- genehmer Arbeit. 7 Uhr Abends. 3. nach einem darauf folgenden 1/4 stündigen Spaziergang. 67 81 76 102 66 98 71 75 75 73 51 90 Mittel 67 -134 Ms. Mitt. 86 - Max. 76 Max. 102 65 72 64 63 80 59 Min. 51 Differenz 25 = Min. 73 172 Ms. Mitt. 67 = Max. 80 Min. 59 50 Ms. Diff. 29 =58 Ms.; Diff 21 Geschwindigkeitsabnahme gegen Mittag 38 Ms. = 30 %. 134 Ms. = 42 Ms.; also genau gleiche Geschwin- digkeit wie nach Tisch. 123 II. Beobachtung betreffend Lustaffect ( 11. Mai) . 1. Morgens 8 Uhr. 82 2. Mittags 1 Uhr vor Tisch, nachdem um 9 Uhr freudige Nachricht eingetroffen. 75 78 74 94 87 83 52 80 74 Mittel 78 Max. 94 Min. 52 86 84 62 71 55 102 73 36 57 71 = 156 Ms. Mittel 69,7 - 139 Ms.; Max. 102 Min. 36 Geschwindigkeitszunahme 17 Ms. Differenz 42 = 82 Ms. Differenz 66 - 122 Ms. - 11,2 %- Die freudige Erregung erhält am gleichen Tag Nachmittags neue Nahrung, ich schreite deshalb Abends 7 Uhr zu einer neuen Untersuchung , erhalte die Messungsreihe Nro. 3. , gehe dann 14 Stunde spazieren und erhalte bei der sofort vorgenommenen Messung die Reihe Nro. 4. 3. vor dem Spaziergang. 4. nach dem Spaziergang. 62 77 86 75 69 72 61 71 72 69 90 94 66 84 68 88 68 85 57 Mittel 70 Max. 86 Min. 57 Differenz 29 = 140 Ms.; fast genau wie um 1 Uhr = 58 Ms. 85 Mittel 78,7 - 157 Ms. Max. 94 Min. 68 Differenz 26 - 52 Ms.; also Geschwindigkeitsabnahme 17 Ms. und Rückgang auf Morgenzeit (Reihe Nro. 1) 12 % 124 Ich bemerke, dass das nur ein Griff aus zahlreichen Messungen mit gleichem Resultat ist, und die fast absolute, bis auf die tausendstel Secunde gleiche Zahl vor und nach den Affectzuständen beweist die Genauigkeit von Apparat und Methode. Das Belehrende an diesen Messungen ist Folgendes : 1 ) Im Affect und zwar im Lust- wie Unlustaffect , besonders aber bei ersterem, besteht eine grosse Unregelmässigkeit in der Functionirung des Nervenapparates : Vor dem Affect (Nro. II, 1 ) war die Differenz zwischen Maximum und Minimum 82 Ms. Im Lustaffect 122, also um ca. 50 Proc. grösser. Beim Unlustaffect (Nro. I) ist die Differenz zwar nur 8 Ms. , aber bei einer andern Messung war vor dem Affect der Unterschied zwischen Max. und Min. 14 Ms. , im Affect 162 Ms. ! letzterer Affect war stärker und mit entschiedener Ermüdung gepaart. 2) Im Lustaffect ist die mittlere Geschwindigkeit beträchtlich (um 11,2 Proc. ) erhöht gegenüber der Seelenruhe ; im Unlust affect beträchtlich vermindert und zwar bis zu 30 Proc. , und wahrscheinlich bei wirklicher Angst - denn das waren meine bisher gemessenen Affecte nicht noch um vieles mehr, bis zur völligen Aufhebung in der Schrecklähmung. 3) Sobald nach kurzem Aufenthalt in reiner Luft der Affectstoff ausgeathmet ist, was schon nach 15 Minuten geschieht, hat die Nervengeschwindigkeit ihre alte Höhe erreicht. Das Kapitale in obigen Messungen ist : Läge blos Beobachtung Nro. I vor, so könnte man sagen , die Verbesserung der Nervenerregbarkeit sei Folge vermehrter Einathmung von Sauerstoff. Diese Deutung ist durch die Beobachtung Nro. II , bei der der Spaziergang eine Verlangsamung erzeugte , absolut ausgeschlossen , und deshalb haben obige zwei Experimente für mich den Werth einer mathematischen Bestätigung meiner Seelenlehre. Ich hatte schon in meinen früheren Publikationen vorhergesagt, dass Luststoff und Angststoff diese entgegengesetzte Wirkung auf den Nervenapparat haben müssten. Das Experiment hat diese Vorhersage glänzend bestätigt, und es bleibt für die weitere Untersuchung nur noch die möglichste Variation des Experimentes und die Prüfung der verschiedenartigen Affectdüfte übrig. Das zweite grundlegende und den Beweis für die Richtigkeit meiner Seelenlehre unbedingt bindend machende Experiment der Affectbeseitigung durch Einathmung eines düftemordenden Duftstoffes siehe im Kapitel „ Instinct". 4) Die Vergleichung der Zifferreihen 2 und 3 in Nr. II zeigt noch den Unterschied, dass bei dem frischen Affectzustand (Ziffer 2) die Unregelmässigkeit der Nervenaction viel grösser ist (Differenz 125 zwischen Max. und Min. 122 Ms ! ) als bei der blossen Stimmung (Reihe 3 mit Differenz von nur 58 Ms.) . Daraus erhellt, dass die fröhliche Stimmung der günstigste Zustand des Nervenapparates ist , er arbeitet fast mit derselben Präcision wie in der Seelenruhe, aber leichter und rascher, was der täglichen Erfahrung vollständig entspricht. Dem entgegen ist auf dem Höhepunkt des Affectes bei Lust und Unlust das regelmässige Ineinandergreifen des Nervenmechanismus gestört, wahrscheinlich weil nicht alle Theile desselben gleich rasch von dem in der Blutmasse auftretenden Duftstoff imbibirt werden. Erst wenn Gleichmässigkeit erreicht ist, ist die Stimmung ausgeglichen. Betrachten wir nun die Folge dieser Zustände im Nervenapparat für den Geist. Ein sehr guter Vergleich ist der des Centralnervenapparates mit einem Klavier und des Geistes mit dem Klavierspieler ; nur ist er einseitig , weil er nur die motorische Seite der Sache trifft, die sensitive nicht. Doch bleiben wir zunächst bei demselben. Der Freudenstoff , indem er die Erregbarkeit der Nervenfasern erhöht, erleichtert dem klavierspielenden Geist seine Arbeit , weil der Nervenmechanismus eine grössere Beweglichkeit besitzt , und ein leichter Anschlag schon einen vollen Ton erzeugt ; der Geist arbeitet also leichter, schneller und ausdauernder, weil er zu dem Anstoss kürzere Zeit und weniger Kraft braucht. Da der Angststoff die Nervenerregbarkeit vermindert bis vernichtet , und zwar gewöhnlich so , dass ein Theil der Nervenfaser seine Erregbarkeit völlig verloren , ein anderer nur vermindert hat, und zwar der eine mehr, der andere weniger, endlich sicher einige Faser- und Ganglienpartien von dem veranlassenden Reiz schwächer, also so getroffen worden sind , dass in ihnen Luststoff entbunden wurde , ihre Erregbarkeit also erhöht ist , so gleicht der Nervenmechanismus einem Klavier, an dem ein Theil der Saiten gerissen, auf andere der Dämpfer gefallen ist, und zwar hier stärker, dort schwächer , während einzelne Saiten so reizbar geworden sind, dass sie beim leisesten Anschlag schreien. Einem solchen Instrument steht der Spieler machtlos, rathlos und hilflos gegenüber ; und das ist genau der Zustand des Bewusstseins bei der Angst, denn ein Klavier ist ja gewissermassen nur eine Verlängerung unseres Muskel- , Knochen- und Nervenmechanismus ; und für den Spieler bleibt es sich gleich, ob das Ende des Mechanismus , das Klavier, oder der nächst liegende Theil, der nervöse, ruinirt ist. Nach der sensitiven Seite hin gleicht der Geist dem Klavierhörer. Ist der sensitive Apparat durch den Freudenstoff zu höherer Erregbarkeit gekommen, so werden die leisesten Anschläge 126 eines andern, der das Klavier spielt ( also der äusseren Sinnesreize), einen Ton geben , den der Geist hört. Ist dagegen das Klavier durch den Angststoff in obiger Weise zerstört , so hört der Geist wohl aus dem Durchgreifen einzelner Töne, dass überhaupt Jemand auf dem Klavier spielt, aber er kann nicht erkennen , was es für ein Stück ist , weil der Zusammenhang fehlt. Dies geht soweit, dass in der Angst die Sinne völlig schwinden, wie der Volksausdruck lautet ; sind Sinneswahrnehmung und Bewegungsfähigkeit vollkommen aufgehoben, so haben wir den Zustand der „ Ohnmacht". Die letzte Frage ist natürlich die: Wird durch die Seelenstoffe nur der Mechanismus verändert , durch den der Geist mit der Aussenwelt verkehrt, oder wird auch der Geist selbst von ihnen afficirt ? Diese, wie jede den Geist selbst betreffende Frage, kann der Naturforscher zur Zeit nicht in Angriff nehmen , er kann nur sagen: Aus der Thatsache, dass der Geist Eindrücke von dem Nervenapparat annimmt und auch der Affecte sich erinnert, geht hervor, dass er afficirbar ist und sehr wahrscheinlich bei den Affecten selbst afficirt ist , und zwar in ganz ähnlicher Weise wie der Nervenapparat , mit dem er jedoch meiner festen Ueberzeugung nach durchaus nicht identisch ist (worüber ich mich in einem späteren Kapitel äussern werde) . In den folgenden zwei Kapiteln ,, Sympathie“ und „ Antipathie" will ich nur eine Analyse der wenig bekannten Inhalationsaffecte und eine Vergleichung derselben mit den besser bekannten endogenen Affecten geben. II. Sympathie. Von den zweierlei Inhalationsaffecten behandle ich jeden getrennt und zwar zuerst die Sympathie. Um Missverständnissen vorzubeugen, sende ich folgendes Allgemeine voraus : Bei den Beziehungen zweier Geschöpfe geben zweierlei ganz verschiedene Umstände den Ausschlag, die geistigen und die seelischen. Bei den geistigen lässt sich wieder zweierlei unterscheiden : 1 ) Die erfahrungsmässigen Beziehungen: Werden einem Geschöpfe von dem andern stets Wohlthaten erwiesen, also stets Lustgefühle in ihm erzeugt, so bedingt das die erfahrungsmässige bewusste Sympathie. Erfährt es dagegen von einem andern stets Unbill und Widerwärtigkeiten, wird letzteres also stets Ursache von Unluststimmungen , so entsteht die erfahrungsmässige bewusste Antipathie. Das Charakteristische ist , dass die Herstellung dieser geistigen Beziehungen Zeit braucht, wenn sie nicht durch die unten zu schildernden instinctiven seelischen Beziehungen unterstützt wird , und dass es sich hier um etwas Erworbenes und nicht um etwas Angeboren es handelt. 2) So gross auch unsere Unkenntniss über das Wesen des Geistes ist, so ist doch unstreitig, dass es sich bei ihm nicht blos um erworbene , sondern auch um angeborene specifische und individuelle Unterschiede handelt, und dass zwischen zwei Geschöpfen angeborene Geistes verwandtschaft und andererseits angeborene Geistesfremdschaft bestehen kann, was auf das Verhalten der beiden zu einander einen entschiedenen Einfluss nimmt. Sehr schwer wird es aber bei jetzigem Kenntniss- Stand sein , dies von den erworbenen Geistesbeziehungen und -Qualitäten zu sondern , und ich überlasse das Anderen. Von diesen geistigen Anziehungs- und Abstossungsverhältnissen unterscheiden sich die instinctiven , seelischen toto 128 coelo. Sie erweisen sich sofort als angeborene * ) , unwillkürliche und sehr häufig unbewusste, und wie ich später zeigen werde, sind sie sogar ganz unabhängig von der Sinneswahrnehmung und somit von der Erfahrung. Bringt man zwei Geschöpfe , zwischen denen instinctive Sympathie besteht , und die sich vorher nie gekannt und gesehen haben, zusammen, so ziehen sie sich sofort „ Knall und Fall" an. Sich gänzlich selbst überlassen und ungestört, schmiegen sie sich alsbald an einander an, beriechen, belecken oder schnäbeln sich , zeigen alle Symptome des Lustaffectes im Glanz der Augen , den Geberden und Bewegungen. Hat man durch Sympathie verbundene Geschöpfe vor sich , die schon zusammen gelebt haben , wie Mutter und Kind , Gatte und Gattin , so lassen sich noch andere Wirkungen der Sympathie leicht beobachten. Am objectivsten treten die Erscheinungen bei der Mutter und dem eigenen Kind , namentlich so lange es Säugling ist , zu Tage , und deshalb betrachten wir dieses Verhältniss zuerst. Wenn ein menschlicher Säugling Nachts unruhig ist, schreit, und die Mutter denselben zu sich in's Bett nimmt, so drängt sich das Kind so dicht als möglich an den Leib der Mutter an, auch wenn es die Mutterbrust nicht verlangt , und zwar so , dass es öfter völlig aus den Tragkissen oder sonstigen Umhüllungen herausschlüpft; es tritt dann zunächst Beruhigung ein und zuletzt Schlaf. Häufig genügt es, dass die Mutter dem Kinde die Hand zum Anschmiegen gibt. Dass bei einem etwas älteren Säugling, der schon Erfahrungen gesammelt hat , Bewusstes hierbei mitwirkt, ist ausser Zweifel, allein das Instinctive zeigt sich in folgenden Erscheinungen. Während die eigene Mutter unfehlbar obige Wirkungen auf das Kind hervorbringt , gelingt dies durchaus nicht allen fremden Personen. Man kann z. B. eine Amme oder Kindsmädchen bekommen, bei der das Kind absolut nicht beruhigt wird, sondern fortschreit ; das Gleiche kann aber nicht nothwendig - vorkommen, wenn der Vater statt der Mutter das Kind zu sich nimmt; und selbst dann, wenn der Vater beruhigend auf das Kind wirkt , ist die Wirkung nie so rasch und sicher , wie bei der Mutter. Nun ist Folgendes klar : Die Wirkung kann durch Gesichtswahrnehmung nicht vermittelt werden, denn sie tritt bei Nacht so gut ein wie bei Tage; ebensowenig durch Gehörswahrnehmung, denn die Wirkung erfolgt auch, ohne dass die Mutter mit dem Kinde spricht. Die Wärme und die Tastempfindung können es auch nicht sein, denn bezüglich dieser Punkte besteht zwischen der eigenen Mutter und den fremden Ueber die durch Verwitterung erzeugte, erworbene Sympathie siehe später. 129 Personen kein Unterschied ; so bleibt von den Sinnen nur der Geruch übrig. Dies tritt noch schlagender durch Folgendes hervor. Wenn Morgens die Mutter das Bett bereits verlassen hat , das Kind unruhig wird, und sie nicht Zeit hat, sich mit ihm abzugeben, so genügt es , wenn sie das Kind in ihr eigenes Bett steckt: es wird gleichfalls beruhigt und schläft ein. Von Herrn Dr. B. in P. erhalte ich über diesen Punkt folgende Notiz : „ Den edelsten Geruch hatte für mich stets meine unvergessliche Mutter. Als Kind beruhigte ich mich nur , konnte ich in den Morgenstunden bei ihr liegen. Noch als grosser Bengel wurde ich durch nichts seeliger (man beachte das Wort seelig , über das ich mich im Artikel : „ Sprachliches über die Seele" äussern werde. JAEG.) , als wenn sie mich und meinen um ein Jahr jüngeren Bruder zu sich in's Bett nahm. Wir küssten sie dann um die Wette und lagen, ja schliefen ruhig ihr zur Seite, seelig durch ihre so köstliche Körperatmosphäre. Dass diese es war, die so auf uns wirkte, wusste ich, Dank meinem scharfen Geruchsinne, sehr bald, in späteren Jahren war es auch meinem minder feinsinnigen Bruder klar. " Herr ROORDA VAN EYSINGA in Genf schreibt mir: Monsieur ! je lis dans la ,, Philosophie positive" 1869 Mars pag. 269: "" Curieux témoignage de l'amour d'une petite fille de 6 à 7 ans pour son père. Celui- ci était absent et envoyait son linge sale à la maison pour être lavé. Aussitôt qu'on avait ouvert le paquet, l'enfant se roulait dans ce linge pour respirer l'odeur de ce père chéri qu'elle était privée de caresser." - → Genau die gleichen Erscheinungen wie die Kindesliebe bietet uns die Gattenliebe. Nicht nur besteht hier das vom Geschlechtstrieb ganz unabhängige Bedürfniss , sich aneinander anzuschmiegen, besonders mit dem Kopf an die Brust, sondern auch das ganz gleiche Resultat: Zuerst die freudige Erregtheit, das Glänzen der Augen , die fröhliche Geberde , dann das Beruhigt werden und als Ende vom Lied , wenn keine Störung stattfindet , das Einschlafen. Bei Ehegatten , die durch instinctive Sympathie verbunden sind , kennen namentlich die Frauen diese beruhigende und einschläfernde Wirkung ganz gut und machen bei Schlaflosigkeit mit bestem Erfolge Gebrauch davon; sie legen den Kopf auf die Brust des Gatten und sind dann , wenn die schlafstörende Ursache nicht zu stark ist, sicher, einzuschlafen. In ganz gleicher Weise wirkt auch die Frau auf den Mann. Was ist die Ursache? Keine andere als die Einathmung des partnerischen Ausdünstungsduftes! Es ist nicht die Sinnesempfindung ; Jaeger, Entdeckung der Seele. 9 130 allerdings riecht im Fall instinctiver Sympathie die Ausdünstung dem Partner stets angenehm, allein selbst dann, wenn durch einen Schnupfen oder sonst einen Umstand das Riechen unmöglich geworden, treten die gleichen Wirkungen ein : Mit der Athmung gelangen die Duftstoffe der partnerischen Ausdünstung nicht blos in die Lungen , sondern auch in die Säftemasse und wirken dort zunächst wie ein Luststoff, Lustaffect erzeugend und bei fortgesetzter Inhalation narkotisirend. Für das Gesagte kann ich ziffermässigen Beleg geben in folgenden vier Zifferreihen, die ich mit meinem Chronoscop gewann. Ich mass zuerst meine Nervengeschwindigkeit (Reihe Nr. 1), dann roch ich etwa eine Minute lang an einem mit Haarduft meiner Frau imprägnirten Haarnetz , das sie bei Tage trägt (Parfüm gebraucht sie nie). Darauf erhielt ich die Messungsreihe Nr. 2. Um mich zu vergewissern, dass keine Täuschung vorliege, machte ich sofort noch 10 Messungen (Reihe 3) , deren Mittelwerth , wie ersichtlich, von Reihe 2 nur um zwei Millsecunden differirt, so dass jede Täuschung ausgeschlossen ist. Dann athmete ich den Haarduft noch einmal eine Minute lang ein und erhielt das erstaunliche Resultat der Reihe 4. Nr. 1. Nr. 2. Nr. 3. Nr. 4. 70 70 78 76 85 60 75 38 85 58 72 69 79 80 62 64 73 60 63 51 77 73 67 37 72 78 61 74 70 62 57 65 66 63 65 38 83 77 71 32 Mittl. 76,0 =152 Ms. 68,1 - 136 Ms. 67,1 =134 Ms. 54,4 =109 Ms. Max. 85 80 78 76 Min. 64 58 57 32 Diffz. 21 - 42 Ms. 22 44 Ms. 21 - 42 Ms. 4488 Ms. *) Differenz zwischen Nr. 1 und 4 = 43 Ms. =28%. Die vierte Reihe zeigt alle Charaktere eines nascirenden Lustaffectes : nämlich die bedeutende Abnahme der Durchschnittsziffer

  • ) Man bemerke hier das sehr häufig eintreffende, für die Genauigkeit der Messung sehr bezeichnende Resultat , dass die Mittel aus Maximum und Minimum fast genau so gross sind, wie die Mittel aus allen 10 Messungen.

131 und die grosse Unregelmässigkeit in den einzelnen Ziffern, welche bewirkt, dass die Differenz zwischen Maximum und Minimum doppelt so gross ist als in den drei andern Reihen. Dieser Versuch wurde mehrmals wiederholt und stets mit dem gleichen Erfolg ; dabei bemerke ich: der Lustaffect war durchaus nicht sexualer Natur. Bei meinen Forschungen war es mir besonders überraschend, fort und fort auf gang und gäbe Worte zu stossen , welche die physiologischen Erscheinungen frappant richtig bezeichnen . Solche Worte sind z. B.: „ liebestrunken", „Liebesrausch". Sie benennen buchstäblich genau die Wirkung fortgesetzter Einathmung eines partnerischen sympathischen Ausdünstungsduftes : es ist wirklich ein Zustand der Trunkenheit , wie er durch Alkoholgenuss resp. durch ein geistiges Getränk erzeugt wird, welches nur Bouquette und keine Fusel enthält. Ja, die Wirkung ist ganz speciell ähnlich der eines alkoholischen Getränkes, welches Kohlensäure enthält , und deshalb ist der Liebesrausch auf's Haar einem Champagnerrausch zu vergleichen, resp. dem Zustand, welcher erzeugt würde, wenn man den Champagner nicht trinken, sondern nur seine Ausdünstung , welche den Alkohol , die Bouquette und die Kohlensäure enthält, einathmen würde. Bleiben zwei Ehegatten in der oben beschriebenen Anschmiegung die ganze Nacht beisammen liegen, so wird der Schlaf so tief wie bei einem schweren Rausch, wovon sich jeder Verheirathete überzeugen kann , der das Glück hat , durch instinctive Sympathie mit seiner Ehehälfte verbunden zu sein. Auch das Wort „ Beischlaf" ist völlig zutreffend und beweist, dass die einschläfernde Wirkung der Atmosphäre einer geliebten Person „ volksbekannt" ist. Ich wiederhole sie ist durchaus unabhängig vom Geschlechtsgenuss, denn sie tritt zwischen Mutter und Kind ebenso ein, wie zwischen Ehegatten und Geliebten. Ferner ist charakteristisch , dass beim Menschen die Einathmung des Duftes eines sympathischen Partners gerade so individuell verschieden wirkt , wie der Genuss alkoholischer Getränke. Wir sehen das bei Verliebten. Z. B. bei dem Einen wirkt Ueberschuss von Alkoholica vorwaltend aufregend : er wird ausgelassen fröhlich , verzückt, ja sogar bis rasend ; während bei dem Andern die beruhigende Wirkung überwiegt : er verfällt in seligen, stillen Dusel, elegische, schwärmerische Stimmung. Der Eine behält dem. Alkohol gegenüber seine Besonnenheit , selbst wenn ihn die Füsse nicht mehr tragen ; während der Andere sehr bald in einen Zustand der Narrheit , Verrücktheit geräth. Ganz denselben Unterschieden begegnen wir bei verliebten Menschen; den Einen macht die Liebe rasend , den Andern stimmt sie schwärmerisch , duselig, 9* 132 der Dritte ist närrisch verliebt , verrückt u. s . f. Man denkt gewöhnlich bei diesen Worten, das sei blos Metapher , poëtischer Vergleich etc., und bedenkt nicht, dass ein Vergleich nur dann auch poëtisch zulässig und treffend ist , wenn er naturwissenschaftlich richtig ist ; denn ist er letzteres nicht, so ist er auch poëtisch ein Unsinn. Durch die Poësie aller Völker hindurch geht die Parallele von Weib und Wein (ähnlich wie die von Weib und Blumen, wovon später die Rede sein wird), und das kommt nicht blos daher, dass sie beide überhaupt Lust spenden, sondern weil die Wirkung beider bis in's Detail hinaus physiologisch ähnlich ist ich sage ähnlich , nicht gleich , denn dass Unterschiede bestehen , ist ja selbstverständlich. Ich werde übrigens auf das Verlieben, bei der Wichtigkeit der Sache , in zwei späteren Kapiteln zurückkommen. - Zur genauen Definition der physiologischen Wirkung der Einathmung müssen wir noch die Wirkung betrachten , welche eine andere Gruppe von Duftstoffen, nämlich die Speisedüfte , im Fall der Sympathie, auf den haben, für den die Speise bestimmt ist. Wir nehmen gemeinhin an, die hungerstillende Eigenschaft der Speisen bestehe eben darin , dass die Nährstoffe nach ihrer Aufnahme in den Magen den Verlust , den die Säftemasse in der Hungerperiode erlitten hat, wieder ersetzten. Dass das nicht richtig, wenigstens nicht das Erste und die Hauptsache ist, muss uns schon daraus einleuchten, dass das Essen den Hunger stillt, ehe die Verdauung auch nur recht begonnen hat, also der Defect im Blut noch nicht ersetzt sein kann. Stricte bewiesen wird es aber dadurch, dass schon die Einathmung des Speiseduftes den Hunger stillt, allerdings nicht auf die Dauer, und zwar aus folgendem einfachen Grunde. Wie in dem Aufsatz „ Die Entdeckung der Seele" gezeigt wurde, ist der Hungeraffect Folge des Freiwerdens der Hungerdüfte aus zersetztem Eiweiss. Die Speisedüfte können nun die von dem Sauerstoff ausgehende Eiweisszersetzung nicht aufheben, also die Quelle der Hungerdüfte nicht verstopfen ; sie können nur wie? werden wir später im Kapitel „ Trieb“ sehen die Hungerdüfte gleichsam neutralisiren , aber schliesslich bekommen letztere doch die Oberhand. Doch zurück zum Hauptpunkt: - Die nächste Folge der Einathmung der Speisedüfte ist Auftreten eines Lustaffectes , des Appetites , und den erzeugen sie selbst , ohne dass wirklicher Hunger vorausgegangen ist. Ganz parallel damit ist : Wenn eine Mutter ihr Kind an sich nimmt, so dass es ihre Atmosphäre einathmet , so erwacht zunächst der 133 Appetit , das Kind sucht die Brust und macht , auch wenn es sie nicht findet , wenn ihm z . B. nur die Hand geboten wird , Saugbewegungen, gerade wie der Erwachsene bei der Einathmung von Speiseduft Schlingbewegungen macht und zwar ganz unwillkürlich. Wird die Einathmung des Speiseduftes länger fortgesetzt, so tritt das Sättigungsgefühl ein , der Hungertrieb wird gestillt; ich nenne das die Triebstillung. Es fragt sich nun , ob die Speisedüfte ebenso wie der Sympathieduft des Lebenden , auch das dritte Wirkungsstadium , das Einschläfern , erreichen. Das ist in der That der Fall , und zwar wird das auf zweierlei Weise erzielt. Eine derselben ist die bekannte Erscheinung , dass sich einige Zeit nach dem Essen Schlaf oder wenigstens Bedürfniss nach Schlaf einstellt. Der Säugling schläft an der Mutterbrust ein . Viele Thiere schlafen regelmässig nach der Mahlzeit , und beim Menschen zeigt namentlich der Erwachsene die Sache deutlich, denn bekanntlich schlafen viele Leute nach dem Essen, und zwar nicht blos solche aus gebildeten Ständen, sondern z. B. sehr allgemein die Feldarbeiter, Erdarbeiter etc. Bezeichnend ist dabei , dass bei den ihre Seelenstoffe rascher ausdünstenden Kindern und Weibern die Erscheinung mangelt oder weit weniger ausgesprochen ist ; doch bemerkt z . B. der Lehrer leicht, dass die Kinder nach dem Essen in der Schule schläfriger sind und häufig gähnen. Weniger bekannt ist begreiflicherweise , dass schon die Einathmung der Speisedüfte einschläfern kann, aber mancher Leser wird Kenntniss von der Thatsache haben, dass bei Hungersnöthen und theuren Zeiten arme Leute um die Vergünstigung ansuchen , ihre hungernden Kinder in Bäckerstuben bringen zu dürfen, um die dem Volk wohlbekannte hungerstillende Wirkung des Brodduftes ihnen zu Theil werden zu lassen, und da kommt es bei Säuglingen bis zum Einschlafen. Dass die Speisedüfte den Hunger stillen resp. den Appetit lähmen, ist eine Erfahrung aller Köche, Köchinnen und kochenden Hausfrauen, die bei Tische keinen Appetit mehr haben und deshalb entweder vorher essen oderihr Essen zurückstellen und später geniessen. Wenden wir uns wieder den Körperdüften zu. Schon oben bemerkte ich , dass die Ausdünstung der Mutter den Säugling sättige. Weiter erinnere ich an die bekannte Erscheinung, dass verliebte Leute in der Regel weniger essen. Dabei ist natürlich zweierlei wohl zu unterscheiden : 1 ) drängt stets ein Trieb den andern in den Hintergrund , also der Geschlechtstrieb den Ernährungstrieb; dazu braucht es des Partners nicht ; 2) kommt die Einathmung des partnerischen Duftes zur Geltung , sobald das Paar vereinigt ist. 134 Hieran reiht sich Folgendes, was mir Dr. B. in P. schreibt : ,,Man hört bezüglich zehrender Kranken oft sagen : er sollte heirathen , die Ehe macht ihn gesund , gibt ihm wieder Kräfte. Und in der That, ich erinnere mich solcher Fälle, z . B. eines jungen Zahnarztes in B , mit dem ich sehr intim war. Derselbe erzählte mir oft genug, Prof. A. habe ihn für tertiär tuberkulös erklärt, und letzterer selbst bestätigte es mir ; alle Professoren der anderen Fächer, die ihn als talentirten Menschen sehr gern hatten , riethen ihm deshalb offen, er solle seine Carrière aufgeben, er lebe keine sechs Monate mehr. Er ging auch wirklich von der Universität ab, vegetirte noch ein Jahr und heirathete plötzlich . Alle Bekannten schlugen die Hände über dem Kopf zusammen. Heute sind elf Jahre vorüber, der Mann ist Vater von vier Kindern , hat grosse Praxis und fühlt sich nicht mehr krank. Aehnlich war's bei meinem eigenen Bruder: er spie schon Blut , als er sich trotz allen Abrathens verheirathete. Sein Zustand besserte sich sofort zusehends, und er sollte nach ärztlichem Dafürhalten längst todt gewesen sein , als ein Blutsturz in Folge eines grossen Schreckens ihn plötzlich wegraffte. Denken Sie ferner an alte Männer, die sich durch Verheirathung mit jungen Mädchen zusehends verjüngen —, freilich auch oft darauf gehen — und an alte Weiber, nach deren Verheirathung mit jungen Männern - wobei aber letztere dann meist kränkeln - oft derselbe Effect eintritt. " ― In der Bibel wird 1. Könige 1 erzählt : „Und da König David alt war und wohlbetagt , konnte er nicht warm werden , ob man ihn gleich mit Kleidern bedeckte. Da sprachen seine Knechte zu ihm : Lasst sie meinem Herrn Könige eine Dirne, eine Jungfrau suchen , die vor dem Könige stehe und seiner pflege und schlafe in seinen Armen und wärme meinen König, den Herrn. Und sie suchten eine schöne Dirne in allen Grenzen Israel's und fanden Abisag von Sunem und brachten sie dem Könige. Und sie war eine sehr schöne Dirne und pflegte des Königs und diente ihm. Aber der König erkannte sie nicht. " Letzteres ist ganz richtig : der Geschlechtsgenuss ist es durchaus nicht , was den kräftigenden Einfluss hat , sondern nur die Einathmung des Sympathieduftes. Von einem verstorbenen Geldfürsten dieses Jahrhunderts erzählt man, dass er in seinem hohen Alter zwischen zwei Ammen schlief und sich auch von deren Milch nährte. Auch von einem sehr alt gewordenen regierenden Fürsten dieses Jahrhunderts wird berichtet, dass er ein junges Mädchen zu diesem Zwecke hielt. Das Gleiche wird von dem unter so erschwerenden Umständen zu sehr hohem Alter gelangten Feldmarschall R. erzählt , und LOUISE WEIL erzählt 135 in ihrem Buche Aus dem schwäbischen Pfarrhaus nach Amerika", dass sie ein alter Mann zu gleichem Zwecke engagiren wollte. Endlich besteht bei uns der Glaube im Volk, dass Mädchenschullehrer länger leben als Knabenschullehrer, weil die Einathmung des Mädchenduftes gesünder sei als die von Knabenduft. Früher hielt ich dergleichen für Aberglaube, allein ich thue das nicht mehr. Dieser Volksglaube denn ein solcher ist es beruht sicher auf Thatsächlichem , nämlich darauf, dass die Einathmung von Sympathieduft kräftigt , weil sie Euphorie erzeugt. Ich füge eine eigene Beobachtung bei : Ich kenne ein Ehepaar, bei dem die Sympathie keine gegenseitige , sondern eine einseitige ist ; die Frau duftet dem Manne sympathisch, während die Ausdünstung des Mannes der Frau nicht angenehm ist , so dass sie mir sagte , sie schlafe lieber allein, während er mir erklärte, er schlafe am besten, wenn er sein Haupt an die Frau anschmiegen könne. Mann und Frau sind beide gesunde , kräftige Leute im besten Alter, nur fällt auf, dass der Mann eine blühende Gesichtsfarbe hat, die Frau stets blass ist. Diese Familie konnte ich befragen; bei einer anderen , die ich weniger genau kenne , ist mir das nicht möglich , aber die Sache verhält sich soweit ohne Befragen ersichtlich genau ebenso : er ist verliebt in seine Frau und hat blühende Gesichtsfarbe, sie ist nicht verliebt in ihn und blass. Auf der anderen Seite tragen bei allen mir bekannten Ehepaaren, bei denen die Sympathie eine gegenseitige ist, beide Gatten eine blühende Gesichtsfarbe. Ich werde bei Besprechung der Antipathie noch auf die Gesichtsfarbe zurückkommen. Fassen wir jetzt die Sache zunächst , ehe wir weitergehen, kurz zusammen : Bei der Wirkung sympathischer Düfte haben wir zweierlei scharf auseinander zu halten: 1 ) Den Sinneseindruck : Wenn zwischen zwei Geschöpfen instinctive Sympathie besteht , so duftet die Ausdünstung des einen dem andern stets angenehm , sie ist Wohlgeruch für ihn. Da es unter Culturmenschen nicht Sitte ist, sich zu beriechen, und Viele einen stumpfen Geruchsinn haben, so wissen das viele Leute nicht. So habe ich z. B. bei meinen Nachforschungen auf meine Frage nach der Qualität des Ausdünstungsduftes häufig selbst von Ehegatten oder Geschwistern oder Eltern zunächst die Antwort erhalten : „ich weiss nicht, wie das Betreffende riecht". Aber stets, wenn ich zum Beriechen aufforderte , war es so, dass die Diagnose „ angenehm" lautete, wenn aus dem ganzen sonstigen Verhalten die Sympathiebeziehung notorisch war. Das frappanteste Beispiel bin ich selbst. Ich bin seit 18 Jahren verheirathet und mit meiner Gattin durch instinctive 136 gegenseitige Sympathie verbunden. Trotzdem dass ich mich seit Jahren mit den animalischen Düften befasse, wusste ich nicht, wie die Atmosphäre meiner Frau auf mein Geruchsorgan wirke, und bei meiner Frau war es genau ebenso. Erst als ich diesen Winter meine Funde machte , schritten wir zur Prüfung und waren nicht wenig über das Resultat erstaunt. Ich führe die Sache ausführlich an, weil 1 ) der Umstand, dass weder ich, noch meine Frau Parfüme benützen, äusserst günstig ist ; 2) weil man alle solche Prüfungen nur bei Personen vornehmen kann , mit welchen man durch tiefe instinctive Sympathie verbunden ist. Dies ist eben für einen Mann meist nur bei einer Frau der Fall *) und begreiflicher Weise wieder eben speciell bei seiner Frau, denn zwischen Vater und Kind ist die instinctive Sympathie stets in allen Altersstufen weit geringer, als zwischen ihm und der Gattin, und auch zwischen Mutter und Kind ist höchste Sympathie nur vorhanden, so lange das Kind ausschliesslich Muttermilch und zwar Milch der eigenen Mutter geniesst; sobald das Kind andere Nahrung geniesst, wird sie lockerer, wovon später noch die Rede sein wird. Den feinsten Duft haben für mich z. B. die Kopfhaare meiner Frau ( siehe oben S. 133) . Höchst interessant ist nun, dass auf meine Frau weniger meine Kopfhaare als meine Brusthaare den gleichen Eindruck machen. Bei anderen Ehegatten kann das umgekehrt sein ; so erklärte mir eine Frau , sie rieche den Kopfduft ihres Mannes sehr gern, während der Duft des übrigen Körpers ihr eher unangenehm sei. Wenn wir daher sehen , dass eine Person einer ihr sympathischen andern , einem geliebten Kind oder einem geliebten Gatten, als Zärtlichkeitsäusserung gern in den Kopfhaaren wühlt, so lässt sich sicher daraus schliessen, dass der Haarduft der stärkste Vermittler ihrer Sympathie ist. Ich habe mehrere Personen , bei denen ich diese Gewohnheit sah , daraufhin ausgefragt, beziehungsweise durch Dritte ausfragen lassen , und jedesmal die Diagnose „, sehr angenehm" erhalten . Ferner habe ich Obigem noch hinzuzufügen , dass meine Frau bei unseren Duftprüfungen sich sehr wohl erinnerte , dass sie als Braut mir gehörige Dinge, die ich bei meinen Besuchen etwa liegen liess , einen Handschuh, eine Cravatte oder dergleichen mit meinem Körperduft imprägnirte Kleinigkeiten , gesammelt und gelegentlich daran gerochen habe: es habe alles stets angenehm geduftet. Nachforschungen bei anderen Ehepaaren haben mir ganz das gleiche Resultat geliefert, und ich stehe nicht an , zu behaupten , dass dasselbe bei allen Bräuten

  • ) Auf die Polyphilie komme ich im Kapitel ,, Idiosynkrasie" zu sprechen.

137 der Fall ist , die in ihren Bräutigam wirklich verliebt sind, und dass der entgegengesetzte Fall ein sicheres Zeichen dafür ist , dass sie nicht verliebt sind. Thatsache ist dagegen, dass die meisten verliebten Menschen keine Ahnung davon haben, dass ihr geliebter Gegenstand wohlriechend ist ; das ist auch ganz begreiflich : Ein Sinneseindruck kommt nur zu vollem Bewusstsein , wenn die geistige Aufmerksamkeit darauf concentrirt wird, und das ist weder bei Liebespaaren , noch bei Ehepaaren in der Regel der Fall, sie haben sich so vieles Andere zu sagen, so viel an Anderes zu denken, dass sie dem keine Aufmerksamkeit schenken. Dazu kommt als mächtigster Grund bei den Liebespaaren, dass der durch Inhalation erzeugte Gemeingefühlszustand , auf den ich bald noch einmal zurückkommen werde, der Sinneswahrnehmung hinderlich ist ; dazu kommt ferner, dass bei uns Culturmenschen das Bewusstsein für die Wirkung der Düfte bis jetzt vollständig gefehlt hat. Sobald nun die bewusste Sinneswahrnehmung fehlt , so versinken alle Vorgänge in das Bereich des Unbewussten. Auch das fixirt der Sprachgebrauch in trefflichster Weise. Mit den Worten „ Liebeszauber" , „ verhext sein“, „Fascination" u. s. f. wird gesagt, dass die Macht, welche ein Liebespaar verbindet , etwas Uebernatürliches , der Sinneswahrnehmung sich Entziehendes sei . Dieser Zauber, diese Macht liegt 2) in der Herbeiführung eines von dem Sinneseindruck sehr wohl zu unterscheidenden Gemeingefühlszustandes , der durch die Einathmung des Sympathieduftes erzeugt wird , und welcher sich Niemand , auch der Stumpfsinnigste nicht, entziehen kann , sobald er in den Duftkreis einer sympathischen Person tritt , so wenig als sich Jemand den Wirkungen eines alkoholischen Getränkes entziehen kann oder den narkotischen Wirkungen des Blumenduftes in einem mit Blumen überfüllten Zimmer. In dem Kapitel „Die sexualen Affecte" werde ich noch einmal darauf zurückkommen ; hier führe ich nur Folgendes an: Wir haben oben bei diesem Gemeingefühlszustand drei der Zeit nach aufeinander folgende Stadien unterschieden : a) Im ersten Stadium wirkt die Einathmung des Duftes aufregend, excitomotorisch, trieberzeugend, beziehungsweise triebsteigernd (d. h. entweder alle Triebe, Bewegungstrieb , Ernährungstrieb und Geschlechtstrieb , oder den einen mehr als den andern) ; b) im zweiten Stadium : beruhigend, triebstillend, sättigend ; c) im dritten Stadium : einschläfernd. Zu diesen beiden, sofort beim Contact eintretenden Symptomengruppen, dem Sinneseindruck und dem Gemeingefühl, gesellt sich dann als Folge anhaltender Lebensgemeinschaft der günstige kräftigende Einfluss auf den Gesundheitszustand, die Herbeiführung 138 der Euphorie, die beim Menschen in der blühenden Gesichtsfarbe am frappantesten in's Auge tritt. Nun bleibt uns noch zur Besprechung , wie das biologische Verhalten durch instinctive Sympathie beeinflusst wird. Man kann öfters die Aeusserungen hören : „Der Mensch ist mir sympathisch, man kann ihm selbst dann nicht böse werden, wenn er es eigentlich verdient, man kann ihm nichts übel nehmen, es ist mir behaglich in seiner Nähe, ich habe ihn gern um mich, er genirt mich nicht u. s. f. " , und häufig setzt der Betreffende dann noch dazu : „ ich weiss eigentlich nicht warum ?" Die Folge der Inhalation ist nämlich eine Calmirung , Beruhigung des Nervenapparates , so dass Eigenschaften , Worte , Handlungen des Partners , die bei reizbarerem Zustand des Nervensystems stark genug gewesen wären, ein Zorn- oder Unlustaffect auszulösen, jetzt abgedämpft werden und keine Reaction hervorrufen. Damit wird die instinctive Sympathie zur Friedensbürgschaft , sie verhindert Conflicte, macht sie beziehungsweise selten. Dies wird in seiner ganzen Bedeutung klar werden, wenn man damit das im nächsten Kapitel geschilderte Verhalten bei der instinctiven Antipathie vergleicht. Eine weitere Betrachtung hat sich mit dem Theil der Sympathie-Erscheinungen zu befassen , den man das Verhältniss der Mitleidenschaft nennt. Es besteht darin , dass ein Affect, in den das eine Individuum versetzt wird, sehr leicht auf den Partner übergeht ; trauert das Eine, so verfällt auch das Andere in Trauer, und ebenso „ ansteckend" wirkt die Freude , die Angst, der Zorn. Man nimmt gewöhnlich an, es handle sich hier nur um bewusste Vorgänge ; z. B. wenn das eine Individuum sehe, dass das andere in Angst gerathe, so schliesse es daraus , dass Gefahr drohe , und verfalle jetzt gleichfalls in Angst. Derlei geistige Operationen kommen unstreitig häufig genug vor, aber dass noch Anderes mitwirke , zeigt ein Vergleich mit dem Verhalten solcher Thiere, zwischen denen keine instinctive Sympathie besteht , wie aus Nachstehendem hervorgeht. Die Mitglieder einer Heerde von Schafen oder sonstigen social lebenden Thieren sind durch instinctive Sympathie verbunden. Geräth nun ein Mitglied in Angst , so pflanzt sich das wie ein Lauffeuer über alle Heerdgenossen fort, und die ganze Heerde rennt wie besessen davon. Ganz anders ist das bei einer Meute von Wölfen oder Hunden, deren Mitglieder nicht durch instinctive Sympathie verbunden sind ; geräth hier ein Individuum in Angst, so fallen die andern feindlich über dasselbe her , jagen es davon oder beissen es unter Umständen selbst todt. Der Grund dieses aufden ersten Blick sonderbaren Verhaltens ist, dass demgeängstigten 139 Individuum der stinkende Angststoff entströmt , der die Geruchsorgane seiner Kameraden beleidigt und sie veranlasst, „,den Stinker" zu züchtigen und zu verjagen. Warum geschieht nun bei den Schafen nicht das Gleiche? Die Antwort liegt in Folgendem. Die Sympathie beruht eben darauf, dass der Ausdünstungsduft des einen Individuums sehr energisch durch Inhalation Gemeingefühl erzeugend auf die mit ihm verbundenen Genossen wirkt, während das Verhältniss instinctiver Indifferenz darauf beruht, dass die Inhalation des partnerischen Duftes resultatlos bleibt oder sehr lange fortgesetzt werden muss , um einen Affect zu erzeugen. Im ersten Falle befinden sich die Schafe. Hier genügt eine kurze Inhalation des Angstduftes ihres Genossen , um auch bei dem Einathmer den Angstaffect zu erzeugen. Damit ist sofort der unangenehme Sinneseindruck auf das Riechorgan, der von dem primär geängstigten Thier ausging, verschwunden, denn wer selbst stinkt, riecht nicht, dass der Nachbar stinkt, und damit ist jeder Grund zu feindseligem Vorgehen gegen den zuerst in Angst verfallenen Genossen beseitigt. Der andere Fall liegt bei Hunden und Wölfen vor ; eben weil der Ausdünstungsduft des einen auf den andern nicht so leicht per inhalationem Affect erzeugend wirkt, so bleibt der geängstigte Genosse mit seinem Affect isolirt, und bei den andern kommt nur der unangenehme Sinneseindruck, der Gestank, als Motiv des Verhaltens in Betracht. Damit ist jedoch die Sache nicht erschöpft ; der zweite Punkt ist der Grad der Aengstlichkeit eines Thieres (Grad der Zersetzbarkeit seines Organ- Eiweisses) . Wird ein Thier leicht in Angst versetzt, so wird es auch leicht von der Angst eines Genossen angesteckt , und ein solches ängstliches Naturell haben bekanntlich die Schafe und alle Heerdenthiere. Dem entgegen sind Wolf und Hund weniger ängstlich und werden deshalb auch nicht so leicht in Mitleidenschaft gezogen. Für den Lustaffect gilt natürlich dasselbe, und ihm gegenüber ist z. B. der Hund ganz entschieden empfänglicher als für den Angstaffect. Wenn z. B. ein Hund seinen Herrn in freudiger Aufregung umbellt, so gerathen in der Nähe befindliche andere Hunde sehr leicht gleichfalls in Lustaffect, wobei freilich das Bellen, aber auch das Riechen und die Inhalation des Freudenstoffes mitwirken, wobei sich ein artiges Hundeconcert entwickeln kann. Die Mitleidenschaft verstärkt natürlich die durch die Sympathie hergestellte biologische Verknüpfung ganz bedeutend und zwar so: 140 Da die Heerdgenossen die Erfahrung machen, dass die Angst des Einzelnen auch sie in Angst versetzt , so werden sie sich bestreben, diese Eventualität zu verhindern , und dem Genossen in Gefahr beistehen. Anfänglich entspringen diese Hilfeleistungen einem rein egoistischen Motiv, aber je öfter sie ausgeführt werden, um so weniger sind die Ausübenden sich dessen bewusst, und so kann die Bethätigung des Mitleides schliesslich sogar mit Selbstverleugnung und wirklicher Aufopferung stattfinden. Vom Menschen gilt das Gesagte natürlich gerade so gut ; ja bei ihm kann das Mitleid sogar einen viel höheren Grad erreichen, weil sein Geruchsinn stumpfer ist , als der der Thiere. Jeder kranke, leidende , betrübte , geängstigte Mensch hat eine übelriechende Ausdünstung ; wäre des Menschen Geruchsinn so fein, wie der des Hundes, so würde der Gestank sehr leicht den Hilfebereiten von einer mit Annäherung verbundenen Hilfeleistung, z. B. Krankenpflege , zurückschrecken , so aber setzt er sich, ungewarnt von seiner Nase, der Atmosphäre des Hilfsbedürftigen aus, athmet dieselbe unbewusst ein und geräth jetzt in den gleichen Affect, wie ersterer, er empfindet jetzt das Leid des Hilfs bedürftigen als eigenes Leid , er hat ,, Mitleid" und hilft sich selbst, wenn er dem Andern hilft, denn jetzt kommt die zweite Stufe : wenn dem Leidenden geholfen wird , so versiegt nicht nur die Angststoff- Entbindung in ihm, sondern es tritt das Gegentheil ein, nämlich Luststoff- Entbindung, weil die Beseitigung des Uebels ihn in Freude versetzt. Indem der Helfende den Luststoff einathmet, wird er in Mitfreude" versetzt. Wer einen scharfen Geruchsinn besitzt , kann diesen Umschlag der Qualität des Ausdünstungsgeruches recht wohl riechen, aber der direct Betheiligte riecht ihn selten, weil seine Aufmerksamkeit in der Regel auf andere Dinge gerichtet ist; aber der Einwirkung der Inhalation kann sich weder der Feinsinnige noch der Stumpfsinnige entziehen. Auch für den Menschen gilt, dass bei ängstlichen Gemüthern das instinctive Mitleid am stärksten entwickelt ist, z. B. bei den Frauen und Kindern in einem gewissen Alter. 99 Um Missdeutungen des eben Gesagten vorzubeugen , setze ich ausdrücklich hinzu, dass es neben diesem instinctiven Mitleid unstreitig eine erfahrungsmässige, erlernte oder anerzogene Mildthätigkeit beim Menschen gibt, die ganz unabhängig von den Ausdünstungsgerüchen auch in der Entfernung wirkt und hilft ; aber was ich behaupten möchte, ist, dass diese geistige, bewusste , freie Mildthätigkeit, wenn nicht immer, so doch in den allermeisten Fällen aus der seelischen, instinctiven, also angeborenen, herausgewachsen ist , dass solche Menschen 99 von Natur aus", wie man sich auszu- 141 drücken pflegt , barmherzig und mitleidig sind. Man wird aber dabei meist bis auf das frühe Kindesalter zurückgehen müssen, um diese instinctive Unterlage zu finden, und dem Erwachsenen ist es wahrscheinlich in den meisten Fällen bereits nicht mehr bewusst. Ich kann diesen Gegenstand nicht verlassen , ohne auch die Kehrseite, die Unbarmherzigkeit und Grausamkeit , einer Analyse zu unterziehen. Ich stelle hier voraus , was mir Herr Dr. B. PLACZEK aus Brünn zu schreiben die Güte hatte : „Sollte der bei gehetzten Thieren als „, Wildgout" auftretende Angststoff nicht etwa den eigentlichen Erklärungsgrund abgeben für das Spielen der Katze mit der Maus ?! Die Katze will die Beute geschmackvoller haben, deshalb hetzt sie erst dieselbe tüchtig ab, bevor sie ihr den Genickfang gibt. Darum tragen wohl Raubthiere , besonders der Tiger, die Beute im Rachen weite Strecken lebendig fort , obgleich sie durch deren krampfhaft zuckende Bewegungen im Laufe behindert werden und dem Leben des Opfers durch einen Tatzenschlag, durch einen tieferen Biss ein jähes Ende machen könnten. Sie wollen eben durch die längere Procedur den ,,Angststoff" seines Wohlgeschmacks wegen frei werden lassen. In gleicher Absicht wohl „ verknuspert" der schreckliche Feinschmecker Ursus labiatus , der ostindische Rüsselbär , seine in entsetzlichen Qualen sich windende Beute stückweise , Glied um Glied , kauend und saugend , ohne das gemarterte Opfer zuvor mit einem Hiebe zu tödten er will nicht die Würze des Angststoffes bei seinem Mahle entbehren. Die erwähnten Raubthiere weiden also an den Qualen ihrer Beute nicht so sehr das Auge , als vielmehr an dem Product der Qual ihren Gaumen. Nimmt man auch so dem Seelenleben der Thiere den psychologischen Beweis der „ Freude am Spiele", so liefert man dadurch den weit wichtigeren Beleg für eine Eigenthümlichkeit , welche sonst als exclusiver Vorzug des Menschen vor dem Thiere gepriesen wird: dass es nämlich Thiere gibt, welche wenn auch in primitivster Weise - ihre Nahrung schmackhaft herzurichten versuchen. " ― - Dieser Ansicht pflichte ich vollkommen bei : die instinctive Grausamkeit des Raubthieres beruht darauf, dass ihm der Angstduft und die Angstwürze (Wildgout) seines Opfers Luststoff, also sympathisch ist. Sollte angeborene Grausamkeit beim Menschen - die notorisch vorkommt und sich dann schon im frühen Kindesalter zeigt nicht auf derselben Grundlage beruhen, wie bei dem Thier, nämlich auf einer solchen Beschaffenheit seines Selbstseelenstoffes, dass der Angststoff seiner Opfer ihm sympathisch ist ? Dieser Verdacht liegt um so näher, als ja viele Personen am Fleisch den 142 Wildgout lieben. Ich war bis jetzt nicht in der Lage, Erhebungen darüber zu pflegen , ob einem solchen grausamen Menschen der Angstduft seines Opfers (Thier oder Nebenmensch, bleibt sich gleich) angenehm riecht. Ich sollte mich aber sehr wundern , wenn dies nicht bei solchen menschlichen Bestien , wie Nero , Caligula und Anderen, von denen die Geschichte weiss, der Fall gewesen wäre; wenn einem meiner Leser hierüber etwas bekannt ist , wäre ich für die betreffende Mittheilung verbunden. Jemand , gegen den ich meiner Vermuthung von angeborener instinctiver Grausamkeit beim Menschen Ausdruck gab, meinte, wenn das richtig sei , so dürfe man consequenter Weise einen solchen Menschen wegen seiner Schandthaten nicht mehr bestrafen, denn er handle unter dem Zwang einer Naturgewalt , für die er nicht verantwortlich gemacht werden könne. Nichts ist falscher, als diese Consequenz : 1 ) Der Geist kann bis zu einem gewissen Grade Herr werden über die Seele, der Verstand über den Instinct, das Wissen über den Trieb , und es ist Aufgabe der Erziehung, einen Menschen dahin zu bringen , dass er seine Triebe geistig beherrscht, und, falls sie antisocial sind, so weit als möglich unterdrückt ; 2 ) damit, dass etwas de natura besteht, hat es sich durchaus noch nicht das Recht zur Duldung Seitens der menschlichen Gesellschaft erworben, denn jedes sociale Recht ist nur ein Aequivalent für sociale Pflichterfüllung , und wenn die Pflichten nicht erfüllt werden, wird auch kein Recht erworben, im Gegentheil wird hierdurch das Duldungsrecht verwirkt. Die Gesellschaft steht über dem Individuum und muss Subordination verlangen. Nun will ich mich mit wenigen Worten den sympathischen Beschäftigungsdüften zuwenden. Ich sende aber voraus, dass auf diesem Gebiet meine Nachforschungen noch sehr gering sind, aber jetzt schon stehe ich nicht an , zu behaupten , dass bei der freien Berufswahl des Menschen diese Düfte eine unerwartet grosse Rolle spielen. Ich vermuthete die Sache zuerst bei einem meiner Freunde, einem Specialsammler einer bestimmten Thierabtheilung, bei dem diese Passion atavistisch vom Grossvater ererbt ist, und äusserte dies gegen dessen Bruder , Prof. Dr. H. , einen bekannten Historiker und Bibliographen. Derselbe entgegnete sofort, davon sei er selbst ein Beispiel, er rieche Bücher, besonders alte, sehr gern und zwar schon von Kindheit an. Dabei fiel mir ein , dass mein jüngster Knabe (6 Jahre alt) eine wahre Leidenschaft dafür hat, mit Büchern und Papier zu spielen, z. B. zählte er neulich lesen kann er nur Zahlen in einem Buche, das 1682 Seiten hat, sämmtliche Pagina Blatt für Blatt, wobei er mir auf mein Befragen die Antwort gab: „ Die Bücher riechen so gut. " Wahrscheinlich liegt hier -- - 143 Atavismus vor ich selbst bin gar kein Bücherwurm ; aber mein Vater war Historiker und Urkundenforscher, kurz „ Bücherwurm", der Werke schreiben konnte, wie: Geschichte der StadtUlm, Geschichte der Stadt Heilbronn, das Städtewesen im Mittelalter, Reformator Brenz u. s . f. Als Student roch ich leidenschaftlich gern Spirituspräparate und stürzte mich mit Energie auf das Studium der vergleichenden Anatomie. Zwei meiner Bekannten , die „ Pferdenarren" sind , erklärten mir, sie röchen den Pferdestallduft sehr gerne ; alle „ Hundenarren" sagen, der Hund dufte angenehm. Meine älteste Tochter, die sehr gern Klavier spielt, sagt mir, der Klavierduft sei angenehm . Ein Autographensammler erklärte mir, er rieche die (natürlich mit Menschenduft) behafteten Briefe sehr gern ; Oelmaler riechen die Oelfarbe gern, ein Gewehrsammler sagte mir, er rieche die Gewehre gern etc. Da alle Dinge specifisch duften, so bin ich überzeugt, dass man bei näherer Nachfrage dieseListe in's Unabsehbare ausdehnen könnte. Ich füge nur bei , dass es auch hier durchaus nicht blos der bewusste Sinneseindruck, sondern hauptsächlich die Inhalationswirkung ist , was bei einem solchen „ Narren" oder „Fexen" , wie sie in Oesterreich heissen, geradezu einen Inhalationsaffect hervorrufen kann. Man führt als Curiosum an, dass Schiller beim Dichten einen Teller mit faulen Aepfeln vor sich haben musste. Das ist eine sehr begreifliche Sache : er bereitete sich einen Lustaffect per inhalationem, weil dieser der geistigen Arbeit förderlich ist. Um das Kapitel Sympathie zu erschöpfen , wäre jetzt noch von der Erwerbung instinctiver Sympathie, im Gegensatz zu dem Angeborensein derselben , und von den Sympathiemitteln der Curpfuscher zu reden ; ich werde das jedoch an besonderer Stelle unter dem Kapitel „Verwitterung" thun. 12. Antipathie. Von der Antipathie, dem Gegensatz zur Sympathie, gilt natürlich im Princip ganz das Gleiche wie von der letzteren, wir haben zwischen geistiger und instinctiver Antipathie zu unterscheiden, und bei letzterer liegt der Grund, genau so wie bei der Sympathie, lediglich in den Duftstoffen und ihrer physiologischen Wirkung , wie aus Nachstehendem erhellen wird. Dass die instinctive Antipathie von den Duftstoffen ausgeht, ist beim Menschen ohne Umstände zunächst aus der Thatsache ersichtlich, dass der antipathische Partner für die Nase des andern stets unangenehm duftet. Davon haben mich zahlreiche Erhebungen und Nachforschungen im Kreise von Angehörigen und Bekannten überzeugt. Meine Leser können das leicht nachprüfen ; nur, bemerke ich , frage man zuerst so, dass man erfährt, ob man es mit bewusster oder unbewusster Abneigung zu thun habe. Erstere ist es , wenn der Befragte sagen kann , was ihn von der betreffenden Person abstösst ; letztere , wenn er mit der Antwort zögert , sich besinnt , oder gar sagt: „ ich weiss eigentlich nicht warum ?" In diesem Fall kann man sicher sein, dass das Resultat des Beriechens lautet : „Ich kann ihn nicht riechen. " In mehreren Fällen erhielt ich diese Antwort sofort, da der Befragte es bereits wusste Aber ich stiess hierbei oft auf die Behauptung, der Gegner rieche aus dem Munde , oder nach Fuss- Schweiss. Es ändert zunächst an der Sache nichts, woher der unangenehme Duft stammt, das Resultat, die instinctive Abneigung, bleibt dasselbe ; allein wenn es z. B. wirklich wahr ist, dass der Geruch des Gegners von Mundunreinheit herkommt , dann kann geholfen werden , öfters aber glauben die Leute , was sie abstosse, sei Mundduft, während es der allgemeine Körperduft ist. Ueber diesen Irrthum erhält man Aufschluss, wenn man ein getragenes Kleidungsstück oder das Bett des Gegners beriecht. 1" 145 Das Wichtigste ist aber auch bei der Antipathie die Inhalationswirkung, und diese überwiegt selbst bei Leuten von feiner Nase so, dass sie dieselbe häufig, als etwas vom Sinneseindruck höchst Verschiedenes , früher bemerken , als die Qualität des Duftes. So schreibt mir Dr. M.: „Ich könnte Ihnen tausend und tausend Begegnisse herzählen, von frühester Kindheit an bis heute, wo im gesellschaftlichen Umgang, wie bei Freundschaft und Liebe, alle meine Sympathien oder Antipathien, die ich gegen Personen empfand, mit denen mich das Leben zusammenführte, der Geruchsinn doch eigentlich mir nur zu oft unbewusst der ausschlaggebende war. Ich traf, wie eben jeder Mensch, mit Personen zusammen , die mir nur Gutes erwiesen, wie nicht minder mit solchen, die mir nur Uebles zufügten ; theils konnte ich dergleichen voraussagen, theils wurde ich auch durch plötzliche Feindschaft verblüfft. Ich habe ungewöhnlichen Schönheitssinn gegenüber allen Naturreichen, und Künstler ersten Ranges, mit denen ich viel verkehrte, legten Werth auf mein Urtheil, aber bei Begegnissen gaben weder schön noch hässlich oder nur gewöhnlich den Ausschlag, ebenso wenig, ob man mir Gutes oder Uebles that, sondern einfach die Atmosphäre , in der mir körperlich ein Wesen entgegentrat, entschied , ob sympathisch oder antipathisch. Man muss nun aber ja nicht glauben, dass ich etwas dabei rieche, das physisch so bemerkbar wäre, wie etwa Duft und Gestank, nicht im Entferntesten !" Ich bemerke , dass Dr. M. , als er dies schrieb , noch nichts von meiner Erklärung dieser Wirkung durch Einathmung wusste ; als ich sie ihm schrieb und ihn befragte, ob es so sei , war die Antwort: Ihre Schilderung ist meisterhaft, einfach, weil sie wahr ist und mit meiner persönlichen Erfahrung stimmt. " Worin besteht nun die Inhalationswirkung bei Antipathie ? Die Antwort ist kurz : in Unlusterzeugung ; der Antipathieduft wirkt ganz ähnlich wie der Angststoff oder, um die bei der Sympathie gebrauchte Parallele mit den Getränken , die auch hier besteht , aufzunehmen , wie ein Fusel. Am objectivsten können wir die Sache bei den Kindern betrachten . Sie werden von antipathischen Personen, selbst wenn diese sich Mühe geben, das Kind durch Schmeicheleien an sich zu ziehen , entweder förmlich in die Flucht geschlagen oder gelähmt, fascinirt, wie man es von der Brillenschlange und kleinen Vögeln erzählt ; sie werden blass, verstummen, zeigen die Geberde der Angst, die bis zum Zittern gehen kann. Bei öfterem Begegnen ermannt sich das Kind, kommt in Aufregung , schreit, wehrt sich gegen Liebkosungsversuche und erklärt dem Betreffenden rund heraus : „ich mag dich nicht, du bist garstig!" Jaeger, Entdeckung der Seele. 10 146 Was heisst „garstig" in der Kindersprache ? „stinkend". - ganz allgemein Vor Kurzem war ich in einer Familie, die ein 3/4 Jahre altes eigenes Kind neben zwei mehrjährigen Kindern und einem fremden 11 jährigen Mädchen hat. Letzteres wurde bald nach der Geburt des ersterwähnten Kindes wegen Todes seiner eigenen Mutter in diese Familie aufgenommen und wird als Kind vom Haus behandelt. Das Dreivierteljährige kennt nun diese Adoptivschwester fast genau so lang , als seine rechten Geschwister, und doch, erklärt mir die Mutter, schreit das Kleine , sobald jene versucht , es umherzutragen , zu liebkosen oder ihm sonst sich zu nähern , so dass man das Kind nicht von ihr hüten lassen könne. Ich beobachtete selbst einen Versuch : das Kleine wurde sofort unruhig , sträubte sich und fing nach Kurzem zu schreien an. Die Mutter erklärt mir weiter , es sei ihr schon lang aufgefallen , dass im Vergleich zu ihren eigenen Kindern das Adoptivkind ganz anders , fremd dufte, ihr selbst zwar nicht gerade unangenehm , aber doch eben fremd. Da das Adoptivkind nach seiner Aufnahme in's Haus vollständig neu gekleidet und gereinigt wurde und in ganz gleicher Weise gehalten und ernährt wird, wie die andern, so kann es sich bei diesem Duft nur um seinen specifischen Seelenduft handeln. Man könnte nun sagen , diese Abneigung müsse bei den Kindern doch noch andere Gründe haben; aber man darf nur den entgegengesetzten Fall vergleichen. Kommt einem Kind ein fremder Mensch mit sympathischer Atmosphäre nahe, so ist der Blick ganz anders, es fremdet" zwar unter Umständen auch ein wenig, aber Miene und Haltung zeigen , dass Lustaffect im Hintergrund steckt, und sehr bald löst sich die Befangenheit wie durch Zauber, sobald die Inhalation lange genug gedauert hat , selbst ohne dass der Betreffende durch Handlungen dies zu beschleunigen sucht. Solchen „ geborenen Kinderfreunden" schlägt das Herz des Kindes sofort entgegen, und dieses Dichterwort ist wieder vollständig physiologisch richtig, das Herz schlägt in der That rascher, sobald man Sympathieduft einathmet. Von Erwachsenen gilt nun mutatis mutandis dasselbe. Sie unterdrücken zwar die Aeusserungen der Abneigung , allein sie gerathen doch in den gleichen physiologischen Zustand. In der Atmosphäre einer antipathischen Person fühlen sie eine gewisse Beklemmung, die von Athmung und Herzschlag ausgeht, eine gewisse Unruhe , die in höheren Graden bis zum Zittern geht , und ängstliche nervöse Gemüther mit sehr zersetzbarem Eiweiss können - ohne dass der Gegner durch irgend eine Handlung gegründeten Anlass dazu gibt -in förmliche Seelenangst mit völligem Stocken 147 der Sprache und Angstschweiss verfallen. Aber auch wenn es nicht so weit kommt , wenn zu Furcht und Angst lediglich kein erfahrungsgemässer Grund vorliegt, bleibt eine unbehagliche nervöse Stimmung, fast so , wie sie ein Mensch im sogenannten Katzenjammer nach Genuss fuselhaltigen Getränks besitzt. Dabei haben wir zwei Fälle auseinander zu halten, wenn die zwei Antipathen in Subordinationsverhältniss zu einander stehen : Der Vorgesetzte ist durch die Inhalation in eine gereizte Stimmung versetzt, so dass an und für sich harmlose, unschuldige Handlungen oder kleine Fehler und Verstösse des Untergebenen eine ungewöhnlich tiefe, unangenehme Wirkung auf ihn haben , ihn ärgern und erzürnen ; beim Untergebenen ist die Alteration des Gesammtnervensystems durch die Einathmung in der Aengstlichkeit zu erkennen, die ihn stets Schlimmes vom Vorgesetzten befürchten und gänzlich harmlose Handlungen und Aeusserungen des Betreffenden als feindselig empfinden lässt, sogar so weit, dass er beim Niesen seines Vorgesetzten zusammenschrickt. Beide sind eben in einem Zustand, in welchem Sinnesreize, die sonst kaum Eindruck machen, schon mit der Stärke des Ueberreizes wirken ; dass sich aus solcher instinctiven Antipathie bewusste Feindschaft entwickeln muss , liegt nun auf der Hand. Selbst wenn das grösste Mass von Selbstbeherrschung vorhanden ist , kommt es in unbewachten Augenblicken zum Durchbruch der Antipathie , zu wirklich feindseligen Handlungen und Aeusserungen, und der Bruch ist fertig. Ein hübsches Beobachtungsobject bildet das Verhalten des Menschen zum Hund und unseren Hausthieren überhaupt, und da hierbei praktische Dinge in's Spiel kommen, so will ich mich etwas länger dabei aufhalten. Zunächst wenn man einen Hundefreund frägt, wie die Hunde duften , so wird er stets antworten : nicht unangenehm, ja angenehm, ausser wenn u. s. f. Der Hundefeind erklärt dagegen die Hunde sammt und sonders und jederZeit für „ stinkend". Wie wir früher sahen , ist Sympathie und Antipathie nicht immer , aber doch sehr häufig gegenseitig. Betrachten wir nun den Gegenseitigkeitsfall der Antipathie zwischen Hund und Mensch, so ist klar, dass bei gegenseitiger Annäherung beide in reizbaren Zustand verfallen. Dem Hunde, bei seiner feinen Nase, stinkt der Mensch ebenfalls , es wird somit über kurz oder lang unfehlbar einer der beiden folgenden Fälle eintreten : 1) Der bereits nervös irritirte Hund deutet irgend eine , vielleicht ihn gar nicht betreffende Handlung des Menschen als Feind- seligkeit und verfällt entweder in Angst, - dann stinkt er, weil er den stinkenden Angststoff aushaucht , so dass der Mensch es 10* 148 - unerträglich findet und den Hund hinaus oder wegjagt ; oder der Hund geräth in Zorn bellt den Betreffenden an oder beisst ihn gar. - - 2) Der ebenfalls nervös irritirte Mensch deutet eine Handlung des Hundes, die vielleicht ganz harmlos ist, als beginnende Feindseligkeit und geräth seinerseits in Angst. Da sein Angststoff der Nase des Hundes Gestank ist, so ist der Mensch jetzt der Stinker und reizt dadurch den Hund wirklich zum Angriff. Dieser letztere Punkt ist für den praktischen Umgang mit grösseren Hausthieren, überhaupt aggressiveren Thieren, von grösster Wichtigkeit. Die oberste Regel ist : „ Keine Angst haben. " Dafür gab es bis jetzt keine richtige Erklärung. Ganz richtig ist, dass Angst nachtheilig ist, weil sie die Sicherheit, Kraft und Ruhe der Bewegungen beeinträchtigt, unsichere Bewegungen ein Thier leicht reizen u. s. f.; allein die Hauptsache ist , dass in der Angst der Mensch durch den überall ausdünstenden Angststoff sofort eine andere Witterung bekommt, und die Thiere dagegen äusserst empfindlich sind. Hierbei ist zweierlei zu unterscheiden. Hat man es mit einem Raubthier zu thun , so wirkt der Angststoff des Menschen als Wildgout und reizt es zum Fassen und Beissen. Bei zahmen Thieren kann dies ganz unwillkürlich geschehen durch Reflexreiz auf die Beisswerkzeuge, sodass das Thier nachher Reue darüber empfindet. Auf die Pflanzenfresser, wie Pferde , Rinder u. s. f. , wirkt der menschliche Angststoff als Gestank , der den Unwillen des Thieres herausfordert , oder es scheu macht. Das Gleiche gilt auch vom Verkehr des Menschen mit den Bienen und andern aggressiv stechenden Thieren, wie Wespen, Hornissen. Wer einem Schwarm derselben vollkommen gemüthsruhig Stand hält und auch seine Körperruhe bewahrt, wird nicht viel Uebles zu erfahren haben; sowie er aber in Angst verfällt und vollends noch um sich schlägt oder flieht , so stürzt alles ihm nach, gereizt durch den Angstduft. Im verflossenen Sommer machte ich in dieser Beziehung eine charakteristische Beobachtung : Ich war mit meiner Familie in einem Biergarten , als mein 6jähriger Knabe schreiend , in höchster Alteration dahergestürzt kam, er sei gestochen". Sofort bildete sich um mich und ihn eine dichte Mauer von Menschen , und während ich nach der am Halse festgestochenen Wespe greifen will, sehe ich zwischen den Umstehenden hindurch eine zweite Wespe mit der Sicherheit eines Pfeiles auf den Jungen zufliegen , und , trotz meiner abwehrenden Bewegungen, die sie wiederholt zwingen abzuschwenken, sticht sie, nicht mich, noch einen der Umstehenden, sondern den Knaben in's Augenlid. Auch der Umstand, der zum ersten Stiche führte, 149 ist charakteristisch. Mehrere ältere Knaben waren mit dem meinigen zusammen, als einer ein Wespennest bemerkte und danach warf; einige Wespen stürzten hervor , und als mein Sohn, der von der Sache nichts bemerkt hatte, die Anderen laufen sah und schreien hörte, gerieth er , eben weil er nicht wusste , was los war , in um so grössere Angst , und so war er der einzige , der gestochen wurde, und sein Angstduft war es, der die zweite Wespe ihn aus dem Menschenknäuel mit Sicherheit finden liess . Dass der Angststoff Anlass zu Feindseligkeit zwischen Thieren gleicher Art wird, ist schon im vorigen Kapitel am Hunde gezeigt worden. Ich führe hier eine zweite Beobachtung bei Vögeln an. Einer meiner Zuhörer, der mehrere zahme Kanarienvögel und dabei einen feinen Geruchsinn hatte , wollte sich an ersteren von der Richtigkeit meiner Angaben über den Angstduft überzeugen, fing mehrmals eine der Kanarienhennen, die sich alle willig greifen liessen, ängstigte und beroch sie. Er roch nun zwar nichts - die Düfte der Vögel wirken im Allgemeinen sehr wenig auf unsere Nase , allein er bemerkte , dass der eigene Gatte der geängstigten Henne, der sonst sehr zärtlich gegen sie war, sie nun von sich wegjagte, nach ihr biss und erst nach Verlauf von einer Viertel- bis halben Stunde sie wieder bei sich duldete. Der Versuch wurde mehrmals und immer mit dem gleichen Erfolge wiederholt, und ich zweifle keinen Augenblick, dass diese vorübergehende Antipathie von dem Angstduft der Henne veranlasst wurde. *) Eine dritte hierher gehörige Mittheilung verdanke ich der Güte des Herrn X. in Berlin. Ein Hundekarren gerieth so in's Wagengedränge, dass der eine Hund unter die Räder eines Pferdeeisenbahnwagens kam , überfahren wurde und nach wenigen Secunden todt war. Plötzlich fiel sein an den gleichen Wagen gespannter Kamerad über ihn her und biss mit solcher Wuth und Heftigkeit nach ihm, dass er ihn verwundet hätte, wenn der Maulkorb nicht hinderlich gewesen wäre. Auch hier war es die Emanation des Todesangst - Stoffes , die den andern Hund reizte und Antipathieäusserungen hervorrief. Eine besondere Erwähnung verdient der Todesangstduft des Menschen , da er zu mannichfachem Aberglauben führt , denn er wirkt ganz besonders stark auf Thiere , insbesondere Hunde , antipathisch, aber auch auf Menschen. So schreibt mir Dr. M.: „Meine selige Mutter erzählte mir gar oft , wie entsetzlich

  • ) Dieser Versuch wurde jüngst auf einer Excursion mit meinen Zuhörern

mit einer Haushenne gemacht. Einer der Studenten ergriff eine der uns im Wirthsgarten umbettelnden Hühner , die sich dabei ängstigte und nun von den andern Hennen weggejagt wurde. 150 ich dreijähriger Knabe schrie, während der paar Stunden, als 1827 meines Vaters Mutter im Sterben lag, und zwar zehn Zimmer weit von unserer Kinderstube, indess mein jüngerer Bruder ganz ruhig schlief. Aber noch weit entsetzlicher soll das Hundegebell gewesen sein, das sich während der Dauer der Agonie in der ganzen Nachbarschaft erhob, nach wirklich eingetretenem Tode aber sofort sich stillte. Die Arme starb am Miserere , und dabei mag allein schon der Geruch der Kothmassen auf Hundenasen beunruhigend genug gewirkt haben. Später machte ich diese Bemerkung auch wiederholt auf dem Lande und zwar bei Todesfällen , die sehr sanft und geruchlos verliefen, z. B. in Folge von Brustleiden oder allgemeiner Schwäche. Gewöhnlich ging monatelanges Siechthum voran , wobei die Hunde nicht nur völlig ruhig waren , sondern sogar gerne und treu ergeben in derselben Stube mit dem Kranken weilten. Aber sobald der Leidende in die letzten Züge" gerieth, bellten und heulten die Hunde in Hof und Garten wie toll, schwiegen jedoch sofort, wenn der Tod eingetreten war. Uebrigens fand ich wenige Menschen, besonders im unteren Volke, die nicht schon selbst bei Hunden in der Nähe Sterbender solche Bemerkungen gemacht. " Prof. H. theilt mir über den gleichen Gegenstand Folgendes mit: ,,Mein Onkel war als Arzt zu der kranken Gräfin D. berufen und der grossen Entfernung halber genöthigt, im Schloss zu übernachten. In der Nacht weckte ihn ein Winseln und Kratzen vor seiner Thüre, und beim Oeffnen stürzen die Schoosshündchen der Gräfin, die sonst immer um deren Person waren, heulend und voll Angst in's Zimmer. .... Als die Gräfin in die letzten Züge gekommen war, hatten die Hunde zu winseln und zu heulen angefangen, sodass die Wärterin die Thüre öffnete und sie hinausliess. Die Hunde waren nun davon gerannt. Was sie vor das Zimmer des Arztes führte, war jedenfalls auch ihre Nase, wobei ja an Mehrfachesgedachtwerdenkann. " Dr. A. F. BÜSCHING berichtet in seinem Buch „Zuverlässige Beiträge zur Regierungsgeschichte Friedrich II. " Hamburg 1790 im Historischen Anhang" S. 20 über den Tod des Königs : ,, Als der König gegessen hatte, lehnte er sich in den Armstuhl zurück und streichelte seine zwei Lieblingswindhunde, die er stets auf dem Schoosse hatte ; plötzlich blieb die Hand des Königs ruhig, und sofort sprangen die beiden Hunde entsetzt von seinem Schoosse und wollten halb wüthend zur Thüre hinaus. Der König war in demselben Moment gestorben. Gegenwärtig waren zwei Hofbeamte und der Generalchirurg Dr. G. ENGEL , der den Vorgang sofort an BÜSCHING schrieb. " Ob die Anziehung bemerke ich nebstbei , welche Krankenzimmer auf den kleinen Steinkauz (daher auch Todtenvogel 151 genannt) unleugbar ausüben, von dem Angstduft derselben oder, wie Andere behaupten, von den Nachtlichtern ausgeht, kann ohne nähere Versuche natürlich nicht entschieden werden ; allein ich möchte jetzt, wo ich weiss, dass alle Kranken übel duften, an's erstere glauben. Ein weiterer beachtenswerther Punkt ist der Einfluss , den lange dauernde, oft fortgesetzte Einathmung antipathischen Duftes bei lebenden Wesen hervorruft. Am deutlichsten ist diese bei den sogenannten „Omnismen" unserer Jahrmärkte ersichtlich. Darunter versteht man Menagerien, in denen Thiere zusammengewöhnt und zu friedlichem Leben gezwungen sind, die sich sonst feindlich begegnen, z. B. Hund und Hase, Wolf und Schaf, Katze und Ratte, Habicht und Taube u. s. f. Die Dressur hat hier die instinctive Antipathie so weit besiegt, dass die Thiere sich friedlich vertragen ; aber was keine Dressur zu beseitigen vermag , ist die gesundheitsschädigende Einwirkung der Einathmung der antipathischen Düfte. Trotzdem dass in diesen Omnismen die Thiere stets in einem offenen, der Luft zugänglichen Pferch zur Schau gestellt und Abends in gesonderte Käfige gebracht werden, sehen stets alle traurig , ruppig , kränklich aus , und die Besitzer versichern, dass sie sehr viel Verluste haben: die Thiere vergiften sich gegenseitig durch ihre Ausdünstung. Schon das ist bezeichnend, dass man nie einen Omnismus in einem Gesammtkäfig sieht, sondern immer im Freien ; ersteres ist eben einfach unmöglich; denn wollte man die Thiere in einem schlecht ventilirten Raume zusammenhalten , so würden sie in kürzester Frist sich durch ihre gegenseitige Ausdünstung tödten. Dieser Punkt ist bei Thiergärten wohl im Auge zu behalten ; die entschieden grössere Sterblichkeit in den Winterhäusern ist sicher nicht blos Folge allgemein ungünstigerer Verhältnisse, sondern eben so sehr Folge davon, dass man Thiere zusammenhält, zwischen denen instinctive Antipathie besteht, und die sich deshalb durch ihre Ausdünstung gegenseitig schädigen. Ich bin überzeugt, man hier eine sorgfältige Auswahl träfe und nur solche Thiere zusammenbrächte, die sich sympathisch sind oder wenigstens sich indifferent zu einander verhalten, so würden die Gesundheitsverhältnisse entschieden besser werden. Vom Menschen gilt dasselbe. Wenn zwei sich antipathische Menschen gezwungen sind, im gleichen Raume zusammen zu leben , so leidet ihre Gesundheit mehr oder weniger, und zwar um so rascher , je schlechter ventilirt die Räume sind; sie sehen blass aus , sind nervös , übelgelaunt und verstimmt und kränkeln schliesslich, während es, wie wir sehen, bei Sympathie gerade umgekehrt ist. Die wichtigste Rolle spielt dieses Verhältniss natürlich 152 in der Ehe, und hierüber hilft keine geistige Harmonie hinweg. Solche Eheleute müssen getrennt schlafen , sich auch sonst vorzugsweise in verschiedenen Räumen aufhalten und für sorgfältige Ventilation sorgen, wenn die psychische Stimmung und die körperliche Gesundheit nicht nothleiden sollen. Nachdem wir uns nun in diesem und dem vorhergehenden Artikel über den Inhalationsaffect im Allgemeinen orientirt haben, muss ich , bevor ich zur Betrachtung der endogenen Affecte übergehe, eine Einschaltung machen. Als ich meine Behauptung aufstellte , der specifische Ausdünstungsduft eines Geschöpfes sei dessen Seele , wurde ich von verschiedenen Personen darüber interpellirt, warum ich dem Geruchsinn eine solche besondere Beziehung zur Seele zuschriebe, da doch alle andern Sinne ebenfalls seelische Erscheinungen hervorrufen ; es sei das eine unbegründete Einseitigkeit. Dieser Vorwurf gründet sich theils auf ein Missverständniss, theils auf eine Lückenhaftigkeit meiner ersten Veröffentlichungen. Die Sache liegt so : Durch jedes Sinnesorgan kann , wie der folgende Artikel zeigt, eine solche Eiweisszersetzung im Gehirn hervorgerufen werden, dass Seelenstoffe frei werden, also ein Affect entsteht ; aber diese Affectstoffe kann ein anderes Geschöpf an der afficirten Person weder sehen, noch hören, noch tasten, sehr gut aber riechen und schmecken , kurz die Seelenstoffe sind direct nur riechbar und schmeckbar , aber nicht sichtbar , hörbar und greifbar; sehen , hören und fühlen kann man nur ihre Wirkungen, nicht sie selbst. Das ist die eine Seite der tieferen Beziehungen zwischen Seele einerseits , Geschmack- und Geruchsinn andererseits. Die zweite Seite ist folgende : Die Objecte der Gesicht- , Gehör- und Getastwahrnehmung sind Bewegungen , welche nur als Sinnesreize auf das betreffende Sinnesorgan wirken. Weiter und anders als in der Form der Nervenerregung dringen diese Bewegungen in den Körper nicht ein. Ganz anders verhalten sich die Objecte der beiden chemischen Sinne , des Geschmack- und Geruchsinnes , sie wirken niemals blos auf das betreffende Sinnesorgan , sondern , weil sie Stoffe sind , können sie auf zwei Wegen direct in die Säftemasse , in's Blut gelangen : die flüchtigen durch Einathmung und die fixen , indem man sie verschluckt. Hier wirken sie direct als Gemeingefühl, also bei genügender Menge Affect erzeugend , und zwar völlig unabhängig von der Geruch- und Geschmackswahrnehmung, wie wir oben sahen. 153 Die besondere Beziehung der chemischen Sinne zur Seele ist also eine vierfache : 1 ) nehmen wir mit ihnen die Seelenstoffe anderer Geschöpfe wahr; 2) lernen sie uns die Stoffe kennen, welche im Fall des Eindringens in unsere Säftemassen in uns als Seelenstoffe wirken; 3) können durch Geruchs- und Gemacksein- drücke in uns cerebrale Affecte genau so ausgelöst werden , wie durch die physikalischen Sinne ; 4) während wir riechen oder schmecken , vollzieht sich nebstdem ein Uebertritt der Duft- und Würzestoffe in unsere Säftemasse , wo sie als Seelenstoffe wirken. Ja, ich habe sie sogar, wie in dem spätern Artikel über die Desodorisation des Körpers nachzulesen ist , in dem Verdacht einer directen Wirkung auf die Hautnerven. Von diesen vier resp. fünf Beziehungen der chemischen Sinne zur Seele kommt den physikalischen Sinnen, Auge , Ohr und Getast, fast nur eine einzige , nämlich die unter Nr. 3 erwähnte zu, und deshalb verdienen die chemischen Sinne in hervorragendem Masse die Bezeichnung seelische Sinne". Unter den physikalischen Sinnen ist aber noch einmal ein Unterschied zu machen, insbesondere zwischen Auge und Ohr. Ein Gesichtseindruck muss unverhältnissmässig viel stärker sein als ein Gehöreindruck , um einen Affect zu erzielen , oder, um es anders auszudrücken : der Schwellenwerth des Affectes liegt beim Gesichtsinn viel höher als beim Gehörsinn. Das hat zwei Ursachen : 1) Die Lichtschwingungen sind bekanntlich ungemein viel feiner als die Schallschwingungen , scheinen also viel schwieriger eine Eiweisszersetzung auslösen zu können, als die groben massiven Schallschwingungen, was ganz in Harmonie steht mit meiner Seelenlehre, so dass ich diesem Unterschied sogar den Werth eines Beweises für dieselbe beilegen möchte. 2) Schallwellen wirken eben ihrer Massivität wegen nicht blos auf das Ohr, d. h. das Trommelfell , sondern noch in zwiefach anderer Weise : einmal werden sie durch die ganze Körpermasse, insbesondere die Knochen , gleichfalls zum Gehörorgan geleitet und afficiren natürlich hierbei mechanisch alle Gewebe des Körpers ; dann wirken sie auf die Tastnerven der ganzen Körperoberfläche und werden so zu einem mächtigen Reiz für den Gesammtkörper, der in seinen innersten Fugen erschüttert wird. Die Lichtstrahlen wirken dagegen , vollends bei den mit Kleidern , Haaren oder Federn bedeckten Thieren , fast nur auf das Sehorgan und sind viel zu fein, um die Knochen und sonstigen Gewebe des Körpers in Schwingung versetzen zu können. So kommt es , dass das Auge der am wenigsten „ seelische" , das Ohr der am meisten „ seelische" unter den physikalischen 154 Sinnen ist, womit auch z. B. der mächtige Einfluss der Musik auf die seelische Stimmung völlig erklärt ist. Das Auge ist dagegen der ,,geistigste" unserer Sinne , am meisten geeignet zur objectiven, ,,affectfreien" Betrachtung der Aussenwelt. Der Tastsinn steht in seinen Beziehungen zur Affecterzeugung zwischen Auge und Ohr, aber letzterem offenbar näher als ersterem : allgemeine Hautreize erzeugen leicht Affecte , wegen der grossen Zahl der erregten Nervenenden ; wir werden später beim Frictionsaffect darauf zu reden kommen. Hier sei noch der merkwürdigen Beziehung des Geruchsinns zum Geist gedacht, die mir von mehreren Personen bestätigt wird, die aber doch mehr individuell ist und wohl nur bei denen vorkommt, die einen feinen Geruchsinn haben; wenigstens fehlt sie z. B. bei mir und verschiedenen Personen, die ich beobachte. Einer meiner Correspondenten, Dr. M., schildert sie in folgenden Worten : ,,Ganz eigenthümlicher Art ist mein Sinn für Localgeruch und direct in Verbindung mit meinem Denkvermögen. Ich bin von 1837-75 ungemein viel im Orient, in Italien, der Schweiz, Frankreich, den Niederlanden, England, ganz Deutschland, Böhmen, Steiermark und Oesterreich gereist. Es ist also sehr natürlich, dass ich auf vielerlei Localgerüche stiess, auf die allerheterogensten. Wenn ich nun so, an nichts denkend oder doch von einem fernabliegenden Gedankengang in Anspruch genommen, vor mich hingehe, und es schlägt irgend ein absonderlicher Localgeruch in meine Nase, so erinnere ich mich blitzschnell und ohne das geringste Nachdenken an den Ort, wo ich einst, vor vielleicht 15-20 Jahren, diese Sorte von Geruch zuerst roch, und im selben Moment, freilich stets nur für einen Moment, sieht mein « inneres Auge» jenen Ort, an den ich seither nie wieder gedacht, so deutlich, dass ich ihn malen könnte. Ich hatte eine Tante, die mit 81 Jahren starb und volle 60 Jahre wahnsinnig war. Im ärgsten thierischsten Wahnsinnsanfall genügte ein Geruch , übrigens auch ein Ton , eine Farbe , um in ihr Erinnerungen wachzurufen , die Decennien hinter ihr lagen." bemerke hierzu , dass Correspondent ein sehr feines Geruchs- organ hat. Ich Wenn Geruchseindrücke sich durch eine derartige Fixirung im Gedächtniss besonders auszeichnen sollten , so kommt dies wohl daher, weil sie gewissermassen doppelt sich markiren, erstens durch die Sinnesempfindung , und dann durch Einathmung, als Gemeingefühl auftretend. 13. Endogene Affecte. Allgemeines. Wie aus dem früher Gesagten hervorgeht, liegt bei dieser Art von Affecten die Affectquelle im Innern des Körpers (endogen - innerlich entstanden) und wird entweder von den eingeführten Nahrungsstoffen und ihren Resten oder von der lebendigen Substanz selbst gebildet. Mit der Nahrung führen wir bereits freie Affectstoffe , die Speisedüfte ein. Im Fall idiosynkrasischer Antipathie wirken sie als Unluststoffe, wobei der höchste Grad des Unlustaffectes die sogenannte „ Uebelkeit" ist , die bis zum Erbrechen gehen kann. Handelt es sich dagegen um „ sympathische" Speisen, so haben wir zuerst den reinen Lustaffect, der dann in Sättigungsgefühl übergeht (siehe auch das Kapitel „ Trieb "). Allein damit hat es sein Bewenden nicht. Es gilt für das Nahrungseiweiss dasselbe , was ich von dem Organeiweiss schon früher sagte : Sobald die Zersetzungsursache einen gewissen Stärkegrad überschreitet , so tritt statt eines Lustduftes ein Ekelduft auf. Wir können dies schon in der Küche sehen : So lange die Hitze eine gewisse Höhe nicht übersteigt , entstehen beim Kochen und Braten nur wohlriechende Düfte, und ihre Entbindung ist um so reichlicher , je höher der Hitzegrad steigt, sobald er aber eine bestimmte Höhe überschreitet, so erscheinen sofort statt der Wohldüfte die unangenehm riechenden brenzlichen Stoffe der angebrannten" Speisen. Das Gleiche findet nun auch im Körper statt. Im Anfang der Verdauung werden nur Lustdüfte entbunden und Lustaffect (primärer Verdauungsaffect , Verdauungsfreude) erzeugt , aber sobald die Wirkung der Verdauungsfermente einen gewissen Stärkegrad überschreitet , sind die nun auftretenden Düfte übelriechend, und ihre physiologische Wirkung ist die eines Unluststoffes. Hieraus entsteht nun zwar in der Regel bei gesunden Personen kein evidenter Affect, wohl aber eine Unluststimmung, eine Reizbarkeit, die mehr oder weniger deutlich ausgesprochen ist : secundärer Ver- 156 dauungsaffect, Verdauungsangst. Unter den verschiedenen Verdauungsfermenten kommt nach den Versuchen von M. NENCKI, E. SALKOWSKI und Anderen insbesondere dem Bauchspeichel eine Kothduft entbindende Wirkung (die Kothdüfte sind Indol und Scatol) zu , wie begreiflich , denn er hat eben die grösste Zersetzungskraft. Bei leidenden Personen , bei gehemmter Abdünstung der Affectstoffe und überreicher Mahlzeit kann diese Verdauungsangst sehr hohe Grade erreichen. Bei Gesunden ist sie am stärksten nach reichem Fleischgenuss, und solche Personen duften dann auch stark widrig aus den Rippen oder per anum. Bei den carnivoren Engländern ist dieser Fleischverdauungsduft (Beefsteakduft) so stark , dass wir hier zu Lande den Engländer namentlich den frischen Ankömmling - sofort erkennen, denn alle , auch die feinsten Dämchen , tragen ihn überlaut zur Schau, und das macht sie für uns keineswegs sympathisch. Sind sie jedoch länger bei uns im Lande, so verliert der Duft sich etwas, weil bei uns nicht die Atmosphäre aller Häuser so damit übersättigt ist, wie in England. Beim Hunde können wir das Gleiche beobachten : Bei Brodfütterung ist seine Ausdünstung schwach ; füttert man ihn dagegen mit Fleisch, so ist er im Zimmer unmöglich. Am schwächsten ist der Verdauungsduft, auch beim Menschen bei reiner Vegetarianerkost, und die Propaganda, welche der Vegetarianismus macht, verdankt er insbesondere diesem Umstand : der Vegetarianer hat eine milde Ausdünstung und ist deshalb affectfreier" , während der Fleischesser in der Verdauungsangst sehr leicht „,ungemüthlich" , zornig wird. (Siehe nächstes Kapitel bei „ Zorn" ; über die Getränke siehe das Kapitel „Instinct". Wenden wir uns zu den Affecten , welche der Zersetzung des Organeiweisses entspringen. Ich habe schon im Artikel „ Entdeckung der Seele" gesagt , dass auch hier die Zersetzungsstärke nicht blos über die Quantität der zur Entbindung kommenden Duftstoffe, sondern auch über die Qualität entscheidet ; bei niederer Zersetzungsstärke wird Luststoff , bei höherer Unluststoff entbunden. Wir wollen nun in einiges Detail eingehen. Schon früher sagte ich , dass wir bei den Selbstaffecten die Thatsache zu berücksichtigen haben , dass jedes differente Organ seine specifischen Duftstoffe besitzt. Daraus folgt, dass nicht nur jedes Organ Quelle eines Affectes sein kann, sondern auch eigenartiger Affecte , und dass wir deshalb verschiedene Affectarten zu unterscheiden haben. Zunächst können wir in dieser Beziehung dreierlei Affecte aufstellen : 1 ) Die cerebralen oder im engeren Sinne see- 157 lischen, psychischen Affecte , bei denen das Nervensystem, insbesondere das Gehirn , die Quelle der Duftstoffe ist ; 2) die sexualen Affecte, deren Stoffe den Geschlechtsorganen und ihren Producten entstammen ; 3) die somatischen Affecte , worunter ich diejenigen verstehe, deren Quelle alle übrigen Organe sind. Die ersten zwei Arten , als die wichtigsten , werde ich in zwei gesonderten Kapiteln (den zwei nächsten) abhandeln und hier kurz über die somatischen soviel sagen, als zur Ergänzung des in den früheren Kapiteln Enthaltenen gehört. In toto betrachtet, kommen natürlich die „ somatischen" Organe, um mich dieses zusammenfassenden Ausdrucks zu bedienen, beim Hunger affect in Betracht. Dieser ist, wenn die ihn erzeugende Zersetzungsursache geringere Stärkegrade hat , ein Lustaffect: der Appetitaffect ; in diesem Stadium riecht man einen Lustduft am Betreffenden. Wird die Eiweiss zersetzung stärker, so erscheint ein gemischter Affect : die Hungerpein oder, nach aussen hin gesprochen , Hungerzorn Hungerwuth. Dabei werden beiderlei Duftstoffe entbunden ; in den zersetzbareren Organen taucht nämlich bereits die Unlustmodification der Duftstoffe auf, in den minder zersetzbaren aber noch die Lustmodification ; in diesem Zustand sind Thier und Mensch „gefährlich" . Wird der Hunger noch stärker, so wird der Zustand der eines völligen Unlustaffectes : Hungerangst, Hungerlähmung, was schon in das Gebiet der pathischen Affecte gehört (in diesem Stadium stinkt das Geschöpf). Ueber die pathischen Affecte noch folgende Bemerkung: Wenn nicht andere Affectstoffe, z. B. Hirndüfte, Kothdüfte etc., störend eingreifen, so markirt sich die leichte Eiweisszersetzung, die wahrscheinlich stets stattfindet, als eine allgemeine Luststimmung, die man auch Gesundheitsgefühl, Kraftgefühl, Euphorie nennt. Den Gegensatz hierzu bilden eben die pathischen oder Krankheitsaffecte : die Dysphorie. Sie sind Unlustaffecte und treten ein, sobald entweder im ganzen Körper oder in einem bestimmten Organ eine zu starke Eiweisszersetzung im Gang ist. Je nach dem Organ geben diese Affecte erstens ein verschiedenes Krankheitsbild, zweitens ist auch der Ausdünstungsduft danach verschieden, worauf die in einem späteren Kapitel zu besprechende Riechbarkeit der Krankheiten beruht. Im Allgemeinen ist zu sagen : Befindet sich Jemand in einem pathischen Affect, so ist seine Ausdünstung stets für unsere Nase übelriechend, während jeder in voller Euphorie sich befindende Mensch , falls nicht Antipathiebeziehung obwaltet, angenehm duftet . Die Krankenzimmer haben einen absolut untilgbaren übeln Duft. Am übelsten duften stets Verdauungskranke, weil das Organ-Eiweiss des Darms sehr zersetzbar ist , und weil - 158 dann auch noch Fäulnissgährung im Darmcanal dazu kommt : der gastrische Krankheitsaffect ist deshalb auch einer der schwersten. Die gastrisch Kranken (incl. Hämorrhoidarier) sind am Duft am leichtesten zu erkennen, dann folgen die Muskelkranken (Rheumatiker) , dann die Lungenkranken. Eine weitere Modification stellen die Arbeitsaffecte vor. Die Ursache der Duft- und Affectentbindung ist hier die vermehrte Thätigkeit der willkürlichen Arbeitsorgane, insbesondere der Nerven und Muskeln. Bei mässiger Arbeitsstärke ist der Affect ein Lustaffect : Arbeitsfreude, Arbeitslust , deren Maximum man nie im ersten Beginn der Arbeit hat , sondern erst dann , wenn man etwas warm" geworden ist. Am andern Ende der Scala des Arbeitsaffectes steht das Ermüdungsgefühl, in der Mitte der gemischte Affect des Arbeitszorns, über den das Gleiche gilt , was ich im nächsten Artikel über den seelischen Zorn sagen werde. Im Zustand der Arbeitsfreude ist der Ausdünstungsduft des Menschen angenehm ; ein stark ermüdeter , namentlich aber ein überangestrengter Mensch duftet sehr unangenehm, wovon im nächsten Kapitel die Rede sein wird. Je nach den Ursachen der Duftstoffentbindung in einem und demselben Organ lassen die Affecte sich in folgende Rubriken bringen : 1. Neural affect : Die Ursache ist der Nervenreiz , wobei im Endorgan des Nerven, wo die Erregung zur Hemmung gelangt (Ganglienzelle, Muskelzelle etc.), wahrscheinlich aber auch im Nerven selbst die Eiweisszersetzung stattfindet. 2 ) Congestions affect: Jede vermehrte Blutzufuhr zu einem Organ steigert die Zersetzungsvorgänge in demselben wegen vermehrter Sauerstoffzufuhr und führt zuletzt zu Eiweisszersetzung mit Duft- und Affectauslösung. Da in jedem Organ, sobald es in Arbeit tritt , die Blutzufuhr steigt , so wirkt die Congestion bei jedem Arbeitsaffect mit ; aber wir werden im übernächsten Kapitel in den Schwellkörpern Organe kennen lernen , in denen fast reine Congestionsaffecte erzeugt werden. Ferner spielt die Congestion eine höchst wesentliche Rolle bei den örtlichen pathischen Affecten ; wenn z. B. durch Gefässverengerung in der Haut (bei sog. Erkältung) das Blut in die inneren Organe getrieben wird (passive Congestion), so entsteht dort Congestionsaffect. Ueber den negativen Congestionsaffect siehe unten. 3. Frictions affect. Dieser spielt eine Hauptrolle in der Haut und den für mechanische Reizung zugänglicheren Schleimhäuten, und hier berühre ich einen Gegenstand , bei welchem ich mich in Differenz mit den übrigen Physiologen befinde. Die Thatsache , dass örtliche mechanische Reizung eine Erweiterung der i 159 Capillaren mit folgender Congestion hervorruft, wird von ihnen so gedeutet , als seien hier Nerven mit im Spiel. Ich halte mich dagegen an zwei Thatsachen : a) dass noch Niemand Nervenendigung in den Capillaren nachgewiesen hat ; b) dass jedes lebendige Protoplasma direct mechanisch gereizt werden kann, mithin auch die Capillarwände , die aus lebendigem Protoplasma bestehen. Sobald diese Reizung länger anhält oder stärker ist , so muss sie zu Eiweisszersetzung mit Duftentbindung und Affectauslösung führen. Allerdings gesellt sich hierzu stets Congestion, und deshalb lassen sich Congestionsaffect und Frictionsaffect nicht trennen , aber den ersten Anstoss bildet eben hier die mechanische Reizung. Jeder weiss , dass Frottirung der Haut oder Reizung derselben durch Temperaturdifferenzen Affecte erzeugt. Bei mässiger Reizstärke entsteht Lustaffect , z. B. wenn man ein Säugethier streichelt : Streichelaffect , oder beim Baden : Badeaffect ; dann spielt , wie wir später sehen werden , bei den Sexualaffecten die Friction dieselbe Rolle. Bei grosser Reizstärke oder zu langer Dauer entsteht Unlustaffect. Dass es sich beim Frictionsaffect nicht um Nervenvermittelung handelt, lehrt uns auch das subjective Gefühl : Der Affectriesel , von dem wir sogleich sprechen werden , geht deutlich von der frottirten Stelle aus. Bei dem Verlauf des Affectes haben wir einen bis jetzt noch nicht besprochenen Punkt von höchstem Interesse und grosser Beweiskraft für meine Seelenlehre zu betrachten. Wenn die Duftstoffentbindung langsam vor sich geht, wie das z. B. bei den Verdauungsdüften stattfindet , so mangeln örtliche Empfindungen meist völlig. Sobald aber die Duftentbindung eine momentane oder sehr rasch ansteigende ist , wie meistens der Fall , wenn es sich um Zersetzung von Selbsteiweiss handelt , so erscheint als Signal der Affectriesel. Ganz besonders deutlich ist derselbe beim Neuralaffect, weil die Zersetzung des Nerven-Eiweisses mit einer schlagartigen Plötzlichkeit stattfindet. Ich erzähle ihn an der Hand des Falles , bei dem mir dieser wichtige Punkt klar wurde , nämlich dem cerebralen Uebermüdungsaffect. Er beginnt mit einem dem Bewusstsein sofort sich aufdrängenden örtlichen , unangenehmen Gefühl im Kopf und zwar ganz deutlich, nicht in der Tiefe, auch nicht in der Haut, sondern in der Hirnrinde oben auf dem Scheitel , und dem folgt ein ganz im Tempo der Kreislaufgeschwindigkeit sich vollziehendes Rieseln vom Kopf nach der Leibesmitte , das aber , je tiefer es herabsteigt, um so schwächer wird und dann einen Augenblick aufhört : nach einigen weiteren Secunden beginnt es in der Leibmitte auf's Neue und steigt abwärts in die Beine ; einige Secunden später 160 haben diese örtlichen Gefühle aufgehört und dem Allgemeingefühl Platz gemacht. Der ganze Process beansprucht etwa eine Kreislaufzeit , die beim Menschen auf 23 Sec. berechnet ist. Ich habe mir früher oft den Kopf darüber zerbrochen , wie diese örtlichen Gefühle zu deuten seien. Jetzt, nach genauer Beobachtung, stehe ich nicht an, mit Bestimmtheit zu behaupten: wir fühlen die Bewegung des durch den Affectstoff plötzlich qualitativ veränderten, different gewordenen Blutes , und das ist bei allen plötzlich auftretenden Affecten so. Es ist der Schauer, der einem durch den Leib rieselt oder läuft, wie der Dichter sich ausdrückt , der Wonnegraus , der Angstgraus , das , was einem die Haut schaudern macht, was einem beim Lustaffect warm", beim Angstaffect „ eiskalt" durch den Körper rieselt und besonders in der Haut empfunden wird, weshalb man auch sagt : es überläuft einen kalt oder warm ; die Hautnerven empfinden eben die plötzliche chemische Veränderung des Blutes am stärksten . Aber nicht blos sie werden durch das different gewordene Blut gereizt , sondern auch die übrigen lebendigen Gewebe der Haut: 1 ) die um die Haarbälge liegenden Hautmuskeln, die sich contrahiren und die „ Gänsehaut" erzeugen ; 2) die Blutgefässe, die sich unter dem Einfluss des betreffenden Duftstoffes beim Lustaffect erweitern, beim Unlustaffect verengern. Dabei ist jedoch auf Folgendes aufmerksam zu machen : Da auch directe Hautreize, wie wir oben sahen, eine Verengerung der Hautgefässe und Contraction der Haarbalgmuskeln veranlassen können, und die plötzliche Verminderung des Durchblutungsmasses als negative Wärmeschwankung, als Schauder, empfunden wird, so muss sehr wohl zwischen dem Affectriesel und dem Hautschauder , den man negativen Congestions affect nennen könnte, unterschieden werden; aber die Sache verhält sich jetzt so : Wird irgendwo plötzlich ein Duftstoff entbunden, so geht von hier zunächst , den Blutbahnen entsprechend , ein Affectriesel aus. Ist dieser stark genug, so veranlasst er einen Hautschauder, und nun gesellt sich zu dem primären Affect, z. B. einem Cerebralaffect, noch ein negativer Congestionsaffect der Haut. Bei dem Begattungsact lassen sich die beiden Dinge ebenfalls beobachten. Die Reizung der Gewebe durch das Blut, das in Folge der Beimischung des Affectstoffes different geworden ist , erstreckt sich jedoch nicht blos auf die Haut, sondern äussert sich auch deutlich in den Muskeln durch Auslösung mehr oder minder allgemeiner Bewegungen. Ist die Duftstoffentbindung nicht zu stark , so sind diese Bewegungen „, schüttelnde", wird sie stärker, heftige Zuckungen, die dann in Zittern übergehen : „Zittern vor Freude oder vor Angst". In maximo ist es eine äusserst heftige , schlagartige 161 Zuckung mit totaler Lähmung: Schreckschlag , Freudeschlag. Am schärfsten ist natürlich all' das, wenn der betreffende Duft ein Angststoff ist, denn dieser ist viel differenter als der Lustduft. Ein anderes Symptom des nascirenden Affectes ist das Auftreten des betreffenden Duftstoffes in der Hautausdünstung , es erfolgt ungemein rasch, wie ich nicht blos an Andern, sondern auch an mir selbst bemerkt habe. Auch den Secreten mischt sich dieser Duftstoff bei, was bei der Milch praktisch wichtig ist , denn die Stoffe wirken dann auf den Säugling als höchst differente Stoffe , namentlich die Angststoffe , die den Säugling sogar tödten können. Nicht nur Thierzüchter, sondern auch unsere Frauen wissen das sehr wohl , es mangelte bisher blos die Erklärung , weil die Wissenschaft die Duftstoffe ignorirte. Dem Obigen füge ich eine höchst interessante und bestätigende Mittheilung hinzu , die mir , nachdem Vorstehendes schon in der Druckerei gesetzt war, ein Leprosekranker machte. Derselbe sagte mir: wenn der Krankheitsprocess in einer Hand einen neuen Vorstoss mache, so trete in derselben „ Eiskälte" auf, dieselbe riesele am Arm herauf in die Brust , dann schnüre es ihm die Brust zusammen, so dass er kaum athmen könne ; nun bekomme er Schmerzen im ganzen Leib, und sein Athem werde stinkend , welch ' letzteres auch seine Pflegerin bestätigte. Diese Eiskälte ist natürlich derselbe Duftstoff , der nachher im Athen erscheint , und die Brustbeklemmung ist Folge der Reizung der glatten Muskelfasern des Lungengewebes , also die gleiche Erscheinung wie die Gänsehaut. Den Affectformen, welche durch das Auftreten eines Duftstoffes im Blute entstehen , und die man die positiven nennen kann, stehen die negativen gegenüber. Sie entstehen, wenn ein Duftstoff oder eine Duftquelle rasch aus dem Körper entfernt wird. Der eine ist der Exhalations affect : Wenn z. B. ein mit Unluststoffen belasteter Mensch in die frische Luft geht und jene (siehe S. 125) ausathmet, so kommt er in einen ganz ähnlichen Zustand, wie wenn er einen Luststoff einathmen würde. Ein anderer negativer Affect ist der Defäcations affect , den ich eigentlich unbeabsichtigt entdeckte, und der mich deshalb nicht wenig freute ; derselbe ist zugleich von hoher Beweiskraft, weshalb ich ihn genauer schildere. Meine Absicht war , ein Inhalationsexperiment mit eigenem Kothduft zu machen. Ich hatte vor der Defäcation schon meine Nervengeschwindigkeit gemessen und dabei meine gewöhnliche, auch früher stets vor der Defäcation genommene , Morgenzeit erhalten. Vor der Defäc. Mittel aus 10 Mess. 149 Ms., Max. Diff. 32 Ms. Nach der Defäc. 99 Jaeger, Eutdeckung der Seele. 99 10 99 130 Ms. , 99 99 52 Ms. 11 162 Also Ausstossung der Unlustduftquelle hatte lusterzeugend, und zwar sicher Lustduft entbindend , gewirkt. Das ist das wohl jedem Leser schon bewusst gewordene Wohlgefühl nach der Defäcation , das um so grösser ist , je anstrengender die Muskel- arbeit war. Höchst interessant ist nun das unmittelbar darauf folgende Inhalations experiment, das zugleich den ziffermässigen Beleg für die in Kapitel 11 u. 12 geschilderten Inhalationsaffecte bildet. Ich bemerke , dass der Duft meines Kothes normaler Scatol- und Indolduft war , ohne Beimengung von Fäulnissdüften. Um den Sinnesreiz zu eliminiren, hielt ich darauf die Nase zu und athmete durch den Mund : 99 99 nach 1 Min. Inh. Mitt. a. 10 Mess. 152,6 Ms. , Max. Diff. 56 Ms. nach 1 weiteren Min. ebenso 153,6 Ms. 98 Ms. Also die durch die Defäcation erzielte Verschnellerung der Nervenzeit wurde durch die Inhalation des Kothduftes nicht blos rückgängig gemacht, sondern die Zeit noch unter die vor der Defäcation vorhandene herabgedrückt , und die grosse Differenz zwischen Maximum und Minimum ist das deutlichste Symptom eines nascirenden Affectes . Den Versuch habe ich seither noch zweimal gemacht : mit gleichem Erfolg. -- Es ist mir von einzelnen Personen eingewendet worden : „ Zugegeben , dass die Affecte stets vom Auftreten bestimmter Duftstoffe begleitet sind , aber das sind eben Begleiterscheinungen und der Duftstoff nicht Ursache des Affects. " Dieser Einwand muss Angesichts solcher Inhalationsexperimente wie des vorstehenden oder des andern auf S. 130 mitgetheilten und weiterer, in folgenden Kapiteln verzeichneter Versuche , sowie Angesichts der später mitzutheilenden Desodorisationsexperimente völlig verstummen, oder consequenterweise müsste ein solcher Zweifler sagen: Der Rausch sei nicht Folge des Weingenusses , sondern letzterer nur eine Begleiterscheinung beim Berauschtwerden. Zum Schluss noch ein Wort über die biologische Verwendung der Binnen- Affectdüfte : Die Lustdüfte wirken auf andere verwandte Wesen anziehend, als sympathische Stoffe. Die Hauptgebiete , auf denen diese Anziehung ausgeübt wird , sind das sexuale , familiäre und sociale : Anlockung des Gatten, des Kindes, der Eltern, des Genossen. Ob nun von der anziehenden Kraft der Lustdüfte auch auf dem Gebiete des Ernährungstriebes Gebrauch gemacht wird , weiss ich nicht bestimmt, halte es aber durchaus nicht für unmöglich. Ich will zwar nicht unterschreiben , was THEOPHRAST Vom Tiger sagt, der einen sehr angenehmen Ausdünstungsduft habe , mit dem er 163 seine Bente anlocke" , denn für des Menschen Nase stinkt der Tiger fürchterlich , was aber freilich für andere Thiere nichts beweist. Thatsache ist , dass bei fast allen Recepten zur Bereitung von Fischködern Reiheröl vorkommt , und dass der Fischreiher Fische dadurch herbeilockt, dass er seine Ausleerung in's Wasser spritzt; ob aber hier der Duft wirkt oder das mechanische Moment, weiss ich nicht. Ich möchte jedenfalls die Sache der Aufmerksamkeit meiner Fachgenossen empfehlen , es wäre doch möglich, dass es Fälle der Art gibt. Die Casuistik von Sympathie und Antipathie zwischen ganz verschiedenen Arten von Lebewesen ist ja ungemein reich und interessant , weshalb ich später noch theilweise darauf zurückkommen werde. Die Unluststoffe werden nach aussen hin als Abstossungsoder Schreckmittel zur Vertheidigung gegen Feinde in ausgesprochenster Weise von manchen Thieren benützt. Ich nenne das die Trutzdüftung, entsprechend dem von mir eingeführten Worte Trutzfärbung. Am bekanntesten ist dies bei unserer Ringelnatter ; sobald man sie ergreift , entströmt ihr ein infernalischer Knoblauchgeruch aus Mund und Nase, und auch ihr Koth, der sonst nichts dergleichen zeigt , erhält den gleichen Gestank, sodass , wenn man sich damit besudelt , derselbe tagelang nicht wegzubringen ist. Ihren natürlichen Feind wird das nicht geniren , da ihm dieser Duft sicher angenehm ist , aber gewiss werden zahlreiche Thiere , die sonst die Schlange fressen würden, durch diesen Trutzduft zurückgeschreckt. Dass dieser Duft der Gehirnangstduft ist , möchte ich nicht bezweifeln , aber bei passender Gelegenheit doch einmal untersuchen; dagegen sehen wir andere Thiere Trutzdüfte entwickeln , die eigenen Drüsen, den Stinkdrüsen , entstammen. Die bekanntesten dieser ,,Stinkthiere" sind die zu den marderartigen Säugern gehörigen Mephitisarten Amerika's. Unsere einheimischen Mustelen besitzen die gleichen Stinkdrüsen und gebrauchen sie gerade so , nur dass sie das Secret derselben nicht auf weithin verspritzen können , aber der Gestank ist auch bei ihnen infernalisch. Auch der Fuchs fährt mit Gestank ab. Bei unseren Feldwanzen kann man sich leicht überzeugen, dass sie ungereizt kaum stinken, dass aber sofort eine Wolke von Gestank auftritt, sobald man sie ergreift. Nachdem Obiges in der Druckerei bereits gesetzt war , habe ich auf einer Excursion mit einigen Zuhörern diese Sache an Insecten genauer geprüft und gebe das Resultat in folgenden Sätzen : 1) Der auftretende Duft bei den Insecten ist zweifellos der Angststoff. Im Moment, in dem man sie ergreift, stinken sie nie, sondern erst nach einiger Zeit. Diese Zeit ist am kürzesten bei 11 * 164 lebhaften, temperamentösen Thieren am kürzesten z. B. fanden wir sie bei den flinken Sandläufern , etwas länger dauerte es bei den Laufkäfern, dann kamen die Borkenkäferwölfe ( Clerus) , noch langsamer ging's bei den Aaskäfern (Silpha) und Tausendfüssen (Julus), kaum zu erzwingen war der Angststoff bei den torpiden Mistkäfern, Chrysomelen und Bockkäfern. 2) Es wurde hierbei auf's Genaueste festgestellt, dass jede Species von der nächstverwandten durch die Qualität des Duftes unterschieden werden kann, dass alle Species eines Genus ähnlich duften, dass alle Genera einer Familie ähnlich duften , dass die Düfte zweier Käfer, die verschiedenen Familien angehören, sehr auffallend verschieden sind, und dass Thiere verschiedener Arthropodenklassen himmelweit verschieden duften , z . B. Käfer und Tausendfüsse, (letztere duften nach Chlor, aber jede Species etwas anders) . Dies zugleich als Nachtrag zum ersten Artikel. Wir sehen also , der Umstand , dass Eiweiss bei Zersetzung durch starke Einwirkung Ekeldüfte entbindet , ist zunächst nur eine Begleiterscheinung der physiologischen Processe, die sich darin äussert, dass das Thier im Unlustaffect stinkt ; sie ist aber von der Naturzüchtung zu biologischen Zwecken ergriffen und fortentwickelt worden, und so entstanden die „ Stinkthiere" oder ,,Trutzstinker" , welche ihren Unlustduft als Waffe benützen . In dem Kapitel „ Die Blumenseele" werden wir erfahren, dass bei den Pflanzen die Naturzüchtung in der Producirung der „ Ekelpflanzen“ oder „ Stinkpflanzen “ etwas Aehnliches geschaffen hat. 14. Die cerebralen Affecte. Ueber diese Art von Affecten habe ich zwar in den früheren Aufsätzen schon Manches gesagt ; aber dasselbe bedarf doch mancher Ergänzung und theilweise auch Richtigstellung , die ich meinen bisherigen Nachforschungen verdanke , und sie verdienen das umsomehr, als sie die wichtigsten sind. Das Nerven- Eiweiss , insbesondere das des Gehirns, ist unter allen Sorten von Organ-Eiweiss das zersetzungsfähigste, und die daraus entweichenden Duftstoffe sind ,, Nervina" im höchsten Sinne des Wortes, sie wirken sowohl in ihrem Erzeuger, als in dem, der sie einathmet , in intensivster Weise. Sie haben auch von allen Seelenstoffen eines Thieres den intensivsten Geschmack. Das Gehirn eines Thieres gilt mit Recht als grösster Leckerbissen, und wer z. B. eine Forelle isst und den Kopf nicht ausschlürft , ver- steht nichts vom Fischessen. Als Entbindungsursachen für die Gehirndüfte functioniren hauptsächlich zweierlei Anstösse : 1 ) der innere geistige Anstoss; 2 ) die Sinnesreize und örtliche Reizungen innerlicher Nerven , die meist Schmerzreize" sind. Ich will mich hier über die Sache mehr nur im Allgemeinen, über den Sinnesanstoss aber etwas genauer äussern ; was von diesem gesagt wird, gilt so ziemlich auch vom geistigen Anstoss. Längst ist erwiesen, dass wir zweierlei Cerebraldüfte resp. Affecte zu unterscheiden haben. Ich nenne jetzt die Lustmodification die Freude kurzweg oder genauer die Seelenfreude, den betreffenden Duftstoff den Freudenstoff; die Unlustmodification nenne ich Angst kurzweg , oder genauer Seelenangst, den betreffenden Duftstoff Angststoff. Ob das Gehirn den einen oder den andern entbindet, ist wieder, wie überall, eine rein quantitative Frage der Reizstärke. Die Sache verhält sich folgendermassen : Sobald der geistige oder Sinnesanstoss einen gewissen Stärkegrad, den ich den Affectschwellenwerth taufe , überschreitet, findet eine nachweisbare Duftstoffentbindung statt. Hierbei ist 166 weiter zu unterscheiden : wird der Schwellenwerth des Affectes überschritten, so ist der ausgelöste Affect zunächst ein Lustaffect, weil der Gehirnseelenstoff in der Lustmodification entbunden wird. Wir können also die erste Affectschwelle die Lustschwelle nennen. Bei noch weiterer Zunahme der Reizstärke erreicht dieselbe endlich den Schwellenwerth des Unlustaffectes, weil jetzt der Gehirnseelenstoff in der Unlustmodification auftritt. Eine weitere Stufe der Reizstärke , die Zornschwelle , soll weiter unten besprochen werden. Hier zunächst einiges Objective über die betreffenden Duftstoffe beim Menschen. Wie schon aus dem voranstehenden Kapitel ersichtlich ist , kenne ich jetzt die beiden Gehirnduftstoffe beim Menschen vollkommen, auch aus eigener Erfahrung , sie sind leicht zu riechen, weil sie intensiv auf unsere Geruchsorgane wirken; insbesondere gilt dies von dem Angststoff, was uns mehrere sprichwörtliche Redensarten beweisen. So bezieht sich das Sprichwort „ Es stinkt in der Fechtschule" auf den stinkenden Angststoff, den ein Lehrer an einem Schüler riecht , wenn derselbe die Antwort schuldig bleiben muss. Zwei Reallehrer , frühere Zuhörer von mir, versichern mich, dass die Stärke des Gestankes in geradem Verhältniss zur Stärke der Lähmungs- Erscheinungen stehe. So schilderte mir ein Lehrer einen seiner Schüler als wirklich ominös ; denn sobald er denselben ernstlich anlasse , so verbreite sich eine Wolke von Gestank um denselben , und im gleichen Augenblick sei der Mensch völlig perplex, stehe mit schlotternden Knieen, hängenden Kiefern , kurz als Bild der höchsten Angst da, unfähig, einen zusammenhängenden Satz zu sprechen. Eine andere Redensart ist : „Er geht ab mit Gestank", wenn Jemand in Angst sich zurückzieht. Zierlicher sagt man auch: „Er verduftet". Der Volksmund wendet das Wort stinken auch für „schiefgehen“, „ einen schlimmen Ausgang nehmen" an , indem er im Augenblick , wo ihm das klar wird, sagt : „ Jetzt stinkt's" . Auf die Bezeichnung eines Menschen: „er steht in üblem Geruch“ oder „ er ist ein Stänkerer“ komme ich weiter unten zu sprechen. Ein Fall, bei welchem man den Angststoff sehr stark riechen kann, ist, wenn Jemand „ ohnmächtig“ wird, denn die „ Ohnmacht“ ist, wie ich jetzt sicher weiss, immer Angststoffwirkung. Ich will hier zwei Fälle , bei welchen ich den menschlichen Angststoff mit Bewusstsein roch , und deren einen ich in dem Artikel Entdeckung der Seele" kurz andeutete , etwas genauer schildern, weil sie auf mich mit der vollen Macht einer Bestätigung von bisher mehr Vermuthetem wirkten und gewiss auch auf den Leser ihren Eindruck nicht verfehlen werden. 167 Meine Frau und eines meiner Kinder wurden durch eine Gasexplosion in ihrer nächsten Nähe in ausserordentliche Angst versetzt. Meine Frau war einen Monat zuvor eines durch Ueberanstrengung erzeugten Nervenleidens wegen in einem Badeort. Der behandelnde Badearzt prüfte jeden Morgen den Harn und machte mich darauf aufmerksam, dass derselbe , wenn sie eine schlechte Nacht gehabt, jedesmal viel blasser sei als sonst. Ich sah mich hierdurch veranlasst , in gewissen Fällen selbst darauf zu achten, und da sie nach dem Schreck eben auch eine schlechte Nacht gehabt , so fiel mir ein eigenthümlicher, fremder Duft an dem Harn auf. Ich verglich damit den Duft meines Harns , der vollkommen anders und viel milder war. Ich prüfte weiter und da ich zwischen dem Harn des Kindes , das jenen Schreck miterlebte , und dem seiner Geschwister denselben ausgesprochenen Unterschied fand, war jeder Zweifel für mich beseitigt und der menschliche Angststoff entdeckt. Hieran reihe ich den Fall , in welchem ich zuerst meinen eigenen Angststoff roch : Es war dies bei Gelegenheit des S. 150 geschilderten Uebermüdungsaffectes. Ich dachte nach Eintritt desselben nicht entfernt an die Möglichkeit , dass ich selbst etwas riechen könnte (da mein Geruchsinn nicht allzu fein ist). Ich konnte. nun , wie stets in solchen Fällen , lange nicht einschlafen , und als ich zufällig die Decke so weit heraufzog, dass mir der Körperdunst in's Gesicht kam, fiel mir ein ganz fremder Duft auf, der an Fäcalduft erinnerte, aber doch ganz verschieden war, höchst unangenehm knoblauchartig. Ich war mir bald darüber klar , dass es kein Nahrungsduft sein konnte. Auch überzeugte ich mich mit völliger Bestimmtheit, dass der Duft aus Haut und Lunge komme, er hielt continuirlich an, fast zwei Stunden, bis ich endlich einschlief. Als ich Morgens erwachte , roch ich den Duft - ohne vorher daran gedacht zu haben beim Aufdecken des Bettes sofort wieder in voller Stärke. Endlich wurde ich durch Vergleiche darauf geführt, dass der Duft genau demjenigen entsprach , den ich bei kleinen Kindern (hinter den Ohren) fand , wenn sie weinten , nur stärker und schärfer. Damit war jeder Zweifel darüber beseitigt , dass dies mein Angststoff , und dass dieser bei dem Uebermüdungsact in der Nacht entbunden worden war. Dabei fiel mir auch ein bekanntes Sprichwort ein; statt „ Angst haben" : „er hat Juden oder führt Juden". Die Vorliebe der Juden für Knoblauchgenuss verleiht ihrem Ausdünstungsgeruch Knoblauch - Aehnlichkeit, und der Angststoff duftet entschieden knoblauchartig und was sehr merkwürdig ist es gilt das nicht blos vom Menschen, sondern von ganz heterogenen Thieren, ganz entschieden z . B. von der Ringelnatter , - 168 dann von der Knoblauchkröte (Pelopates fuscus), die ja davon ihren Namen hat , auch bei der Eidechse und dem Hund , und ganz colossal roch danache in Gürtel thier, das ich vor einem Jahre , einer Temperaturbeobachtung wegen, in einen engen Kasten steckte, ähnlich dem Koth eines Menschen, der Zwiebelkuchen gegessen hat, aber doch deutlich specifisch verschieden. Ich bin überzeugt, dass man noch bei vielen anderen Thieren den Duft ähnlich finden wird . Wo grössere Menschenmassen von Angstgefühlen befallen werden, wird die Wirkung eine überwältigende; dies ist besonders im Kriege vor der Schlacht und ganz besonders vor den ersten Affairen der Fall. Württembergische Officiere waren , wie mir mitgetheilt wurde , am Morgen vor der Schlacht von Wörth , ehe sie selbst eine Ahnung von dem Beginn einer Action hatten, durch eine Wolke von Gestank überrascht, die ihnen der Wind auf eine Entfernung von vier Stunden vom Schlachtfeld zugetragen hatte ; das ist ein Schicksal, dem auch der tapferste Soldat nicht entgeht. Der menschliche Angstgeruch gibt gewissen Oertlichkeiten ihre locale Geruchsfärbung. In Gefängnissen, Gerichtssälen , Krankensälen , in Schulzimmern tyrannischer Lehrer u. s. f. herrscht ein untilgbarer übler Geruch, selbst bei grösster Reinlichkeit. Der menschliche Freudenstoff ist weit weniger bekannt, weil er nicht so aufdringlich für die Nase ist , was überhaupt von vielen Lustdüften gilt und zu dem Satz geführt hat : bene olet, quod non olet. Es gibt, wie ich mich überzeugt habe, Menschen, die fast nur Stinkendes riechen. Ich habe auch kein Sprichwort entdecken können, das ihm seine Entstehung verdankte, aber er ist nicht blos leicht am Individuum in nächster Nähe zu riechen, sondern kommt auch dadurch zur Wahrnehmung , dass in einem Zimmer, in welchem eine fröhliche Gesellschaft beisammen ist , man äusserst selten von einem übeln Geruchseindruck belästigt wird, sondern durch Einathmung sehr bald gleichfalls in behagliche Stimmung versetzt wird. Unter die durch die beiden Gehirndüfte erzeugten reinen Affecte, die reine Seelenfreude und reine Seelenangst, habe ich dem in früheren Artikeln Gesagten nichts hinzuzufügen, dagegen verdient der Zorn hier noch einmal eine nähere Besprechung. Denn er ist der interessanteste und häufigste, also praktisch wichtigste Affect. Die erste Seite ist die Duftfrage : Wie duftet der Mensch im Zorn? Hier bin ich nun objectiv noch nicht im Klaren. Seit ich diesem eigenartigen Affect meine Aufmerksamkeit zugewendet, war ich merkwürdiger Weise noch nicht in der Lage, einen zornigen Menschen objectiv zu beriechen. Es hat das natürlich seine ganz 169 eigenthümlichen Schwierigkeiten , namentlich wenn man nicht so fein riecht, um die Sache aus einer gewissen Entfernung wahrzunehmen. Ich kann also nur berichten , dass mich einer meiner teinnasigen Gewährsmänner auf das Bestimmteste versichert : 1 ) dass der Ausdünstungsduft im Zorn sehr erheblich verstärkt sei , 2) dass der Duft nicht stinkend sei . --- - 99 Die nöthige Aufklärung erhielt ich bei einem eigenen ZornesAnfall. Ich bin danach in der Lage zu constatiren : Sobald eine grössere Menge von Unlustduft im Körper ist - ganz gleichgiltig ob exogen oder endogen befindet sich der Mensch in reizbarer" Stimmung, und wenn nun ein vielleicht sonst durchaus nicht die Zornschwelle erreichender Reiz erfolgt, bricht der Zorn los. So werden z. B. die Frauen während der Menstruation , bei der ein Unluststoff in ihrer Säftemasse frei ist, viel leichter zornig als sonst. Hierher gehören auch zwei Redensarten , welche vortrefflich die Sache bezeichnen : - Einen Menschen, der leicht in Zorn kommt und immer Streit anfängt, nennt man einen „, Stänker" oder „Stänkerer" und gebraucht das Zeitwort ,, stänkern" für „Händel anfangen". Daher gehört auch der Ausdruck „ er steht in üblem Geruch" , womit man einen Menschen meint , der händelsüchtig , jähzornig , reizbar und gewaltthätig ist. Hier bleibt es sich ganz gleichgiltig , warum der Mensch stinkt, denn wenn es auch blosse instinctive Antipathie ist , was den Menschen als „Stinker" bezeichnen lässt , so tritt eben die bei der Antipathie ge- schilderte, zu missliebigen Gefühlen und Handlungen führende Reizbarkeit ein, sei es beim Subject oder beim Object, die zu Hass und Feindschaft führt. Auch das Wort „ Stinkmalice" gehört hierher. Etwa 1/2 Stunde nach dem obigen Zornanfall schritt ich zur Prüfung desselben mit dem Chronoscop. Die Zifferreihe war: 73, 88, 72, 63 , 51 , 64, 65 , 75 , 70, 72 , also das Mittel 69,3-138,6 Ms., und die Differenz zwischen Maximum und Minimum 74 Ms. ! Es waren also alle Zeichen eines Affectes vorhanden ( namentlich in der grossen Differenz), aber eines gemischten ! Das Mittel ist zwar um 15 Ms. niedriger als in Seelenruhe, jedoch bedeutend höher als bei einem reinen Lustaffect ( siehe S. 130). Ich schritt nun zur Prüfung , ob die Ursache des Affectzustandes die Anwesenheit freier Duftstoffe sei und zwar mittelst des sichersten und promptesten Mittels : der Ozogeninhalation . *) Danach war die Zifferreihe: 80, 63, 77, 79, 69, 83, 82, 70, 87, 79, also Mittel 76,9-153,8 Ms., und Diff. zwischen Max. und Min. 48 Ms.! Kurz die Zifferverhältnisse der Seelenruhe waren wieder da

  • ) Ueber Ozogeninhalation werde ich später ausführlich sprechen .

170 und auch der Beweis geliefert , dass ein die Nervenzeit abkürzender Duftstoff beim Affect betheiligt war. Damit halte ich das Wesen des Zorns für völlig klargestellt : es ist ein gemischter Affect, bei dem ein hemmender Unluststoff und ein beschleunigender Luststoff zugleich thätig sind. Dabei sind aber drei Fälle auseinanderzuhalten : 1 ) Der Unluststoff ist schon vor dem Anlass zum Zorn, dem Reizmoment , vorhanden , wie bei mir im erwähnten Fall. Dann genügt ein mässiger Reiz , der sonst blos Lustaffect entbunden hätte, um den Zorn zu erzeugen. 2) Der Mensch befindet sich im Lustaffect , es ist also Luststoff frei und entsprechende Thätigkeit in Gang. Stösst nun letzterer auf Hindernisse, so wird die Collision zu einem Ueberreiz , der Unluststoff entbindet, und mit seinem Auftreten ist der gemischte Affect des Zornes gegeben. 3) Der Mensch ist in Seelenruhe somit duftfrei in dem Augenblick, wo ihn ein Reizmoment trifft . Hier ist es nun einfach eine Frage der Reizstärke, welche Affectform erscheint. Ueberschreitet der Reiz eine gewisse Stärke nicht, so wird nur Freudenstoff entbunden. Ueberschreitet er sie , so haben wir Folgendes zu unterscheiden : a) den Ort des Nervenapparates , wo der Reiz direct, also mit Maximalstärke wirkt ; b) andere Orte, wo er nicht direct, also mit geringerer Stärke wirkt . Es muss nun nothwendig eine bestimmte Reizstärke geben , bei welcher am Ort a) bereits Unluststoff , an den Orten b) dagegen noch Luststoff entbunden wird, und damit ist der gemischte Affect fertig. Nehmen wir einen möglichst einfachen Fall. Einem Menschen schlägt ein Ton an's Ohr, der so stark ist , dass er im Hörcentrum Unluststoff entbindet. Hieraus resultirt eine Erregung des Geistes , der nun seinerseits einen geistigen Stoss auf den Nervenapparat führt, der aber schwächer ist als der auf's Empfindungscentrum gefallene, also excitomotorischen Luststoff entbindet; damit sind wieder beide Duftstoffe frei, und der Zorn ist fertig. Dass es aber auch auf die Qualität des Reizes ankommt, ist aus Folgendem klar. Wie an anderem Orte gesagt wurde, wirkt ein disharmonischer Reiz viel stärker eiweisszersetzend als ein harmonischer, deshalb erzürnt man sich über unangenehme Dinge sehr leicht , d. h. man lacht seltener darüber. Angenehme , harmonische Eindrücke können aber ebenfalls eine solche Reizstärke gewinnen, dass Zorn entsteht Damit gewinnen wir für die Lehre von der Stärke der Sinnesreize einen neuen Schwellenwerth, die Zornschwelle , und wir hätten jetzt folgende Schwellenscala: 1 ) Empfindungsschwelle , 171 nachderen Ueberschreitung eine Empfindung ausgelöst wird ; 2) Affectschwelle, wobei sich zur Empfindung ein Affect gesellt. Affectschwellen gibt es dann in aufsteigender Ordnung drei : a) Lustschwelle, b) Zornschwelle, c) Angstschwelle. Dem Nichtfachmann will ich es an einem einfachen Beispiel klarmachen: Ein Ton muss eine bestimmte Stärke haben, um überhaupt gehört zu werden (Empfindungsschwelle) , aber er erzeugt jezt noch keinen Affect. Wird der gleiche Ton stärker, und ist es ein harmonischer Ton, so erzeugt er einen angenehmen" Eindruck (Lustschwelle) , denn im „ Angenehmen" liegt schon der Affect. Schlägt derselbe Ton plötzlich stark, etwa in Bassgeigenstärke, an das Ohr eines Unvorbereiteten, so springt derselbe zornig auf, um allenfalls den Störenfried zu züchtigen (Zornschwelle) . Hat der Ton endlich die Stärke eines Nebelhorns oder Kanonenschusses, so überschreitet er die Angst- oder Schreckschwelle, bis dahin, dass der Mensch ohnmächtig zusammenstürzt. Weiter: Ist der Ton harmonisch, so darf er schon ziemlich stark sein , um die Zornschwelle zu erreichen ; während ein disharmonischer Ton seinem Verüber schon bei viel geringerer Stärke eine Ohrfeige eintragen kann. - Ich füge nun bei, dass wir bei allen Affecten , nicht blos den rein cerebralen, mehr oder minder deutlich eine Zornschwelle unterscheiden können. Den Arbeitszorn habe ich schon S. 158 genannt ; er geht dem Eintritt der Uebermüdung stets voraus. Auch bei dem Verdauungsaffecte ist er öfters und zwar bei manchen Individuen besonders deutlich ausgesprochen : Verdauungszorn, der dem Eintritt der Verdauungsangst vorausgeht. Dann der Trunkzorn, bei Genuss von fuselhaltigen oder bouquetunbeständigen alkoholischen Getränken, wenn also im Getränke selbst Lust- und Unluststoff beisammen sind. Bei den Sexualaffecten haben wir den Brunstzorn , der eintritt , sobald der Befriedigung des Triebes sich ein Hinderniss in den Weg stellt; auch bei der blossen Liebe ist er sehr ausgesprochen. Verliebte Leute gerathen unter Umständen leicht in Zorn und zwar über den Gegenstand ihrer Neigung : Liebeszorn. In den Symptomen des Zorns ist die Gemischtheit sehr deutlich zu sehen in dem Ringen von Hemmung und Beschleunigung , dem Wechsel der Gesichtsfarbe von Roth und Blass, dem unregelmässigen, keuchenden Athem, der Unregelmässigkeit des Pulsgangs, der Unsicherheit der Bewegungen. Uebrigens zeigt der Zorn vielfache Variationen. Die eine Ursache der Variation ist einfach eine quantitative. Je stärker der Anstoss war, um so mehr wird der Angststoff überwiegen , und um so ausgesprochener sind die Hemmungs-Erscheinungen. Dies ruft dann die Symptome hervor, 172 - die man im Auge hat, wenn man sagt : „ er erstickt vor Zorn", resp . „er würgt den Zorn hinab, bis er daran erstickt" . Diese Bezeichnung knüpft an die Hemmung der Athembewegung an und mit Recht, denn diese bildet ein Moment der Gefahr: Mit der Hemmung der Athmung tritt nicht blos eine wirkliche Erstickungsgefahr ein, sondern es ist die Ausathmung der Affectstoffe behindert, und so dauert der innere Kampf der antagonistischen Duftstoffe und der von ihnen erregten antagonistischen Centren fort und kann zu wirklichem Tode führen, entweder zur Entseelung , d. h. das Nervensystem wird aller seiner präsenten Duftstoffe beraubt das ist der „ Nervenschlag" , oder es entsteht ein Blutschlag durch Steigerung des Blutdrucks . Dieser gefährlichen Wirkung der Athmungshemmung beim Stickzorn tritt die vorzügliche Wirkung verstärkter Respirations- Thätigkeit entgegen, weil hierbei die Duftstoffe ausgeathmet werden : Das Schreien, Sprechen etc. und insbesondere das Lachen. Wenn es gelingt was im Ganzen genommen nicht schwer ist - , den Zornigen zum Lachen zu bringen, so ist sein Zorn meist sofort gebrochen. Die qualitativen Unterschiede beim Zorn beziehen sich auf die bei den Temperamenten ( S. 74) geschilderten Zersetzbarkeitsverhältnisse des Eiweisses und die individuelle Qualität der Seelenstoffe ; so ist der Zorn des Cholerikers wegen der grossen Triebkraft seines Seelenstoffes eine viel gefährlichere Erscheinung als der des Sanguinikers. - Weiter will ich noch darauf hinweisen , dass beim Zorn die Intervention des Geistes ein sehr wesentlicher Factor ist, wie schon aus Früherem hervorgeht. Bei einem disharmonischen Eindruck ist das betreffende Empfindungscentrum der Ort der Unluststoffentbindung, und vom geistigen Stoss geht die Luststoffentbindung aus. Es kann aber auch bei Abwesenheit jeglichen Sinnesreizes, vom Geist allein ausgehend, Zorn ausgelöst werden, wenn der geistige Anstoss, der ja auch gewisse Nervencentra stärker und directer trifft als andere, die Zornschwelle überschreitet: geistiger Zorn. Zum Schluss ist noch zu bemerken , dass sich die Cerebralaffecte wegen der grossen Zersetzbarkeit des Hirn-Eiweisses sehr leicht allen andern Affecten beigesellen und das Bild desselben compliciren, und noch eines: Eine bekannte Erscheinung ist , dass bei den Cerebralaffecten, wie man sagt, die Extreme sich berühren : höchste Freude leicht in Zorn oder in tiefe Unlust umschlägt. Das ist eine sehr einfache Folge der Verhältnisse der Eiweisszersetzung. Je mehr sich die Reizstärke der Unlustschwelle nähert , um so stärker ist die Entbindung von Freudenstoff, aber auch um so näher der Stärkegrad des Reizes, bei dem die Unlustschwelle überschritten und Angststoff entbunden wird. 15. Die Sexualaffecte. Ihre Naturgeschichte ist schwierig zu erforschen. Schon die Beschaffung des nöthigen Beobachtungsmaterials , insbesondere bezüglich der fraglichen Duftstoffe , ist schwierig. Dazu kommt die Schwierigkeit der Beobachtung der betreffenden Affecte. Zwar hat ja hierzu jeder Ehegatte die Gelegenheit , allein selbst wenn er die nöthige Objectivität bei Vorgängen , bei welchen er subjectiv betheiligt ist , bewahrt , wird er doch äusserst schwierig unterscheiden können , was davon allgemein Giltiges ist , und was individuelle Eigenart ist worauf es in unseren Fragen gerade ankommt , weil ihm die Mittel zu Vergleichen fehlen. Sind nun auch diese Schwierigkeiten behoben und das Material vorhanden, so kommt noch die Behandlungsfrage in Betracht. Die Naturwissenschaften können und dürfen heutzutage nicht mehr unter der Decke spielen , sie bewegen sich im öffentlichen Leben, und ihre Ergebnisse sollen Gemeingut werden. Man kann nun nicht sagen, dass die Sexualfragen als esoterisches Wissen behandelt werden im Gegentheil : die ganze schöne" Literatur , und insbesondere „die hässliche", treten ja Tag für Tag diese Fragen mit einer unerschöpflichen Rastlosigkeit breit ; aber gerade darum , weil man gewöhnt ist , diese Fragen vom Standpunkt des Sinnenkitzels zu betrachten, ist es so schwer, sich die nöthige Aufmerksamkeit für die wissenschaftliche Behandlung zu erwerben. Demjenigen, der sich dieser Bemühung unterzieht, pflegt sich zum Wenigsten eine Meute geschwätziger Thoren witzelnd und spöttelnd an die Ferse zu hängen, und eine andere Sorte von Thoren , die da glauben , der Sittlichkeit werde besser gedient, wenn man solche Themate nicht bespreche , schleudert das Anathema gegen ihn , nicht bedenkend, dass für den Naturforscher oberster Grundsatz sein muss : „ naturalia non sunt turpia ", und dass Unkenntniss einer Sache die ge- 174 wöhnlichste Ursache ist, dass Jemand den Gefahren, die sie birgt, in die Arme taumelt. Für den Naturforscher steht ausser Frage: In den Sexualbeziehungen liegt das ganze Räthsel des organischen Lebens, der Knotenpunkt desselben , und diesen Knotenpunkt hat noch Niemand ernsthaft in Angriff genommen, man ist immer nur an der Oberfläche und darum herum beschäftigt gewesen. Den Fachmann , der die massenhafte embryologische Literatur sich vergegenwärtigt, wird dieser Ausdruck vielleicht überraschen, und doch ist es so , der Knotenpunkt ist die Begattung ; dann das, was zu ihr führt: die sexualen Instincte, Triebe und Affecte, und endlich das , was ihre nächste Wirkung ist: die Befruchtung. Mit letzterer ist eigentlich das Wunder schon geschehen ; und die morphologischen Veränderungen, die das Ei von der Befruchtung bis zum Erwachsenen durchmacht, sind verhältnissmässig sehr secundärer Natur. Ob DARWIN wirklich , wie mir einer meiner Correspondenten schreibt , mit Rücksicht auf die seinen Landsleuten eigene Prüderie die Sexualfrage umgangen habe und deshalb nicht weiter gekommen sei , will ich nicht untersuchen , so viel aber steht fest : ohne dass wir sie herzhaft angreifen, kommen wir nicht vom Fleck. Ich will es in vorliegender Schrift thun, selbst auf die Gefahr hin, verständnisslos verurtheilt zu werden von solchen, denen wissenschaftlicher Sinn abgeht, und thue es um so unerschrockener , weil ich das Glück hatte , ein ungeahnt reiches Material in die Hände zu bekommen. Die Besprechung meiner Seelenlehre in öffentlichen Blättern war Ursache , dass sich ein Mann mit mir in Verbindung setzte, dem ich das Meiste des im Folgenden Enthaltenen verdanke. Derselbe lebt jetzt zurückgezogen in Steiermark, schreibt mir, er sei literarisch nicht bekannt, wünsche auch nicht, seinen Namen in die Oeffentlichkeit gelangen zu lassen, da er alt und kränklich sei. Er habe Zeit seines Lebens sich anthropologischen und socialen, insbesondere auch wenn auch nicht als Fachmann -medicinischen Studien gewidmet und fast alle Länder Europa's, auch den ganzen Orient , bereist. Dabei sei er auf die Thatsache gestossen , dass bei manchen Völkern und Ständen, und gerade den civilisirtesten, die Sexualitäts - Verhältnisse eine ungemeine Rasseverschlechterung und Degeneration , sittliche und sanitäre Missverhältnisse erzeugen. Ein umfassendes Studium der einschlägigen Literatur habe ihn überzeugt , dass die Sexualitäts- Verhältnisse noch ganz ungenügend studirt, ja vielfach ganz falsch dargestellt seien. Er habe sich deshalb entschlossen , sie selbst zu studiren , verfüge über ein reichhaltiges handschriftliches Material und sei bereit, es 175 mir zur Verfügung zu stellen zu wissenschaftlicher Verwerthung. Ich ergriff diesen Vorschlag mit Freuden , da ich wusste , dass meine Seelentheorie einerseits Licht in diese Verhältnisse bringen, und jenes andererseits die wichtigsten Belege für meine Lehre enthalten werde. Dass diese Voraussetzung eintraf, davon wird sich der Leser in diesem und den folgenden Kapiteln überzeugen, denn fast alles, den sexualen Schilderungen zu Grunde liegende thatsächliche Material verdanke ich dem Scharfsinn , Spürsinn , der Beobachtungsgabe und unermüdlichen Ausdauer dieses seltenen Mannes, dem die Wissenschaft stets zu Dank verpflichtet sein wird. Ich nenne ihn Dr. M. Ich beginne die Schilderung der einschlägigen Verhältnisse mit der Betrachtung des weiblichen Geschlechtes, das uns Männern und das werden wohl die meisten meiner Leser sein objectiv am besten bekannt ist. - Wir können hierbei von der Altersstufe ausgehen, welche dem Eintritt der Geschlechtsreife vorausgeht, in welchem das Geschöpf zwar kein Kind mehr , aber auch noch keine reife Jungfrau ist, also sich in dem Alter befindet, in welchem der Deutsche es einen ,,Backfisch" nennt. Beriecht man ein Mädchen dieses Alters am Kopfe, so hat der Duft etwas Leeres , Fades, und eine Beobachterin hat sich geäussert, es dufte etwa wie ein „ Kautschukstöpsel" , was nicht übel bemerkt ist. Sammelt man mittelst eines Baumwollnetzes den Kopfduft, so überwiegt in demselben der Duft ranzigen Fettes ganz entschieden, man riecht fast nichts von feineren Bouquetten heraus; immerhin aber kann man an dem Duft einen jeden Backfisch von jedem andern unterscheiden , selbst wenn die Betreffenden Zwillingsschwestern sind : ein specifischer Seelenstoff ist also ganz entschieden vorhanden. An meiner allerdings noch kleinen Sammlung kann man sich ferner leicht überzeugen, dass allen Backfischen etwas Charakteristisches zukömmt, wodurch man sie sowohl von jüngeren Mädchen als von reifen Jungfrauen sicher unterscheidet. Ueber den letzteren Unterschied werde ich mich weiter unten äussern. Idiosynkrasisch ist zu sagen , dass der Ausdünstungsduft des Backfisches für ein männliches Individuum gleichen Entwickelungsalters unsympathisch ist , und umgekehrt. Für den reifen Mann ist der Duft ein indifferenter, und zwar merkwürdigerweise versetzt er ihn , wenn ein Affect vorhanden ist , in Seelenruhe. Ich führe zum Beleg aus meinem Messungsjournal folgendes Resultat an: Vor der Einathmung an einem betreffenden sehr stark duftenden Haarnetz war das Mittel meiner Nervenzeit aus 10 Messungen 142 Ms.; die Differenz zwischen Maximum und Minimum 56 Ms. 176 Nach Einathmung von 1 Minute war die Nervenzeit auf gewöhnlicher Seelenruhe, d . h. auf das Mass von 152 Ms. und 32 Ms. Differenz zurückgegangen; eine sofort vorgenommene, zwei Minuten dauernde Einathmung änderte das Mittel nur auf 151 Ms. ab , Maximum, Minimum und somit auch die Differenz blieben haargenau die gleichen, nämlich Maximum 168 , Minimum 136 , und bei diesen Ziffern ist - worauf ich hier als Beweis für die Genauigkeit der Messung hinweise bemerkenswerth : Unter 10 Messungen ist das Mittel aus Maximum und Minimum fast genau so gross wie das Mittel aus 168 +136 allen 10 Messungen : im obigen Fall 152. 2 - Die Qualität des Ausdünstungsstoffes ändert sich schon , ehe die erste Menstruation erscheint, d. h. einige Wochen zuvor, und es kündigt sich das Herannahen des Ereignisses auch noch durch ein sehr auffälliges Symptom an : Der nun auftauchende Duftstoff (Sexualduft) mischt sich natürlich der Ausathmungsluft bei und wirkt als Reiz auf die Schleimhaut der Athemwege. Im Kehlkopf äussert sich das durch den Eintritt einer Wachsthumsbewegung , die eine Veränderung der Stimmlage zur Folge hat (Mutiren der Stimme). Beim männlichen Geschlecht ist dieselbe viel auffälliger, allein sie fehlt auch beim Weibe nicht. Der Kehlkopf befindet sich zu dieser Zeit in einem gewissen Reizzustand , was zur Folge hat , dass die Singlehrer rathen , in dieser Zeit die Stimme zu schonen. Man hat bisher keine Erklärung für diese , ja auch bei den Geschlechtskrankheiten zum Ausdruck kommende Sympathie zwischen Geschlechtsorganen und Stimmwerkzeugen gehabt. Der Grund ist einfach der , dass die der Athmungsluft sich beimischenden Sexualdüfte die Schleimhaut des Kehlkopfs reizen. Ausserdem wird im Beginn der Geschlechtsreife durch den auftretenden Sexualduft die Nasenschleimhaut gereizt. Die Mädchen leiden in dieser Zeit gewöhnlich an einem hartnäckigen Schnupfen, krabbeln viel an der Nase herum, und ihr Ausdünstungsduft nimmt eine Färbung an , die ich mit einem derben aber treffenden Volksausdruck als „rotzig" bezeichne. Es ist eben der Localduft der Nasenschleimhaut , dem wir auch wieder in einem folgenden Kapitel beim kleinen Kinde begegnen werden. Es ist nun merkwürdig, wie die urwüchsige, sinnlich drastische Volkssprache dieses Stadium markirt: fast überall weist man einen Backfisch , der sich die Rechte einer Jungfrau anzumassen wagt, mit dem Ausdruck „Rotznase" in seine Schranken zurück. Aus dieser Uebergangsstufe fehlt mir leider das nöthige Beobachtungs- Material ; ich glaube aber annehmen zu dürfen, dass 177 man nun im Ausdünstungsduft bereits den neu auftauchenden Sexualduft wahrnehmen könnte , wenn auch gedeckt durch den ,,Rotzduft". Entschieden verändert ist aber das Bild , sobald die Nasenirritation abgelaufen und die erste Menstruation vorüber ist. Hierbei ist Folgendes zu bemerken : 1 ) Der ranzige Fettduft ist entschieden vermindert , was an den Haarnetzen meiner Sammlung Jedem auffallen wird. 2 ) Es steckt in dem Ausdünstungsduft ein neuer Duftstoff, ein Sexualduft, aber nur einer derselben, und zwar derjenige, welcher meiner Ueberzeugung nach seine Quelle im Eierstock hat. Dabei haben wir jedoch , wie bei allen Organdüften , wieder zweierlei Modificationen , die Lust- und die Unlustmodification , zu unterscheiden. Letztere stellt der Menstrualduft dar ; von diesem werde ich später abhandeln, zuerst soll der sexuale Lustduft in Betracht gezogen werden. Fassen wir zuerst die objectiven Erscheinungen in's Auge. Dr. M. schreibt mir : „ Ich nahm in reifer Jungfrauen Gesellschaft stets einen sehr feinen, milchig säuerlichen, mich erregenden Geruch wahr, der Backfischen völlig fehlt. " Das „ Milchige" stammt sicherlich aus den Brüsten , die um diese Zeit wachsen und sich entwickeln, was nothwendig mit einer eigenartigen, verstärkten Duftstoffentwickelung verbunden ist . Ueber den Duft, welcher meiner Ansicht nach dem Eierstock entstammen muss, schweigen die Berichte meines Correspondenten. Wenn ich die von Jungfrauen stammenden Haarnetze meiner Sammlung prüfe, so finde ich darin - mit meinem allerdings weniger feinen Geruchsorgan ein „ angenehmes" , fein würziges, aber schwaches Bouquet, das besonders deutlich wird , wenn ich es mit dem Backfischduft vergleiche. - Prüfe ich die lebende Person (z . B. meine eigene Tochter) , so finde ich, wenn sie in Seelenruhe ist , sehr wenig für meinen Geruchsinn Wahrnehmbares, sie ist merkwürdig geruchlos ; vor einiger Zeit aber hatte ich Gelegenheit , sie nach lebhaftem Spiel (Ballschlagen) zu beobachten, und da war mir aufgefallen, dass ihr Ausdünstungsduft besonders stark und eigenartig sei. Ich roch am Haar in auffallender Stärke einen äusserst angenehmen, prachtvoll würzigen Duft, der mich an ein bekanntes Backwerk mit Gewürznelken erinnerte und nebstbei etwas Spirituöses hatte, oder besser gesagt, etwas den Bouquetten des Weines Aehnliches. Dabei war Folgendes merkwürdig und bezeichnend : Während für mich der Duft sehr stark und von vortrefflicher Qualität war , fand meine Frau denselben „unbedeutend" nach Jaeger, Entdeckung der Seele. 12 178 quantum und quale. Ich bin nun überzeugt, dass das Meiste von dem, was ich roch, cerebraler Freudenstoff war, den ich von meinen jüngeren Kindern her gut kenne , aber ebenso überzeugt bin ich, dass ich dabei den Sexualduft wahrnahm; denn nur dieser konnte es sein, der den Unterschied in dem Eindruck des Duftes auf mich und meine Frau hervorrief. Soviel steht aber jedenfalls fest : Der Ausdünstungsduft der reinen Jungfrau im Gegensatz gegen Back- fisch und Frau ist , wenn nicht gerade ein Cerebralaffect vorhanden ist, von einer ganz ausserordentlichen Reinheit und fast bis zur Geruchlosigkeit gehenden Feinheit , und eben dieser Mangel an Duftstärke verleiht der Stube der Jungfrau jene Weihe, die in dem Cultus der „ unbefleckten , heiligen Jungfrau" ihren prägnantesten Ausdruck findet. Diese schwache Wirkung des Jungfrauenduftes steht in sonderbarem Contrast mit der äusserst heftigen Einathmungswirkung, die ich Seite 130 gekennzeichnet habe. - Das Volk denkt sich die Jungfrau so geruchlos , dass selbst ihre Winde noch geruchlos seien". Es wäre nun aber ganz falsch , zu glauben , diese Geruchlosigkeit sei ein Zeichen , dass die unschuldige Jungfrau sehr wenig Duftstoffe entbinde ; das ist nicht richtig. Es wird offenbar genug Duftstoff entbunden, aber derselbe wirkt eben fast nur auf dem Wege der Einathmung , dagegen schwach auf das Riechorgan. Alle gottbegnadeten Dichter ahnen das wenigstens. Das Trefflichste in dieser Richtung findet sich in GOETHE'S Faust, wo Mephistopheles zu Faust sagt : Will Euch noch heut in ihr Zimmer führen. Sie wird bei einer Nachbarin sein. Indessen könnt Ihr ganz allein An aller Hoffnung künft'ger Freude In ihrem Dunstkreis satt Euch weiden. Als Faust im Zimmer von Gretchen den Bettvorhang aufhebt, ruft er aus : und später : Was fasst mich für ein Wonnegraus ! Umgibt mich hier ein Zauberduft? Mich drang's, so grade zu geniessen, Und fühle mich in Liebestraum zerfliessen ! Sind wir ein Spiel von jedem Druck der Luft? GOETHE ahnt es also, dass Dasjenige, womit die Jungfrau auf den ihr „seelenverwandten" Mann wirkt, in der Luft" liegt, aber er kommt nicht auf den Gedanken, dass das durch die Einathmung und das Eindringen des Duftstoffes in das Blut wirkt. Zum Glück haben wir einen vollständig ähnlichen Fall in dem Stickoxydulgas (Lust- oder Lachgas) , man riecht dasselbe gar nicht, und doch 179 wirkt es durch Einathmung als energischer Luststoff. Von dem Mannesduft gilt für das Weib natürlich dasselbe , und so spricht man eben auf der einen Seite von Zauber und Hexerei , auf der andern Seite von Räthseln. Man lese z. B. in dem Buch meiner Landsmännin OTTILIE WILDERMUTH Lebensräthsel" (Stuttgart 1863) die Erzählung „ Liebeszauber", die ganz aus dem Leben gegriffen ist. Hier wird geschildert , wie drei Schwestern nach einander demselben Manne als Frauen zum Opfer fallen, trotzdem, dass er jede durch sein heftiges Temperament in's Grab bringt, und jede folgende sich vor ihm fürchtet wie vor einem Raubthier : Jede folgende verliebt sich aber wieder in ihn. Auch das ist in der Erzählung vollkommen naturhistorisch richtig und für meine Affectlehre bestätigend : der Mann ist sehr heftigen Temperaments. Sein Seelenstoff ist eben kräftig, überwältigend und wirkt dergestalt nicht nur auf das Weib , sondern auch auf ihn selbst. Daher kommt es auch, dass Wollust und Grausamkeit stets gepaart sind. Kehren wir nach dieser Abschweifung , die ich im Interesse von früher Gesagtem machen zu müssen glaubte, wieder zur Jungfrau zurück. Leider bin ich momentan nicht in der Lage, die Einwirkung des Jungfrauenduftes einer Braut auf ihren Bräutigam mit dem Chronoscop zu prüfen , hoffe aber noch , ehe das Buch zum Abschluss kommt , in diese Lage zu kommen. Ich habe inzwischen eine Prüfung der Duftwirkung auf mich vorgenommen, die immerhin so interessant ist, dass ich sie in extenso vorlege. Den ersten Versuch machte ich mit einem 14 Tage getragenen Nachthaarnetz eines mit meiner 17 jährigen Tochter in gleichem Entwickelungsalter stehenden und zweifellos noch unberührten Dienstmädchens, die schon als Backfisch in mein Haus kam. Ich habe diesmal je 10 Messungen gemacht, und zwar alles ohne Unterbrechung, und gebe im Folgenden die Mittel und Differenzen zwischen Maximum und Minimum : 1. Vor der Inhalation 2. nach 2 M. Inhalation 3. sofort ohne Inhalation Mittel. Maximaldiffz. 142,2 Ms. 54 Ms. 141,4 Ms. 82 Ms. 136,0 Ms. 64 Ms. 4. nach 4 M. Inhalation 139,2 Ms. 54 Ms. Die Differenzen in den Mitteln sind allerdings gering , aber doch deutlich bei 3 die excitomotorische Wirkung , und bei 4 die wieder eintretende Beruhigung. Ganz hübsch zeigt es sich bei der Maximaldifferenz , die bei 2 sehr gross ist , zum Beweis , dass ein Duftstoff störend in die Nervenmechanik eingreift. Bei 3 ist bereits die Ausgleichung bemerkbar und noch mehr bei 4. Den zweiten Versuch machte ich zwei Stunden danach am 12 * 180 lebenden Haar meiner Tochter selbst. Dieselbe war in völliger Seelenruhe, der Duft äusserst schwach. 1. Vor Inhalation Mittel. Maximaldiffz. 139,2 Ms. 34 Ms. 2. nach 3 M. Inhalation 134,6 Ms. 54 Ms. Höchst interessant ist hier die bis auf die Decimalen, also auf 1/10000 Secunde hinausgehende Uebereinstimmung des ersten Mittelwerthes mit dem von Nr. 4 der vorhergehenden Beobachtung ; nur die Differenz ist geringer, meine seelische Stimmung war also genau dieselbe wie vorher , nur ausgeglichen. Ich betrachte das als Beweis einer unbedingten Verlässlichkeit meiner Untersuchungsmethode. Dieser gegenüber gewinnt die Differenz zwischen 1 und 2 mit 4,6 Ms. und das Steigen der Maximaldifferenz um 20 Ms. die unbestreitbare Deutung der Anzeige eines allerdings sehr leichten Lustaffectes, von dem aber das ganz Gleiche gilt, was ich Seite 133 bei dem Versuch mit dem Haarnetzduft meiner Frau sagte. Vergleicht man diese beiden Inhalationsversuche mit dem , bei welchem ich Backfischduft benutzte (S. 176) , so ist die Differenz der physiologischen Wirkung schlagend. Die nächste Frage ist : Wie wirkt der Jungfrauenduft auf den Seelenzustand ihrer Erzeugerin ? Als ganz entschiedener Affectstoff, sobald die Entbindungsintensität schwankt. Dieses Schwanken ist ganz besonders charakteristisch, aber zugleich auch sehr begreiflich für den, welcher den Bau des Eierstockes kennt. Wenn die in derbem Gewebe eingeschlossenen GRAAF'schen Follikel sich ungleich auszudehnen anfangen, so muss das zeitweilig solche Störungen des Druckgleichgewichtes geben , dass sich daraus ein intensiver Reiz mit starker Duftstoffentbindung ergibt, während dieselbe nachlässt , sobald eine neue Gleichgewichtslage gefunden ist. Da der Reiz öfter die Unlustschwelle überschreiten wird, so ist der resultirende Affect ein Wechsel von Lust- und Unlustaffect und durch seine Ziellosigkeit charakterisirt. Dieser Zustand ist auch von Dichtern oft geschildert. Ich will es mit den Worten eines ungarischen Dichters GREGOR CZUCZOR in ungereimter Uebersetzung thun : Süsse Mutter, was wohl ist mir armem Mädchen? Aechze, seufze doch weshalb? nicht weiss ich's ; Mir im Aug' glüht Feuer, und das Herz pocht sehr, Ich vergess ' die Arbeit, mir entfällt der Faden. Geht Wer Abends unter meinem Fenster, bleibt dort Jemand stehen, Stockt auch gleich das Blut mir in dem Leibe, Schliesse fast nicht mehr das Aug' , und hab' doch viele Träume, Fühl's, ich glühe, matt ich bin und doch nicht krank, Gott, mein Gott, was wohl ergriff mich ? Sprich, o süsse, gute Mutter, du kannst's wissen. 181 Da dieser Affect völlig eigenartig ist, wie aus dem Folgenden noch ersichtlich , so verdient er einen eigenen Namen: ich nenne ihn den Unschuldaffect (primären Sexualaffect) . Die Frage ist nun : Wo wird dieser Affectstoff entbunden ? Meiner Ansicht nach rein nur im Eierstock, und ich bin überzeugt , es muss eine Methode geben , ihn auch aus dem ausgeschnittenen Eierstock zu entwickeln. Nun komme ich zu einem merkwürdigen Punkt Es ist Thatsache, dass mit dem Mädchen zwei Veränderungen vorgehen ; 1 ) wenn es sich verliebt und 2) wenn es durch den Begattungsact zur Frau geworden ist. Diese beiden Dinge sind scharf auseinander zu halten. - - Mit dem Act des Verliebens in eine bestimmte Person ändert sich der Ausdünstungsduft des Mädchens , gerade wie bei einer Blume, wenn sich die Knospe öffnet. Die Dichter haben wirklich vollständig naturhistorisch Recht, wenn sie - und es gilt das von den Sprachen fast aller Völker die Mädchen mit Blumen vergleichen, HEINE nennt sie z. B. geradezu Menschenblumen; in Ungarn nennen sich sogar Liebesleute gegenseitig Rosza (Rose) . *) Ob der Duft qualitativ anders ist, als vor dem Act des Verliebens , konnte ich von meinem Correspondenten noch nicht erfahren, aber sicher ist, dass er quantitativ anders ist, er ist weit stärker. Ich stehe aber nicht an , zu behaupten: er ist auch qualitativ anders . Hier muss ich aber etwas weiter ausholen, da mehrere Umstände dabei in Betracht kommen. In dem Artikel 99 Physiologische Briefe" (S. 31 ) habe ich von der aphrodisischen Differenz gesprochen und gesagt , dass zwischen Mann und Weib ein ähnliches Verhältniss bestehe , wie zwischen einem Raubthier und seinem Beutethier. Das ist nun beim Menschen vollständig deutlich , wenn es sich seitens des Mädchens um die erstmalige Liebe handelt , während später das nicht mehr der Fall ist. Während nämlich der Jungfrauen- Duft auf den Mann, „, dem sie es anthut", im höchsten Masse als Luststoff wirkt , wie der Duft des Beutethieres auf das Raubthier, ist die

  • ) Wie exact physiologisch richtig dies ist , kann ich jetzt ebenfalls mit Ziffern belegen. Seite 130 habe ich mitgetheilt , dass meine Nervenzeit durch Inhalation des Haarduftes meiner Frau von 152 auf 109 Ms. im Mittel und

von 42 auf 88 Ms. Maximaldifferenz abgeändert wurde. Am 14. Juni machte ich den Versuch mit einer Rose. Hier das Resultat. Vor der Inhalation Mittel aus 20 Acten 142 Ms., Maxdiff. 56 nach 4 Min. Inh. وو "" 99 " 109 Ms., Diff. 33 Ms., "" 120 +64 Ms. Das Mittel ist also bis auf die Millsecunde genau wie beim Haarduft !! 182 Einwirkung des Mannesduftes auf das Mädchen, „dem er es anthut" , angststoffähnlich , aber doch wieder etwas verschieden ; es ist ein gemischter Affect. Das Mädchen ist geängstigt , aber wonnig geängstigt. Auch die objectiven Symptome zeigen diese Mischung: Es erröthet, glüht (Luststoffwirkung) , zittert und bangt wie vor einer Gefahr, hat Herzklopfen (Lustwirkung), aber dasselbe ist nicht leicht , sondern mit dem Gefühl der Schwere verbunden (Hemmung durch Angststoff) , es bekommt nasse Handflächen (Angstschweiss). Ich verweise z. B. auf die jüngst erschienenen Memoiren der RACOWITZA , wie sie ihre ersten Begegnungen mit LASALLE beschreibt, wem nicht wie mir ähnliche Fälle aus seiner Umgebung bekannt sind. - -- Ich deute die Sache so : Der Duft des Mannes ist für das Mädchen eigentlich Luststoff , allein er wirkt das erstemal als Ueberreiz , sodass nebstbei der eigene Angststoff des Mädchens entbunden wird , und daher der gemischte Affect. Es ist wieder ganz ähnlich wie bei der Einwirkung alkoholischer Getränke: Wer sie erstmals trinkt, leidet ebenfalls unter dem Ueberreiz , während bei wiederholtem Trinken dieses Moment wegfällt. Wenn die Geliebte mit ihrem Liebhaber oft zusammen war, fällt die Angst auch weg, der Affect ist jetzt reiner Lustaffect. Wir können also den Affectzustand bei den ersten Begegnungen zweier „instinctiv" zu einander passenden Liebesleute so bezeichnen : Es entstehen zwei entgegengesetzte Affecte : ein exogener Lustaffect, durch Einathmung des partnerischen Duftes, und ein endogener Affect, der, weil der Reiz bald über, bald unter der Unlustschwelle ist, bald Lust, bald Unlust ist. Ein zweiter Grund, warum das verliebte Mädchen nicht mehr im gleichen Affectzustand ist , wie das ganz unschuldige , ist der, dass mit dem Vorhandensein eines bekannten Objectes der Liebe eine geistige Thätigkeit sehr intensiver Art , bestehend in dem Denken an und das Sorgen um den Geliebten , beginnt. Dieser geistige Anstoss wirkt auf den Nervenmechanismus eiweisszersetzend, also Affect- und Duftstoff entbindend. Jetzt sind in dem Mädchen stets zwei Quellen der Duftentbindung im Gang : nämlich zu dem Sexualduft, den wir oben geschildert, und der den Unschuld- affect erzeugt, gesellt sich der Cerebralduft. Dadurch ist der Duftim Ganzenjetzt bedeutend verstärkt, wie bei der geöffneten Blume; er muss aber auch jetzt qualitativ anders sein, weil die Cerebraldüfte anders duften als die Sexualdüfte. Das ist der Duft , von dessen Wahrnehmung bei meiner Tochter ich S. 177 sprach , und den der Geliebte zu riechen bekommt, wenn er sein Mädchen küsst und herzt, und der wie Champagner auf ihn wirkt : 183 Himmelhoch jauchzend , Zum Tode betrübt, Glücklich allein Ist die Seele, die liebt. Das ist völlig begreiflich, nach dem, was ich im vorigen Kapitel über die Schwellenwerthe der Nervenreizung sagte. Je näher die Reizstärke der Unlustschwelle liegt, um so stärker ist die Luststoffentbindung, um so leichter wird aber auch die Unlustschwelle überschritten, und schlägt die Stimmung in's Gegentheil um. Wollen wir nun den soeben geschilderten Affectzustand , in dem sich ein verliebtes Mädchen befindet , mit einem technischen Ausdruck belegen, so können wir ihn etwa secundären Sexualaffect oder bräutlichen Affect nennen. Nun müssen wir aber wohl unterscheiden zwischen erstmaligem Verlieben und zweitmaligem. Beim letzteren fällt das Angstmoment der erstmaligen Begegnungen weg, weil das Moment des Ueberreizes fehlt. Ein Mädchen , das sich zum zweitenmal verliebt, ist an die Einathmung sympathischen Männerduftes bereits gewöhnt. Sie wird zwar auch noch „ berauscht" , aber es ist wie beim Trinken : ein späterer Rausch hat nicht mehr den unangenehmen , dem Ueberreiz entspringenden Beigeschmack, wie der erste. Ehe wir weiter gehen, müssen wir uns aber auch noch nach dem Verhalten des Mannes umsehen. Auch hier sind zwei Fälle zu unterscheiden. Kennt er das „ Weib" noch nicht , so geht es auch bei ihm nicht ohne die Symptome des Ueberreizes ab, und er verfällt gleichfalls in den gemischten Affect der „, wonnigen Angst", er ist das, was man den blöden Schäfer" nennt. Er erröthet, zittert, hat Herzklopfen, Angstschweissanflüge u. s. f. , weil eben auch in ihm der exogene und endogene Affectstoff zugleich thätig sind. Kennt er dagegen das Weib bereits , so stürzt er sich ,,wie der Habicht auf die Taube". Weil in diesem Fall bei dem Mädchen der Ueberreiz durch die Plötzlichkeit und Intensität der Einathmung des Männerduftes und durch die grössere Stärke des geistigen Anstosses viel kräftiger ist als bei der vorsichtigen Annäherung eines „blöden Schäfers", so kommt bei ihr der Angststoff so stark zur Enbtindung , dass die Lähmungserscheinungen überhand nehmen, und sie ein willenloses Opfer des Mannes werden kann. Das erklärt , wieso gerade die züchtigsten , besterzogensten Mädchen, denen man es entfernt nicht zutrauen sollte, das Opfer eines Verführers werden können : sie werden eben durch die übermässige Einathmung des Männerduftes und Angststoffentbindung vollkommen willenlos , wie ein schwer Betrunke- 184 ner und Kataplektischer, der Alles mit sich anfangen lässt . Mein Correspondent schreibt : ,,Sie lässt sich küssen, bleibt selber aber kalt und zittert, denn sie ist so unter seinem Bann, dass sie sich auch von ihm tödten liesse. “ Man hört öfter die Behauptung aufstellen : es sei unmöglich, dass ein Mann ein Mädchen zu Falle bringen könne , wenn sie nicht selbst eine Begattung wünsche , d. h. wenn sie nicht wolle, denn es genüge ja der geringste Kraftaufwand, um die Begattung mechanisch unmöglich zu machen. Man erzählt sich namentlich, Napoleon habe einen Richter drastisch von der Unmöglichkeit der Nothzucht überzeugt , indem er die Scheide seines Degens hielt und den Richter ersuchte, zu probiren , ob er den Degen hineinstecken könne, wenn er, der Kaiser, nicht wolle. Das ist radical falsch. Physisch kann sie allerdings nur bei sehr überlegener Kraft überwältigt werden , aber sie wird „seelisch" überwältigt und zwar in zweifacher Weise. Wenn der brünstige Mann Widerstand findet , so geräth er nach dem , was ich früher sagte , in Brunstzorn; jetzt wird sein Ausdünstungsduft beträchtlich verstärkt, und dieser Duft wirkt in der unmittelbaren Nähe geradezu chloroformirend auf das Mädchen. Das Zweite ist , dass das Mädchen durch Angststoffentbindung in Schrecklähmung verfällt. Damit ist jeder Einfluss des Geistes absolut ausgeschlossen und gerade bei den keuschesten , in gänzlicher Unwissenheit von diesen Dingen aufgewachsenen Mädchen muss die Duftnarkose und die Kataplexie am raschesten eintreten. Sie sind also der Gefahr viel mehr ausgesetzt als Mädchen , die durch gesellschaftlichen Verkehr mit jungen Männern an die Einathmung von Männerduft und auch geistig an den Umgang mit jungen Männern gewöhnt sind, sich also auch leichter die geistige Herrschaft über ihren Körper bewahren. Wenden wir uns nun zur zweiten seelischen Entwickelungsphase des Weibes, in die sie mit der ersten Begattung, der Entjungferung tritt. Ueber diesen Act habe ich von meinem Correspondenten gleichfalls ausführliche Mittheilungen, ich will die eine im Auszug hierher setzen. Er schreibt : „ Die noch nicht gebrauchte Jungfrau , die noch keine Ahnung von dem Begattungsact hat, gleicht einer elektrischen Batterie, welche durch die erste Begattung für immer entladen wird. Das Mädchen ist, wenn die Sache regelmässig verläuft, Anfangs theilnahmlos . Manche lacht sogar unter Umständen über die komische Situation schreit dann meist entsetzt über den Schmerz der Hymen- 185 sprengung , verstummt aber , sobald die Injaculation erfolgt, und wird jetzt plötzlich selbst leidenschaftlich (Wollustaffect) , umarmt den Wonnespender krampfhaft und will ihn gar nicht loslassen : Hiermit entladet sich die Batterie für immer. Die raffinirten Verführer fröhnen dieser Leidenschaft nicht wegen der mechanischen Verhältnisse, sondern wegen dieser merkwürdigen elektrischen Entladung , die ganz allein nur beim ersten Coitus stattfindet und schon dem zweiten fehlt. " Die Erklärung dieser mir auch von mehreren anderen Seiten bestätigten Thatsache, dass die Empfindungen bei der Entjungferung anders sind als bei jedem folgenden Acte, werde ich weiter unten geben, denn zuerst muss noch eine andere Seite besprochen werden. Das Merkwürdige und bisher von der Wissenschaft wie alle derlei Dinge völlig unbeachtet Gebliebene ist : die Frau duftet qualitativ ganz entschieden anders als die Jungfrau , und diese Aenderung tritt mit dem ersten Begattungsact ein. Mein Correspondent schreibt mir: „Die coitisirte Jungfrau duftet sofort anders, leidenschaftlicher und weniger blumig als gewürzhaft. Ich könnte im Dunkeln durch den Geruch ein Mädchen von einer Frau unterscheiden. Die Frau ist auch von jetzt an wärmer am ganzen Leib als die Jungfrau. " Das Novum verräth sich auch idiosynkrasisch , wie jedesmal , wenn ein neuer Duftstoff im Körper auftritt : das Weib verhält sich der Aussenwelt gegenüber anders , die Beziehungen zu den Speisedüften und sonstigen Düften sind verändert , „ sie sieht die Welt mit ganz andern Augen an". Der ungarische Dichter PETŐFI hat diese idiosynkrasische Veränderung nach der Entjungferung vor Augen in seinem Gedicht „ Zaubertraum " : „Schau um Dich ! " sagte das Mädchen nach erstem Kusse: „Siehst Du die Wandlung? Ich weiss nicht wie so und warum? Doch jetzt sind Himmel und Erde völlig anders, Blauer der Himmel, strahlender die Sonne, Kühler unter den Bäumen dort der Schatten Und röther die Rose, duftender die Luft. Mich dünkt, als befände ich mich in anderer Welt. " ,,Anders ist die Welt ! anders ! nicht so , wie sie war!" Erwiderte ich, oder haben nur wir uns verändert?" Doch wie's auch sei, was sollen wir drüber grübeln , Da die Wandlung uns Segen brachte. Also es ist mit dem ersten Contact ein neuer Duftstoff- ich nenne ihn den Frauenduft im Gegensatz zum Jungfrauenduft auf die Bühne getreten, und wir fragen, wo ist seine Entbindungsstätte ? Etwa der Eierstock ? Sicher nicht, denn ich glaube nicht, 186 dass ein und dasselbe Organ zuerst einen und dann plötzlich dauernd einen ganz andern Duft zu entbinden vermag. Wenn also der Jungfrauenduft dem Eierstock entstammt , so muss der Frauenduft ein anderes Organ zur Quelle haben oder umgekehrt. Letzteres ist nicht denkbar. Die unzweifelhaft richtige Erklärung ist folgende : Da die Duftstoffentbindung ein Symptom lebhafteren Stoffwechsels, also lebhafterer physiologischer Functionirung ist, so muss die Quelle des Frauenduftes ein Organ sein, welches erst mit der Begattungsthätigkeit in höhere physiologische Function tritt, während es vorher gleichsam functionslos war. Damit ist natürlich der Eierstock ausgeschlossen, denn dieser hat mit dem Eintritt der Pubertät seine Thätigkeit aufgenommen. Dagegen haben die übrigen Sexualtheile, nämlich die Begattungsorgane (vulva, Scheide und Gebärmutter), die bisher so gut wie functionslos waren, ihre Thätigkeit aufgenommen, und somit halte ich diese für die Quelle des Frauenduftes. Dies wird auch fast bis zur Evidenz aus dem bewiesen, was mir von meinem Correspondenten versichert wird : „Während die Geruchlosigkeit der Jungfrau nicht blos im Allgemeinen, sondern speciell von ihren äusseren Geschlechtstheilen gilt, duftet bei der Frau kein Körpertheil so stark wie ihr Schoss. Aber wohlgemerkt : wir haben hier zweierlei zu unterscheiden: 1 ) den Theil des Frauenduftes , der in das Blut gelangt und durch Lunge und die ganze Hautoberfläche abdünstet , und 2) den Theil, welcher direct aus dem Schoss aufsteigt : letzterer ist nämlich (ganz ähnlich dem Achselduft) gemischt mit den flüchtigen Fettsäuren , die den dortigen Smegmadrüsen entstammen, und, bei Unreinlichkeit, mit anderen Gährungsdüften. Nun können wir auch zur Erklärung der Thatsache schreiten, dass der erste Begattungsact ganz andere Erscheinungen zeigt, als jeder folgende. Hierbei muss ich aber etwas über den Begattungsvorgang selbst sagen. Jede Frau fühlt, auch bei allen späteren Acten, die Ausspritzung des Samens als den Erguss einer warmen Flüssigkeit. Was ist diese Wärme? Sicher keine objective. Die absolute , mit dem Thermometer messbare Wärme im Innern des Körpers ist beim Manne und einer schon oft begatteten , also in Wollustaffect gerathenden Frau so gleich , das Tastgefühl der inneren Theile zugleich so schwach, dass solche Unterschiede, wie sie vorkommen könnten, nicht gefühlt werden. Zum Ueberfluss kommt uns die Angabe alter Schriftsteller zu Hilfe , dass Frauen , die sich mit Hunden sodomitisch vergingen , den Samen der Hunde „ eiskalt“ fühlten. So stehe ich denn nicht an, zu erklären, dass es sich hier nicht um objective Temperaturen , sondern um subjective, um 187 Durchblutungsschwankungen handelt, und dass das auslösende Moment der Samenduft, die aura seminalis, ist. Sympathische Düfte bewirken auf der äusseren Haut Röthung und Wärmegefühl, (ob durch Einathmung oder direct, lasse ich zunächst dahingestellt) ; antipathische Düfte dagegen wirken auch auf der Haut eiskalt und blassmachend. So sage ich denn : die Wärme, die das Weib bei der Ejaculation fühlt, ist Folge einer Erweiterung der Blutgefässe in den Geschlechtstheilen, die von dem Duftstoff des Samens ausgeht. Bei dem erstmaligen Begattungsact, bei dessen Beginn die Begattungsorgane noch blutarm sind, bringt der Samenduft als völlig ungewohnt eine so plötzliche Erweiterung der Blutgefässe und eine so rasche Schwankung des Blutdruckes und der Blutvertheilung hervor, dass es den Körper wie ein elektrischer Schlag durchzittert , denn es erfolgt mit der Blutschwankung sofort auch eine starke Cerebralduft- Entwickelung, die ebenfalls schlagartig empfunden wird. Dieses Gefühl ist nun schon beim zweiten Coitus einfach deshalb unmöglich , weil die Blutgefässe von Scheide und Gebärmutter nach dem ersten Act nicht mehr auf ihr ursprüngliches Volumen zurückgehen, sondern dauernd erweitert bleiben, ähnlich wie die Lungenblutgefässe eines Neugeborenen nach der ersten Einathmung. Dass das nicht blose Vermuthung ist, lehrt die Betrachtung der Schamlippen : Bei der Jungfrau klein und kaum prominirend , sind sie vom ersten Act an vergrössert , blutreicher. Somit hat das Sprichwort recht: 99Gott macht das Mädchen, der Mann die Frau. " Mit der Schwangerschaft tritt die Frau in ein neues seelisches Stadium , signalisirt durch Aenderung des Ausdünstungsduftes und der idiosynkrasischen Beziehungen , worüber ich mich schon in dem Aufsatz ,, Entdeckung der Seele" geäussert habe. Ich habe dem dort Gesagten jedoch noch hinzuzufügen, dass hier nicht blos die Duftstoffe der Leibesfrucht das seelische Bild ändern, sondern auch der Milchduft , der sehr früh, lange vor Beginn der eigentlichen Lactation auftritt. Dieser dauert auch nach der Entbindung fort , und charakteristisch ist gegenüber der Frau , die noch nicht concipirt hat , dabei der Umstand , dass von der ersten Empfängniss an, auch im nicht schwangeren Zustand, die Gebärmutter einen erhöhten Stoffwechsel zeigt, und dass der Frauenduft am stärksten entwickelt ist bei regelmässig fortgebärenden Frauen, während er bei unfruchtbar bleibenden Frauen stets gering ist und bei alten Jungfern noch geringer. Von hier aus können wir jetzt auch zweierlei verstehen : Erstlich , dass der Wollustaffect der höchste , stärkste Affect ist, der bei einem lebenden Wesen vorkommt. In der Frau wirken 188 hier vereint: 1 ) der Eierstockduft ; 2) der Frauenduft, der, wie der erste, durch den mit der Friction verbundenen Blutandrang zu den Sexualorganen in bedeutend verstärktem Masse zur Entbindung gelangt ; 3 ) der Freudenstoff des Gehirns; 4) die durch die vermehrte Muskelarbeit zur Entbindung gelangenden Muskeldüfte ; 5) die eingeathmeten Mannesdüfte , deren es ja ebenfalls mehrere sind. - Beim Mann kommen natürlich ebenfalls seine eigenen Düfte (Cerebralduft , Muskelduft , Brunstduft) und die durch Einathmung wirkenden obigen Düfte der Frau zur Geltung. Dieses Ensemble kommt bei keinem andern Affect vor. Zweitens erklärt sich zwar nicht allein , aber zum grossen Theil daraus , dass die Frau überhaupt viel leichter in Affect zu versetzen , afficirbarer ist , als der Mann. Wie ich schon früher sagte , tritt der eigentliche explosive Affect erst ein , wenn die Menge der freien Duftstoffe im Körper steigt ; bleibt der Stand derselben gleich hoch, so tritt der Affectzustand durch Gewöhnung an denselben, was wahrscheinlich auf einer, wenn auch sehr lockern, Bindung der freien Seelenstoffe durch das Organ- Eiweiss beruht , zurück ; aber es genügt jetzt ein geringer Anstoss , um gleichsam das Affectmass voll zu machen, weil die locker gebundenen Seelenstoffe viel leichter wieder frei werden , als bei der erstmaligen Eiweisszersetzung. Das Weib ist eben , wie der Sprachgebrauch wieder völlig richtig sagt , seelischer als der Mann. Ich muss übrigens hier noch etwas anführen: zu Der Mann hat ja Geschlechtstheile so gut wie das Weib, und der Massenunterschied ist nicht so gross , dass das für die Menge der zur Entwickelung kommenden Brunstdüfte erheblich in's Gewicht fallen könnte. Ich glaube, die Ursache, warum die Sexualdüfte der Frau in ihrem Körper eine viel kräftigere Rolle spielen, liegt einem grossen Theil wenigstens noch darin, dass die Generationsorgane der Frau alle in der Bauchhöhle liegen , beim Mann ausserhalb. Das hat zweierlei zur Folge : 1 ) befinden sich die Sexualorgane der Frau in einer constant höheren Temperatur, als die der Abkühlung unterliegenden Organe des Mannes , was für die Duftstoffentbindung sicher sehr in die Wagschale fällt. 2) Von den Brunstdüften des Mannes kommt, der freien äusserlichen Lage der Organe wegen, eine erhebliche Menge zur directen Ausdünstung auf der Hautoberfläche (der Hodensack hat bekanntlich eine sehr stark duftende Ausdünstung) ; bei der Frau dagegen gelangt ein relativ grösserer Theil derselben, namentlich aller Eierstock- , Uterusund Scheideduft, unausweichlich zuvor in's Blut und erst von da nach aussen. Nehmen wir nun Alles zusammen : die grössere Masse der weiblichen Geschlechtsorgane, zu denen ja auch die Brüste ge- 189 hören , die innerliche Lage und die grössere Zersetzbarkeit des Frauen-Eiweisses, so begreift sich : 1 ) warum die Frau viel stärker duftet als der Mann und 2 ) viel stärker mit Seelenstoffen geladen ist. Damit ist übrigens das Bild der weiblichen Sexualaffecte noch nicht abgeschlossen , es fehlt noch der Menstruationsvorgang. Es ist volksbekannt, dass die weibliche Frau während der Menstruation einen ganz eigenthümlichen , widerwärtigen , an alte Häringe erinnernden Ausdünstungsduft hat , an den sich mancher vielleicht zum Theil begründete Volksglaube knüpft : In dieser Zeit soll z. B. die Frau keine Butter stossen , keine Blumen giessen und keine Gartengeschäfte verrichten , weil die Pflanzen verderben u. s. f. kurz , der Duft ist unangenehm und rechtfertigt die Bezeichnung ,,unrein", weshalb ja auch der Vorgang ,, Reinigung" genannt wird. Weiter ist bekannt, dass die Frau in dieser Zeit afficirt ist : Menstruationsaffect. Da die Menge der Duftstoffe ganz allmählich zunimmt, so verläuft derselbe mehr als Stimmung, oder besser gesagt , physische Verstimmung ; als in dieser Zeit ist die explosive Afficirbarkeit bedeutend gesteigert , wie jeder Ehemann aus Erfahrung weiss. Der Affect gehört stets in die Kategorie der Unlustaffecte, Auf dem sexualen Gebiet verläuft die Sache bei der „ Frau" so , dass kurz vor Eintritt der Menstruation die Begattungslust deutlich gesteigert ist , mit dem Eintritt derselben schlägt die Sache in ihr Gegentheil um, kann sogar soweit gehen, dass sie den Mann nicht riechen kann , schon durch seine Gegenwart inhalatorisch gereizt wird. Ist die Menstruation vorüber, so tritt wieder das Gegentheil ein : die Frau ist zu keiner Zeit begattungslustiger als jetzt. Während der Menstruation sind , wie jedes Mal, wenn ein neuer Affectstoff auf's Tapet tritt, die idiosynkrasischen Beziehungen zu den Speise- und sonstigen Düften und der ganzen Aussenwelt verändert. Die Quelle des Menstruationsduftes ist zweifellos der Eierstock, und derselbe verhält sich zum Jungfrauenduft gerade so , wie sich der Gehirnangststoff zum Freudenstoff verhält , er ist eben ein Unluststoff, der stinkt und Unlustaffect (Brunstangst) erzeugt, während der erstere ein Luststoff ist und einen Lustaffect (Brunstfreude) hervorruft. Dass der Brunstangst die Brunstfreude vorangeht und folgt, hat seinen einfachen Grund. Durch das Anschwellen des reifenden Ei-Follikels, vielleicht unterstützt durch lebhaftere Emanation der aura ovulalis, entsteht ein vermehrter Blutandrang zum Eierstock, also vermehrter Stoffumsatz, demnach vermehrte Duftentbindung. So lange die Congestion mässig ist, wird der Eierstockduft als Lustmodification frei, bis die Reizstärke die Unlustschwelle überschreitet 190 dann tritt der Umschlag in die Angstmodification ein. Lässt die Congestion nach, so sinkt die Reizstärke wieder unter die Unlustschwelle herab ; es findet starke Lusts toffentbindung statt, und dies dauert deshalb länger an, weil das ausgetretene Ei als reizender Körper fortwirkt. Es versteht sich von selbst, dass mit Abschluss der Involution alle diese sexualen Düfte und damit alle echten sexualen Affecte von der Schaubühne abtreten ; es wird denn jetzt auch der Ausdünstungsduft der Greisin wieder so fad und leer, wie der des Backfisches , jedoch ist er qualitativ himmelweit von dem des letzteren verschieden ; er ist trocken, etwas säuerlich und moderig, aber durchaus nicht unangenehm (siehe Näheres bei Altersdüfte), ja es kommt vor , dass er bei Greisinnen noch so angenehm ist, dass er anziehend auf Männer wirkt. So berichten französische Schriftsteller von ihrer anmuthigen , liebenswürdigen , geistvollen und durch ihre Schönheit berühmten" Ninon de l'Enclos , die stets von Natur, auch ohne Beihilfe der Kunst, so lieblich parfümirt gewesen sei, dass sie dadurch noch in ihrem hohen Alter Liebhaber anzog. Hier verdienen auch die Freudenmädchen eine Erwähnung. Mein Correspondent schreibt mir darüber : "2 Freudenmädchen von Beruf halten sich schon aus Erwerbsrücksichten stets ungemein rein, viel reiner als verheirathete Frauenzimmer. Schon deshalb sind sie geruchloser und wirken weit weniger erregend auf den Mann. Sind sie lange dabei , so haben sie meist eine sehr schöne, reine, aber schlangenkalte, weisse Haut, ohne alles natürliche Fett , ohne Geschmeidigkeit und fast ohne allen Geruch. Nun haben aber Alle die verrückte Idee , sich durch Pomade und sonstiges Parfüm besonders annehmbar zu machen, wodurch sie entgegengesetzt den Eindruck einer parfümirten Leiche machen, wozu die Kälte ihrer Haut wesentlich beiträgt. Nur ganz stumpfsinnige Männer und nur , wenn ihr Geschlechtstrieb stark erregt ist , können bei länger gebrauchten Freudenmädchen Befriedigung finden ; feinsinnige dagegen fast unter keinen Umständen. Weiter : Wenn das Freudenmädchen noch so vornehm , fein , gebildet und nicht im Geringsten verdächtig, noch so anständig und zimperlich in die Gesellschaft tritt, man erkennt sie am Teint. Schon CASANOVA machte diese Bemerkung. " Die Erklärung dieser Erscheinungen ist nicht uninteressant. Die Geruchlosigkeit der Dirne ist eine ganz andere, als die der Jungfrau, letztere duftet zwar auf unsere Nase sehr wenig , dagegen um so kräftiger durch Einathmung wirkenden Stoff aus, die lang gebrauchte Dirne ist dagegen geruchlos in dem Sinne wie Backfisch 191 und Greisin sie entwickelt keinen Eierstockduft mehr, weil dieser, wie die Section lehrt, in der Regel degenerirt, mit Pseudomembranen bedeckt oder sonst verändert ist . Durch das Waschen ist dann auch ihr Schossduft bedeutend vermindert , denn dasselbe vertreibt das Blut aus den Genitalien, die deshalb stets blutärmer, verschrumpfter sind, als bei der normal functionirenden Frau. Ferner mangelt ihr nicht nur die fortgesetze Einathmung eines ihr sympathischen Männerduftes, den die Frau geniesst, sondern sie ist gezwungen, oft die unsympathischsten Männerdüfte einzuathmen , die wie Angststoff auf sie wirken , sie befindet sich also in ganz ähnlicher „ seelischer" Lage wie die Thiere in einem Omnismus (S. 151) . Sobald die Sympathie fehlt, kommen bei ihr auch die Cerebraldüfte nicht zur Entwickelung, oder wenn ein solcher erscheint, ist es der Angststoff. Letzterem sind die Dirnen wegen ihre zweifelhaften , verachteten socialen Position fast fortwährend ausgesetzt, und daher ihre stets blasse, blutlose, kalte Haut. Dies wird ganz besonders auffallen, wenn sich Eine in anständige Gesellschaft einzuschleichen versucht, wo sie Unannehmlichkeiten befürchten muss , wenn sie erkannt wird , denn hier steht sie unfehlbar unter dem blassmachenden Banne des Gehirnangststoffes. So erklärt sich denn der Dirnenhabitus sehr leicht. Von dem Weib unterscheidet sich die sexuale Entwickelung des Mannes sehr erheblich. Die Ursache ist die äusserliche prominirende Lage seiner Geschlechtstheile. Ausserdem ist das männliche Kind einer ganz alltäglichen , weit verbreiteten Gefahr ausgesetzt: Fast alle Ammen und Kindermädchen wissen oder erfahren es bald , dass der einfache Frottirungskitzel an den Geschlechtstheilen schon im neugeborenen Jungen einen Lustaffect Eiweisszersetzung mit Luststoffentbindung durch Ueberreiz hervorruft. Dies ist einfach eine Folge des anatomischen Baues vom männlichen Glied : es ist ein Schwellkörper. Dabei handelt es sich um eine Function der Schwellkörper , welche bislang ganz unbekannt ist, und welche ich, bei der Wichtigkeit der Sache , ausführlich besprechen muss. - Mein Satz lautet : Die Schwellkörper sind Duft- , also Affectentbindungsorgane. Das allgemeine, für alle Organe geltende Gesetz der Duftentbindung lautet: Die Menge der freiwerdenden Duftstoffe steht im geraden Verhältniss zur Stärke der physiologischen Function und bei den blutführenden Organen im geraden Verhältniss zur Durchblutungsstärke. Je beträchtlicher also das Durchblutungsmass eines Organs anzusteigen vermag, um so stärker kann es duftentbindend functioniren. Dies kommt z. B. schon bei den Begattungs- 192 organen (vulva , Scheide und Mutter) des Weibes in Betracht, die sehr schwellfähig sind, und in maximo besitzen diese Eigenschaft die Gebilde , die man eben deshalb Schwellkörper nennt. Dass alle solche schwellfähigen Organe starken Duft entbinden, kann man schon an den weiblichen Geschlechtstheilen sehen : der Schossduft ist bei sexualer Erregung beträchtlich gesteigert , und vom männlichen Gliede gilt dasselbe. Auch die Schwellkörper der Vögel, z. B. des Truthahnes, erkläre ich gleichfalls für Duftentbindungsorgane, aber in ganz anderem Sinne als die Duftorgane der Schmetterlinge, die Stinkdrüsen der Reptilien , Wanzen u. s. f. Es handelt sich nämlich nicht um Entsendung des Duftes nach aussen, sondern in das Blut, um dort den Affect zu erzeugen. Das lässt sich bei den Begattungsorganen deutlich beobachten : Der Affectriesel , von dem ich S. 183 sprach, nimmt bei der Begattung deutlich von den geschwellten Begattungsorganen seinen Ausgang , bildet den Reflexreiz für den Ejaculationsmechanismus des Mannes und die Muttermundöffnung beim Weib, und erzeugt den Culminations affect bei der Begattung. Auch bei den Schwellkörpern der Vögel am Halse ist es offenbar das Gleiche. Zuerst schwellt der Truthahn seine Klunker und spaziert mit leicht geblähtem Gefieder umher , auf einmal kommt ein Schauer über ihn das ist ganz der gleiche Moment, in welchem wir das Blut rieseln fühlen -, er schüttelt sich krampfhaft, spreizt sein Gefieder vollständig , schlägt sein Rad , entfaltet also seine Duftorgane möglichst. Haben diese den Duftstoff aus dem Blute zur Abdünstung gebracht, so beruhigt er sich wieder. Nun können wir zu der Analyse der Sexualverhältnisse beim Manne zurückkehren . Im Gegensatz zum Weibe, das keine prominirenden Geschlechtstheile und Schwellkörper besitzt, hat der Mann ein frei vorstehendes schwellungsfähiges Glied, und von diesem aus kann schon unmittelbar nach der Geburt des Knaben ein Affect ausgelöst werden , den ich allgemein den Schwellkörperaffect, Frictions affect, Onanie affect nenne und zwar ganz unabhängig von dem Reifungszustand der Zeugungsorgane. Mein Correspondent schreibt mir hierüber : „ Die Ammen sind die ersten , frühzeitigsten Verführer von männlichen wie weiblichen Säuglingen. Wenn das Ding zu sehr schreit und sich durchaus nicht beruhigen lässt, so leckt und spielt die Amme an dem schon nach der Geburt erectionsfähigen Glied oder beim Mädchen an der Scham, ja bei beiden sogar am After was ich sogar zärtliche Mütter thun sah. Das Kind wird sofort still, macht grosse Augen, fühlt offenbar Lust davon, verzerrt aber 193 plötzlich das Gesicht, bekommt aschgrauen Teint und schläft ein. " Ueber das Auftreten eines riechbaren Affectduftes hierbei erfuhr ich nichts , bin aber überzeugt , dass ein solcher wahrgenommen werden kann. Der Unterschied zwischen den beiden Geschlechtern ist nun der : Während beim Mädchen auch dann, wenn es dem Ammenunfug ausgesetzt war , die negative Beschaffenheit der äusseren Geschlechtstheile schuld ist , dass es die Sache vergisst und rein bleibt , ist das vorstehende Glied des Knaben allerlei zufälligen Frictionen ausgesetzt, es ladet das Kind förmlich zum Spielen ein, und so verfallen unzählige Knaben dem Laster der Onanie , auch ohne dass sie geradezu von Anderen verführt werden. Somit ist es klar, dass beim männlichen Geschlecht selten solche scharfe Phasen seiner Sexualentwickelung zu beobachten sind wie beim Weib. Auch wenn der Knabe dem Laster nicht vorzeitig verfällt, so ist das Verhältniss hier insofern ein anderes, als nach Eintritt der Pubertät die unvermeidlichen zufälligen Frictionen des Gliedes Samenergüsse auslösen. Nichtsdestoweniger kann man auch bei ihm dieselbe mehrmalige Aenderung des Ausdünstungsduftes und der idiosynkrasischen Beziehungen in Folge der Sexualentwickelung constatiren wie beim andern Geschlecht. Der unreife Knabe duftet ebenso fad und leer wie der Backfisch , aber doch auffallend anders , wozu man nur die Localdüfte einer Knabenschule und einer Mädchenschule vergleichen darf. Das Auftreten der Schamhaare und das Mutiren der Stimme, von denen ich schon S. 176 sprach , sind die Anzeichen eines nascirenden neuen Duftstoffes , und damit ändert sich der Ausdünstungsduft sofort quantitativ und qualitativ. Er wird stärker und, wie mir mein Correspondent wiederholt versichert, ganz entschieden bouillonartig. Von jetzt an ist auch der psychische Zustand anders , der Jüngling ist lebhafter, aufgeregter , geräth leichter in Affect (Flegeljahre). In diesem Stadium besteht in der Regel noch keine instinctive Sympathie zwischen beiden Geschlechtern , im Gegentheil , sie können sich gegenseitig nicht riechen , namentlich dem Backfisch duftet der bartlose Jüngling meist sehr fatal. Der neue Duft entstammt ohne Zweifel den Hoden , ist aber nicht ganz gleich mit der aura seminalis, denn diese duftet etwa wie frisch gebackenes Brod, die Quelle ist also vielleicht mehr das Gewebe des Hodens als das Secret desselben. In eine neue Epoche tritt der Mann , sobald der Bart zu sprossen beginnt. Er duftet dann durchaus anders, nämlich scharf säuerlich. Woher kommt dieser neue Duft ? Der Analogie mit Jaeger, Entdeckung der Seele. 13 196 dem weiblichen Geschlecht entsprechend , möchte man ihn vom Penis herleiten ( Schwellkörperduft). Thatsächlich ist , dass erst um diese Zeit die äusseren Genitalien des Mannes stärker zu duften beginnen, während sie vorher sehr wenig dufteten, und dies nimmt allmählich, bei regelmässigem Geschlechtgenuss, so zu, dass beim völlig reifen Mann im 30sten bis 40sten Jahr ganz wie beim Weib - kein Körpertheil so stark duftet wie das Behäng. Während ferner vor Auftreten des Bartwuchses der Penis klein ist , beginnt er jetzt dauernd sich zu vergrössern , und die Smegma - Secretion , die vorher sehr gering ist , erreicht nun erst ihre Höhe. Die Sache mit dem neuen säuerlichen Duft scheint mir aber nun doch nicht so einfach zu sein. Thatsache ist , dass später noch einmal eine Aenderung des Ausdünstungsduftes auftritt , bei der das scharf Säuerliche verschwindet: der vollkräftige reife Mann im mittleren Alter duftet mild, brodartig, mehlpuderartig, und das halte ich für den eigentlichen Samengeruch, dem er entschieden sehr ähnlich ist. Woher nun der säuerliche Duft zur Bartknospungszeit ? Ich möchte ihn mit dem „ Rotzduft“ beim Mädchen, kurz vor Beginn der Geschlechtsreife, vergleichen. Wie hier der Eierstockduft die Nasenschleimhaut reizt, so bewirkt der im Jüngling nascirende Hodenduft eine stärkere Congestion zur Haut (gefässerweiternde Wirkung der Lustdüfte), denn wir sehen ja auch sonst eine stärkere Hautthätigkeit in dieser Epoche beginnen ; verstärkte Hauttalgbildung bis zur Acne sich steigernd und endlich in dem Hervorbrechen des Bartes culminirend. regelmässigem Geschlechtsgenuss lässt diese Hautcongestion in der Regel wieder nach, so dass die Schärfe des Geruches sich mildert; der Duft wird nun brodartig, weil der Samenduft allein die Oberhand gewinnt. Hierzu gesellt sich dann allerdings noch der Penisduft resp. Smegmaduft. Der säuerliche Duft ist also blos ein Durchgangsstadium und Hautduft. Bei Nun müssen wir uns noch mit den Eunuchen und Castraten befassen. Ueber die Duftqualität derselben konnte ich nichts erfahren, sie muss aber unbedingt von der des unverletzten Mannes verschieden sein : beiden muss der brodartige Spermaduft fehlen, und Eunuch und Castrat müssen sich dann noch dadurch unterscheiden , dass ersterem mit dem Penis auch der Penisduft, d. h. der Schwellkörper- und der Smegmaduft fehlt. Bei den Thieren kann sich Jeder leicht überzeugen, dass das castrirte Thier ganz anders duftet als ein uncastrirtes , der Ochse anders als der Bulle , der Wallach anders als der Hengst , und ebenso ver- 197 schieden ist der Fleischgeschmack derselben , weshalb wir ja eben unsere Schlachtthiere, wenigstens die männlichen, möglichst castriren. Bezüglich der Affectfrage gilt : Der Eunuche scheint keines sexualen Affectes fähig zu sein, dagegen ganz entschieden die Castraten, und diese werden sogar von unzüchtigen Weibern sehr gesucht, weil die Begattung ohne Folgen und ihr Glied sehr lange erigirt bleibt. Mit dem Besitz eines Schwellkörpers sind sie eben eines mechanischen Schwellkörperaffectes fähig , und dieser muss auch auf sie ähnlich lusterzeugend wirken, wie der Onanieaffect auf ein noch ganz unreifes Kind. Auf die interessante morphologische Seite der Castrirung werde ich in dem Kapitel „Bildungstrieb" zurückkommen. Mit dem Aufhören der Geschlechtsfunction sinkt auch beim Mann der Ausdünstungsduft qualitativ herab und nimmt den schimmligen , im Affect säuerlichen Greisengeruch an, den auch ganz ähnlich alte Hunde , alte Pferde, Schafböcke etc. haben, und der bei Juden wie die Volkssprache treffend sagt etwas „ Schäbiges" hat . Mein Correspondent fügt dem den Vers bei, den man 1848 auf den bekannten Schriftsteller MORITZ HARTMANN machte : „ Nichts auf Erden dauert ewig , auch der schönste Jud' wird schäbig". - —— Experimenteller Nachtrag. Dass die Dichter Recht haben, wenn sie die Wirkung der Frau auf den Mann mit der von Blumen, speciell Rosen, vergleichen, von Liebestrunkenheit sprechen, und ich Recht habe , wenn ich früher die Inhalationswirkung von Frauenduft der Wirkung von Champagner- Inhalation verglich , beweist folgende Messung: Laut S. 130 setzte die Inhalation des Haarduftes meiner Frau meine Nervenzeit im Mittel von 152 Ms. auf 109 herab , die Maximaldifferenz von 42 auf 48 hinauf. - Am 14. Juni machte ich den Versuch mit Rosenduft: Mittel aus 20 Messungsacten vor Einathmung Mittel 109 Ms., Maximaldifferenz 120 ! Am 23. Juni athmete ich vier Minuten den Duft von Champagner ein : Mittel aus 10 Acten vor Inhalation 145 Ms. Maximaldifferenz 40, nach Inhalation Mittel 110 Ms. , Max. -Diff. 78 ; dann trank ich den Champagner: Mittel 110 Ms., Max. - Diff. 72, also wie bei Bouillon S. 208 ; Wirkung des Trinkens gegenüber der Inhalation = Null ! Bei meinem Schwiegersohn versetzte der Haarduft seiner Braut die Nervenzeit von Mittel von 157 auf 131 Ms. , in der Differenz von 38 auf 102 Ms.; Inhalation von Rosenduft im Mittel von 146 auf 107 , in der Differenz war aber die Aenderung 8 Ms. 16. Trieb. Dieses vor meiner Entdeckung ganz unverstandene Wort liegt nach dem früher Gesagten eigentlich schon ziemlich klar vor uns , doch bedarf es noch einer besondern Betrachtung. Erstlich ist zwischen geistigen und seelischen Trieben streng zu unterscheiden. Ein geistiger Trieb ist z. B. der Wissenstrieb; seelisch sind die Selbsterhaltungstriebe (Ernährungstrieb, Vertheidigungstrieb, Geselligkeitstrieb), der Fortpflanzungstrieb und der Bildungs- und Formungstrieb. Hier wollen wir uns nur mit den seelischen Trieben als einer Function der Seelenstoffe beschäftigen und zwar auch nur mit den allgemeinen Erscheinungen und einem Theil der Triebe, indem ich den Bildungstrieb schicklicher nach dem Kapitel „ Pflanzenseele" abhandle. Das Treibende der Seelenstoffe ist eine einfache Consequenz dessen , was auch ihre Flüchtigkeit und ihre ausserordentliche Wirksamkeit auf die Geruchsorgane und Nerven bedingt ihre Moleküle sind in einer heftigen doppelten Bewegung, 1 ) einer fortschreitenden sog. Bahnbewegung, 2) einer rotirenden Achsendrehung. Dadurch bilden sie theils Reize für die lebendige Substanz - auch veranlassen sie Bewegungen derselben , theils erhöhen sie die Reizempfindlichkeit der lebendigen Substanz für anderartige Bewegungsreize. Diese Bewegungen lassen sich in zwei Gruppen theilen : 1 ) die continuirlichen Wachsthums- und Bildungsbewegungen, die wir als Erscheinungen des Bildungstriebes bezeichnen, und 2) die mehr rhythmischen Bewegungen bei der Bethätigung der Selbstund Art-Erhaltungstriebe. Genau wie bei den Affecten haben wir ferner zwischen exogenen und endogenen Trieben zu unterscheiden , denn es wirken nicht nur die im Innern des Körpers frei werdenden, 199 sondern auch die von aussen mit Nahrung und Athmung eingeführten Seelenstoffe treibend. Besprechen wir in diesem Kapitel die quantitative Seite der Triebe. Hierbei kommen zweierlei Umstände in's Spiel. Der erste ist die Qualität des Duftstoffes. Wie uns Chemie und Physik lehren , ist die Geschwindigkeit , mit der sich ein Duftmolekül bewegt, ceteris paribus abhängig von seiner chemischen Zusammensetzung. Der ziffermässige Ausdruck hierfür ist seine specifische und seine latente Wärme. Je höher diese Ziffern, desto grösser ist die treibende Kraft des Moleküls. Wir können also Seelenstoffe von grosser und solche von geringer Triebkraft unterscheiden : Thiere mit sehr triebkräftigen Seelenstoffen zeigen 1 ) heftige Affecte , 2) heftige Triebe, 3) starken , aufdringlichen Ausdünstungsduft. Solche Thiere sind z. B. die Raubthiere im Allgemeinen. Im Gegensatz dazu haben Thiere mit triebschwachen Seelenstoffen schwache Affecte , schwache Triebe und einen milden , wenig aufdringlichen Ausdünstungsduft, z. B. die meisten Pflanzenfresser. Darauf beruht auch die biologische Ueberlegenheit der ersteren über die letzteren. Der zweite Umstand bei der Stärke der Triebe ist die Quantität der freien Seelenstoffe im Körper eines Thieres : je grösser dieselbe , je höher der Triebstoffstand , desto energischer und anhaltender wird das Geschöpf umgetrieben“. Diese zwei Umstände sind nun für das Folgende streng auseinander zu halten. Die Qualität der treibenden Seelenstoffe ist einmal eine angeborene , aber allerdings nicht eine sich gleichbleibende. Gerade so , wie sich nach dem früher Gesagten der Ausdünstungsduft eines Lebewesens während seiner persönlichen Entwickelung wiederholt ändert , ist auch die Triebstärke eine wechselnde ; sie ist bei neugeborenen Lebewesen gering , nimmt dann allmählich bis zu einem gewissen Wendepunkt zu, ist zur Zeit der Geschlechtsreife am grössten, um dann im Greisenalter wieder abzunehmen. Dem ganz parallel geht die Intensität des Ausdünstungsduftes : er ist im mittleren Lebensalter am stärksten. --- Dann aber ist die Qualität auch eine erworbene und zwar während es sich bei den angeborenen um die endogenen Seelenstoffe handelt kommt es hier in Betracht , dass das Thier Triebstoffe von aussen in den Körper mit Nahrung und Athmung einführt. Daher kommt folgender Unterschied : Thiere und Menschen, welche Nahrung geniessen, deren Seelenstoffe sehr triebkräftig sind , haben ceteris paribus starke Triebe, im Gegen- 200 satz zu solchen , deren Nahrung triebschwache Duftstoffe besitzt. Beispiel hierfür ist wieder der Unterschied zwischen thierischer und pflanzlicher Nahrung : die thierischen Seelenstoffe sind fast durchweg triebkräftiger als die der Pflanzen. Füttern wir einen Hund oder Menschen mit Fleisch , so werden alle seine Triebe (Bewegungstrieb , Geschlechtstrieb etc.) stärker , wie auch sein Ausdünstungsduft ; füttern wir dagegen das gleiche Thier mit Pflanzenkost , so werden seine Triebe schwächer , sein Ausdünstungsduft milder. Bei der Zähmung der Raubtiere macht man mit Erfolg von der Verabreichung vegetabilischer Nahrung Gebrauch. Dass dieser Unterschied zwischen Thier- und Pflanzennahrung nur im Grossen und Ganzen besteht , versteht sich von selbst. So kennen wir Pflanzen , die sehr triebkräftige Duftstoffe besitzen und zwar bald nach dieser bald nach jener Richtung die Aphrodisiaca (z . B. sexual) treibend ; aber im Grossen und Ganzen ist das Gesagte richtig , und für den Menschen ist es praktisch wichtig , das zu wissen , denn darin liegt eines der Mittel , dessen der bewusste, wissende Geist sich bedienen kann, um seine Triebe zu beherrschen : „Wissen ist Macht. " Bei vorzugsweise fleischessenden Nationen und Personen sind alle Triebe (Erwerbstrieb, Bewegungstrieb, Ernährungstrieb und Geschlechtstrieb) weit stärker, ihr Temperament erregbarer, gewaltthätiger, als bei Nationen und Personen, die vegetabilische Nahrung geniessen ; die Vegetarianer sind z. B. relativ sehr friedliche , genügsame Leute von milder Ausdünstung. Derselbe Unterschied besteht im Grossen und Ganzen auch zwischen dem fleischessenden Städter und dem an Pflanzenkost sich haltenden Landbewohner. Also wem Schafsgeduld von Nöthen , der lebe wie ein Schaf, d. h. als Vegetarianer. Soll dagegen der Organismus mit Dampfkraft arbeiten, so wähle man die Nahrung des Raubthiers : Fleisch. „Sage mir , was du isst , und ich sage dir, was du bist. " Dieser Satz ist völlig richtig , und die Beobachtung dieses Factums ist wohl einer der Gründe , welchen die Lehre von der Seelenwanderung" erzeugte. Auf andere werde ich später aufmerksam machen. 99 Von weiterem Einfluss auf die Triebstoffquantität ist natürlich die Intensität der Eiweisszersetzung. Ein hungriger Mensch , ein hungriges Thier wird stärker umgetrieben , als wenn es gesättigt ist. Personen , die stets in gelindem Hungerzustand herumgehen, sind voll heftiger Triebe, haben z. B. auch heftigeren Geschlechtstrieb als satte Existenzen , die es eigentlich nie bis zum wirklichen Hunger kommen lassen ; deshalb ist das hungernde 201 Proletariat ein turbulentes Element mit starkem Ausdünstungsduft und vielen Kindern. Endlich ist , wie das Kapitel „ Desodorisation" zeigen wird einer der praktisch wichtigsten Punkte meiner Entdeckungen , für die Menge der treibenden Duftstoffe das Absonderungsmass derselben von ganz gewaltigem Einfluss. Trägt ein Mensch eine Kleidung , welche die Abdünstung der Seelenstoffe auf der Haut hemmt, oder befindet er sich in einem schlecht ventilirten Raum, so steigt die Duftstoffmenge in seinem Körper, und es steigern sich alle seine Triebe, sodass er zum Sclaven derselben wird. Die obigen Momente sind zum grössten Theil bekannt, wenn man auch keine so zutreffende Erklärung dafür hatte , wie ich sie jetzt zu geben vermag, dagegen ist gerade das, was die Ausdünstungsverhältnisse betrifft , bis dato fast ganz unbekannt geblieben. Mir haben meine Desodorisationsversuche die Augen geöffnet, und bei der hohen praktischen Wichtigkeit der Sache werde ich hier und an anderen Punkten ausführlich darüber sprechen. Nimmt man in der später geschilderten Weise eine anhaltende Desodorisation des Körpers vor, so bemerkt man eine Abschwächung aller Triebe, aber mit Erhöhung der Potenz. 1) Der Ernährungstrieb mindert sich insofern , als man viel länger die Nahrungsaufnahme nicht etwa blos zu entbehren vermag , sondern eben viel länger kein Bedürfniss hat, zu essen und zu trinken . Ich war z. B. seit mindestens 20 Jahren gewöhnt, fünfmal des Tages etwas zu geniessen (erstes und zweites Frühstück, Mittagsmahl, Vesper und Abendessen) , und wenn es der Zufall wollte, dass ich ein oder das andere Mal daran verhindert war, so „ trieb es mich um". Hiervon bin ich durch die Desodorisation frei geworden , und zwar so sehr , dass ich das Mittagessen völlig missen , d. h. vom Frühstück bis Abend ohne Nahrung bleiben kann, ohne das geringste Unbehagen zu fühlen. Ich bemerke hierbei, dass es bei meinen Versuchen durchaus nicht meine Absicht war , dieses Resultat anzustreben , ich war vielmehr von alle dem, was ich jetzt sage, vollkommen unerwartet überrascht. Die merkwürdigste Veränderung bewirkte die Desodorisation in Bezug auf das Trinken. Noch bis zu Beginn des laufenden Jahres trank ich um 10 Uhr 1/2 Liter Bier , zu Tisch 1/4 Liter Wein und Abends zu meiner, in der Regel bis 1 Uhr dauernden Nachtarbeit 3-4 Flaschen Bier. Hieran war ich so sehr gewöhnt, dass ich , wenn mir Nachts das Bier ausging , die Arbeit sistiren musste. Ich konnte ferner nie Speise geniessen , ohne etwas dazu zu trinken , und hatte hierzu einen unwiderstehlichen Trieb. 202 Nach Neujahr dieses Jahres , also erst nachdem ich mich dem desodorisirenden Verfahren acht Monate lang ausgesetzt hatte, kam es mir ohne jede äussere Veranlassung zum Bewusstsein, dass dieser Trunktrieb eigentlich nicht mehr vorhanden sei, und ich blos aus gedankenloser Gewohnheit noch trinke. Ich stellte hierauf das Trinken völlig und plötzlich ein und war nicht wenig erstaunt , dass dies nicht nur ohne jegliche Störung meiner Stoff- wechselthätigkeit von statten ging, sondern es mich auch nicht die mindeste moralische Anstrengung kostete. Ich kann jetzt die trockenste Speise und anerkannt Durst verursachende Stoffe , wie scharfen Käse und Hering, essen, ohne jeglichen Dursttrieb dabei oder danach zu empfinden ; erst nach Verlauf einer Stunde stellt sich ein Bedürfniss hierzu ein, aber so schwach, dass ich es leicht unterdrücken kann. Ich lebe auf diese Weise seit fünf Monaten durchaus behaglich. Die Kehrseite davon ist, dass ich dadurch nicht im Mindesten impotent im Essen und Trinken geworden. In Betriff des ersteren Punktes verhält es sich so, dass ich trotz des selteneren Essens (statt fünfmal nur dreimal und statt zwei Hauptmahlzeiten nur eine) und trotzdem, dass ich mich noch ohne eigentlichen Hungertrieb zu Tische setze, jetzt viel mehr und dann, wenn ich einmal begonnen, mit viel grösserem Appetit esse, als sonst, und zwar nicht etwa so, dass ich jetzt etwa das gleiche Tagesquantum, nur statt auf mehrere Mal auf ein Mal esse, sondern mein Tagesquantum ist so weit ich , ohne exacte Wägungen gemacht zu haben , schätzen kann grösser als früher, was sich auch in dem Eintritt entschieden erhöhter Arbeitsfähigkeit ausspricht. Bei dem Trinken ist es ebenso : Obwohl ich zu Hause keine Alkoholica mehr trinke , man also denken könnte, es trete Entwöhnung und damit verminderte Potenz ein, ist das bisher nicht geschehen. Ich gehe ein bis zwei Mal die Woche in eine Abendgesellschaft und trinke dort zwar nicht mehr, aber mit entschieden grösserem Appetit als früher. 2) Genau dieselbe Veränderung hat mein Bewegungstrieb erfahren. Früher hatte ich nach längstens zwei Stunden Schreibtischarbeit den Trieb, mich etwas zu bewegen, wenn auch nur im Zimmer auf und ab zu gehen oder auf einige Minuten mich in dem Garten oder auf dem Balkon zu bewegen, jetzt kann ich bis zu drei und vier Stunden unausgesetzt auf dem gleichen Flecke fortarbeiten. Früher warf ich mich im Schlafe viel umher , so dass ich öfter die Bedeckung verlor. Jetzt liege ich, selbst wenn ich nicht schlafe , regungslos im Bett. Auf der andern Seite hat meine Bewegungspotenz nicht nur nicht abgenommen, sondern ist für mein Alter (47 Jahre) und für die noch vor einem 203 Jahre bestehende grosse Bewegungsimpotenz auffallend gesteigert, was ich mit einigen Ziffern belegen will. Im vorigen Jahre war ich unfähig, eine gröbere Handarbeit, z. B. Gartenarbeit mit Spaten, Schaufel etc. oder Holzsägen, länger als 5-10 Minuten auszuhalten , konnte also z. B. mein kleines Hausgärtchen im Frühjahr nicht selbst herrichten. Trotzdem nun, dass ich mich in der Zwischenzeit durchaus nicht etwa in derlei Arbeit geübt habe , war ich in diesem Frühjahr im Stande, 4–5 Stunden unausgesetzt mit Gartenwerkzeugen streng zu arbeiten. Elf Jahre lang fuhr ich zur Erfüllung meines Lehramtes nach dem 10 Kilometer von meiner Wohnung entfernten Hohenheim stets per Post und war, wenn ich Abends 6 Uhr nach Hause kam, dergestalt ermüdet, dass ich entweder gar nichts mehr oder höchstens etwas Leichtes arbeiten konnte. Jetzt mache ich den ganzen Weg zu Fuss, lege also 20 Kilometer zurück , halte 2 Stunden Vortrag, kann das, ohne dazwischen etwas zu essen und zu trinken, selbst bei grosser Hitze , und bin überdies danach im Stande , meine Arbeit wie an andern Tagen bis tief in die Nacht hinein fortzusetzen. Man könnte nun auch hier wie beim Essen denken, ich verrichte zwar jetzt die gleiche Summe von Arbeit in Kilogrammmetern , nur sei sie anders vertheilt; dem ist aber nicht so : ich arbeite bedeutend mehr , womit harmonirt, dass auch meine tägliche Nahrungsmenge gestiegen ist . Eine Compensation ist allerdings eingetreten, und zwar eine höchst merkwürdige und von mir wieder ganz unerwartete. Mein Pulsminimum war, seit ich meinen Puls gelegentlich beobachte , also seit mindestens zwei Decennien, stets 85, und zwar noch vor etwa 6 Monaten , als ich Pulsversuche anstellte. Im Januar , als mir die Verminderung meiner Triebstärke zum Bewusstsein kam, und ich nun alle meine Functionen prüfte , bemerkte ich mit Erstaunen, dass mein Pulsminimum Morgens unmittelbar nach dem Erwachen 64 und den Tag über 72-75 war, und so ist es seitdem geblieben. 3) Vom Geschlechtstrieb gilt das Gleiche wie von den beiden andern Trieben. Er incommodirt mich nie mehr, selbst bei längerer Abstinenz . Die Potenz war während der Anpassungsperiode in den ersten Monaten des Regimes entschieden vermehrt, jetzt ist sie gegen früher jedenfalls nicht vermindert. Von jüngeren, noch in geschlechtlicher Vollkraft stehenden Personen, welche sich meinem Desodorisationsregime unterworfen haben , weiss ich, dass die Wirkung eine ganz bedeutende ist. Der ziellose, jungen, noch nicht in geregeltem Geschlechtsgenuss stehenden Personen so sehr gefährliche Trieb wird bei Desodorisation fast ganz unterdrückt, womit auch alles das harmonirt , was sich in der Praxis 204 gegen nächtliche Pollutionen längst bewährt hat, und von der praktischen Bedeutung meiner Bekleidungsreform ist dies mit einer der schwerstwiegenden Punkte. 4) Den Bildungstrieb habe ich ebenfalls im Verdacht einer Herabminderung, aber die Zeit der Beobachtung ist noch zu kurz. Immerhin ist der kindliche Habitus meiner beiden ältesten Kinder (17 und 18 Jahre) sowie ein entschiedenes Sistiren des Alterungs- processes bei mir und meiner Frau bemerkenswerth. 5) Ueber die Aenderungen im Bereich der geistigen Triebe will ich mich erst im Kapitel „ Geist" ausführlicher äussern. Hier führe ich nur an , dass dieselben auf viel geringere Hindernisse stossen als früher. Ich fühle mich zunächst ausser Stande, diese Veränderungen sämmtlich im Detail zu erklären , aber Folgendes kann ich jetzt schon ohne Weiteres sagen : Ein Uebermass von treibenden Duftstoffen im Körper hat eine Vermehrung der inneren, unbewusst sich vollziehenden Arbeit zur Folge. Dieses Arbeitsquantum entgeht natürlich der bewussten willkürlichen Thätigkeit , dann aber bildet diese innere eine Hemmung für die nach aussen gerichtete Arbeit, theils mechanisch, theils dadurch, dass sie dem willkürlichen Apparat Blut entzieht, theils auch dadurch , dass sie den Körper mit Ermüdungsstoffen schwängert. Ich will ein treffliches , populäres Wort gebrauchen, das man auf einen solchen rastlos umgetriebenen" Menschen anwendet : „ er verzehrt sich innerlich " . 99 Nach dem Gesagten schreite ich nun zur Erörterung der Triebweckung und Triebstillung durch frem de Duftstoffe (Objectdüfte) , wie sie uns bei der Nahrungsaufnahme und Befriedigung des Geschlechtstriebes entgegentreten. Ich habe deren Symptomatologie zwar schon in früheren Kapiteln geschildert, jedoch können wir erst jetzt genauere Einsicht gewinnen , da die Sache nämlich viel complicirter ist, als ich sie früher geschildert habe! Wenn ein Mensch im nüchternen Zustand an eine sympathische Speise nur denkt oder erinnert wird , so erwacht der Nahrungstrieb (Triebweckung). Das ist Eiweisszersetzung mit Duft-, also Triebstoff- Entwickelung durch geistigen Anstoss. Dasselbe ist der Fall, wenn das Geschöpf die Nahrung riecht. Der wirkende Trieb- stoff ist hier Selbstseelenstoff" , Cerebralduft. Anders ist es, wenn das Geschöpf den Nahrungsduft - unbewusst einathmet. Hier wirkt der Objectduft vom Blute aus als „Triebstoff" , und so ist es auch bei den Liebesdüften (siehe Kapitel 15). Die andere Thatsache , die gleichfalls schon früher besprochen wurde , ist, 99 205 dass diese gleichen Objectdüfte auch triebstillend wirken: die Speisedüfte wecken erst den Hunger , dann stillen sie ihn - ohne dass man durch Nahrungsaufnahme die Eiweisszersetzung sistirt, und die Liebesdüfte thun dasselbe. Um zu einer Erklärung zu gelangen , müssen wir zunächst das gegenseitige Verhalten der Duftstoffe , abgelöst vom Organismus, betrachten, also fragen : Wie verhalten sich zwei Duftstoffe, wenn sie in der Luft oder in einer Flüssigkeit zusammentreffen und sich mischen ? Leider scheint es hier ganz an systematischen wissenschaftlichen Untersuchungen zu fehlen wenigstens sind mir keine bekannt , aber das Parfümerie- Gewerbe muss einen ganzen Schatz derartigen , nur auf seine wissenschaftliche Hebung wartenden Wissens enthalten ; einiges davon ist auch im täglichen Leben bekannt. - Mischen wir zwei Duftstoffe , so sind folgende Fälle möglich : 1 ) Sie zersetzen oder verbinden sich gegenseitig so , dass nachher keiner mehr von ihnen vorhanden ist , sondern ein oder mehrere neue Stoffe und zwar möglicherweise solche, die gar keine Duftstoffe, d. h. nicht mehr flüchtig, oder wenn es sich um Würzestoffe handelt, gar keine Würzestoffe mehr sind, weil sie sich nicht mehr lösen. Dieser Fall scheint ganz besonders leicht einzutreten, wenn Sauerstoff zugegen ist. Wenn man z. B. in ein von Speisedüften erfülltes Zimmer ein mit Lavendelöl getränktes Läppchen legt , so werden die Speisedüfte vernichtet, und man riecht jetzt entweder gar nichts mehr oder nur noch den Lavendelduft, wenn dieser im Ueberschuss verwendet wurde. So verwendet man Harzduft und Terpentinduft, um die Krankheitsdüfte in der Luft zu vernichten, und in neuerer Zeit bemüht man sich, kosmetische Combinationen zu diesem Zwecke zu erfinden, z. B. das Ozogen, das die Fabrik von Burk in Stuttgart darstellt , und von dem ich unten noch sprechen werde. Ich nenne einen solchen Duftstoff einen Duftmörder. 2) Die Duftstoffe mischen sich, ohne sich gegenseitig in ihrem Molekül zu schädigen , sodass wir jetzt ein Gemenge haben, das ein geübter Geruchsinn noch leicht zu unterscheiden vermag. Von diesen beiden Fällen interessirt uns hier der erstere ganz besonders , den zweiten werden wir im Kapitel „ Instinct" aufnehmen müssen. Ein Theil meiner Entdeckungen und zwar einer der interessantesten besteht in dem Satze : Ein Duftmörder vernichtet nicht nur die Düfte in der Atmosphäre, z. B. eines Zimmers, sondern wenn ein Mensch einen solchen Mörderduft" durch Einathmung in seine Säftemasse bringt , so werden die in ihm vor99 206 handenen „ freien" , als Affect- und Triebstoffe wirkenden, Düfte ebenfalls zerstört ; auf diese Weise wird ein solcher Duftmörder zu einem Trieb- und Affectmörder , womit diese Stoffe plötzlich eine ungeahnte praktische Bedeutung gewinnen. Zu meinen Versuchen verwende ich das schon genannte Ozogen von Burk, das seiner Verstäubungsfähigkeit wegen viel rascher wirkt als Lavendelöl und Terpentin. Das Merkwürdige ist nun Folgendes : Wenn ich in Seelenruhe bin , so wirkt eine Ozogen- Einathmung fast gar nicht auf meine Nervenzeit ; bei einer Messung am 22. Mai Morgens nach dem Aufstehen erhielt ich z. B. vor Inhalation Mittel aus je 10 Acten Maximaldifferenz 54 Ms. nach Inhalation 52 Ms. 154,4 Ms. 151,0 Ms. Differenz 3,4 Ms. 2 Ms. Sobald dagegen mein Chronoscop einen Affectzustand markirt, brauche ich nur Ozogen einzuathmen , um denselben objectiv am Chronoscop verschwinden zu sehen, und das subjective Gefühl ist ebenfalls vollkommen deutlich. Einen solchen Fall habe ich bereits früher ziffermässig angeführt. Hier zwei neue : 1. Versuch am 11. Mai ( Lustaffect) . Mittel aus 10 Acten Maximaldifferenz vor Inhalation 139,4 Ms. nach Inhalation 147,2 Ms. Differenz 8,2 Ms. 152 Ms. 56 Ms. 76 Ms. 2. Versuch am 17. Mai ( Zornaffect) . vor Inhalation nach Inhalation Mittel aus 10 Acten 142,6 Ms. 157,0 Ms. Differenz + 14,4 Ms. Maximaldifferenz 66 Ms. 40 Ms. 26 Ms. Bezüglich des quantitativen Unterschiedes im Effect zwischen dem ersten und zweiten Versuch bemerke ich, dass Versuch 1 mein erster Versuch mit Ozogen überhaupt war , dass ich damals den Versuch in völlig anderer Voraussetzung machte : ich erwartete, das Ozogen sei ein Luststoff und werde die Nervenzeit abkürzen, verstand darum das Resultat nicht und konnte deshalb nicht zum Klaren kommen , weil ich durch Abberufung an der Fortsetzung des Versuchs verhindert wurde. Ich setze ihn aber aus 207 Pietät hierher, denn er bildet eben den ersten Act der zwei grundlegenden , den Beweis stringent machenden Versuche für meine Seelenlehre, gemacht am gleichen Tage wie das Exhalationsexperiment S. 126, weshalb für mich der 11. Mai der Geburtstag des mathematischen Beweises für meine Anfangs so heftig angefochtene Seelenlehre ist. Das Merkwürdige ist nun , dass die Düfte unserer gewöhnlichen Speisen als Duftmörder auf unsere Hungerdüfte zu wirken scheinen. Ich habe allerdings erst einige exacte Prüfungen vorgenommen , sodass ich noch nicht mit voller Gewissheit sprechen kann. Allein das , was ich ermittelte , ist bemerkenswerth genug, um es ausführlicher mitzutheilen. Den ersten Versuch begann ich unter der falschen Voraussetzung, die Speisedüfte seien Lustdüfte und würden die Nervenzeit zunächst abkürzen. Ich hatte damals auch keine besondern Umstände gemacht. Ich kam zufällig in die Küche und sah Bouillon, da fiel mir 11 Uhr Vormittags , also zu einer Zeit, in der ich noch keinen Appetit hatte ein, rasch einen ersten Versuch zu machen (um 12 Uhr musste ich auf dem Bahnhof sein) . Ich beroch die warme Suppe etwa 3 Minuten , während ich mit dem Löffel umrührte. Hier das Resultat : -- Mittel aus 10 Acten vor Inhalation 141,6 Ms. nach Inhalation 138,6 Ms. Differenz - 3,0 Ms. Maximaldifferenz 64 Ms. 18 Ms. 46 Ms. In diesen Ziffern tritt zweierlei zu Tage : 1 ) dass der Bouillonduft beruhigend gewirkt (Verminderung der Differenz), aber 2) das Mittel ist fast gleich geblieben : ohne Hunger keine Wirkung. Man vergleiche nun damit das Ergebniss im Hungerzustand : Am 13. Juni hatte ich von 11 Uhr Vormittags bis 62 Uhr Abends (712 Stunden lang) nichts gegessen und getrunken, war in dieser Zeit 20 Kilometer auf schmutzigem Weg marschirt und zwei Stunden mit Vortrag beschäftigt gewesen. Nach Ankunft hatte ich mit der ersten Messung so lange gewartet , bis mein vom Marschiren aufgeregter Puls beruhigt war. Der Puls wurde nach je 10 Messungen weiter untersucht und fast ganz stetig befunden. Zur Inhalation wurde Fleischbrüheduft verwendet. 1 ) vor Inhalation 2) 4 Min. Inhalation 3) 3 Min. Inhalation Mittel aus 10 Messungen 125,8 Ms. 140,8 Ms. 141,0 Ms. Maximaldifferenz 35 Ms. 74 Ms. 78 Ms. 208 Die beträchtliche Verlangsamung um 15 Ms. bedeutet die Trieb- resp. Hungerstillung. Man beachte weiter die ausserordentliche Uebereinstimmung zwischen 2 und 3 ! Nun setzte ich einige Augenblicke aus und machte folgendes Experiment : Ich nahm 10 Messungsacte , dann trank ich die Fleischbrühe (etwa 1/2 Liter) und mass nach fünf Minuten wieder; hier das Resultat : Maximaldifferenz vor dem Trinken nach dem Trinken Differenz Mittel 139,0 Ms. 138,2 Ms. 26 Ms. 0,8 Ms. 36 Ms. +10 Ms. Das ist höchst merkwürdig ! Alle Physiologen sagen, die Hauptwirkung auf das Nervensystem verdanke die Bouillon ihrem Gehalt an Kalisalzen, und mein Experiment verlegt sie fast ausschliesslich in den Duftstoff, denn das Trinken veränderte die Nervenzeit noch nicht einmal um 1 Ms. , die Inhalation um 15 Ms.! Am 15. Juni nahm ich eine Prüfung mit dem Duft warmen Brodes vor. Um ganz sicher zu gehen, nahm ich diesmal vor und nach der Inhalation 20 Messungsacte vor. Die erste Prüfung geschah, an mir, Morgens 8 Uhr , 1 Stunde nach dem Frühstück, also ohne Hunger, an einem prachtvollen Frühlingstag in heiterer Stimmung (daher die kurze Nervenzeit). vor der Inhalation nach 5 M. Inhalation Mittel aus 20 Acten 129,3 Ms. 129,1 Ms. Differenz - 0,2 Ms. Maximaldifferenz 82 Ms. 74 Ms. - 8 Ms. Also Wirkung ohne Hunger völlig gleich Null ! Um halb ein Uhr kam mein 18 jähriger Sohn in's Zimmer, sah das Brod liegen und sagte, er habe jetzt Hunger, und das Brod dufte ihm sehr angenehm. Ich entfernte das Brod sofort aus dem Zimmer, öffnete die Fenster und wies meinen Sohn an, etwa 5 Minuten auf dem Balkon sich auszuathmen ; dann nahm ich 10 Acte von ihm . Jetzt holte ich den Brodlaib, der mittlerweile im Ofen wieder warm gemacht worden war, brach den Laib auf und liess meinen Sohn den Duft aus der Spalte einathmen. Schon nach 4 Minuten erklärte er, der Duft , der Anfangs sehr angenehm war , werde nun unangenehm. Nach 5 Minuten brach ich ab und nahm wieder 10 Acte , während welcher Zeit übrigens der Brodlaib in seiner Nähe liegen blieb. Ich gebe hier die ganze Zifferreihe , da sie wegen der grossen Regelmässigkeit bemerkenswerth verlässlich ist : 209 Vor Einathmung Nach Einathmung 73 75 72 82 65 79 70 83 70 77 71 70 71 81 78 79 70 81 80 78 Mittel 72,0 144 Ms. Mittel 78,5 = 157, Ms. Maximum 80 Maximum 82 Minimum 65 Differenz 15 = 30 Ms. Minimum 70 Differenz 12 - 24 Ms. Also bis auf 2 Ms. Differenz dasselbe Resultat wie bei mir mit dem Bouillonduft ! hier 13, dort 15 Ms. Verlangsamung ! Ich kann das vorläufig nur als Neutralisirung der Hungerdüfte resp. Dufttödtung deuten . Jaeger, Entdeckung der Seele. 14 17. Instinct. Es gibt , vielleicht das Wort Seele ausgenommen, kaum ein Wort , das so verständnisslos gehandhabt worden ist , wie dieses. Auf der einen Seite musste es für Alles herhalten, was man nicht erklären konnte , andere Leute wollten im Gegentheil das Wort ganz ausgemerzt haben und Alles auf Verstand hinausdirigiren , oder aber wie es die Handbücher der Physiologie thun man machte es sich sehr bequem und sprach gar nicht davon. Ich glaube, das Wort „ Instinct" jetzt ein- für allemal ebenso genau fixiren zu können, wie das Wort „ Seele" . Der Instinct ist lediglich nichts anderes, als die qualitative Seite des Triebes und eine Function der Specifität der Duft- resp. Seelenstoffe ; während das, was wir Verstand nennen , eine Function des Geistes ist. Ich brauche auch wohl kaum zu sagen, dass die Antithese : „Der Mensch folgt dem Verstand , das Thier dem Instinct" radical falsch ist ; jedes Geschöpf besitzt Beides , wie jedes Seele und Geist besitzt. Um zur Erklärung zu gelangen , ist noch einmal das S. 205 charakterisirte Verhalten zweier Duftstoffe ausserhalb des Körpers zu betrachten , und zwar der Fall 2 , wobei die Duftstoffe sich mischen, ohne sich zu zerstören. Hier gibt es zunächst zwei entgegengesetzte Möglichkeiten : entweder harmoniren die Duftstoffe oder sie harmoniren nicht ; für die Würzen der Speisen gilt bekanntlich dasselbe. Das Harmonische zusammenzufinden und das Disharmonische zu vermeiden, ist die Kunst des Parfümeurs resp. des Kochs. Suchen wir uns das mechanisch klar zu machen. Hier bietet sich uns zunächst der Vergleich mit den Schallbewegungen. Wir nennen zwei Töne harmonisch, wenn ihre Schwingungszeiten in einer einfachen ziffermässigen Relation stehen , so dass die aus ihnen combinirte Bewegung in gleichwerthige rhythmische Abschnitte zerfällt. Disharmonisch sind sie, wenn die ziffermässige 211 Relation so ist, dass kein Rhythmus zu Stande kommen kann. Das Nähere kann in den Handbüchern der Physiologie nachgelesen werden. Also : Rhythmische Bewegungen wirken auf unsere Sinneswerkzeuge angenehm, lusterzeugend, unrhythmische unangenehm, unlusterzeugend. Warum ? das wusste man bisher nicht zu sagen , weil man nicht wusste, was Lust und Unlust sei. Ich finde die Beantwortung in Folgendem : Das Trägheitsgesetz des ponderabeln Moleküls bedingt , dass es in Bewegung gesetzt und dann, sich selbst überlassen, rhythmisch sich bewegt, gerade wie ein Pendel in Bewegung gesetzt stets rhythmisch, nie unrhythmisch pendelt. Sobald nun die Eigenbewegung des Pendels und die ihn stossende Bewegung den gleichen Rhythmus haben, vermindert sich die Heftigkeit des Stosses , der seine Bewegung ausgelöst hat, wie Jeder an seiner Zimmeruhr probiren kann : Setzt er mit rhythmischen Stössen den Pendel in Bewegung, und ist der Pendel vermöge seiner Länge in der Lage, den gleichen Rhythmus anzunehmen, so treffen ihn die folgenden Stösse viel schwächer als der erste, weil er in dem Augenblick, in welchem der neue Stoss kommt, diesem bereits wieder ausweicht. Führt man dagegen nach einem Pendel unrhythmische Stösse , so sind starke Collisionen unvermeidlich. Auf die Lehre von den Sinnesreizen übertragen , heisst das : rhythmische Bewegungen wirken als schwache Reize , unrhythmische als starke. Damit ist die ganze Erscheinung erklärt, warum rhythmische Bewegungen angenehm, unrhythmische unangenehm sind ; denn bei schwacher Erregung werden bei der Eiweisszersetzung die Seelenstoffe in der Lustmodification frei , bei starker in der Unlustmodification. Damit erklärt sich ferner zweierlei : 1 ) Jeder rhythmische Reiz wirkt nur lusterzeugend, angenehm, so lange er einen bestimmten Stärkegrad nicht überschreitet ; andernfalls erzeugt er Unlust. 2) Bei jedem unrhythmischen Reiz gibt es eine Reizstärke, unterhalb welcher er nicht mehr unlust- , sondern im Gegentheil lusterzeugend wirkt. Dies führt uns zu den Duftstoffen zurück. Ein Lustduft erzeugt eine angenehme Empfindung, so lange er eine bestimmte Reizstärke nicht überschreitet , und es gibt bei allen Lustdüften, z. B. Rosenöl, eine Reizstärke, über die hinaus sie Unlust erregen. Umgekehrt, selbst die widrigsten Düfte können in genügender Verdünnung die Wirkung von Lustdüften annehmen. Wenn nun der Leser sich das überlegt, was ich S. 147 über die Duftbewegungen gesagt habe, so wird er begreifen , dass es ganz von der chemischen Beschaffenheit zweier Duft14* 212 stoffe abhängig sein muss , 1 ) ob ihre Duftbewegungen sich zu einer rhythmischen oder unrhythmischen Bewegung combiniren ; 2) ob die Duftstoffe sich gegenseitig zersetzen, der Objectduft also dem Selbstduft gegenüber Duftmörder ist, mit anderen Worten triebstillend wirkt. Als Gesetz für den Geist gilt : 1 ) er hasst die Unluststimmung des ihm dienenden Nervenapparates , ist dysphorophob; 2) er liebt zweierlei , a) Luststimmung des Nervenapparates, ist euphorophil , b) er sucht Triebstillung, Ruhe, ist Quietist. Daraus folgt er wird von allen Objecten abgestossen , deren Duft mit dem Selbstduft seines Wirthes unrhythmische Bewegungen gibt; er wird angezogen von allen Stoffen , deren Düfte entweder für den Selbstduft Duftmörder bilden , also triebstillend wirken, oder mit dem Selbstduft rhythmische Duftbewegungen geben. * ) Ich nenne die ersteren die adäquaten, die letzteren die inadäquaten Düfte. Diese Verhältnisse setzen nun jederseits eine ganz bestimmte chemische Zusammensetzung voraus, und es ist begreiflich : wenn die Selbstdüfte zweier Subjecte verschieden sind , so können sie unmöglich mit den gleichen Objectdüften in gleicher Relation stehen; einem jeden dieser Subjecte werden nur gewisse Objectdüfte adäquat, andere inadäquat sein, und die, welche dem Selbstduft A adäquat sind, können ganz unmöglich sammt und sonders auch dem Selbstduft B adäquat sein. Hierauf basirt das, was wir Instinct nennen, d . h. dass jede Thierart , ja jedes Individuum nur von ganz bestimmten Objecten angezogen , von ganz bestimmten zurückgestossen wird , und dass bei jedem Geschöpf, das selbst von einem anderen in Bezug auf die Seelenstoffe resp. Seelendüfte verschieden ist , die Objecte der Anziehung und Abstossung verschieden sind. Also das Wort „ Instinct" bezeichnet nur die individuell, speciell u. s . f. verschiedene chemische Relation zwischen Selbstduft und Objectduft , resp. die Harmonie- und Disharmonieverhältnisse der als Triebstoffe wirkenden Seelenstoffe. Deshalb können die Seelenstoffe ebensogut Instinctstoffe , als Triebstoffe genannt werden , und jedem Selbstseelenstoff stehen adäquate und inadäquate Instinctstoffe gegenüber. Damit verweise ich natürlich die Lehre vom Instinct rein in das Gebiet der Chemie, und es erhebt sich jetzt die Frage : Gibt es auch physikalische Instincte? Wenn meine Antwort

  • ) Ich_richte hier die dringende Aufforderung an die Physiker, sich mit

der Frage der Objectivirung der Duftbewegungen eingehend zu beschäftigen. Wer sie entdeckt, dessen Name wird ein Stern erster Grösse bleiben. 213 lautet : Nein , so weiss ich wohl, dass ich mich damit in starken Gegensatz zu DARWIN und meinen Mitschülern setze , welche die Farbe eine so colossale biologische Rolle spielen lassen, und doch glaube ich meine Antwort vollständig rechtfertigen zu können, und zwar folgendermassen : Nachdem , was ich bis jetzt über Trieb , Affect und Instinct erkannt habe , kommt bei der entscheidenden biologischen Frage „angenehm oder unangenehm" stets und unausweichlich ein Duftstoff in Betracht , und zwar so : Ein Ton, eine Farbe, ein Wärmegrad, ein Tastgefühl ist so lange lediglich psychisch indifferent , als kein Seelenstoff entbunden wird; erst wenn die Reizstärke die Affectschwelle überschreitet, ist der Reiz zunächst angenehm, und wenn er die Unlustschwelle überschreitet , unangenehm. Daraus ergibt sich folgendes Verhalten gegenüber physikalischen Reizen : Hat ein Geschöpf ein sehr zersetzbares Eiweiss , so wird ein physikalischer Reiz leicht einen Lustaffect, aber auch sehr leicht einen Unlustaffect erzeugen. Wir werden z. B. von einem Menschen sagen, er sei ein Farbenfreund , wenn ein farbiger Lichtstrahl leicht einen Lustaffect erzeugt. Nun ist bekannt, dass ein farbenfreudiger Mensch auch leicht durch eine zu grelle Farbe oder eine Farbendissonanz unangenehm berührt wird,,, es reisst ihm“, wie er sagt,,,die Augen heraus". Ein Mensch, der ein Tönefreund ist, wird durch einen harmonischen Ton sehr leicht in Lustaffect versetzt, aber je leichter das geschieht, um so geringfügiger braucht eine Dissonanz zu sein, um ihm in den Ohren weh zu thun. Umgekehrt , hat ein Mensch ein sehr schwer zersetzbares Eiweiss, so müssen die physikalischen Reize stark sein, um einen Lustaffect zu erzeugen , er wird grelle Farben und starke , grelle Töne, ja geradezu Dissonanzen lieben. Man wundert sich , so oft zu hören , dass barbarische Völker eine für unser Ohr ganz abscheuliche Musik lieben, und dass ihnen beim Anhören einer Oper das Stimmen der Instrumente mit seinen abscheulichen Dissonanzen besser gefällt, als die harmonische Musik. Die Sache ist sehr einfach : sie haben ein schwer zersetzbares Eiweiss in ihrem Hörmechanismus. Unter den europäischen Völkern haben die Engländer das am schwersten zersetzbare Eiweiss, und wie sie stärkste Weine, schärfste Speisen, gewaltsame Motionen brauchen, um genügend erregt zu werden, so ist ihr Farbensinn und Tonsinn sehr gering. Damit erklärt sich schon ein erheblicher Theil der specifischen und individuellen Unterschiede im Verhalten gegen physikalische Reize , und zwar gegen erworbene wie angeborene. Wir kommen aber noch weiter : 214 Der Grad der Zersetzbarkeit des Organ - Eiweisses ist nicht blos specifisch und individuell verschieden , sondern er kann bei einem und demselben Individuum auf dem Gebiete des einen Sinnes grösser sein als auf dem des andern. Z. B. beim gebornen Tönefreund und Musiker ist das Organ - Eiweiss des Hörapparates (Ohrnerv und Hörcentrum) zersetzbarer als das anderer Sinne, und das kann angeboren sein , ist es sogar meistens , und beim Maler gilt das Gleiche vom Sehorgan. Uebrigens sind die Differenzen, wie sich leicht beobachten lässt , nie sehr gross . Alle Künstler haben ein verhältnissmässig leicht zersetzbares Eiweiss , deshalb starke Triebe, sei's in Baccho oder Venere oder in beidem , starke Affecte , sehr ausgesprochene Instincte und ein reizbares Naturell. Also die Feinheit eines Specialsinnes fusst immer auf dem Boden allgemein gesteigerter Sinnlichkeit , weshalb man mit Recht Künstler nicht so streng beurtheilt wie andere Leute : sie stehen unter der Gewalt eines Naturtriebes und haben es daher viel schwerer, das zu sein, was man einen Tugendhelden nennt , während für einen stumpfsinnigen Menschen mit schwer zersetzbarem Eiweiss das keine Kunst ist. Auch darin äussert sich die allgemein gesteigerte Zersetzbarkeit des Eiweisses , dass z. B. ein Maler stets nebenbei musikalisch oder doch wenigstens nicht unmusikalisch ist , und dass ein Musiker nebenbei immer feines Farbengefühl hat u. s. f. Einen weiteren Anlass zu specifischen und individuellen Differenzen auf dem Gebiete der physikalischen Reize bilden die qualitativen Differenzen der Lichtstrahlen : die Farben. Dem Einen gefällt die eine mehr, dem Andern die andere. Ein Theil dieser Differenz ist schon besprochen : bei feinfühligen Menschen rufen schreiende Farben leicht Unlustempfindung hervor , weshalb sie mehr gebrochene Farben lieben. Dann aber ist klar: Wie man aus der Photographie weiss, ist die chemische Kraft der verschiedenfarbigen Lichtstrahlen erheblich verschieden, mithin auch ihre Eiweiss zersetzende Kraft . In dieser Beziehung ist ganz besonders das Roth bemerkenswerth, das wir geradezu die thierische Affectfarbe nennen können, und zwar die Lustfarbe *). Es besitzt offenbar die stärkste Eiweiss zersetzende Kraft , entwickelt also sehr leicht Lustaffect , aber ebenso was selbstverständlich ist es auch die specifische Zornfarbe (für Puter, Stiere, Hähne u. s . f.) , d. h. sie ruft auch leicht bei stärkerer Einwirkung Zorn hervor, und entsprechend liegt bei ihr auch die -

  • ) Siehe meinen Aufsatz : ,,Einiges über Farben und Farbensinn" (Kosmos,

Zeitschr . f. einheitl. Weltanschauung, Bd. I, 486) . 215 Unlustschwelle tief: das Roth blendet unter allen Farben am raschesten. Während nun die meisten Thiere, die überhaupt farbenfreundlich sind, die rothe Farbe lieben, besteht bei Gelb der bemerkenswerthe, von mir im eben citirten Aufsatz hervorgehobene Unterschied , dass wir neben ausgesprochenen gelb freundlichen Thieren ausgesprochene Gelbfeinde sehen. Das beruht nach meiner Ansicht auf einer eigenthümlichen Zersetzungswirkung gelber Strahlen , über die man sich aber erst nach vorgängigen genaueren Untersuchungen unter Berücksichtigung der Erfahrungen der Photographie mit dieser Farbe wird äussern können. Gegenüber Roth und Gelb darf die blaue Farbe mehr indifferent resp. reizlos genannt werden, weshalb man sie ja jetzt auch bei Tobsüchtigen anwendet, um den Cerebrospinalreiz zu mindern ; mir ist biologisch nichts weiter von ausgesprochener Blaufreundlichkeit noch Blaufeindlichkeit bekannt. Dem Blau kommt offenbar die geringste Eiweisszersetzungskraft unter den Grundfarben zu . Grün bedarf gleichfalls noch genauer Untersuchung , steht aber jedenfalls dem Roth in seiner psychischen Wirkung näher als dem Blau. Wenn nun Jemand die Differenzen der Zersetzbarkeit des Organ-Eiweisses durch physikalische Reize , sofern sie unleugbar angeborene Qualitäten sind, instinctive Unterschiede nennen will , so lässt sich dagegen nicht viel einwenden , allein ebensowenig lässt sich meine Behauptung anfechten, dass diese Unterschiede der Zersetzungsfähigkeit auf einer chemischen Qualität des Eiweissmoleküls beruhen , bei der gerade die specifischen, d. h. die Seelenstoffe die Hauptrolle spielen. Deshalb sind alle diese scheinbar physikalischen Instincte in letzter Instanz chemische. Eine weitere schwierige Frage ist : Gibt es Raumsinn- oder Forminstincte? „Ja und Nein", wie man will. Thatsache ist alle Thiere sind gross feindlich und kleinfreundlich, d. h. fürchten grosse Thiere und lieben kleine, was seinen höchst einfachen Grund hat. Die Stärke der Erregung des Auges hängt nicht blos von der Lichtstärke der einzelnen Strahlen ab, sondern von der Ausdehnung, in welcher die Sehhaut gereizt wird , d. h. von der Grösse des Nezhautbildchens. Der Anblick eines grossen Thieres bringt also leichter jene Erregungsstärke hervor, welche die Angstschwelle überschreitet , als der eines kleinen. Deshalb verfallen alle Thiere einem grossen Thier gegenüber , auch wenn sie es nicht kennen , viel leichter instinctiv in Angst, als gegenüber kleinen. Aus demselben Grunde tritt instinctive Angst um so 216 leichter ein, je näher ein Thier dem Auge , weil damit auch sein Nezhautbild grösser ist. Ebendarauf beruht auch der sogenannte Gesichtschwindel. Wenn Jemand auf eine Höhe steigt, so vergrössert sich die Zahl der im Netzhautbildchen befindlichen differenten Objecte so bedeutend , dass Ueberreiz mit Angststoffentbindung entsteht ; denn der Schwindel ist lediglich Folge von Angststoffentbindung. Anders liegt die Frage beim Forminstinct. Für diesen wird besonders die schon öfters , auch von DARWIN, besprochene Furcht der Säugethiere, insbesondere der Affen, vor Schlangen angeführt. Ich habe darüber nicht experimentirt, allein ich traue der Sache durchaus nicht. Man mache eine Schlange aus Papiermaché, aber gegliedert und beweglich , und versuche es dann. Ich bin überzeugt , der Effect wird ein ganz anderer sein als bei einer natürlichen, todten Schlange, weil beide ganz verschieden duften. Der specifische Schlangenduft ist fast allen Säugethieren und Vögeln antipathisch, und das halte ich für die Hauptsache. Dazu kommt nun die für einen Vogel und ein Säugethier ungewohnte , weil von der ihrigen ganz abweichende Form und endlich bei der lebenden Schlange noch die eigenartige Bewegung. Wellenbewegungen , z. B. das Wellenspiel eines Flusses , Baches , eines schaukelnden Gegenstandes , sind ein mächtiger Reiz, und zwar sowohl für's Auge als für den Geist , der sie mit Aufmerksamkeit verfolgt, sie rufen deshalb bekanntlich sehr leicht Schwindel mit Angst (Unluststoffentbindung) hervor ( Bewegungsschwindel) . Dies führt uns noch zu der bekannten Erscheinung : Ein sich bewegender Gegenstand reizt das Auge viel stärker als ein ruhender, 1 ) weil das Netzhautbildchen fortwährend seinen Platz wechselt, oder das Auge sich anstrengen muss, ihm zu folgen. Der Reiz ist um so stärker , je unregelmässiger die Bewegung, je schwerer man ihr mit dem Auge und der Aufmerksamkeit zu folgen vermag. Deshalb wird hier weit schneller die Unlustschwelle überschritten, Unluststoff entbunden und Unlustempfindung , ja Unlustaffect bis zu panischem Schreck bewirkt . Dies erklärt manche biologische Erscheinungen. Wollen wir ein Thier reizen , so dürfen wir nur pendelnde Bewegungen vor ihm ausführen ; so ätzt der Vogel seine Jungen, so reizen Knaben einen Hund zum Zorn, und böse Hunde kann man durch wiegende Bewegung des Gesammtkörpers bei kauernder Stellung in panischen Schreck versetzen. AufGrund des Vorstehenden glaube ich an formale Instincte nicht. Dagegen gibt es einen angebornen formalen Schönheitssinn , der aber wieder chemischer Natur ist , was auf den ersten Blick sonderbar klingt. Jedoch ist dem so und es beruht auf Folgendem : 217 Alle rhythmischen Bewegungen sind schwächere Reize als unrhythmische, welche letztere deshalb sehr leicht die Unlustschwelle überschreiten. Hat eine Linie einen rhythmischen Verlauf (Schönheitslinie) , so macht das Auge , resp. seine Bewegungscentren, beim Verfolgen derselben rhythmische Bewegungen , die als angenehmer Reiz wirken. Hat dagegen die Linie einen unrhythmischen Verlauf , so fallen auch die Sehbewegungen bei ihrer Verfolgung unrhythmisch aus und erzeugen leicht Unlustaffect. Dies ist aber nur möglich bei stark zersetzbarem Eiweiss. Daher kommt es , dass Leute mit ausgesprochenem Formensinn, also nicht blos die Maler und Bildner, sondern auch die Aesthetiker, stets sehr sensible, nervöse, leicht von Trieben und Affecten heimgesuchte Menschen sind. So ist denn auch der angeborne Schönheitssinn keine physikalische, sondern im Grunde genommen eine chemische Erscheinung , und glaube ich mithin , dass alles angeborne Instinctive in letzter Instanz auf die chemische Qualität der duftenden Seelenstoffe und die Art ihrer Verbindung mit dem Organ- Eiweiss hinausläuft. Nur so wird es völlig begreiflich , wie in dem Samenfaden einer Eizelle die Anlage zu einem Musiker, Maler , Aesthetiker etc. etc. liegen kann , womit das Räthsel der Vererbung eine ganz bedeutende Aufhellung er- fahren hat. Zum Schluss noch einen Unterschied, der mir bei meiner Entdeckung viel zu schaffen gemacht hat : derjenige zwischen dem Naturforscher einerseits und dem Philosophen , Aesthetiker und einem zahlreichen Heere von Personen andererseits. Auch dieser ist chemischer Natur. Dem Naturforscher sind „Naturalia non turpia ", sein Seelenstoff wird von den Ekelstoffen der Naturobjecte nicht oder nur schwach disharmonisch berührt ; den Anderen dagegen „ stinkt die Natur" , sie ekeln sich vor schmutzigen Fingern , ohne die es eben beim Forschen in der Natur einmal nicht abgeht. Sind solche Instinctdifferenzen angeboren, so lässt sich schwer dagegen ankämpfen , und wenn Jemand über meine Seelenlehre, bei der eben nicht blos die wohlduftende Lustseele , sondern auch die übelduftende Unlustseele bis in ihre geheimsten und nichts weniger als appetitlichen Schlupfwinkel verfolgt werden muss, die Nase rümpft , so muss er eben mein Buch liegen lassen, da kann ich ihm nicht helfen. 18. Gelüste. Eigentlich gehören Instinct , Gelüste und Idiosynkrasie in ein und dasselbe Kapitel, nämlich das der chemischen Relation der Seelenstoffe von Subject und Object, allein es empfiehlt sich doch getrennte Behandlung, und ich stelle zwischen die Erörterung von Instinct und Idiosynkrasie die des Gelüstes als des Effectes , der sich aus Instinct- und Idiosynkrasie - Beziehungen ergibt , und zwar so: Wennin einem lebenden Wesen freie Duftstoffe vorhanden sindganz gleichgiltig, woher sie stammen , die zu einem Objectduft in ausgesprochener Harmonie stehen, so fühlt das betreffende Wesen ein unwiderstehliches Verlangen nach diesem Object, und das ist das „ Gelüsten", im Fall der ausgesprochenen Disharmonie aber einen unüberwindlichen Ekel. Der Selbstduft , um den es sich hierbei handelt, ist entweder ein angeborener oder ein erworbener. Für den ersteren Fall gebe ich eine Mittheilung von Dr. M., weil sie auch auf die im Artikel „ Pangenesis" geschilderten Verhältnisse ein helles Licht wirft. „Meine Mutter erzählte mir oft , sie habe , als sie mit mir schwanger ging , ungemeines Gelüste nach rothen Rüben in Essig und nach Gurkensalat gehabt. Und siehe da : Von Kindesbeinen an brannte ich für rothe Rüben und Gurkensalat ; noch heute (55 Jahre alt) ziehe ich diese beiden Salate jedem andern Salate vor , verfalle höchstem Gelüste , wenn ich nur von Gurkensalat sprechen höre, und muss alle Energie zusammennehmen, nicht zu viel und nicht zu oft davon zu kosten , denn seit ich älter geworden , verursacht der Genuss mir stets sehr arge gastrische Folgen, aber das Gelüste ist noch vollständig da. " 99 Umgekehrt hatte bei meinem Bruder meine Mutter während der Schwangerschaft die ärgste Antipathie gegen Spinatgemüse und Sardellensauce , und das Resultat : Bei ihm nützten sogar 219 Prügel und Hungerleiden nichts, Spinat und Sardellensauce waren ihm durchaus nicht in den Mund zu bringen , durften ihm später auch von seiner Frau nicht aufgetischt werden." Erklärung : Der bei der Bildung des Kindes thätige Duftstoff, sein individueller Seelenstoff , gelangt stets auch in das Blut der Mutter und setzt dort die gleichen idiosynkrasischen Beziehungen zu den Objectivdüften , welche später das Kind beherrschen. In der Mutter verschwinden sie wieder , sobald mit der Leibesfrucht die Duftquelle ausgestossen ist. Der zweite Fall ist der, dass das Gelüste ein erworbenes ist ; das gilt ganz besonders von der Nahrung. Wenn eine Speise oder ein Getränke längere Zeit genossen wird , so kann sich ein unwiderstehliches Gelüste nach ihr entwickeln , was namentlich von den geistigen Getränken gilt. Dass hier eben wieder die Duftstoffe das Agens sind , und wie sie hier wirken, haben mir insbesondere die schon früher erwähnten und später noch zu besprechenden Desodorisations - Versuche an mir und meinen Familienmitgliedern klar gemacht, und getreu dem historischen Gang, den ich bei der Behandlung der Materie dieses Buches einschlage, beginne ich mit ihnen. Ehe ich mich und meine Familienmitglieder dem desodorisirenden Regime unterwarf, war unser Verhalten bei der Speisen- wahl folgendes : 1 ) Jedes der Mitglieder hatte seine besonderen ausgesprochenen Lieblingsspeisen , und wieder ein jedes besass gegen diese oder jene Speise eine tiefe Abneigung. 2) Die Gelüste nach bestimmten Speisen und Getränken hatten bei uns Allen etwas Gewaltthätiges , Unwiderstehliches ; von den Abneigungen galt dasselbe , und es war ganz gleich , ob wir die Gegenstände sahen oder rochen oder nur daran dachten. 3) Speisen, welche die Kinder wohlschmeckend fanden, waren in der Regel meiner Frau und namentlich mir nicht piquant oder scharf genug, während umgekehrt Speisen, die mir mundeten, den Kindern zu scharf" , zu „ reizend" vorkamen , eine ebenfalls alltägliche und überall zu machende Beobachtung. ― 4) Es bestand namentlich wieder bei mir und meiner Frau viel stärker als bei den Kindern das Bedürfniss nach möglichster Abwechselung. Wiederholte sich eine Speise zu oft, so wurde sie uns überdrüssig, wovon jedoch einzelne Speisen stets eine Ausnahme machten. Dass bei den Erwachsenen das Bedürfniss nach Abwechselung grösser war als bei den Kindern , zeigte sich darin, dass letztere sich nichts daraus machten, Speisen, die vom Mittagstisch übrig blieben , Abends zu essen , während dies weder mir noch meiner Frau behagte. 220 5) In die gleiche Kategorie von Erscheinungen gehört Folgendes : Meine Frau leidet seit zwei Jahren an einer Läsion des Gefässregulirungscentrums. In der Zeit , in welcher sie nun viel von Herzklopfen , Bangigkeiten , Gefässpalpitationen etc. heimgesucht war , also unter dem Einfluss reichlicher pathischer Affecte , d. i . Duftentbindung stand, war bei ihr das Gelüste nach Abwechselung am grössten. Seitdem unsere Körper ziemlich hochgradig desodorisirt sind, ist das Bild ein ganz anderes geworden , wobei ich jedoch Folgendes voraussende. Wie aus dem S. 188 über die Frauen Gesagten einleuchtend ist , kann man bei diesen keine so hochgradige Desodorisation des Körpers hervorbringen wie beim Mann , und deswegen ist das Verhalten meiner Frau gegen die Speisen zwar auch bedeutend anders als früher, aber doch dem früheren Zustand noch entschieden ähnlicher als bei mir. Was ich also im Folgenden sage, gilt insbesondere von mir und meinen Kindern. 1 ) Die idiosynkrasischen Abneigungen gegen bestimmte Speisen sind nicht verschwunden, jedoch bedeutend gemildert. Meist bittet das Kind nicht mehr darum, von der Speise nichts essen zu dürfen , es isst sie nur weniger gern als anderes. Bei mir ist es ebenso ausgesprochen. 2) Die Gelüste nach bestimmten Speisen und Getränken haben dagegen ganz auffallend abgenommen; dies ist bei mir natürlich viel deutlicher bemerkbar als bei den Kindern, weil ich eine freiere Wahl hatte als sie und fast täglich die Auswahl der Speisen bestimmte. Am deutlichsten und merkwürdigsten ist die Sache bei den Getränken. Ich habe nicht nur viel weniger Durst, sondern es hat speciell das Gelüste nach alkoholischen Getränken fast ganz aufgehört. Früher zog es mich unwiderstehlich zur Bier- oder Weinflasche, sobald die Zeit kam, in der ich gewohnt war, zu trinken, und ich hätte es als eine ganz unausführbare Zumuthung zurückgewiesen , wenn Jemand von mir verlangt hätte, einmal nach Tisch oder Abends zur Arbeit nichts oder blos Wasser zu trinken ; jetzt fühle ich dazu fast gar kein Gelüste mehr. Früher befragte mich meine Frau stets , was ich zu Mittag wünsche , und da tauchten fast immer bestimmte Gelüste in mir auf nach diesem oder jenem. Jetzt ist mir ganz egal, was gekocht wird, und ich habe meiner Frau erklärt , sie brauche mich nicht mehr zu fragen. Wenn ich in der Stadt an einem Delicatessenladen oder einem Obststand vorbeikam, so überkamen mich meist Gelüste nach dem und jenem , denen ich natürlich, je nachdem, bald gehorchte, bald widerstand. - Ich will nicht sagen, dass ich jetzt stets ganz empfindungslos an dergleichen Dingen vorbeigehe , ebensowenig dass ich sie nicht gerne esse , 221 allein von Unwiderstehlichkeit ist lediglich keine Rede mehr. Ich bewahre ihnen gegenüber vollständig freien Willen. 3) Die Ergänzung zu dem Vorigen bildet das Zurücktreten des Abwechslungsbedürfnisses. Reste vom Mittagstisch schmecken mir Abends ebenso gut wie Mittags, und es ist mir fast völlig gleichgiltig , welche Speise auf den Tisch kommt , sofern sie nur an und für sich schmackhaft zubereitet ist. 4) Während ich früher meine Speisen scharf würzte, namentlich zu jeder Suppe Fleischextract und Parmesankäse setzte und heftiges Gelüste danach spürte, wenn einmal das eine oder andere zufällig ausgegangen war , schmecken mir jetzt die Speisen auch ohne diese Zuthaten fast so gut , als mit denselben. Ich will damit nicht sagen , dass sie mir mit den Zuthaten nicht besser schmeckten als ohne sie , dass ich also etwa unempfindlich gegen sie wäre , durchaus nicht es ist nur einerseits das Gelüste danach weggefallen , und andererseits genügen reizlosere , duftund würzelosere, mildere Speisen vollständig zur Stillung meines Ernährungstriebes. Speisen , die mir früher fade vorkamen, schmecken mir jetzt kräftig genug , ich bin also im Gegentheil empfindlicher gegen Würzestoffe geworden. Wie lassen sich nun diese gewiss höchst merkwürdigen Erscheinungen , die völlig unbeabsichtigt und unbewusst bei uns sich mit der Desodorisation einstellten , erklären , und was folgt daraus für das Wesen von Trieb, Instinct und Gelüste ? 1) Wenn ein Körper stärker mit Duftstoffen durchsetzt ist, so befindet er sich stets in einem gesteigerten Zustand innerer Thätigkeit und damit in einem gewissen stetigen Ermüdungszustand , sodass es stärkerer Reize bedarf, um ihn anzuspornen . Es ist eine bekannte Erscheinung , dass , je stärkere Stimulantia ein Mensch anwendet , um so unempfindlicher er gegen schwache Mittel wird. Ist dagegen sein innerer Duftstoffstand gering , so genügen schwache Reize, um den gleichen Thätigkeitszustand zu erzeugen. 2) Woher kommt nun aber das Gelüste nach bestimmten Gegenständen, im Fall es ein erworbenes ist ? Hier muss vorausgesendet werden : Wenn Jemand eine Speise noch nicht kennt, so hat er kein Gelüste danach ; dasselbe tritt erst ein , wenn er jene ein oder mehrere Mal genossen , wenn er sich wie man gewöhnlich sagt daran gewöhnt hat. Man glaubt nun in der Regel , man habe etwas erklärt , wenn man das Wort „Gewöhnung" ausspricht, und bedenkt nicht, dass die Erscheinungen der Gewöhnung zu den allermerkwürdigsten , räthselhaftesten und unaufgeklärtesten Dingen bei den Lebewesen gehören. Deshalb 222 wird das , was ich jetzt sage , ein gewaltiges Schlaglicht auf die auch mir bis zu diesen Versuchen räthselhaft gebliebene „, chemische Gewöhnung" werfen. - Die grundlegende Thatsache der Gewöhnung an bestimmte Genüsse (Speisen und Getränke) ist die, dass der Mensch stets nach ihnen duftet, und was man beim Thier constatiren kann sein Fleisch stets nach ihnen schmeckt. Dass die Forschung dies radical unbeachtet liess , ist um so unbegreiflicher, als es eigentlich eine volksbekannte Thatsache ist. Jeder weiss, dass ein Gewohnheitstrinker stets nach Alkohol, ein Gewohnheitszwiebelesser stets nach Zwiebeln duftet , ein gewohnheitsmässiger Fleischesser wovon schon früher die Rede war fortwährend den Beefsteakduft verbreitet, woraus man sofort auf die speciellen ,,Gelüste" des Menschen schliessen kann. Also die Gewöhnung an einen Duft- und Würzestoff besteht darin , dass der Körper damit imprägnirt wird , resp. dass ein Theil der betreffenden Duftstoffe im Körper zurückbleibt. Das Correlat hierzu ist natürlich : Entwöhnung des Körpers von einem Genussmittel ist Entfernung dieses Duftrestes , also Desodorisation , oder umgekehrt : Desodorisation des Körpers ist gleichbedeutend mit Entwöhnung , was zu wissen z. B. für die Heilung der Trunksucht ausserordentlich wichtig ist. Fassen wir das in den vorhergehenden beiden Abschnitten Gesagte zusammen, so lautet der Satz : Allgemeine (natürlich stets relative) Desodorisation des Körpers vermindert resp. beseitigt die Launenhaftigkeit des Instinctes und die Gelüstigkeit. Zur Erklärung steht übrigens noch Folgendes aus : Wie kommt es, dass die Duftreste z. B. einer Speise bewirken, dass man gerade zu dieser Speise wieder hingezogen wird, und wie lässt sich das mit der früher besprochenen bekannten Thatsache in Einklang bringen, dass Sättigung mit einer Speise resp. deren Duft umgekehrt den Appetit nach ihr aufhebt , ja Uebersättigung , sogar Ekel vor ihr erzeugt. Die erste Thatsache, von der die Erklärung auszugehen hat, ist die Ein Mensch, der eine Speise genossen hat oder sie gewohnheitsmässig geniesst, duftet nicht so, wie die frische Speise duftet, sondern qualitativ anders. Am greifbarsten ist das wieder bei den alkoholischen Getränken zu constatiren. Ein Gewohnheitstrinker oder ein Mensch, der betrunken ist, duftet zwar nach dem Getränke, das er zu sich genommen hat, allein während das frische Getränke uns angenehm duftet , ist der Duft des Säufers für einen andern stets unangenehm: der Wein duftet nach Bou- 223 quetten , der Säufer nach den adäquaten oder correlaten Fuseln. Oder der Duft eines frischen Beefsteaks ist unstreitig angenehm, der des Beefsteakessers ebenso unbestreitbar unangenehm. Die zweite Thatsache, von der die Erklärung auszugehen hat, ist das , was S. 211 besprochen worden ist . Ein unrhythmischer Reiz ruft nur dann eine Unlustempfindung oder einen Unlustaffect hervor, wenn seine Reizstärke einen gewissen, allerdings viel niedriger als bei einem Luststoff liegenden Schwellenwerth überschritten hat; unterhalb dieses Schwellenwerthes erzeugt er dagegen eine Lust empfindung, d. h. er entbindet Luststoff. Mithin ist der Verlauf z. B. bei Speisedüften und Würzen so : Hat Jemand Appetit in Folge Auftauchens von Hungerdüften , so bewirkt der durch Athmung oder vom Magen aus eindringende Duftstoff mit dem Hungerduft zusammen eine rhythmische, also angenehme Duftbewegung, aber nach einiger Zeit tritt die S. 207 geschilderte Triebstillung ein : der Speiseduft hat den Hungerduft zersetzt. Damit hört der Appetit nach der Speise auf. Das Zweite ist , dass die in der Speise enthaltenen Brennstoffe durch die Neutralisirung des Sauerstoffes die Eiweisszersetzung sistiren, also die Quelle des Hungerduftes versiegen machen. Isst man jetzt noch mehr von der Speise , so kommt der Hungerduft nicht mehr in Betracht, sondern nur noch der Speiseduft allein ; dieser lässt uns jetzt ebenso kalt , wie ehe man hungrig geworden ist, und da er sich jetzt in die Unlustmodification ( Fäcalmodification) umsetzt, die Pancreasverdauung ebenfalls den noch nicht frei gewordenen Theil der Speisedüfte in Fäcalmodification entbindet, so kommt bei der Nachwirkung der Nahrungsaufnahme nur noch die Unlustmodification des Speiseduftes in Betracht, und zwar so : Zunächst ist der Fäcalduft der Speise in maximo vorhanden, also steht die Reizstärke oberhalb der Unlustschwelle, Verdauungsunlust ( S. 156) . Mit der Abdünstung durch Haut , Lunge und After sinkt der Duftstoffstand und gelangt mit absoluter Nothwendigkeit schliesslich unter die Unlustschwelle , so dass er jetzt als Luststoff wirkt. Damit ist aber das „Gelüste" nach der Speise bezw. dem Getränke noch nicht vorhanden, wir haben noch zwischen dem Latenzstadium und dem Evidenzstadium zu unterscheiden , denn bekanntlich kommt das Gelüste häufig erst in dem Moment, in dem wir an die Speise denken oder sie durch einen Distanzsinn wahrnehmen, oder wenn wir überhaupt Hunger bekommen. Das hat folgenden Grund : Das Organ-Eiweiss besitzt die Fähigkeit, gewisse Gase zunächst locker, also eigentlich nicht chemisch zu binden , sondern blos zu 224 - absorbiren. Der bekannteste Fall ist die lockere Bindung des Sauerstoffs durch das Blutroth. Allem nach es muss das noch ganz exact mit der Luftpumpe geprüft werden, wozu ich die Experimentalphysiologen hiermit einlade werden die restirenden Duftstoffe der Speisen in ähnlicher Weise vom Organ- Eiweiss festgehalten, und jetzt ist das „Gelüste" nach der Speise latent. Sobald aber eine Eiweisszersetzung ausgelöst wird , sei es durch geistigen Anstoss (Erinnerung) , Hungerstoffwechsel oder Sinnesanstoss, so erscheint der Fäcalduftrest mit „Luststärke", wird vom „Geist" seiner Qualität nach erkannt , und damit ist das stets bewusste Gelüste evident. Um diesen höchst interessanten, alltäglich in unserm Körper sich abwickelnden , in so hohem Masse unser Thun und Lassen beeinflussenden Vorgang dem Leser ganz klar zu machen , will ich ihn an das erinnern , was er beim Genuss alkoholischer Getränke gewiss selbst schon erfahren hat. 1. Stadium des Trinkens : Luststadium, Trunkfreude. Alkohol und Bouquette wirken als Luststoffe. 2. Stadium: Indifferenzstadium, die Trunktriebstoffe sind neutralisirt, und es machen sich Ermüdungsstoffe geltend : Trunkmüdigkeit. 3. Stadium : Hier sind sofort mehrere Fälle zu unterscheiden : a) Wenn das Getränke neben den Bouquetten Fusel, also Unluststoffe enthält, so tritt, oft schon ehe der Alkohol berauschend wirkte , zunächst Trunkzorn , dann Trunkangst, vulgo Katzenjammer ein. b) Hat man nicht zu übermässig getrunken, und war das Getränke fuselrein , so verdunstet mit dem Alkohol der allenfallsige Rausch , und von den Bouquetten kann bis zum Eintritt ihrer Umsetzung in Fusel so viel verdunstet sein , dass die restirenden Fusel nicht mehr als Unluststoffe, sondern nur noch als Luststoffe wirken das ist natürlich der glücklichste Ausgang der Sache. c) Unglücklich verläuft die Sache, wenn folgende zwei Fälle eintreten: Die Alkoholica enthalten bekanntlich eine ganze Menge specifisch verschiedener Bouquette, an denen der Weinkenner Rebensorte , Jahrgang , Alter, Lage etc. erkennt. In Bezug auf ihre Umsetzungsfähigkeit in Fusel verhalten sich diese Bouquette sehr verschieden, worauf man bisher noch zu wenig geachtet hat. Die einen, z. B. die Bouquette junger Weine, werden leicht in Fusel umgesetzt (,,labile" Bouquette), andere, insbesondere die alter Weine, viel schwieriger (,, fixe" Bouquette). Wein mit fixen Bouquetten nenne ich bouquetfest. Trinkt nun Jemand ein nicht bouquetfestes Getränke , so tritt die Fuselbildung 225 viel leichter vor dem Zeitpunkt ein , in welchem die Abdunstung eine genügende Verminderung herbeigeführt hat. Deshalb scheidet. der Trinker mit Recht die Weinsorten in gefährliche und ungefährliche , unedle und edle. Von letzteren kann man weit mehr trinken, als von ersteren, ohne dass, selbst bei schwerer Berauschung, ein entsprechender Katzenjammer folgt. Bei den unedlen , wenn auch ganz fuselfreien Getränken dagegen stellt sich der Katzenjammer meist ein , wenn im Trinken ein gewisses Mass überschritten ist. 4. Stadium : Gelüste nach neuem Trunk. Dieses tritt unfehlbar ein, ganz gleichgiltig , ob der vorhergehende Trunk einen Katzenjammer hinterlassen hat oder nicht. Allerdings auf der Höhe des Katzenjammers besteht ,, Trunkfurcht" , allein sobald die veranlassenden Fusel soweit abgedunstet sind , dass der Fuselgehalt des Körpers unter das Unlustmass herabgesunken ist, tritt das Gelüste auf und zwar, wie aus dem schon früher Gesagten hervorgeht , in maximo und mit einer gewissen Unwiderstehlichkeit , weil nahe der Unlustschwelle die Lustentbindung am stärksten ist. So wird , wie jene witzigen Katerthesen sagen, der Katzenjammer zum Vater des Rausches und damit zu seinem eigenen Grossvater. Hat dagegen Jemand mässig getrunken , so ist auch das erwachende Gelüste mässig. Nun noch die Frage : Warum kann man, was ja notorisch ist, einen Katzenjammer mit neuem Trunk stillen , selbst wenn noch gar kein Trunkgelüste , sondern sogar Trunkekel besteht? Das ist sehr einfach : die excitomotorische Wirkung des frischen Getränkes verstärkt die Haut- und Lungenausdünstung und damit die Exhalation des Fuselüberschusses. So haben wir denn gesehen, dass jener ganze merkwürdige Wechsel psychischer Zustände, der sich an die Bethätigung unseres Ernährungstriebes und -Instinctes knüpft, sich auf ein höchst einfaches Düftespiel zurückführen lässt, und darin liegt ein weiterer Beweis für meine Behauptung , dass diese Düfte die Seelenstoffe sind. Jaeger, Entdeckung der Seele. 15 19. Idiosynkrasie. Dass die hiermit bezeichneten Erscheinungen lediglich nichts anderes sind als bestimmte Instinctmodificationen , als ein Theil der Thatsache, dass jeder eigenartige Selbstduft eigenartige, d. h. idiosynkrasische Beziehungen zu den Objectdüften der Aussenwelt besitzt , wird dem Leser, der mir bis hierher gefolgt, längst klar geworden sein. Es bleibt also fast ganz gleichgiltig , ob wir für eine Erscheinung das Wort „Instinct" oder „Idiosynkrasie" gebrauchen , und wenn wir letzteres Wort noch beibehalten wollen, so empfiehlt es sich , nur die im Nachstehenden angeführten Instinct differenzen damit zu bezeichnen. Ich will diese Differenzen übersichtlich zusammenstellen und einiges für die Seelenlehre allgemeiner Interessantes und Beweisendes dabei herausgreifen. 1 ) Es geht durch alles Instinctleben hindurch der Gegensatz der beiden Affectmodificationen aller Duftstoffe : Luststoff und Unluststoff. Der Gegensatz zeigt sich immer auf mehrfache Weise: a) duften die Geschöpfe in den beiden Affectzuständen verschieden ; b) sind ihre instinctiven Beziehungen zur Aussenwelt in beiden Affecten ganz entgegengesetzt , es duftet und schmeckt ihnen alles entgegengesetzt ; c) sind die Aeusserungen des Körpers bei beiden Affecten ganz entgegengesetzt : Affect differenzen. 2) Es ändert sich das Verhalten des Menschen sofort , wenn ein anderer Organseelenstoff frei wird ; er duftet anders, und seine Idiosynkrasien sind geändert : Organogenetische Differenz. 3) Es ändern sich die Düfte und Instinctbeziehungen nach Alter und Geschlecht: Alters- und Geschlechtsdifferenz. 4) Es gleicht in Bezug auf die Seelenstoffe kein Mensch dem andern völlig. Jedes Individuum duftet anders als jedes andre, und nicht zwei Menschen gleichen sich völlig in ihren Instincten und Liebhabereien : Individuelle Differenz. 227 5) Es hat jede zusammengehörige Individuensumme ihre eigenthümliche Seelenmodification ; wir können Familienseelen, Nationenseelen , Völkerseelen , bez. - Düfte und -Instincte unterscheiden: Familien-, Nationen-, Völker differenzen. 6) Allerdings nur eine Consequenz von Nr. 2 : Ein Mensch duftet nicht am ganzen Körper gleichartig, sondern er hat deutlich gesonderte Duftprovinzen. Wir müssen aber das besonders aufführen , weil es einige bisher völlig räthselhafte , instinctive Erscheinungen erklärt : Regionaldifferenz. Es sollen nun im Nachstehenden obige sechs Differenzen der Reihe nach kurz besprochen und illustrirt werden. Affectdifferenz. Hierüber ist schon sehr viel gesagt; ich füge nur noch Folgendes hinzu : Wenn wir den Seelenruhestand als den normalen ansehen, so sind im Lustzustand alle Gelüste rege und alle instinctiven Abneigungen scharf ausgesprochen; in der Seelenruhe sind sie latent. Im Unlustaffect dagegen nehmen alle Gelüste den gegentheiligen Habitus an, sie werden zu Ekelgefühlen, und andrerseits, was aber seltener bemerkt wird, idiosynkrasische Abneigung schlägt oft in's Gegentheil, in Gelüste um. Bei den flüchtigen Cerebralaffecten wird gewöhnlich nur der Ekel vor den gewohnten Speisen bemerkt ; doch verdanke ich der Zusendung eines Anonymus , dem ich hiermit Dank abstatte, folgenden Beweis , dass es Personen gibt, welche diese so flüchtige Differenz ganz unabhängig von mir und richtig beobachtet haben , nur eben nicht zu deuten vermochten. Folgendes ist einem Feuilleton der Kölnischen Zeitung vom 30. Mai 1879 entnommen , welches die Richtung eines französischen Romanschriftstellers EMILE ZOLA schildert. Es heisst dort : ,,Im Assommoir gibt's der Thaten des Geruchsinnes natürlich kein Ende ; Ihren Triumph aber feiert die Nase in der berühmten Beschreibung der Käsesorten in den Hallen. Sie ist so detaillirt und zeugt von einem solchen Raffinement des Geruchsinnes , dass die Kritik ihr den Namen der « Käsesymphonie» gegeben hat. Sie dient zur Begleitung eines psychischen Actes : ein schreckliches Geheimniss wird verrathen, und in der Seele der Verrätherin wie der Zuhörerinnen drückt sich das Entsetzen über die Enthüllung aus ; die Käsesymphonie setzt diese Empfindungen in Gerüche um. Eine Klatschschwester erzählt zwei anderen , dass der Halleninspector Flourent ein entsprungener Galeerensträfling sei, und sofort befinden sich alle Gerüche in lebhaftem Streit (weil in den Personen Gehirnangststoff entbunden worden ist. JGR ). Der Camambertkäse riecht nach Wildpret, der Mont d'or süsslich , der 15* 228 Neufchatel , der Pont l'evêque, und wie sie alle heissen , tragen jeder zur allgemeinen Geruchscene bei. Und eben als ein Géromékäse unter der Nase der Verrätherin unerträglich zu duften begann, brach sie in die Wiederholung ihres Verrathes aus u. s. f. " Am Schluss sagt ZOLA: „ Es war aber, als hätten die bösen Worte der Frau Lecoeur und der Mamsell Saget so schlecht gerochen." Bei den lang andauernden pathischen Affecten wird die Sache natürlich viel deutlicher, wofür ich zwei Mittheilungen anführen will. Mein Freund Dr. ROLLE schreibt mir z. B. über ersteres, den Ekel vor gewohnten Genüssen : ,,Ich kannte zwei Förster E. und B. - E. starb an einer raschen Auszehrung. Einige Tage vor seinem Tode besuchte ihn B. Beide waren starke Raucher, aber wie B. an E.'s Krankenlager trat, sagte letzterer: „ Ich bitte dich , geh' vom Bett weg , du riechst entsetzlich nach Tabak. Der Geruch ist mir unausstehlich. " Der Ekel vor Tabak oder ,, das Nichtschmecken der Pfeife" ist eines der sichersten Zeichen einer mit intensiverer Eiweisszerstörung verbundenen Krankheit. Ein Beispiel vom Umschlag der Abneigung in's Gegentheil theilt mir Herr Repetent WICKESHEIM in Hohenheim mit. Sein Vater erkrankte vor einigen Jahren an einer chronischen Lungenaffection, diese zwang ihn zu einer vollständigen Umkehr seiner Nahrungswahl ; er war früher ein Freund fleischiger, scharfer Kost und verabscheute alle süssen Milch- und Mehlspeisen, jetzt schmecken ihm nur letztere, und erstere sind ihm instinctiv zuwider. Auch bei schwangeren Frauen bemerkt man öfters Neigung zu sonst absolut ekelhaften Dingen, wie angebrannten Federn, Teufelsdreck u. s. f. Es fällt das immer in die Zeit , wo der Reiz, den die Schwangerschaft mit sich bringt, die Unlustschwelle überschreitet. Auch während der Menstruation , während deren die Frau, wie früher gesagt, unter Einfluss eines Unluststoffes steht, bemerkt man öfters ähnliche Gelüste. Ueber eine andere Ursache der Gelüste der Schwangeren ist schon früher gesprochen worden. Organogenetische Differenz. Hierfür ist das bekannteste Beispiel die Aenderung der idiosynkrasischen Beziehungen zur Aussenwelt. Sobald bei Jüngling und Mädchen die Sexualdüfte nasciren, z. B. tritt beim Jüngling der schon erwähnte Geschmack an Jungfrauenduft, Wein, Tabak, scharfen Speisen, und die meist sehr deutliche Abneigung gegen Obst, Milch, Süssigkeiten und dergl. auf. Beim weiblichen Geschlecht ist es die ausgesprochene Vorliebe für Parfüme, aus denen das Mädchen vorher sich gar nichts machte, dann allerhand Capricen in der Speisenwahl ; die eine nascht z. B. leidenschaftlich Kümmel, eine andere Vanille , die dritte unreifes Obst, 229 das einem Andern nur beim Darandenken Bauchgrimmen macht. Die Krankheiten liefern zahlreiche Beispiele, man sagt gewöhnlich : „der Kranke verträgt diese oder jene Speise nicht mehr, dagegen thut ihm die und die andere gut" . Wenn man aber hierbei blos an seinen Magen denkt , so ist das meist ganz falsch , es handelt sich der Hauptsache nach um idiosynkrasische Variation des Gesammtkörpers, d . h. in diesem ist ein anderes Organ die Hauptseelenentbindungsquelle geworden , und der ganze Körper ist mit einer andern Duftsorte durchtränkt als sonst. Alters- und Geschlechtsdifferenz : Auch hier ist dem früher Gesagten wenig hinzuzufügen . Bezüglich der Aenderung des Ausdünstungsduftes mit dem Alter bemerke ich: Der Säugling duftet , wie einer meiner Correspondenten sagt, „milchig- rotzig", ich mögte dazusetzen „fad - süsslich " , für Männernasen entschieden eher unsympathisch, dagegen für die Mutter ,,köstlich". Mit dem Uebergang zu anderer Nahrung ändert sich der Duft sofort, und wie mich mehrere Mütter versichern , ist ihnen der jetzt auftretende Duft viel weniger angenehm. Betrachten wir diese Veränderung beim Kinde etwas näher, so zeigt sich etwas bisher völlig Uebersehenes , nämlich dass das Kind , welches vorher alle nicht milchig oder milchähnlich schmeckenden und duftenden Speisen zurückwies , jetzt entschiedenes Gelüste nach anders schmeckenden Speisen bekommt. Es ist eine idiosynkrasische Veränderung in ihm vorgegangen, welche auch ohne das absichtliche , bewusste Eingreifen der Mutter eine Veränderung der Speisenwahl herbeiführt. Beim Thier ist das ganz besonders deutlich, z. B. der junge Wiederkäuer fängt jetzt auf einmal an, Gras zu fressen . Aber auch beim Kind des Menschen kann man die Sache deutlich sehen . Der Grund zur Veränderung der Scene ist der Eintritt des Zahngeschäftes, wobei ein neuer Duftstoff, der Mundduft, in den Vordergrund tritt, worüber ich weiter unten Genaueres sagen werde. Hier kann man auch die Affectdifferenz beobachten. Wenn der Zahnungsreiz die Unlustschwelle übersteigt, wird Mundangstduft entbunden , das Kind duftet jetzt übel aus dem Mund, ist in Unluststimmung (Zahnungsangst), bis zu Zahngichten, muss zum Essen gezwungen werden und bekommt ekelhafte Gelüste, isst seinen eignen Koth oder Erde u. s . f. Also nicht die Aenderung der Nahrung ruft den Scenewechsel hervor, sondern umgekehrt : Erstere ist Folge der idiosynkrasischen Aenderung, und der Nahrungswechsel hat nur zur Folge, dass auch nach vollständigem Durchbruch des Milchgebisses der Ausdünstungsduft bleibend geändert ist. 230 Eine neue Epoche beginnt beim Kind mit dem Zahnwechsel. Um die Duftterminologie bin ich noch völlig verlegen , allein davon kann man sich leicht überzeugen , dass der Duft in Kleinkinderschulen entschieden anders ist als in Schulen , wo reifere Kinder sind. Mein achtjähriges , im Zahnwechsel befindliches Töchterchen hat einen Haarduft, der an kalten Kalbsbraten erinnert. Der sechsjährige, noch nicht in den Zahnwechsel getretene Knabe duftet im Haar wie ein Bügeleisen. Das Wechselspiel von starkem Appetit und Widerwillen vor den gewohnten Speisen setzt sich auch jetzt noch fort und steht, soweit meine hier noch unvollkommene Beobachtung reicht , im Zusammenhang mit dem Intensitäts-Wechsel im Zahnungsvorgang. Im Allgemeinen tritt mit dem Zahnwechsel eine entschiedene Aenderung in der Nahrungswahl ein. Da eines meiner Kinder, ein Mädchen , erst vor 1½ Jahren den Zahnwechsel begonnen hat, so konnte ich dies noch sehr genau feststellen. Die Speisen, die sie vor dem Zahnwechsel sehr ungern ass , während sie dieselben jetzt gerne isst , sind: Kohlraben , Kohl, Rosenkohl , Spinat, bairisches Kraut, Zwiebel. Ominös sind ihr jetzt noch : gelbe und weisse Rüben, Wurzelsuppe, Stockfisch. Jederzeit gern ass sie : Salat , Sauerkraut, Spargeln, Erbsen, Linsen. Das Gegenstück hierzu ist mein jüngster Knabe , der noch nicht mit dem Zahnwechsel begonnen hat (6 Jahre) . Er sträubt sich noch fast gegen alle grünen Gemüse, nur Kopfsalat isst er gern. Die Gemüse spielen überhaupt wegen ihres Reichthums an ausgesprochenen Duft- und Würzestoffen eine Hauptrolle bei den idiosynkrasischen Aenderungen, die im Verlauf der Altersentwickelung auftreten , und ich will deshalb sofort den nächsten Wendepunkt besprechen. Dieser Wendepunkt ist beim weiblichen Geschlecht noch nicht der Eintritt der Menstruation , sondern schon 1-2 Jahre früher tritt das Mädchen in eine eigene Epoche, die der Sprachgebrauch längst als „ Backfischalter" bezeichnet hat. Der Ausdünstungsduft ist jetzt ganz entschieden anders. Man darf nur in Mädchenschulen den Duft in den oberen Klassen ( 13-15 Jahre) mit dem der unteren vergleichen. Damit sind auch die idiosynkrasischen Beziehungen völlig geändert. Auf die Thatsache , dass den Backfischen die Ausdünstung gleichaltriger Knaben und reifer Jünglinge jetzt antipathisch ist (während vorher die Differenz bestand) , ist schon früher hingewiesen worden. Eine andere Thatsache ist, dass mehr oder weniger deutliche Antipathie gegen die eigne Mutter eintritt , und ich habe mich positiv überzeugt , dass dem Backfisch die Mutter nunmehr unangenehm duftet, was vorher 231 nicht der Fall war, während umgekehrt der Mutter die Ausdünstung der Tochter, wenn nicht geradezu unangenehm , doch wenigstens indifferent wird. Hier ist auch von den keine Heerden bildenden Thieren zu erwähnen, dass die Jungen von der sie führenden Mutter stets in dem Zeitpunkte vertrieben werden , in welchem entweder bei den Jungen oder bei der Mutter (in Folge neuer Brunst) eine Aenderung des Ausdünstungsduftes eintritt . Ganz ausgesprochen ist die idiosynkrasische Wandlung beim Eintritt in das Backfischalter in Bezug auf die Nahrungswahl. Ich habe zwei Kinder , bei denen der Situationswechsel sich erst vor 1-2 Jahren vollzog, weshalb ich noch folgende genaue Erhebungen machen konnte. Das Eine isst jetzt folgende Speisen gern , die es früher nur mit Widerwillen ass : gelbe und weisse Rüben, Kohlraben, Zuckererbsen , Kohl , Rosenkohl , Schwarzwurzel , Sauerkraut , Erbsen, Spargeln, Stockfisch . Ominös geblieben sind ihm : Kopfsalat, Zwiebeln. Schmackhaft sind geblieben : Bairisches Kraut , Linsen, Wurzel- und Kräutersuppe. Bei dem zweiten Mädchen ist die Abneigung gegen folgende Speisen in's Gegentheil umgeschlagen : Kohlraben, Brockelerbsen, gelbe und weisse Rüben, Spinat, bairisch Kraut, Erbsen, Stokfisch. Ominös sind geblieben : Kräuter- und Wurzelsuppe. Schmackhaft blieben : Schwarzwurzel , Kopfsalat, Sauerkraut, Linsen, Spargeln, Häring. Weiter liess sich hier constatiren, dass Zwiebeln vor Eintritt des Zahnwechsels stark verabscheut, danach indifferent und mit dem Eintritt in's Backfischalter Liebhaberei wurden. Da diese beiden Mädchen um 11 Jahr im Alter verschieden sind und bis vor Kurzem im gleichen Entwickelungsstadium standen, so will ich hier auch gleich auf die individuelle idiosynkrasische Differenz hinweisen . Bei der einen ist Sauerkraut gleich geblieben, bei der andern nicht , dagegen ist bei der einen Zwiebel umgeschlagen, bei der andern nicht. Kräutersuppe hat die eine nie geliebt, die andere stets . Die Frage ist jetzt nur die : Woher rührt beim Backfisch die Duftveränderung ? Man denkt natürlich hier gern sofort an die Sexualorgane , allein das wäre meiner Ansicht nach falsch ; wenn das wäre, dann müsste sofort eine Attraction auf das andere Geschlecht beginnen, und das ist entschieden nicht der Fall, sondern das gerade Gegentheil : Backfische wirken auf reife Jünglinge entschieden abstossend. Ich möchte das Zahngeschäft und zwar die mit dem 12.-14 . Jahre in der Regel erfolgende Beendigung des Zahnwechsels herbeiziehen. Ich bin zwar weit entfernt, zu glauben, dass damit die ganze Frage gelöst wäre, allein dass die Zahnungs- 232 vorgänge eine beträchtliche Rolle auf dem Gebiet der Altersinstincte spielen müssen, liegt auf der Hand. Die Duftquelle sind hier die Mundtheile. Deren Lage und Beschaffenheit hat zur Folge , dass die Düfte erstens die Geschmackswerkzeuge direct durchtränken und alteriren , und zweitens zu einem viel grösseren Theil direct nach aussen abdünsten , also viel lebhafter auf die Qualität des Ausdünstungsduftes wirken werden als Düfte , die in tiefliegenden Organen entstehen und den Weg in's Blut haben. Beleg für diesen Einfluss der „, Zahndüfte" bietet mir die bekannte Erscheinung, dass bei Zahnleiden der Geschmacksinn stets idiosynkrasisch alterirt ist , und die Personen stets unangenehm aus dem Mund duften , auch wenn keine cariösen Zähne eine Quelle von Fäulnissdüften sind , und der Mund sorgfältig rein gehalten wird. Mir haben zwei Mütter auf das Bestimmteste versichert, dass sie es sofort am Athem riechen, wenn ein Kind „ zahnt“ . - - - Nach dieser Auffassung wäre also das Backfischalter eigentlich ein negatives , indifferentes Stadium : die Zahnungsdüfte , welche das Kindesalter beherrschen, sind verschwunden der Backfisch ist kein Kind mehr , die Sexualdüfte dagegen sind noch nicht vorhanden der Backfisch ist noch keine Jungfrau. Darin bestärkt mich noch die freilich auch anders zu deutende Thatsache , dass der Ausdünstungsduft meiner in diesem Alter stehenden Tochter eine, von verschiedenen Personen bestätigte, erhebliche Aehnlichkeit mit meinem eignen Ausdünstungsduft hat; da sie mir aber auch unter allen meinen drei Töchtern , worauf ich noch später zu reden komme, in der Gesichtsbildung am ähnlichsten ist, so kann ich hierauf zunächst kein grösseres Gewicht legen. Beim männlichen Geschlecht fällt eine Aenderung der idiosynkrasischen Beziehungen zur Nahrung fast in's gleiche Alter, wie bei den Mädchen, nämlich auch nicht auf den Anfang der Pubescenz, sondern auf die Beendigung des Zahnwechsels . Bei meinem ältesten Sohn trat sie am Schluss des 14. Lebensjahres ein ; hier verschwand die Abneigung gegen Rüben , Spinat, bairisch Kraut, Sauerkraut , Kohl, Rosenkohl (welch' letzterer ihm früher ganz besonders zuwider war). Erbsen , die er früher sehr gern ass, isst er jetzt weniger gern. Ominös geblieben sind : Spargel, Wein, Stockfisch; schmackhaft dagegen : Schwarzwurzel, Kopfsalat, Linsen, Häring. Von der zwar nicht allgemeinen , aber sehr gewöhnlichen Abneigung der Jünglinge vor der Pubescenz gegen Wein , die bei meinem Sohn sehr ausgesprochen ist wie bei fast allen seinen Schulkameraden ist schon die Rede gewesen. Dann ist mir aus meiner Jugend eine mit der Pubescenz eintretende idiosynkrasische Wandlung sehr genau erinnerlich. Ich - 233 ass Walderdbeeren leidenschaftlich gern. Einmal hatte ich auch wieder solche gegessen und musste, etwa eine Stunde danach, mich äusserst heftig erbrechen, und seitdem verursachen mir Walderdbeeren Heiserkeit bis Halzschmerzen. Ueber die Aenderungen mit Eintritt der Geschlechtsreife und dem Aufhören derselben ist so viel in früheren Kapiteln niedergelegt, dass ich hier den Gegenstand nicht mehr aufgreifen, sondern nur noch zwei Dinge anführen will. 99. Schon S. 197 sagte ich von dem Greisenduft, dass er etwas Modriges habe; ich sage jetzt genauer: ähnlich dem modrigen Holz , und verweise auf das, was ich unten vom Hausduft meiner Schwiegereltern anführen werde, sowie auf ein merkwürdiges schwäbisches Sprichwort , welches von einem dem Tode nahen Greise sagt: Der riecht auch schon nach Hobelspänen" oder „ nach Tannenholz". Man hält dies natürlich für eine Anspielung auf den tannenen, mit Hobelspänen angefüllten Sarg ; seit ich aber weiss, wie genau der Sprachgebrauch alle Aenderungen und Qualitäten der Selbstdüfte der Menschen fixirt hat , bin ich fest überzeugt, dass dieses Sprichwort an die Qualität des Greisenduftes angeknüpft hat. Endlich: Wie duftet der Leichnam? Mancher Leser wird sofort bereit sein , zu sagen: er stinkt ! So einfach ist die Sache aber durchaus nicht. Im Gegentheil : wir haben es hier mit einer der interessantesten Aenderungen zu thun. - In der Todesangst entbindet der Mensch umsomehr den stinkenden Angststoff in maximo, je stärker die Agonie ist, wovon früher schon die Rede war ; allein ist der Tod wirklich eingetreten und der Angstduft verflogen, die Leiche vollständig gewaschen und gereinigt, so duftet sie gar nicht mehr , sie ist , wie der Sprachgebrauch wieder völlig richtig sagt : entseelt. Der specifische Individualduft , der den Lebenden kennzeichnete und ihn von allen seinen Angehörigen unterschied , ist unwiederbringlich dahin , und es ist völlig begreiflich, dass die feinriechenden Schöpfer unserer Sprache den Duft als den Träger nicht blos der Individualität, sondern auch des Lebens ansahen, da er eben mit dem Tode verschwunden ist. Die später eintretenden Fäulnissdüfte sind nun zum Theil auch „ Seelenstoffe", aber nicht die der Leiche , sondern , wie COHN nachgewiesen , die der lebendigen Fäulnisshefe. Endlich ist noch anzuführen : der weitverbreitete Gebrauch , eine Haarlocke des Todten aufzubewahren, hängt wohl ohne Zweifel damit zusammen, dass die Haare die Duftorgane des Menschen sind , allein eben weil sie das sind , halten sie den Duft nicht fest , sie verriechen sehr bald. - Individuelle Differenz : Ich habe bereits in meinem 234 ersten Aufsatz (Artikel Nr. 1 ) darauf hingewiesen , dass jeder Hund seinen Herrn am Ausdünstungsduft so sicher unterscheidet, wie wir unsere Angehörigen an der Körper- und Gesichtsform ; ich kann nun dem beifügen, dass schon ohne Uebung des Geruchsinns auch der Mensch selbst überaus leicht constatiren kann, dass nicht zwei Menschen absolut genau duften. Ich bitte den Leser , der noch nichts davon weiss , wenn er an diese Stelle kommt, nur einmal die nächstbesten zwei Personen , die er zur Hand hat, am Kopfhaar zu beriechen, und er wird sicher er-- staunt sein , zu finden , dass sie, selbst wenn es Geschwister , ja selbst wenn es Zwillinge sind , am Ausdünstungsduft sicher zu unterscheiden sind , so leicht als zweierlei Weinsorten oder Obstsorten oder Gemüse. Diese Verschiedenheit nimmt er nicht blos an der Person selbst wahr, sondern an allen ihren Kleidungs- und Wäschestücken , und der Duft haftet an letzteren so , dass selbst das Waschen denselben nicht zu beseitigen vermag. Ja , jeder Mensch ist stets von einer Atmosphäre seines Individualduftes umgeben, die einem feinriechenden Menschen sofort die Diagnose gestattet. Darüber habe ich unzählige Proben angestellt. Zahlreiche Personen versichern mich , es sofort zu riechen, wer in dem verschlossenen Abort sei ; es zu riechen , wer kurz zuvor im Zimmer gewesen ; im Stiegenhaus zu riechen, wer kurz zuvor die Treppe hinauf ging. Ich habe solche Feinriecher auf die Probe gestellt, ob sie die Röcke, Halskrägen, Taschentücher verschiedener Personen diagnosticiren könnten , und dies gelang selbst in der tabakschwangeren Luft eines Clubzimmers . Ein Anderer schreibt, er habe den Stock seines Vaters im Dunkeln aus zahlreichen anderen herausgerochen. Viele Personen, darunter mehrere meiner Kinder, können bei jedem Stück gewaschener Wäsche, insbesondere meine beiden Töchter beim Bügeln , wo die Hitze des Stahls den Duft stärker entbindet, mit absoluter Bestimmtheit sagen, wer das Wäschestück getragen hat. Kurz , ich könnte mit dem mir von allen Seiten in dieser Frage zugekommenen Material mehrere Druckbogen füllen ; ich unterlasse das aber , weil jeder Leser , dem an der Bildung eines eignen Urtheils liegt , jeden Augenblick sich von der Richtigkeit des Gesagten überzeugen kann. Dagegen will ich die minder bekannte Thatsache anführen , dass die Art des Individualduftes , ganz abgesehen von der Frage, ob angenehm oder unangenehm , noch andere allgemeine Qualitäten, oder besser gesagt, Relationen zu dem Riechenden hat. So schreibt mir ein Mann: „Einzelne Männer duften pompös, herrscherhaft , siegreich" . Weiter können sich die meisten Leser leicht überzeugen , dass auch reinliche Dienstmädchen, aus - 235 niederen Volksschichten stammend , trotz vollständiger Nahrungsgemeinschaft mit ihrer Herrschaft , „ fremd" , ja häufig „ ordinär“ duften , während man andrerseits wieder auf Personen stösst , die „edel", vornehm " duften. 99 Man wird hier einwenden , dass Einem dabei der weitbreitete Duft der Parfüme einen Spuk spiele; das habe ich früher auch geglaubt , allein ich bin ganz davon zurückgekommen. Die Parfüme sind durchaus nicht im Stande, denen dogenen Individualduft ganz zu verdecken , er siegt stets über das Parfüm; begreiflich : letzteres verfliegt , während der Selbstduft fort und fort neu entbunden wird. Selbst bei Personen , die sich das Haar fortwährend in höchstem Masse einfetten und deshalb stets nach ranzigem Fett riechen, ist der Individualgeruch keineswegs maskirt, sondern im Gegentheil ungemein stark , weil das Fett die Düfte aufsammelt. Wenn Geschwister das gleiche Haarparfüm gebrauchen, so sind sie deswegen doch am Haarduft mit Sicherheit zu unterscheiden , wovon ich mich bei meinen eigenen Kindern stündlich überzeugen kann, aber auch ebenso davon, dass schon nach wenigen Tagen der Parfümduft des Haares vollständig vom Selbstduft verdrängt ist . Ich habe sogar die positive Gewissheit : Jede Familienwohnung und alles , was darin ist, Möbel, Kleidungsstücke, namentlich aller hölzerne Hausrath etc. , haben einen ganz specifischen Duft , und dieser Hausduft" kommt weitaus der Hauptsache nach aus den Körpern der Hausbewohner. Mir ist das ganz besonders durch folgende Beobachtung vollends klar geworden , die zugleich über die S. 233 besprochene Qualität des Greisenduftes belehrend ist. Das Haus meiner Schwiegereltern hatte für mich stets einen ganz auffallenden, nicht unangenehmen, aber eigenartigen, Duft. Ich erinnere mich nun genau, dass dieser Duft allmählich einen moderigen Charakter annahm , sodass ich vor etwa 6-8 Jahren mit meinen Schwiegereltern Rücksprache hielt, sagte, es müsse faulendes Holzwerk im Hause sein , und möglichst Lüftung empfahl ; es stellten sich damals bei meinem Schwiegervater deutlich greisenhafte Veränderungen und Abnahme seiner Gesundheitskraft ein. Die Baubehörde wurde gerufen , auch Massregeln getroffen, aber sie nützten nicht viel , der Duft blieb und stieg , als mein Schwiegervater vor 21/2 Jahren von einer serösen Apoplexie befallen wurde und nun die Senilirung rasche Fortschritte machte. Am 29. November vorigen Jahres starb derselbe. Als ich etwa 2 Monate nach der Beerdigung wieder in's Haus kam, war ich erstaunt, dass der Duft, den ich Jahre lang gerochen, fast ganz ver- 236 schwunden war; der einzige Ort, wo ich ihn noch stark vertreten fand -war meines Schwiegervaters Kleiderschrank! Ich bemerke, dass derselbe weder rauchte, noch schnupfte und in völliger Nahrungsgemeinschaft mit seiner Familie lebte , z. B. nie etwas anderes, auch relativ nicht mehr trank als die anderen Hausgenossen. Der specifische Hausduft war also sein endogener Seelenstoff. Hier setze ich noch eine andere Beobachtung her, die mir von einem Landgeistlichen mitgetheilt wird , und die auch auf das Kapitel ,,Antipathie" Licht wirft. In seinem Ort sind zwei Schullehrer, die in steter Fehde leben; die Hausdüfte beider sind nun auffallend verschieden, und charakteristisch ist noch : den Einen der beiden Lehrer kann die ganze Einwohnerschaft nicht leiden , und sein Hausduft ist ein völlig „ortsfremder". Ferner versicherte demselben Geistlichen ein ganz intelligenter Ortseinwohner , er habe als Knabe sehr fein gerochen und erinnere sich vollkommen, dass in diesem fast ausschliesslich von Bauern bewohnten Dorf jedes Haus einen eigenartigen Duft gehabt habe. Auch ein hiesiger Arzt und Obermedicinalrath liess mir mittheilen, dass auch ihm dasselbe schon lange aufgefallen sei. Die Kehrseite der individuellen Seelendifferenzen sind die Aehnlichkeiten im Ausdünstungsduft , und das ist für meine Behauptung, dass die Duftstoffe auch die Formungskräfte sind, eine wichtige Frage. Hier habe ich nun zuerst von einer Thatsache zu sprechen, die auf mich nothwendig den allergrössten Eindruck machen musste, und die ich deshalb genauer schildere. Ich sprach es wiederholt gegen wissenschaftliche Freunde und andere Personen aus: „Wenn meine Lehre von der vis formativa der Duftstoffe richtig ist , dann muss zwischen den Individualdüften von Zwillingen die Uebereinstimmung grösser sein als zwischen irgend zwei anderen Personen. Mein ältester Bruder hat Zwillingskinder, und ich war sehr neugierig auf die Untersuchung. Nun erhielt ich die Nachricht , das eine der Mädchen werde in eine Pension gebracht , das andere komme bei der Durchreise auf Besuch in mein Haus. Da ich bei dieser Gelegenheit nicht beide zugleich untersuchen konnte, vertröstete ich mich auf ein andermal. Das Mädchen blieb acht Tage in meinem Hause, dabei sah ich zufällig das Haarnetz, das sie Nachts auf dem Kopf trug, und beroch es; da es sehr deutlich duftete, so erbat ich es mir, und als ihre Mutter sie abholte, bat ich, mir von der Zwillingsschwester ebenfalls ein Nachtnetz zu senden. Meine Vorhersage bestätigte sich nun , trotzdem dass die Mädchen zu der Zeit , als sie die Netze trugen, getrennt, das ein hatte, in der überr Tause, das andere bei mir gewohnt Weise, und da diese beiden Haar- 237 netze den Grundstock meiner Seelensammlung bilden , so kann ich Jeden , der mich besucht , davon überzeugen. Ich habe verschiedentlich jetzt Geschwister gleichen Geschlechts und sehr nahe im Alter verglichen und niemals auch nur annähernd eine so hochgradige Uebereinstimmung gefunden. Auch von anderen Personen sind auf meine Veranlassung hin jetzt Zwillinge in dieser Richtung geprüft worden und jedesmal mit dem gleichen Erfolg. Die genannten Zwillingsschwestern gleichen in der Physiognomie meiner ganz gleich alten zweiten Tochter , alle drei ähneln mir und ihrer gemeinschaftlichen Grossmutter (meiner Mutter) in der Physiognomie unverkennbar, und das manifestirt sich in einer überaus deutlichen Aehnlichkeit des Ausdünstungsduftes. Diese Aehnlichkeit in Duft und morphologischem Habitus besteht auch zwischen den genannten Personen und der Mutter der Zwillinge , die meine Cousine mütterlicherseits ist und meiner Mutter auffallend ähnlich sieht. Die Differenz im Ausdünstungsduft meiner Cousine und meiner Frau , die fast gleich alt sind , ist fast dieselbe wie die zwischen meiner Frau und meiner zweiten Tochter. Zwischen meinen beiden Töchtern , die nur 1 Jahr im Alter verschieden sind , aber in Physiognomie und Körperbau stark differiren , ist die Duftdifferenz erheblich grösser, als zwischen meiner zweiten Tochter und ihren Zwillingscousinen . So haben wir also, entsprechend der morphologischen Familienähnlichkeit , auch Familienähnlichkeit in Bezug auf Duft. Auch in den Idiosynkrasien zeigt sich das , z . B. die Tochter, die mir gleicht, isst, wie ich, Zwiebeln und Häringe gern, während ihrer Schwester, die mir wenig gleicht, Zwiebeln sehr fatal sind und die Häringe gleichgiltig . Bei meinen Untersuchungen über Geschwisterdüfte ist stets gefunden worden : je ähnlicher sie sich sehen , um so ähnlicher duften sie, und um so verschiedener, je mehr sie sich morphologisch unterscheiden. In die Kategorie des „ Familienduftes" gehört auch folgende Thatsache: In Plieningen bei Hohenheim lebt ein Uhrmacher, der, so oft ihm eine Uhr gebracht wird , sofort aus ihrem Duft bestimmen kann , aus welcher der umliegenden Ortschaften sie stammt. Diese Thatsache ist allen meinen Collegen in Hohenheim bekannt; sie ist aber auch ganz begreiflich: Auf dem Lande heirathen die Leute fortwährend in einander hinein, und mit der allgemeinen Inzucht muss sich eine im Ausdünstungsduft zur Aeusserung kommende ,, Blutübereinstimmung" herausbilden. Ich möchte hier die Thierzüchter darauf aufmerksam zu machen, dass ich fest überzeugt bin, auch bei den Thieren müsse sich Familien- und Rassenverwandtschaft durch den Ausdünstungsduft mit grosser Sicherheit erkennen 238 und es müsse das sich auch in irgend einer Form praktisch verwerthen lassen. Es führt uns dies eigentlich sofort weiter zu den Rassen- und Völkerdüften, aber ich muss zuvor noch die individuellen Differenzen nach der Instinctseite hin besprechen. Der Differenz des Individualduftes entspricht die bekannte Differenz in den idiosynkrasischen Beziehungen. Ihre nähere Betrachtung ist in mehrfacher Beziehung lehrreich. 1) Vergleicht man zwei beliebige Individuen mit einander, so findet man nicht zwei , die in ihren instinctiven Neigungen und Abneigungen völlig übereinstimmen , und die Differenz ist um so grösser , je verschiedener deren Selbstdüfte und morphologische Qualitäten sind. Jeder Mensch hat z. B. wieder seine besonderen Lieblingsspeisen , und jeder hat wieder gewisse, von anderen oft leidenschaftlich geliebte Speisen, welche ihn geradezu krank machen, Hautausschläge erzeugen, Halsentzündungen veranlassen u. s. f.; auch hat man häufig gerade das Wort Idiosynkrasie auf solche extreme Fälle von Abneigung angewendet. Statt vieler erzähle ich einen Fall, den mir Dr. M. mittheilt : Auf einem Gute fiel es dem Verwalter bei, die Bienenzucht persönlich zu betreiben , aber er konnte vorweg den Bienengeruch nicht ertragen, und unversehens bekam er eine so starke Augenentzündung, dass ihm der ganze Kopf roth anschwoll, und Erblindung zu befürchten war. Er setzte einen Monat mit der Bienenzucht aus, und das Uebel verlor sich , doch sobald er sich wieder den Stöcken näherte , bekam er in wenigen Stunden neuerdings die alte Entzündung in vollstem Masse. So oft er das Experiment erneuerte , stets dieselben Folgen. Ja noch jetzt , wenn eine einzelne Biene in seine Nähe kommt, riecht er sie sofort. Auch die Bienen sind sehr feindlich gegen ihn. “ Das ist also gegenseitige maximale idiosynkrasische Antipathie, und es ist wieder bezeichnend , dass der Geruchsinn dies Verhältniss deutlich vorhersagt. 2) Neben der qualitativen Differenz sehen wir quantitative Unterschiede: die eine Person z. B. hat zahlreiche Speisen gern ; eine andere besitzt eine sehr geringe Anzahl von Speisen, die ihr angenehm sind , ja es gibt Personen , deren Verhalten schon an die Monophagie mancher Thiere erinnert. 99 3) Ganz ähnlich ist das instinctive Verhalten zu anderen Menschen. Gegenüber den Philanthropen , von denen man sagt, dass sie ein weites Herz" haben, denen eine ganze Menge Menschen sympathisch sind , die ihre Freunde küssen und umarmen, stehen die völligen Menschenhasser , die von jeder Person, die in ihre Nähe kommt, irritirt werden. 239 Als wir uns jüngst in einer Gesellschaft über Ausdünstungsduft unterhielten, liess einer der Anwesenden die Bemerkung fallen: ,,ihm sei alles, was Ausdünstungsduft heisse, fatal" . Das stimmte zu dem ganzen psychischen Verhalten des Mannes , der stets über die schlechte Welt" klagt und mit innerer Malice umhergeht, so trefflich , dass Alles über diese eclatante Bestätigung meiner Seelenlehre in diesem Fall überrascht war. Bei der Misanthropie sind aber zwei Fälle sehr wohl zu unterscheiden. In maximo flieht der Misanthrop alle menschliche Gesellschaft ; bei minderen Graden scheut er nur vor grösserer räumlicher Annäherung, hält es für weibisch, wenn Männer sich küssen, meidet starke Menschenansammlungen in engen Räumen u. s . f. , ist aber gern mit Wenigen in gesellschaftlichem Verkehr, wenn sie ihm nur drei Schritt vom Leibe" bleiben. Hier kommt das Gesetz zur Geltung , dass antipathische Düfte in genügender Verdünnung gewöhnlich in's Gegentheil umschlagen. 99 Vom Verhalten gegen das andere Geschlecht gilt das Gleiche : Dem Weiberfeind , den wir in späteren Kapiteln genauer kennen lernen werden, steht der Weiberfreund mit weitestem Herzen gegenüber, der sich in jede Schürze verliebt. In der Mitte zwischen diesen Extremen stehen die oligophilen Personen , welche nur eine oder einige wenige besondere Lieblingsspeisen , einige wenige Freunde haben und ein einziges Weib lieben. In der Regel, aber nicht immer, ist das bei einander, wie auf der andern Seite Leute, die ein weites Herz für Weiber haben , auch im Essen äusserst vielseitig sind. Die Polyphilie ist bei den Männern in Essen und Liebe viel entwickelter als beim weiblichen Geschlecht, das hervorragend oligophil bis monophil ist, und zwar wieder in allem: im Essen, in der Liebe und der Parfümwahl. Ausnahmen gibt es natürlich auf beiden Seiten, auch sind in dem Stück nicht alle Völker gleich , bei den monogamischen Völkern überwiegt aber , wenigstens beim Weibe, entschieden die Monophilie, und es ist höchst merkwürdig zu sehen , wie marmorn oft eine Jungfrau sich lange gegen die umgebende Männerwelt verhält, bis plötzlich eine wahlverwandte Seele" das Eis bricht . Rassen- und Völkerdüfte. Hier habe ich dem Aufsatz von RICHARD ANDREE (Nr. 9) noch Einiges beizufügen , weil dieser die Sache mehr nach der Duftseite hin besprochen. Das beste, jederzeit zu prüfende Beispiel ist die Duftdifferenz zwischen Juden und Christen " , wobei aber der Name „ Christ" ganz ungeschickt ist , weil er den confessionellen Unterschied bezeichnet, während es sich um „ Rasse- oder Blutdifferenz" handelt. Richtiger ist 99 240 also Differenz zwischen semitischem und indogermanischem Blut. Ich führe nun zuerst, aber mit einigen Aenderungen, an, was mir Dr. M. über den Hebräerduft schreibt : - „Von Jugend auf hatte jeder Jude für mich einen absonderlichen , wenn auch nicht immer unangenehmen Duft , und als Junge bekam ich manches Kopfstück, wenn ich ganz ungenirt Besucher unseres Hauses frug, ob sie auch Juden seien ? Später erkannte ich durch den Geruchsinn auch solche Personen , welche entweder durch Kreuzung oder durch Spiel der Natur nichts weniger als Juden gleich sahen, die auch Niemand im entferntesten dafür hielt, ja die es vielleicht kaum selbst mehr wussten, dass sie jüdischer Abstammung seien, oder doch nichts davon wissen wollten. 1847 , als ich Pio nono in Rom den Pantoffel küsste, war ich der erste, der des Papstes hebräische Abstammung behauptete die er 1861 selbst den Gebrüdern Cohn aus Lyon zugestand -, und ohne dass ich wusste, dass Cardinal Consalvi schon längst gesagt : E un ebreo!» Ein eigenthümlicher Zug des Juden hat mich aber von jeher gereizt, und da er in den Referaten über Ihre Eiweisszersetzungslehre in der Bemerkung eines Referenten jüdischer Abstammung wieder hervortritt : Die Zusammenwürfelung der Rassen- und Glaubens-Differenzen ist in einer naturgeschichtlichen Betrachtung nicht wohl geeignet» , so kann ich ihn hier nicht mit Stillschweigen übergehen. Die Juden nämlich, die durch die Schärfe der Dialektik und durch oft berechtigten Hohn längst alles Mögliche zersetzen, was uns Christen je heilig war , sind so empfindlich , dass sie nicht den leisesten Tadel ihrer Rasse von nichtjüdischer Seite dulden, selbst aber die perfidesten Witze über sich machen. Sobald also ein Nichtjude sich auch nur die geringste Bemerkung bescheiden erlaubt, so wirft ihm derselbe mit eiserner Stirn stets vor , das geschähe aus religiöser Intoleranz ! Die Gebildeten, von denen die meisten ja selbst keine Christen mehr sind, pfeifen auf den Mosaismus als Religion, das Volk aber hasst die Juden - allerdings auch nur da, wo sie sehr zahlreich und wenig mit Christenblut gemischt sind, also ihren specifischen Rasseduft noch ungeschwächt haben - eben wegen dieses antipathischen Duftes , und erst in zweiter Linie aus socialen und religiösen Ursachen. Aber schon mit Heine, mit Auerbach disputirte ich über diese Frage vergeblich ; immer kamen sie wieder auf ihr Steckenpferd zurück , auf unsere Antipathie gegen ihre Religion. Und merkwürdig , trotzdem Jehova der ausschliesslichste Rassegott ist, wollen die modernen Juden nichts davon wissen, dass sie eine, auch physisch gesprochen , besondere Rasse sind , sie wollen blos eine ganz harmlose Extraconfession haben , und „ nationalechte Deutsche , Franzosen , Russen , Polen, - 241 Ungarn, Engländer" - nur ja nicht ,, Juden" sein, so hartnäckig sie lonfessionell am Judenthum hangen. Das ist politisch sehr erfreucich, ist die Gesinnung echt. Aber anthropologisch ist dies ebenso lächerlich, als wenn der Neger kein Neger mehr sein wollte, wenn er sich zum Christenthum , Judenthum oder Mohammedanismus bekehrt ! Jüdische Deutsche , jüdische Franzosen u. s. w. , das erkennen wir achtungsvoll an. Prof. EDUARD GANS in Berlin dagegen pflegte vom Katheder herab zu sagen : « Taufe und sogar Kreuzung nützen gar nichts, wir bleiben auch in der hundertsten Generation Juden wie vor 3000 Jahren. Wir verlieren den Geruch unserer Rasse nicht , auch nicht in zehnfacher Kreuzung, und bei jeglichem Coitus mit jeglichem Weibe ist unsere Rasse dominirend , es werden junge Juden daraus ! » doch darüber will ich heute nicht sprechen. Am meisten ärgerte mich stets : wenn wir auch noch so human sind und uns im gesellschaftlichen Umgang und in der Freundschaft über das Antipathische der Rasseneigenschaften und der Neigungen des Judenthums hinwegsetzen und unserseits ungenirt ihre uns stets süsslich degoutant schmeckenden Speisen essen , ja uns körperlich mit ihnen vermischen , so verrathen trotzdem die Juden , auch bei intimster Freundschaft und wenn sie noch so vorurtheilslos scheinen, doch plötzlich durch ein Wort, eine Miene, dass sie uns für nicht « koscher», ja direct für «unrein» halten. Auch darüber sollte mir plötzlich eine verblüffende Aufklärung werden. Vor einigen Jahren lebte ich in Berlin mit einem Juden in intimster Freundschaft. Ich hatte ihn in sehr hohen Salons kennen gelernt, in denen er durch seinen Esprit, seine vielseitigen, gründlichsten Kenntnisse , seine absolut scheinende Vorurtheilslosigkeit, und durch seine einstige intime Freundschaft mit Lassalle eine gewisse Rolle spielte. Ich soupirte oft bei ihm und er bei mir, es gab kein Thema , das wir nicht unter vier Augen objectivst besprachen. Eines Abends aber sagte er mir : „ Was nützt all' das hinter dem Berge halten ! Ihr Christen , und wenn wir euch noch so gern haben, riecht uns zu schlecht ! Nur der Jude, und auch der schmutzigste , riecht uns anderen Juden « köstlich» , er riecht nach unserer Rasse und sei er fünfzigmal getauft oder gekreuzt ! " Ich ging nach diesem Gespräche völlig betäubt nach Hause. Wie ? uns stinkt der Jude ; aber wir dagegen stinken für die Nase des Juden ?" (Ich schrieb meinem Correspondenten, dass das völlig natürlich sei , denn instinctive Antipathie äussere sich fast stets darin , dass sich beide gegenseitig stinken ; z. B. Hund und Katze stinken sich gegenseitig , Hund und Hundefeind stets gegenseitig. JGR. ) Jaeger, Entdeckung der Seele. 16 242 ,,Als ich 1840 Geburtshilfe studirte, hörte ich öfter von Professoren und Collegen die Ansicht äussern: Gebärende Jüdinnen sollten während des Actes ungemein übel riechen. (Hier kommt noch der Angststoff hinzu . JGR. ) Ich selbst hatte keine Gelegenheit, diese Wahrnehmung zu machen , da ich bald darauf von der Medicin abging ; dagegen sagte mir vor einigen Monaten eine ältere , sehr humane und gebildete Dame , sie habe dem Gebären einer befreundeten jüdischen Dame beigewohnt und es vor Gestank nicht aushalten können. Ein berühmter deutscher Arzt sagte mir einst beiläufig : er fürchte sich vor keinen andern Patienten, nur vor jüdischen. Bei jedem Kranken könne er sich ein ziemlich sicheres Bild vom Verlauf der Krankheit machen , nie bei Juden, dieser ältesten Aristokratie der Welt. Das harmloseste Symptom schlage plötzlich in grösste Gefährlichkeit um, und das gefahrvollste verlaufe plötzlich ganz wider Erwarten, alles verlaufe im Zickzack, und eine normale Diagnose lasse sich gar nicht aufstellen. Auch sei das Kaleidoscop des körperlichen Geruches bei jüdischen Kranken völlig frappirend. Es sei also völlig richtig , dass der Jude, auch der vornehmste und reichste, einen besonderen Körpergeruch habe. In dieser Weise könnte ich noch ein paar hundert Daten über die Rassen-Eigenthümlichkeiten der Juden notiren und zwar aus eigener Erfahrung und Beobachtung." Dem Vorstehenden will ich nur noch etwas über die Consequenz dieser Duftdifferenz für die Instinctdifferenz hinzufügen. Am bekanntesten ist sie auf dem Gebiet der Nahrungswahl und sie geht hier so weit, dass wir stark von uns abweichende Völker ,,phantophag", d. h. „ Ekelesser", nennen, weil sie eben für Speisendüfte Vorliebe haben , die uns absolut für ekelhaft gelten. In dem Sinne nennen wir besonders die Neger und Chinesen „phantophag" und, worauf schon oben hingedeutet , scheidet uns das auch von den Juden. Die Sache ist aber selbstverständlich durchaus gegenseitig , diese Völker können uns mit gleichem Recht ,,phantophag" nennen , ja auch die individuellen Duftdifferenzen innerhalb einer und derselben Familie bedingen den gleichen Unterschied ; der eine isst z. B. Zwiebeln sehr gern, dem andern sind sie geradezu ekelhaft ; bei Hammelfleisch, Krebsen, Austern, Paradiesäpfeln , Meerrettig, Backsteinkäse u. s. f. ist es meist gerade so. Es ist deshalb falsch, bei dem Wort „,unfläthige Neigungen" anderer Personen und Rassen an unmoralische Eigenschaften zu denken ; es heisst hier nur : de gustibus non est disputandum. Dass die Rassendifferenz auch in den sexualen Instincten zum Ausdruck kommt, will ich in einigen späteren Kapiteln besprechen, die von den sexualen Idiosynkrasien gesondert und aus- 243 führlich handeln sollen, weil sie die merkwürdigsten Erscheinungen darbieten und uns mit ganz anderen Duftdifferenzen bekannt machen als die obigen , auch von hoher Beweiskraft für meine Seelenlehre sind. Dagegen will ich noch einen anderen instinctiven Unterschied zwischen Rassen und Völkern hier besprechen. Was ich bei der Individualdifferenz über Polyphilie und Oligoresp. Monophilie sagte, gilt auch von den Völkern. Man vergleiche z. B. die Engländer und Deutschen, die trotz der Stammverwandtschaft sich dadurch unterscheiden , dass die ersteren im Vergleich zu den letzeren oligophil sind. Die englische Speisekarte ist viel kürzer als die deutsche , und in Bezug auf die Beschäftigung ist ja die Monomanie resp. Monophilie der Engländer sprichwörtlich; unter keinem Volk verbohren sich die Individuen so sehr in eine bestimmte Passion wie bei den Engländern, auch im Umgang mit anderen Menschen sind sie bekanntlich sehr exclusiv, und das scheint im Allgemeinen auch gegenüber dem andern Geschlecht zu gelten. Wenn ich mich über die Ursache der Differenz zwischen Polyphilie und Oligophilie äussern soll , so will es mir scheinen, als ob erstere ein Zeichen stark gemischten Blutes , letztere ein Zeichen grosser , durch lange Inzucht und Reinzucht erzeugten Blutausgleichung sei, denn das unterscheidet ja auch den insularen Engländer von den continentalen Völkern Europa's , und bei den Hunderassen glaube ich Aehnliches zu bemerken ; z. B. der Dachshund ist im Vergleich zu dem polyphilen und vielseitigen Pudel ein Monophile und Monomane. Anhang: Ich schliesse hier einen mir soeben zugegangenen Brief an, der einen Beleg zu dem von mir in Kapitel 4 über das Verhältniss von Raubthier und Beutethier, speciell Tiger und Mensch Gesagte bietet. Hochgeehrter Herr : Ich habe mit grösstem Interesse von Ihren bahnbrechenden Arbeiten über die Riech- und Schmeckstoffe im Ausland gelesen, und da ich eine dazu bezügliche Beobachtung gemacht habe , so erlaube ich mir, sie Ihnen mitzutheilen. Im März dieses Jahres wurde in der Umgegend von Taschkend eine Tigerin geschossen und zum Abbalgen in die Stadt gebracht. Es war ein vollkommen erwachsenes Thier und dabei, obwohl trächtig, doch ziemlich gut genährt. DerCadaver war nochganz frisch. Wir (d. h. Herr Doctor der Zoologie N. SEWERTZOW und ich) 16* 244 entschlossen uns, eine Tigercotelette zu probiren. Ich gehöre nicht zu den Feinnasen, und als die Tigerin in ihrem Balge stak, konnte ich keinen besonderen Duft an ihr wahrnehmen. Als man uns aber einen Theil des Brustkorbs in's Zimmer brachte , bemerkten wir gleich einen specifischen , sehr starken und durchdringenden Gestank (Unterschied zwischen aussen und innen sehr gut ! daher der Satz von Moses « Die Seele steckt im Blut » . JGR.). Um unsere Probe durchzuführen , aber dabei den Tigerduft etwas zu mindern, liessen wir das Fleisch etwa drei Stunden lang in Essig liegen. Nach dieser Zeit kamen die Coteletten auf die Pfanne. Während sie brieten, trat ich in die Küche ein, musste aber schleunigst mich zurückziehen, der Gestank war zu unausstehlich ( natürlich , die Eiweisszersetzung entbindet ihn. JGR.) . Die Köchin, die das seltene Essen bereitete , konnte es fast nicht aushalten, obwohl die Thüren und Küchenfenster offen standen, und konnte nachher den ganzen Abend kein Stück Essen anrühren. Als endlich die Coteletten fertig waren, wurde der Gestank weniger überwältigend , aber doch noch stark genug ; Jeder von uns konnte nur mit Mühe ein ganz kleines Stück hinunterwürgen, obwohl der Braten ganz appetitlich aussah und zwar ähnlich dem Kalbfleisch. Ich muss noch hinzufügen, dass ich beim Essen gar nicht wählerisch bin und beim Beurtheilen von für mich neuen Speisen mich nie durch Vorurtheile leiten lasse. Sonach steht jetzt für mich die Thatsache fest, dass der Tiger für den Menschen einen äusserst fatalen , ekelerregenden , specifischen Duft hat. Wahrscheinlich wird es sich auch so für andere grössere Raubthiere erweisen. Diese Bestätigung Ihres Satzes, dass das Thier seinen Feind flieht , gerade weil er stinkt, schien mir desto nothwendiger, da ich mich erinnere, bei einigen Reisenden gelesen zu haben , dass das Fleisch einiger Feliden ( wenn ich nicht irre, des Löwen und des Jaguars) ganz vortrefflich schmecken solle . Wahrscheinlich hatten diese Reisenden keinen Geruchsinn oder waren mit einer zu starken Phantasie begabt. 9. Juni 28. Mai 1879. B. OSCHANIN, Director der Seidenbauschule in Taschkend (Turkestan, Russland). 20. Sexuale Idiosynkrasien. Allgemeines. Bei diesem Kapitel muss ich den Leser wieder an das erinnern, was ich in dem Eingang von Kapitel 15 sagte : Die sexualen Beziehungen sind und bleiben das Merkwürdigste, in ihnen steckt das ganze biologische Räthsel , und deshalb müssen sie bis in's kleinste Detail hinein untersucht und besprochen worden, ohne jede Prüderie. Es gibt kein wahreres Wort, als dass die Liebe Geschmacksache (d. i. Geruchsache) sei , und Nichts liefert dazu einen so guten Beweis als die Betrachtung gewisser Idiosynkrasien, welche man bisher blos von einem ganz andern Gesichtspunkt, dem moralischen und criminalistischen , zu betrachten gewohnt war. Dass wir geistige Sympathie oder Liebe von seelischer , instinctiver, sehr wohl zu unterscheiden haben, ist schon in Kapitel 15 gesagt, und ich erinnere hier nur daran, umMissverständnissen vorzubeugen. Ferner habe ich vorauszusenden : Bei der instinctiven Liebe, wenn wir dies Wort in generellem Sinne gebrauchen, haben wir, worauf ebenfalls schon früher hingewiesen wurde , wohl zu unterscheiden zwischen Geschlechtstrieb und zwischen Sympathie. Zwischen zwei Individuen kann instinctive Sympathie bestehen, ohne dass sie sich gegenseitig als Mittel zur Befriedigung des Geschlechtstriebes benutzen. Eine solche sogenannte „ platonische Liebe" kommt nicht blos zwischen gleichgeschlechtlichen Individuen vor, sondern auch zwischen Geschlechtsverschiedenen ; zwischen letzteren allerdings meist nur vor Beginn und nach dem Aufhören der geschlechtlichen Potenz ; z. B. haben fast alle Männer im 13. oder 14. Jahre eine stets durchaus platonische Liebe zu einem gleichalterigen Mädchen gehabt. Seit ich die ungeahnte Rolle kenne, welche die Düfte spielen, stehe ich keinen Augenblick an , zu behaupten , dass sie dabei betheiligt sind, und dass dies mit dem „ Psychometer" ziffer- 246 mässig ermittelt werden kann ; dies zu thun hatte ich bisher keine Zeit und keine Gelegenheit. Bei der platonischen Liebe muss zweierlei in's Spiel kommen : 1 ) dass es sympathische Düfte gibt, welche durchaus nicht auf die Sexualorgane wirken. Das ist so natürlich , als es gewiss ist , dass es umgekehrt Düfte gibt , die exquisit sexual erregen (Aphrodisiaca) ; 2) dass ein und derselbe Duftstoff auf einen und denselben Menschen, je nach seiner Concentration, einen ganz entgegengesetzten Eindruck machen kann, worauf schon mehrfach hingewiesen wurde ; bei gewisser Concentration werden alle Düfte unangenehm, und umgekehrt: wenn ein Ekelduft genügend verdünnt ist , so kann seine Wirkung in's Gegentheil umschlagen , er wird Lustduft oder wenigstens indifferent. Was ich nun behaupte , ist Folgendes : Ist die Körperausdünstung eines Menschen für einen zweiten nur in gewisser Distanz Lustduft , in zu grosser Nähe Ekelduft, so muss die ,,instinctive" platonische, d. h. von allen fleischlichen Gelüsten abhaltende, weil eine directe Berührung verbietende Liebe daraus resultiren. Dies wird namentlich der Fall sein , wenn der Duft etwas Mildes , wenig Aufdringliches hat. Dieser Fall muss sich leicht dadurch constatiren lassen, dass ein solcher Platoniker zwar gern in der Nähe seines Freundes weilt , aber küssen wird er ihn nicht. Fleischliche Liebe dagegen ist stets dadurch charakterisirt, dass sie möglichste Annäherung, z. B. das Küssen, erzwingt. Die Liebe , welche Mutter und Kind verbindet , ist fleischlich, aber keineswegs sexuelle Liebe , denn dem Kind fehlen ja die Sexualdüfte völlig, aber die Mutter liebt das Fleisch des Kindes, deswegen küsst sie dasselbe oft am ganzen Leibe und schmiegt sich innig an dasselbe, und umgekehrt: das Kind saugt am Fleisch der Mutter. Besteht nun instinctive Fleischesliebe zwischen Geschlechtsreifen differenten Geschlechts , so wird sie zwar gewöhnlich zur sexuellen Liebe , d. h. man benutzt sich zur Befriedigung des Geschlechtstriebes, allein , wie wir später sehen werden, ist dies durchaus nicht nothwendige Consequenz. Am häufigsten tritt nun fleischliche Liebe zwischen Personen von zweierlei Geschlecht ein, aber durchaus nicht immer, und das Merkwürdige ist , dass es 1 ) Personen gibt , die nur zu andern gleichen Geschlechtes im Verhältniss fleischlicher Liebe stehen können, und 2) sogar Personen, die zu gar keinem andern Menschen in der Beziehung instinctiver Fleischesliebe stehen, weder zu Personen des andern Geschlechts , noch zu solchen gleichen Geschlechts. Mein Correspondent hat diese auf 247 den ersten Blick sonderbare, aber bei der ungeheuern Variationsmöglichkeit der Duftstoffe völlig begreifliche Sache Jahrzehnte lang studirt und mir ein ungeheueres Material darüber zugesandt. Da ich selbst lediglich keine Beobachtungen hierüber besitze, so halte ich mich im Folgenden durchaus an ihn , und zwar mit vollstem Vertrauen auf seine unbedingte Verlässlichkeit, die ich auf anderen Gebieten der Seelenlehre , auf denen ich eigene Erfahrungen besitze, erprobt habe. Getreu der historischen Methode, welche ich in diesem Buche einhalte, gebe ich auch eine Notiz über die Art, wie das Folgende zu Stande gekommen ist. Dr. M. schickte mir ein etwa fünf Druckbogen dieses Buches umfassendes Manuscript zu beliebigem Gebrauch. Ich fertigte daraus ein mit meinen Erklärungen durchspicktes Manuscript von etwa einem Drittel des Umfangs und sandte dasselbe an Dr. M. zurück. Es erfuhr von ihm eine Umarbeitung, die es wiederum verlängerte. Ich hatte es nämlich für überflüssig gehalten, in diesem rein wissenschaftlichen Buche die praktischen Consequenzen aus der Lehre von der abnormen Sexualität zu ziehen, da ich keine Ahnung davon hatte , wie das grosse Publikum im Allgemeinen und die Gesetzgebung im Besondern hierüber denken möchten. Nachdem ich darüber von meinem Correspondenten belehrt worden bin , kann ich diesen Standpunkt nicht festhalten und lasse seinen hochwichtigen Erörterungen vollen Lauf: Wenn die Sache überhaupt angerührt wird, so muss sie ganz gepackt werden. Ich muss das nicht blos mit Rücksicht auf die Sache thun , sondern auch mit Rücksicht auf meinen Correspondenten , um zu zeigen , dass dieser nun 60- jährige Mann sich sein halbes Leben lang nicht blos mit einseitigen Specialstudien abgab , sondern die ganze Sexualitätsfrage in allen ihren Consequenzen und in ihrer menschlichen Allgemeinheit zu erfassen sich bestrebte, und zwar von einem grossen, echt humanen Standpunkte aus. Im Interesse der Sache finde ich diese Ausdehnung des Kapitels deshalb , weil der Schwerpunkt jeder naturwissenschaftlichen Entdeckung , insbesondere aber der meinigen , darin liegt : welche neue Bahnen sie der Praxis eröffnet. Dr. M. schreibt : ,,Gestern Abend las ich noch einmal Ihr Manuscript durch, finde es geradezu vortrefflich zusammengestellt und von Ihnen mit aufklärenden Lichtern sehr treffend versehen. Trotzdem aber fehlen so viele Uebergänge , klaffen dazwischen so viele kleine Lücken, und ist das Ganze so redigirt , dass dem Mono- und Homosexualismus, besonders dem letzteren, eine grössere Wichtigkeit beigelegt ist, als sie gegenüber der naturgemässen Normalsexualität ver- 248 dienen , die ja der eigentliche Canevas des Sexuallebens gesammter Menschheit ist , während die Abnormitäten nur geringe Stickereien daran sind. Durch diese Verschiebung der Verhältnisse riskirt man , dass der Eingeweihte» darüber lächelt , der «Nichteingeweihte» stellenweise ganz und gar nicht versteht, von was eigentlich die Rede ist. Denn Sie müssen sich klar machen, dass es Millionen Gebildeter gibt , welche überhaupt ungern von solchen Fragen sprechen hören, daher von jeher nur mit halbem Ohr etwas über das Thema vernehmen, das Gespräch dann gleich auf andere Themata lenken, indem sie, wie der Vogel Strauss, den Kopf in den Sand stecken und prüde glauben, man sähe den Steiss nicht. Und nicht blos der behagliche Spiessbürger und der glückliche Familienvater handeln derart , auch die Fachleute. Es ist bei gar vielen Aerzten höchst schwer , aus ihren eigenen Erfahrungen Aufklärungen über derlei Abnormitäten zu erlangen, denen sie entweder gar keinen wissenschaftlichen Werth beilegen, oder die sie selbst so anekeln , dass sie nur gegen gutes Honorar die Sache rasch abthun und dann nicht mehr daran denken , während sie mit grösstem Behagen über Geheimnisse der Normalsexualität sprechen. Noch ärger steht's mit der Wissenschaft. Es ist haarsträubend , welch' ein Unsinn seit PAUL ZACHIAS (der der Erste und noch der Gescheiteste war) , also seit 1674 , sich bis heute durch alle gerichtsärztlichen Handbücher über diese Abnormitäten traditionell fortschleppt. Keiner machte eigene Studien oder hatte Gelegenheit hierzu , Jeder schrieb also stets die Vorgänger ab. Sie alle sprechen sich in einen solchen Abscheu , in solche Begriffe des Verbrecherischen hinein, dass sie kreissenden Bergen gleichen, dann aber doch nur eine Maus gebären ; müssen sie doch zuletzt selbst gestehen, dass sogar beim ärgsten Pygismus sich weder bestimmte Symptome geschehener That, noch irgend schwere Folgekrankheiten (ausser solchen , die bei jeglicher übertriebener Unzucht selbstverständlich eintreten) nachweisen lassen ; und doch enthalten noch heute, wo noch Gesetze dagegen bestehen, dieselben die Annahme, dass die allerschärfsten Strafen eintreten müssen, wenn in Folge der Acte der Tod des Passiven erfolgt, welcher Tod doch nur als Resultat von Folgekrankheiten zu denken wäre - denn selbst an einem gebrochenen Fuss oder Arm stirbt Niemand unmittelbar, erst wenn sein Blut pyämisch wird, daher die Wundheilung übel verläuft. Zeugt das nicht von crassester Ignoranz topographischer Anatomie? Und somit weiss man auch noch von keinem unmittelbaren Todesfall , behält die blödsinnige Annahme aber noch fort, in der Fassung des Gesetzartikels, nicht merkend, dass , auch wenn durch harmloseste Ursache , wie Fahrlässigkeit, 249 - - - der Tod einer Person eintritt , dieser ein Verbrechen an sich bildet und hart bestraft werden muss , ganz gleichgiltig ob durch Sexualität herbeigeführt oder nicht. Und nun erst die Richter und Beurtheiler ! Durch solche gerichtsärztliche Parere irregeführt , zudem von eigenem Ekel getrieben - helfen sie eher einem Vatermörder durch, als einem angeklagten Homosexualen und sei es nur ein einfacher Mutualist, wie es der Process von 1874 mit dem Bremer Theaterdirector Feldmann bewies. Nicht nur er , auch seine Geliebten, reiche junge Kaufmannssöhne, wurden zu einem Jahr Zuchthaus verurtheilt , blos wegen gegenseitiger Onanie , also entehrt, ihre Familien und sie unglücklich gemacht, in Folge unterbrochener Carrière um ihr Vermögen, ihren Broderwerb gebracht aber sie wären völlig straflos gewesen, hätten sie das gleiche von Weiberhand thun lassen , oder direct ein Weib pygistisch gebraucht. Die Gerichtsärzte wie die Richter wollen gar nicht gestatten, dass solche Abnormitäten überhaupt zur Discussion kommen, sie protestiren gegen jegliche wissenschaftliche Untersuchung , und der Staatsanwalt Sachsen's leider vergass ich seinen Namen , doch ist er ja noch heute ein bekanntes deutsches Reichstagsmitglied hatte sogar die Unverfrorenheit, als im Norddeutschen Reichstage die Revision der einzelnen Artikel des neuen Strafgesetzbuches durchgenommen wurde, gegen die Discussion jenes Artikels zu protestiren , denn er betreffe Verbrechen, deren blose Andeutung jedem honetten Menschen die Schamröthe in's Gesicht treibe ; man müsse daher bei solchen Fällen gar nicht lange verhören, sondern gleich kurzweg blind strafen! » Steht einem bei solchen Anschauungen nicht vor Schreck und vor sittlicher Empörung das Haar zu Berge? Da könnte man ja morgen auch Sie oder mich solcher Verbrechen anklagen , und wir wären verdammt, bevor wir noch den Mund zur Vertheidigung aufmachten , wie es so vielen Mutualisten geschieht, die als Pygisten (welche allein das Gesetz treffen will, die es aber, der Natur der Sache nach - wie ja Stieber selbst sagtfast nie erwischt) verurtheilt werden. Ein Jurist , ein Arzt , der aus persönlicher Scham von Dingen gar nicht sprechen hören will, aber für ein gewissenhaftes Urtheil darüber vom Staat und der Gesellschaft schwer bezahlt wird! - Sobald Sie also diese beiden Themata berühren , müssen Sie unwillkürlich auch Front gegen diese Unwissenheit der Fachleute wie der noch bestehenden Gesetze machen. (Lesen Sie nur, was z. B. KLOSE , TARDIEU und REICH schwatzen ; oder gar die Anschauungen von Philosophen wie KANT, FICHTE, HEGEL, SCHOPENHAUER, E. V. HARTMANN u. s. w. , welchen Unsinn diese alle über derlei Fragen sagen !) 250 Also fast alle Ihre Leser haben , wenn sie Ihr Buch in die Hand nehmen, folgende traditionelle Anschauungen : 1 ) Onanie komme überhaupt nur bei Knaben vor und auch nur bei verhältnissmässig wenigen, denn wer dem Laster verfalle, sterbe unbedingt jung und frühzeitig elend ; die Leute ahnen also nicht , dass fast jeder Knabe der Welt , wie ich unten zeigen werde, sich selbst befleckt hat. — 2) Sie alle ahnen nicht, dass das Gleiche auch von den Mädchen gilt. 3) Homosexualismus sei einfach criminalistisch zu beurtheilen als Laster. Ich gebe Ihnen nun zu allererst eine approximative Statistik der Sexualtriebe, wie ich sie bei meinen Studien in allen Hauptstädten Europa's gefunden habe. Sie ist zur Würdigung der Bedeutung der Sache unbedingt erforderlich. Unter den Männern , auch auf dem Lande , aber überwiegend in den grossen Städten , haben gut 80 Proc. in ihrer Knabenzeit vorübergehend Onanie getrieben ; reichlich 70 Proc. davon wurden nach der Pubertät Normalsexuale , verehelichten sich und zeugten Kinder, oder aber blieben ledige Weiberliebhaber ; aber Keiner von ihnen dachte mehr an Selbstbefleckung. Von den übriggebliebenen 10 Proc. blieben an 6 Proc. angeborene , an 2 Proc. angewöhnte Onanisten ; gut an 1,5 Proc. wurden active Mutualisten ; endlich bleiben ca. 0,5 Proc. Pygisten, von denen etwa 15 active, 4/5 passive sind. Das würde also bei jeder Million Männern - welche die allergrössten drei bis vier europäischen Weltstädte haben mögen -- an 60 000 angeborene, an 20 000 gewohnte Onanisten , 15 000 Mutuelle, 4000 passive und nur an 1000 active Pygisten ergeben ; also in Summa etwa 100 000 Abnorme auf 900 000 Normale. Wohlgemerkt, ich nehme bei dieser approximativen , wahrscheinlich noch etwas zu hoch gegriffenen Statistik eine Million von bis in ihr 30. oder 40. Jahr bei jeglicher Geschlechtstrieb - Befriedigung gesund gebliebenen Männern an ; die inzwischen Herausgestorbenen mögen in 30 Jahren noch eine weitere Million ausgemacht haben, zählen aber in dieser Berechnung nicht mit, die eine Million von 30 Jahre lang gesund gebliebenen Männer als Berechnungsbasis annimmt. Von den 900 000 gesund gebliebenen Normalen müssen in 10 Jahren (vom 20. bis 30. Lebensjahre) nach angenommenen Gesetzen statistischer Anschauung - gut an 600 000 (von 900 000) sich vermählt haben; an 250 000 werden durch äussere Verhältnisse verhindert zu heirathen ; an 50 000 sind physische oder geistige Krüppel ; an 80 000 heirathen überhaupt als Onanisten nie ; und 251 an 20 000 gehören den verschiedenen Arten des Homosexualismus an, von denen zwar in späteren Jahren eine gewisse Anzahl heirathet , es aber kaum zu glücklichen Ehen bringt, eine andere geringe Zahl (davon später die Rede sein wird), die sogenannten Doppelten (« die Doppelten, das sind eben erst recht die Halben» , sagt schon GOETHE) , es mit Weibern und Männern zugleich halten. Mag diese approximative Statistik auch noch so fehlerhaft sein , sie gibt uns jedenfalls einen Standpunkt, die ganze Frage endlich einmal zu übersehen und einen plastischen Begriff von ihr zu gewinnen. Also von 1 Million Männer sind 81, Hunderttausende normalsexual, und 600 000 können unser Geschlecht gesund und legitim fortpflanzen , 250 000 wenigstens die Freuden der Heterosexualität geniessen, in ihr naturgemäss leben, wenn auch der Staat und die Gesellschaft selber daran Schuld ist , dass ihnen diese 250 000 keine legitimen Früchte tragen. --– - Jedoch werden die Normalsexualen von einem noch ärgeren Feind bedroht und meist sehr schwer heimgesucht nämlich von der Syphilis. In der Civilisation ist fast jeder zweite Mann, besonders in früher Jugend, doch immerhin einmal wenigstens einer Blennorrhea zum Opfer gefallen, ja lügen wir uns bei so ernsten Dingen nur nicht selber angering gesagt , doch gewiss jeder 50. Mann auch noch viel ärgeren Uebeln, von oft lebenslangen Nachfolgen. Diese letzteren schleppen sie dann mit in die Ehe, erzeugen kranke Kinder, die , wenn sie sich erhalten , krankhafte und zu Krankheiten weiter disponirende Menschen werden , die ein krankes Geschlecht forterzeugen und ein Resultat hervorbringen, wie 1868 in Frankreich, wo von 600 000 Rekruten gleich 150 000 als durch secundäre und tertiäre Leiden völlig dienstuntauglich zurückgestellt werden mussten, also 1/5 von der Blüthe der Nation ! Und noch ärger ergeht es hierin den 250 000 Normal sexualen, welche trotz aller Vollkraft verschiedener Verhältnisse wegen nicht rechtzeitig heirathen können. Sie erzeugen dann die weibliche Prostitution , und diese vergiftet sie aus Dank dafür in Mark und Bein. Und der Staat, die Gesellschaft, die Gemeinde sehen diesem tiefeinschneidenden, das normale Gesellschaftsleben untergrabenden Krebse seit Jahrhunderten ruhig zu, ein grosser Theil der Aerzte jubelt noch insgeheim über die vielen Patienten , und die hohlköpfigen Moralisten endlich schreien nach Unterdrückung der Prostitution , dieses Schutzdammes für die bessere Gesellschaft, der verhindert, dass diese und das Familienleben nicht etwa auch noch ergriffen werden wie 1867 eine der Städte im Hannoverischen, in Folge des drakonischen Befehls , die Prostitution sofort aufzuheben! An den eigentlichen Feind der Normalsexualität , an - 252 die Syphilis selber , denkt aber Niemand. Noch haben jemals ein Staat, eine Gemeinde, nicht einmal einzelne Aerzte , auch nur an den Versuch gedacht , ob denn die in Europa erst 4 Jahrhunderte alte Syphilis nicht etwa doch wieder ganz hinauszubringen, zu exstirpiren , ja nur zu mildern , zu schwächen, einzudämmen, zu fixiren sei ? Das ist mit Hinsicht auf Prostitution so empörend lächerlich , als wollte man bei einer Person , die voll Ungeziefer ist , nicht sich bemühen , das Ungeziefer auf ihr zu vertilgen , sondern die Person selber immer wieder einmal durchprügeln , ihr aber das Ungeziefer belassend ! - Und dieser also beschaffenen Million moderner Männer um bei unserem Beispiel zu bleiben steht eine Million Frauen gegenüber, welche durch diese Männer zu Müttern werden, unsere Zukunft gebären sollen. Behalten wir obige Statistik bei, so fallen auf eine Million 300 000 glückliche und gesunde Ehen. Die Frau der besseren Stände kann sich nämlich bis zur Ehe keinen Ausschweifungen ergeben. Höchstens, dass sie in frühester Jugend eine Art Onanie treibt , welche aber nicht entfernt so gefährlich wie die des Knaben ist. Und mit Beginn des Gefühls der Jungfrauschaft hört der Prurigo, der früher verleitete, ja von selber auf. Dem jungen Manne steht es vom 15. Jahre an, sobald es ihm seine Reife erlaubt, frei , wenigstens die Freuden zu suchen , welche die Prostitution bietet. Das Mädchen dagegen kann wohl eine Liebschaft straflos durchmachen, aber es kann doch nicht, gleich dem jungen Manne, die Schule der Prostitution dilettantisch durchkosten ! Also wenn wir die Frage streng in's Auge fassen, so besteigen auch von den 300 000 später glücklich Vermählten die meisten Männer als gewissermassen unrein , das Weib allein als rein das Ehebett. Viel trauriger aber steht es mit den andern 300 000 , von denen der Mann schon mehr oder weniger krank in die Ehe tritt und ohne Gewissen und Selbstvorwurf eine Generation erzeugt, welche Prof. LEO in Halle einst so drastisch , aber leider wahr scrophulöses Gesindel nannte. Da bringt mir z. B. täglich ein 12jähriges Mädchen die Zeitung , welchen Dienst man dem Kinde schon überall sonst untersagte. Denn das arme Mädchen ist scrophulös, brennroth im ganzen Gesichte, secundäres Erbtheil der gewissenlosen Eltern, die das Mädchen bemitleiden, ohne zu ahnen, dass sie allein Schuld an dieser ekelhaften Entstellung sind. Und des Mädchens Zukunft kann keine andere sein, als dass die Unschuldige alte Bettlerin wird. Denn wo sie sich selbst zu anderem Dienst anträgt , ekelt man sich schon vor ihrem Anblicke und weist ihr sofort die Thüre. Aber man muss nicht glauben, dass solche Opfer der Sünde ihrer legitimen Fblos bei gemeinen, armen, dum- 253 men und schmutzigen Leuten vorkommen ; noch weitaus mehr, in den verschiedensten Formen, in den bürgerlichen Familien und in der hohen Gesellschaft. Ich könnte aus eigener Erfahrung hunderte von Beispielen anführen , aus unserer Zeit , in der sogar zwei Könige den Folgezuständen der Syphilis schon mit erlagen ! Sollte man da nicht hell weinen , Angesichts solcher Beispiele der Verlogenheit und Dummheit der zimperlichen und prüden Gesell- schaft? Dann kommen die 50 000 Nieten , die bei jeder Million mit in Kauf genommen werden müssen , nämlich die physisch Impotenten , die Krüppel , Blinden , Zwerge u. s . w. , die auch bei sonstiger völliger Gesundheit nicht heirathsfähig sind. Den 900 000 Normal sexualen, von denen aber nur 300 000 sicher , legitim und gegenseitig glücklich dem Naturzwecke entsprechen , stehen dann noch gegenüber 80 000 Monosexuale, 15 000 Mutuelle und 5000 wirkliche Pygisten . Diese 100 000 sind insgesammt sexuell wirkliche Drohnen. In Bezug auf Fortpflanzung nützen sie der menschlichen Gesellschaft ganz und gar nichts. Aber sie sind auch die Einzigen, welche ihr nichts schaden! Die Monosexualen befriedigen sich an sich selbst. Wem schadet das, wenn es nicht öffentlich geschieht ? Von den Homosexualen befriedigen sich die Mutuellen gegenseitig harmlos und weitaus weniger gesundheitsschädlich als die Monosexualen . Denn verglichen mit einsamer Onanie und ihren üblen Folgen für Körper, Seele, Geist, Gemüth und Herz- ist die gegenseitige Onanie eine directe Rettung . Die Gegenseitigen befriedigen sich ja doch menschlich, sinnlich aneinander, lieben sich, wenigstens für den Moment, menschlich warm und leidenschaftlich, ihr Act bedarf nicht der Phantasiebilder , greift also weder das kleine Gehirn, noch das Rückgrat an und zerrüttet ' nicht so fürchterlich das ganze Nervensystem. Sie behalten auch danach noch ein offenes, gutes Herz für die Menschheit und den Nebenmenschen, sind zwar geile Fritze, aber weder Kopfhänger, noch Mucker und können sich auch nicht so leicht durch Uebermass verderben, denn sie bedürfen zum Acte jedenfalls des Andern und der Gelegenheit, und die sind für sie nicht zu jeder Zeit und aller Orten so vorhanden , als für den einsamen Onanisten , der , besonders in der Jugend , meist schon allein der Unersättlichkeit erliegt. Endlich die 5000 passiven und activen Pygisten ; sie sind zwar für uns Normalsexuale eine ekelhafte Bande. Aber sogar die unfläthigen Pygisten thun ja der Gesellschaft nichts Uebles. Auch sie befriedigen sich blos unter sich! Und was geht das uns an? Warum sollen wir uns um sie kümmern , die 254 uns ja schon anekeln , wenn wir nur an sie und ihre verirrte Geschmacksrichtung denken ? Die Verachtung des normalsexualen Publikums straft sie ohnehin schon genug dafür, dass sie ihr Naturrecht auf so sonderbare Weise zu befriedigen streben. Was hat da noch gar das Strafgesetz dabei zu suchen und mit welchem Rechte ? Kümmert es sich doch — wie die Denkschrift der zehn Professoren der Berliner Universität so treffend sagt in keiner Weise um die ungeheuren Folgen der syphilitischen Durchseuchung Unschuldiger und ist ebenso ohnmächtig gegenüber der weitaus schlimmern Selbstbefleckung ! - Endlich , eine besondere Tugend haben unleugbar alle diese 100 000 der Mono- und Homosexualen : Sie sind keine Weiterverbreiter der Syphilis , denn sie kommen insgesammt nicht mit Weibern zusammen. " 21. Monosexuale Idiosynkrasie. -- Mit Monosexualität bezeichnet mein Correspondent die einsame Befriedigung des Geschlechtstriebes, das was man gemeinhin Onanie nennt. Hier sind zu allererst zwei Dinge ganz auseinander zu halten, die Onanie des Kindes und die der Erwachsenen. Die Beobachtungen des Dr. M. erstrecken sich der Hauptsache nach auf männliche Personen, wie begreiflich ; denn ein monosexuales Frauenzimmer hält sich von allen Männern so fern, dass eine Constatirung nicht möglich ist. Trotzdem beobachtete Dr. M. schon bei einigen weiblichen Kindern sogar bei einem dreijährigen - den unwiderstehlichen Drang , mittelst der Finger den Prurigo cunni zu befriedigen, ja eine Engländerin erzählte ihm von ihrem Töchterchen , welches vom 9. bis 13. Jahre weder durch Schläge, noch durch Zurückbinden der Hände, Nachts und manchmal auch am Tage, davon abzubringen war, sich stets zu onaniren, wobei es fieberte, abmagerte und beständig am fluor albus litt. Sogar vor den Knaben that es dies schamlos. Doch als sich endlich die Pubertät zeigte, wurde sie plötzlich sehr schamhaft und griff sich nie wieder an jene Stellen. Erst mit 26 Jahren heirathete sie, lebte dann glücklich , blieb aber kinderlos. Ob Letzteres späte Nachfolge der Onanie der Kinderzeit war, ist sehr fraglich . Mein Correspondent (und ich mit) zweifeln ferner nicht, dass unter den alten Jungfern unbedingt Monosexuale existiren müssen. Onanie der Kinder: Hier sende ich Folgendes , die Allgemeinheit dieser Unsitte Erklärendes, voraus : Jeder Schwellkörper ist ein Affect- Entbindungsorgan, und bei einem solchen kann, ganz unabhängig von jeder Sexualität , in jedem Alter, so lange das Eiweiss noch genügende Zersetzungsfähigkeit besitzt, schon beim Neugeborenen ein ganz zufälliger, den Schwellkörper treffender Reiz die Erection , damit den Kitzel und da sich kratzt , wen es juckt die Affectentbindung hervorrufen. Der Saft , der beim --- 256 unreifen Knaben kommt, ist kein Hodensecret sondern Prostatasaft. Nun gebe ich Herrn Dr. M. das Wort: ,,Um uns rasch ein klares Bild von dieser Frage zu machen, so sagen wir kurzweg : Jeder Schulknabe , ja überhaupt jeder Junge, auch im Bauernleben, der jemals existirte, existirt und existiren wird, hatte in seiner ersten Jugend , früher oder später, eine Periode, in der er sich , entweder durch eigenen Trieb, oder durch Verführung von Seite seiner Genossen, also unbewusst oder bewusst, kürzer oder länger, der Selbstbefleckung ergab. Denken wir nur Jeder an unsere eigene Kindheit, und lassen wir uns durch Dr. REICH (Unsittlichkeit und Unmässigkeit , Neuwied 1866) beweisen, wie schon zwei Tage alte Säuglinge, beim Baden im warmen Wasser, zu onaniren suchten. Das ist um so begreiflicher, wenn Sie meine Schlussfolgerung acceptiren, dass der Mann schon mit dem Sexualtrieb (? JGR. ) - als späterer Erzeuger - geboren wird , während dieser Trieb im Weibe - der nachherigen Empfängerin — erst mit der Pubertät entsteht ; oder vielleicht noch richtiger ausgedrückt, der Knabe bildet schon als Säugling, wenn auch noch so geringen, spermatozoidenlosen, unreifen Samen. Sah ich doch erst vor ein paar Jahren den 7jährigen Jungen einer Freundin, jüdischen Bankiersfrau, schon an Samenfluss leiden ; und der Gatte sagte mir , das seien Nachfolgen der einst fehlerhaften Beschneidung. Leider kümmerte ich mich damals nicht näher um den Fall, und der hübsche Knabe schien bald danach genesen. Von mir selbst weiss ich, dass ich bereits mit drei Jahren Prurigo in den Genitalien spürte, die Beine Nachts übereinanderschlug, sie fest zusammenpresste und dann plötzlich so etwas, ich möchte sagen Salzig-Angenehmes fühlte, wie vor erfolgter Ejaculation, auch mich etwas benetzt meinte. Mögen Ihnen also Tausende von Erwachsenen auf's Crucifix schwören, sie hätten sich in erster Jugend nie der Selbstbefleckung ergeben, so beweist das nur, dass sie eben kein Bewusstsein davon hatten und in Erinnerung davon behielten. Und kommt wohl auch Einer unbefleckt durch diese Klippe eigenen Temperaments, so fällt er dann in die Hände der Schul- und Spielgenossen. Nun, und wie es ihm dort ergeht, das habe nicht nur ich Ihnen aus meiner Erfahrung mitgetheilt, das schrieben Sie mir nicht minder aus Ihrer eigenen Erinnerung. Also lügen wir uns nicht selbst was vor, wenn es sich um Forschungen höchsten Ernstes und entscheidenster Analysen auf dem Gebiete der Biologie handelt. Also alle Knaben, die je geboren wurden , onaniren , unbewusst oder bewusst. Sie müssen diesen Prurigo nun einmal durchmachen, wie eben alle andern Kinderkrankheiten , und ich hoffe, mit weniger Procentsatz der Verluste wie bei andern Kinderkrankheiten 257 (bei uns z . B. sterben 44,37 % der Geborenen bis in's 5. Jahr an Kinderkrankheiten, und vom 5. bis 15. Jahre kommen auf je 100 gestorbene Mädchen 106 Knaben). Dabei will ich aber keineswegs sagen, die Onanie sei nicht höchst schädlich für die erste Jugend, besonders der Schulen , indirect oft Tod herbeiführend oder doch Keime für späteres Siechthum legend . Aber diese primitive Frage eines evidenten, unvermeidlichen Naturgesetzes geht uns Sexualitätsforscher noch gar nichts an, es sind dies Fragen für Kinderärzte, vor Allem für Pädagogen, Schullehrer u. s . w. , da obendrein noch die Befriedigung dieses Triebes bei Knaben bis zum 10. - 12 . Jahre sehr leicht zu hemmen ist. Man lasse die Knaben nur recht viel unter starker Bewegung arbeiten , ermüde sie physisch, damit sie ermattet rasch einschlafen , schone aber ihren Geist, damit dieser nicht fortarbeite und den Schlaf verscheuche , lasse die Jugend recht viel baden und reinige sie streng, damit sich an der Eichel kein juckendes Smegma ansetze, bette sie möglichst kühl und leicht und lasse sie in wollenen Unterhosen schlafen, damit sie nicht unwillkürlich den nackten Körper berühren und verleitet werden, daran herum zu tasten. Endlich aber Iman lasse sie nie ohne Aufsicht mit andern Kindern spielen. Was die onanirenden Mädchen und die Ursache des Triebes bei diesen betrifft, so verweise ich einfach auf ROZIER. Aber wie gesagt, uns Sexualforscher interessirt anthropologisch dies Räthsel beim Knaben erst von dem Momente an, wo bereits die Sexualität bei ihm, ausgereift, erwachte. Was geht nun mit ihm. vor? Wie entwickelt sich sein Trieb weiter ? Welche Richtung nimmt derselbe ? Wer emancipirt sich rasch von ihm , wer bleibt ihm verfallen ? Hier verweise ich auf meine Statistik. Also nehmen wir eine Million schon ausgereifter Knaben , so gehen 900 000 davon gesund und gerade dem Normalsexualismus zu, d. h. wie Sie selbst schon so richtig bemerkten sobald sich in dem Knaben die ersten Sexualdüfte regen , so wird er sofort von instinctiver Sympathie für's andere Geschlecht ergriffen. Er onanirt von jetzt an vielleicht erst recht, aber er denkt bereits an's Weiberthum überhaupt , oder an ein bestimmtes weibliches Wesen und sobald er an solch ein weibliches Wesen gelangt, das sich ihm ergibt, denkt er sein ganzes Leben lang nicht mehr an's Onaniren . Das also sind in ungeheuerster Majorität die aus der Kinderkrankheit Geretteten , die glücklichen Normalsexualen. Und mit diesen Glücklichen haben. wir im vorliegenden Artikel nichts mehr zu thun. " Onanie Erwachsener, also männlicher Individuen mit entwickelter Pubertät : Ueber diese schreibt Dr. M.: „Entschlüpft nun auch die grösste Majorität glücklich der onaJaeger, Entdeckung der Seele . 17 258 nistischen Kinderkrankheit und reisst sich bis zur Normalsexualität durch, so verbleiben leider doch Tausende von der angenommenen Million dem Vampyr in den Krallen und verfallen ihm für immer. Die Zahl dieser Unglücklichen theilt sich dann wieder in zwei Klassen : in die Onanisten mit angebornem Triebe und in Gewohnheits- Onanisten. Es ist schwer zu sagen, welche in der Mehrzahl vorkommen , denn sie sind schwer zu unterscheiden . Ich möchte beinahe glauben , allen Monosexualen liege etwas Angeborenes zu Grunde. So erzählt uns J. J. ROUSSEAU, er habe wohl viel in der Jugend onanirt, einst dabei aber von Mde. von Marzan ertappt die sich ihm leidenschaftslos hingab, blos um ihn von dem Triebe zu kuriren , gehörte er von da ab ganz den Weibern, erzeugte auch mit seiner Theresa mehrere Kinder. Doch plötzlich , schon nahe an den 50rn, kam ihm Nachts und an der Seite seiner Lebensgefährtin , die alte Natur' wieder zurück. Er vollführte nicht mehr die Begattung, sondern onanirte einige Jahre fort, bis sich überhaupt der Sexualkitzel durch's Alter verlor. Nun aber kommt der Hauptpunkt , der Allen , die bisher über diese Frage geschrieben haben, entgangen ist. Was verursacht den Reiz zur Selbstbefleckung bei solchen Monosexualen ? Stellen sie sich in der Phantasie schöne nackte Weiber oder junger Leute Körper , überhaupt sexuale Reize vor ? Nicht im Entferntesten ! Im Gegentheil , der blosse Gedanke an ein Weib und ihren Schooss ekelt sie an , auch Personen ihres eigenen Geschlechtes sind ohne Wirkung auf sie , sie finden nur allein und im Geheimen Anreiz. Ich habe im Laufe der Jahre mit etwa einem Dutzend solcher unglücklichen Personen, darunter sehr geistreichen, die sich ganz richtig selbst beurtheilten, in der intimsten Weise über ihren Trieb gesprochen. Alle gestanden , überhaupt nicht an irgend etwas Sinnliches zu denken , der blosse Gedanke an irgend welches lebendige Fleisch sei ihnen zuwider , da das Alles unangenehm rieche und keines irgend eine geschlechtliche Erregung bei ihnen hervorbringe. Aber sie geriethen in Erection, sobald sie einsam, sich allerlei himmlischschöne (himmlisch nicht etwa religiös , sondern ideal gemeint) Dinge , verbunden mit süssen Gefühlen einbildeten (Entbindung von Gehirnfreudenstoff durch geistigen Anstoss ! JGR.) . Nicht Einer konnte mir sagen , was das für himmlische Dinge seien , sie seien wunderbar (völlig begreiflich , die Duftentbindung ist nicht localisirt ! JGR. ) . Zwar spüren sie auch physischen Reiz im Körper (von dem eigenen Samenduft , der in's Blut dringt , herrührend , JGR.) , so regelmässig wiederkehrend wie z. B. das Jucken bei Leuten , die sich viel zur Ader oder 259 schröpfen lassen , bis eine neue Blutentziehung sie wieder davon befreit. Jedoch sagten alle aus , wenn sie sich bei solchen physischen Erectionen nicht etwas , himmlisch Schönes ' denken könnten (also Gehirnfreudenstoff entbunden wird, JGR. ) , so komme der Reiz nicht , vielmehr erschlaffe und deprimire sie dann das blos mechanische Onaniren (da letzteres blos Schwellkörperaffect ist , zu dem also der Cerebralaffect kommen muss , wenn eine Befriedigung stattfinden soll. JGR. ). Der Normalsexuale schon eo ipso , aber auch der Homosexuale jeder Sorte sie bedürfen doch jedenfalls eines zweiten Wesens, um erigirt zu werden und ihre Gelüste zu befriedigen, auch bedürfen sie der Zeit und des Ortes dazu. Diese eine Bedingniss schützt sie also vor Unersättlichkeit und vor zeitlicher Forcirung. Und die Hauptbedingung , die Zweiheit, zwingt sie zum Interesse an andern Wesen, lässt ihren Egoismus nicht überwuchern und ist das starke Band , das auch den Homosexualen noch mit Gliedern der menschlichen Gesellschaft verbindet. Einzig der Monosexuale bedarf zwischen Himmel und Erde keines Wesens, als nur seiner selbst ; er kann zudem in jeglicher Secunde , an jedem Orte, einsam oder in dichtester Gesellschaft seinen unseligen Trieb befriedigen ; ja er bedarf nicht einmal der Hand dazu. Wer also vom 15. -25. Jahre, im ersten Stadium, diesem bedauerlichen Triebe nicht schon unterliegt , sondern durch kräftige Constitution, besonders aber durch ein gewisses Masshalten, bei guter Nahrung, den üblen Folgen zu widerstehen vermag, bei dem gestaltet sich in späteren Jahren dieser Trieb zum organischen Bedürfniss wie bei einmal begonnenem Anfang des Aderlassens oder Schröpfens das zeitweise Wiederkehren des Dranges hierzu . Und wie heterogene Persönlichkeiten sind Sclaven dieses Triebs - die meisten freilich der besseren Gesellschaft angehörend. Dahin gehören z. B. der Bier trinkende Falstaff, das magere Candidätlein, vor allem der insgeheim Verse machende, sentimentale, scheue Jüngling, der in gereimter Weise so sehr nach , himmlischen Wesen ' schmachtet, aber es noch nicht wagte, ein dralles Stubenmädchen abzuküssen. Besonders aber jene wohlerzogenen, sehr sittsamen, gleich einer Jungfer in gewähltesten und keuschesten Worten sich aussprechendenjungen Leute, welche die Gesellschaft so harmlos und feingebildet, und für jüngere Tollköpfe musterwürdig solid findet, das sind, wie ich schon in meiner Statistik' sagte, die durch die Zimperlichkeit der besseren Gesellschaft und durch strenge oder auch zimperliche Familienerziehung zu sexualen Feiglingen gemachten Monosexualen. Endlich jene grosse Zahl meist magerer, älterer Junggesellen aus dem Stande der Rechtspflege , der katholischen Theologie , des höheren 17* 260 Beamtenthums, wie des Grosshandels (z. B. alte Buchhalter) , und aus der Zahl der Rentiers über die man plötzlich stutzt, wenn man sie so harte, kurze, gleichgiltige Urtheile über Fragen des Menschenund des Volkswohls sprechen hört, in Allem geborene Reactionäre : das sind die Eigentlichen , schon hart Gekochten. Merkwürdigerweise kommen bei dieser Sorte selten höhere Militärs vor - freilich fast selbstverständlich. Ich kannte nur einen Cavalleriegeneral, der den Hauslehrer, welcher entsetzt meldete, er habe des Alten Grossneffen bei der Selbstbefleckung ertappt, mit den Worten zur Thür hinaus jagte : , Sie Esel ! Seit meiner Kindheit hab' ich das täglich zweimal getrieben, und ich bin trotzdem schon 90 Jahre alt und noch immer hübsch kräftig. Aber was gehen eigentlich uns glückliche Normalsexuale diese Monosexualen an, deren Handlungen uns kaum anekeln , und die wir noch weniger bemitleiden können , wenn sie trotz Verstand und Geld sich die höchsten Lebensfreuden nicht zu verschaffen wissen ? O, ich bitte gar sehr ! Physisch schaden die Monosexualen sich selbst allerdings verhältnissmässig wenig und uns übrigen Menschen sexual ganz und gar nicht, denn sie brauchen uns ja weder im Guten, noch im Bösen und sind physisch auch der Gesellschaft nicht schädlich denn sie sind absolut keine Verbreiter des Giftes der Syphilis. Aber um so mehr schaden sie moralisch unserer Gesellschaft , nicht durch Unsittlichkeit , sondern durch tausendmal Aergeres , obgleich sie Gott sei Dank nicht so zahlreich vorkommen, wennschon , wie ich gleich hier hinzusetzen muss, in Deutschland und England weitaus mehr als im europäischen Westen , Süden und Osten , wo man , bei viel freieren , ja ausschweifenden Gesellschaftssitten, diese , freiwilligen Hämmlinge' und ,gebornen Eunuchen' , nur sehr vereinzelt trifft. Natürlich , je prüder und beschränkter in Sexualbegriffen ein Volk oder eine Gesellschaft ist, je verbrecherischer sie natürliche Verirrungen ansieht, und je entehrender und ungeregelter die Prostitution organisirt, daher wirkliche Verbreiterin des Giftes ist während die Sitte jene Halbprostitution gar nicht aufkommen lässt , welche in grossen Städten das Prellpolster dieser Verhältnisse bildet : um so üppiger keimt die , geheime Sünde ' auf, welche ihren Opfern die Miene exquisiter Sittlichkeit verleiht. Und erst in England ! Meine dortigen Beobachtungen zu schildern, reichen Bogen nicht aus. — — Um nun aber endlich zum Schlusse zu kommen , wodurch denn die sonst so harmlosen und einfältigen - Monosexualen moralisch so gefährlich für die Gesellschaft sind, obgleich sie nur sporadisch darin vorkommen, so ist das einfach zu erklären. Der Onanist pumpt sich selbst nicht nur physisch aus, sondern noch weit mehr im 261 ganzen Gemüthsleben. Er macht sich zum Eunuchen, erkältet sich also Herz, Seele und Geist, wird bar alles Interesses , aller Theilnahme für den Nebenmenschen, überhaupt für die Menschheit ; denn er braucht nur sich selbst, und auch sich nur thierisch, kümmert sich im Uebrigen nicht um Vater und Mutter und nicht um Geschwister. Auch hat er und sucht er keine Freunde , was schon LESSING Herzlosigkeit nennt. Wären alle diese armen Narren Privatleute , was Teufel hätten wir uns um sie zu scheeren ? Aber im Gegentheil, sie sitzen sind sie sonst geschickt dazu in allen Aemtern, die mit dem Publikum verkehren , sie , die Mürrischen, Launenhaften , Nörgelnden , inmitten der lebensfrohen Normalsexualen , etwa auch der Homosexualen. Ja , sie sind oft unsere Richter oder irgendwie die Entscheider oder doch die Verwirrer unseres Schicksals. Der Eunuche beurtheilt den Mann ! Wie der orientalische Eunuche der erbarmungsloseste, einzig nur durch Bestechung zu beschwichtigende Quäler der seiner Aufsicht anvertrauten Frauen ist, so der Monosexuale. Ich sagte Aehnliches einigen Hochstehenden dieser Art , die mich durch äusserst harte , gefühllose Urtheile gesprächsweise provocirten, schon platt in's Gesicht ; sie kehrten mir erschrocken den Rücken und wurden meine Todfeinde. Ein sehr berühmter Arzt dagegen , dem ich diese meine Theorie auseinandersetzte , umarmte mich dafür und gestand mir, dieser ihm neue Standpunkt löse ihm viele Räthsel bei manchen seiner Patienten , bei denen sein medicinisches Wissen nicht ausreiche. Auch sei er nun überzeugt , dass bei solch' chronischer Nervenzerrüttung der räthselhafte Verlauf mancher Krankheit sich durch diesen Schlüssel leicht erklären lasse. Nun, man kann freilich Beamte u. s. w. nicht , gleich Rekruten , sofort bei der Aufnahme körperlich visitiren. Aber , , erkennt sie an ihren Thaten' , sagt schon die Bibel, und der Chef hätte zu beobachten, welche seiner Untergebenen sich durch ihre Lebensanschauungen und ihre rücksichtslosen Urtheile selbst verrathen. Denn Summum jus, summa injuria ! Sie fragen sich und mich, ob wohl die Monosexualität angeboren oder erworben sei ? Eine schwer zu lösende Frage, oder richtiger, eine solche, die nur bei jedem einzelnen Individuum zu beantworten wäre, wenn man dessen geheime Geschichte von Jugend an kennte, während es sie aber meist selber nicht kennt. Ich calculire aber so : Da jedes männliche Wesen, bewusst oder unbewusst, in früher Jugend eine Periode der Selbstbefleckung durchmachen muss und durchmacht , neun Zehntel davon aber , sobald die Pubertät eintritt, diese Fesseln weit und für immer von sich wirft, so muss dieser vorübergehende Prurigo bei all' Denen, bei welchen 262 er sich zum förmlichen, ununterdrückbaren Trieb auswächst, und zwar durchaus nicht mit auf's Weibliche gerichteter Phantasie, angeboren sein , vielleicht als ein innerlich organischer Mangel. Und wie viel hundert Knaben werden mit völligem Mangel eines Penis, den blos ein Knopf zum Harnen ersetzt, oder mit verkümmertem, in den Bauch gewachsenem Penis geboren - wie ich das genugsam beim Regiment beobachtete. Von diesen kann man vernünftigerweise nicht verlangen, dass sie sexual empfinden sollten , obgleich dies doch bei Manchen, wenn auch höchst kastratenartig, vorkömmt. Aber, wie ich schon ausführlich besprach, es gibt auch eine zahlreiche Sorte von Gewohnheits- Onanisten , welche sich dadurch den Trieb angewöhnten, dass sie , im Augenblick des Eintritts der Pubertät, moralisch zu feig, zu zimperlich, zu scheu waren, sich sofort dem Weibe zu nähern. Sie onaniren zwar dann - falls sie nicht ein Weib rettet, wie es ROUSSEAU geschah — möglichst ihr ganzes Leben hindurch , aber nicht erigirt durch blosse leere Phantasiebilder der geborenen Onanisten, sondern erregt durch ewige Sehnsucht nach den Mysterien des Weibes, obgleich sie kaum je den Muth fassen, den Schleier vor diesem lüsternen Mysterium zu lüften. Diese wären bei Beginn der Pubertät vielleicht noch für's Weib zu retten gewesen, könnte man bei jedem Individuum diesen Moment wissen. Aber sobald sie schon Gewohnheits- Onanisten geworden , sind sie so wenig mehr zu retten , als die geborenen. Denn vergessen Sie doch nicht, dass bei länger fortgesetzter Onanie der Same wässerig, dünn, spermatozoidenlos wird , also eine halbe Impotenz eintritt , die zum Beischlafe gar nicht mehr befähigt. Und doch versuchen gar oft Onanisten die Ehe oder werden durch Verhältnisse dazu verlockt, ja gezwungen. Nun, ich erzählte Ihnen ja von solch' einer Ehe und ihrem Ausgange. Aber wem fällt's denn auch ein , wem könnte es einfallen , eines Brautpaares Genitalien zu untersuchen , ob beide auch zeugungsfähig sind ? - Allerschliesslichst die Lehre TISSOT's, die SALZMANN's und die mir weniger bekannte des Prälaten v. KAPPF, sie sind jedenfalls darin falsch , wenn sie annehmen , dass sich die Onanie in den Schulen durch Verführung weiter verbreite, und dass daraus die Monosexualen enstehen. Gerade umgekehrt, der Monosexuale lässt sich weder verführen, noch verführt er einen Andern ; das ist ja gegen seine Natur! Er befriedigt sich selbst, einsam und allein, will von keinem Andern etwas wissen, er glaubt, er allein habe die Onanie erfunden!" Nun noch ein paar Worte meinerseits : Ich beurtheile den Monosexualismus der Erwachsenen, Geschlechtsreifen in ganz gleicher Weise, wie früher die partielle Misanthropie. In Folge 263 einer eigenartigen Beschaffenheit ihres Seelenstoffes ist ihnen „Alles , was Ausdünstung heisst, von Mann und Weib, ja selbst vom Thier, kurz jeder animalische Duft „,fatal" , antipathisch, wirkt auf sie nicht blos nicht lusterzeugend , sondern abstossend wie kalt Wasser“ . Ob diese Qualität ihres Selbstduftes angeboren oder anerzogen ist , das bedarf natürlich noch näherer Untersuchung , aber nach dem , was ich über die Idiosynkrasien der Speisen gezeigt habe, halte ich das Angeborensein unbedingt für das häufigere , wobei ich natürlich die blossen Nothonanisten , die kein Weib haben, und die Feigheitsonanisten , die wohl zum Weibe möchten und an dasselbe denken , aber zu feige sind , nicht hinzurechne, denn sobald Einer und das halte ich für das entscheidende Kriterium beim Acte auch nur an das Weib denkt , ist er eigentlich kein Monosexualer, sondern ein „ verirrter" Normalsexualer. 22. Homosexuale Idiosynkrasien. Ich muss mir versagen, hier näher auf die Natur dieses Gegenstandes einzugehen und beschränke mich lediglich auf die Mittheilung der Resultate meiner Untersuchungen in dieser Richtung. *) 1 ) Die Homosexualität, beruht, wie die Monosexualität, auf einer ganz entschieden angeborenen Specifität der Seelenstoffe. Dieselben sind bei ihnen derart beschaffen, dass sie , gerade wie beim Monosexualen, mit den Seelendüften des Weibes in entschiedenster Disharmonie stehen und zwar so , dass sie dem Weib gegenüber völlig impotent sind : Das Weib riecht ihnen am ganzen Leib übel , insbesondere die Brüste und der Schooss. Sie können das Weib also unmöglich als Object zur Befriedigung ihres Geschlechtstriebes benutzen. Diese idiosynkrasische Antipathie ist nicht bei allen derartigen Individuen gleich stark, so dass manche noch mit dem Weibe leben können, freilich nur mit Ueberwindung des Ekels

  • ) Die vorstehenden Kapitel waren bereits gedruckt, als ich von mehreren Seiten bestürmt wurde , die Besprechung der Homosexualität nicht in den Urtext des Buches aufzunehmen , sondern , weil eben einmal dagegen ein öffentliches Vorurtheil, wenn auch noch so ungerechtfertigt, bestehe, und dieses auch in der Gesetzgebung vorzugsweise der deutschen seinen Ausdruck gefunden, diesen Abschnitt zunächst esoterisch zu behandeln, eben mit Rücksicht auf die kleinen und schwachen Geister.

-- - Ich thue das in der Weise, dass ich über dieses specielle Kapitel anderweitig eine specielle Schrift im Anschlus an dieses Buch , unter dem Titel ,,Entdeckung der Seele , Supplementheft: Homosexualität ", dem vorliegenden Werke auf dem Fusse folgen lassen werde. Ich habe mich insbesondere auch deshalb dazu entschlossen, weil ich so in der Lage sein werde, die Quellen , auf die sich die Angaben des Dr. M. stützen, und die im Haupt- buche einen zu grossen Raum eingenommen hätten , vollständig mitzutheilen. Da ich in dieser Frage in Controverse mit den Juristen komme, und diese, weil sie die rechtsprechenden Personen sind , sich zugleich auch häufig sehr recht- haberisch geberden , so wird diese Erweiterung sachdienlich sein. 265 und auf Kosten ihrer Gesundheit. Bei Anderen ist sie aber absolut unüberwindlich. 2) Die Seelenstoffe der Homosexualen unterscheiden sich dadurch von denen der Monosexualen, dass sie in Harmonie mit Personen des gleichen Geschlechtes stehen, die Differenz dabei ist Altersdifferenz. Da der Geschlechtstrieb der mächtigste Trieb ist und nie ganz erstickt werden kann , so bleibt , da dem Homosexualen einsame Onanie fast unmöglich ist, demselben nichts übrig, als seinen Geschlechtstrieb beim gleichen Geschlecht zu befriedigen. Folgerichtig ist es eine Grausamkeit, Personen, die schon an und für sich durch diesen angeborenen Fehler unglücklich sind - Alle betrachten sich wenigstens so , auch noch dafür , dass sie das sind, zu bestrafen ; das ist genau so, als ob man einen Kretinen criminaliter behandeln wollte , weil er ein Kretin ist. Will sie die Gesellschaft durchaus nicht haben , so gibt es nur zwei Mittel : entweder sie castriren, oder sie schon als Kinder denn man erkennt sie meist da schon nach spartanischer Manier zu tödten. Ich habe zwar noch keine Gelegenheit gehabt, einen Homosexualen psychometrisch zu prüfen , wobei sich ja die Sache ziffermässig constatiren lassen muss. Sollte sich unter den Lesern dieses Buches ein Homosexualer befinden, der in der Lage ist, sich mir zur Prüfung zu stellen, so wird er mir und seinen Leidensgenossen einen Dienst erweisen. Wir Deutschen sind fast die einzigen, deren Gesetz die Homosexualität mit Strafe bedroht, deshalb muss auch von hier die Constatirung des Unrechts ausgehen ; durch meine Entdeckung ist die volle Möglichkeit genauester wissenschaftlicher Constatirung in jedem einzelnen Falle gegeben; ich kann das Richtern und Gerichtsärzten gegenüber mit voller Bestimmtheit aussprechen. 3) Es ist total falsch , von Knabenliebe zu sprechen. Der Homosexuale kann sich nicht beliebig mit einem unreifen Knaben, sondern nur mit einem bereits Geschlechtsreifen begnügen, gerade so wie ein Normalsexualer sich kaum mit einem Backfisch einlassen wird ; das kann vorkommen, aber in beiden Fällen nur als seltene Ausnahme. 4) Was mich Anfangs am meisten frappirt hat , mir aber jetzt vollständig erklärlich, ja naturnothwendig erscheint : Unter den Homosexualen steckt die merkwürdigste Sorte von Männern, nämlich die , welche ich superviril nenne. Dieselben stehen, vermöge einer individuellen Variation ihrer Seelenstoffe, ebenso über dem Mann, wie der Normalsexuale über dem Weib. Ein solches Individuum ist im Stande, die Männer durch seinen Seelenduft zu bezaubern, wie diese - aber in passiver Weise ihn bezaubern. --- 266 Da er nun stets in Männergesellschaft lebt , und Männer sich ihm zu Füssen legen, so erklimmen solche Supervirile häufig die höchsten Stufen geistiger Entwickelung , socialer Stellung und männlichen Könnens. Daher kommt es, dass die berühmtesten Namen der Welt- und Culturgeschichte unter der Liste der Homosexualen stehen: Namen wie Alexander der Grosse , Sokrates , Plato , Julius Cäsar , Michel Angelo, Karl XII. von Schweden, Wilhelm von Oranien u. s. f. *) Das ist nicht blos so , sondern das muss so sein ; so gewiss ein Weiberheld ein geistig inferiorer Mensch bleibt, muss ein Männerheld nun eben ein Männerheld werden, wenn er irgendwie sonst das Zeug dazu hat. --- Also das Strafgesetz des deutschen Reiches stellt, indem es die Homosexualität zum Verbrechen stempelt, die höchsten Blüthen der Menschheit auf die Proscriptionsliste ! - Ist es da nicht Pflicht eines Gelehrten, wenn er etwas findet, das zur naturwissenschaftlichen Klärung der Sache beitragen kann, ohne Furcht und Zagen vor den Hohen und ohne Rücksicht auf die Kleinen und Schwachen der Wahrheit die Ehre zu geben? Ich werde mich dieser Pflicht nicht entziehen , trotzdem, dass ich recht gut weiss , wie viel ich zu der ohnehin schon grossen Gegnerschaft , die auf mir lastet, noch weiter auf mich lade.

  • ) In dem betreffenden Supplementheft werden die Namen der betreffenden

Personen mit Quellenangabe gegeben werden. 23. Parasit und Seuche. Unter obigem Titel haben wir eine weitere Klasse von instinctiven Beziehungen zu betrachten , die von hohem praktischen Interesse sind. Wo wir in der ganzen Welt der Organismen hinblicken, handle es sich um Thier und Thier, Pflanze und Pflanze oder Thier und Pflanze, überall sind die gegenseitigen Beziehungen zwischen Parasit und Wirth durchaus specifisch, folgen ganz bestimmter Wahlverwandtschaft, und auch ohne jedes Experiment leuchtet es ein, dass die entscheidenden Factoren bei der Symbiose Beider die Duftstoffe sind. Warum geht die Krätzmilbe des Menschen nicht auf den Hund , die der Katze nicht auf das Rind , die Menschenlaus nicht auf den Hund, der Hundefloh nicht auf den Menschen ? Nicht weil ihnen der fremde Wirth keine Nahrung zu bieten vermag, sondern weil dessen Duft- und Würzestoffe ihm nicht behagen. Zwar sind nicht alle Parasiten monophil, aber wenn sie auch polyphil sind, so halten sie sich stets an einen abgegrenzten Kreis von Wirthen und sind unglücklich , sobald sie auf einen Andern gelangen, irren dort umher, machen gar keinen Versuch anzubeissen : Beweis genug , dass es eine Distanzwirkung ist , die sie hindert : ein Duft. Wem das nicht klar ist, der wende sich an das Experiment, und er wird überall finden, dass, sobald es gelingt, den Ausdünstungsduft des Wirthes in irgend einer Richtung zu verändern, die Parasiten fliehen oder sich nicht heranwagen. Reibt man sich z. B. die Hände mit Lorbeeröl, Erdöl, Essig etc. , so setzt sich keine Fliege darauf, schon auf einige Centimeter Entfernung hält sie an und dreht um. Mit Düften kann man die Fliegen aus den Zimmern verjagen, und alle Mittel gegen Eingeweidewürmer sind nicht etwa Gifte für sie getödtet wird nie einer , sondern nur Ekelstoffe. Die Witterung aller dieser Parasiten ist eine genau so feine, wie 268 z. B. die einer Raupe, die eben auf dem Blatt einer inadäquaten Pflanze gar nicht anbeisst, da sie deren Duft schon zurückschreckt. Was verhindert den Kartoffelpilz zu keimen, wenn man seine Sporen auf ein Rosenblatt sät, oder das Aecidium des Berberitzenstrauches, sich auf den unter dem Strauch wachsenden Labiaten und Compositen anzusiedeln ? Der inadäquate Duftstoff. Warum entwickelt sich das Ei des einen Hundebandwurms (der Taenia coenurus) im Leibe eines Schafes, während die Eier eines anderen (der Taenia cucumerina) , die eben so gewiss als die des ersteren zu Tausenden auf der Weide von den Schafen verschluckt werden, es nie thun ? Was verhindert die Eier des Spulwurms, die im Darm eines Menschen abgelegt werden, sich dort zu entwickeln, auch wenn man sie von oben wieder hineinfüttert ? Es fehlt der adäquate Instinctstoff, für den das Ei eine ebenso feine Witterung ohne Nase - besitzt, wie der beste Hund! Wer überhaupt meint, zur Wahrnehmung der Duftstoffe gehöre ein Geruchsorgan, und zu der der Würzestoffe ein Geschmacksorgan, dem bleibt die ganze Biologie ein Buch mit sieben Siegeln. Ein Infusorium, ein Spaltpilz, ein Samenfaden , ein Ei hat genau so feine Witterung , wie das vollendetste , complicirteste Geschöpf, was durch tausend und aber tausend Details bewiesen wird, und ich bin überzeugt, die Resultatlosigkeit des Suchens nach dem Riechorgan der Insecten kommt eben einfach daher: sie riechen mit dem ganzen Körper, d. h. ihre Tracheen führen die Duftstoffe sofort direct der Säftemasse zu, kurz sie werden vom Inhalationsaffect dirigirt und brauchen deshalb kein gesondertes Riechorgan. Die Consequenz des oben Gesagten muss nun natürlich Folgendes sein : Wenn die Ausdünstungsdüfte eines Geschöpfes verschieden sind, so müssen auch die parasitären Beziehungen verschieden sein, und das wollen wir an der Hand der geschilderten Duftdifferenzen der Reihe nach, hauptsächlich mit Berücksichtigung des Menschen, durchgehen, wobei ich beginne 1 ) mit den Rassen- und Völkerdifferenzen : Diese gehen durch die meisten Parasitenformen des Menschen hindurch. Z. B. die Kleiderlaus ist vorzugsweise bei den slavischen Volksstämmen zu Hause , die Kopflaus bei den germanischen. Die Weichselzopfmilbe ist nur bestimmten Völkern des Ostens eigen , und die norwegische Krätzmilbe den nordischen Stämmen. Kommt ein Europäer in tropische Länder, so wird er bemerken, dass gewisses Ungeziefer , das die Eingebornen plagt, ihn in Ruhe lässt, und umgekehrt. Dasselbe gilt von den Seuchenparasiten : die Eingebornen sind in der Regel gegen endemische Seuchen in hohem Grade immun, der Europäer erliegt fast unfehlbar. In das nähere I 269 Detail kann ich hier nicht eingehen und will es auch nicht, da ich hier nichts Neues beizubringen habe. 2) Die Individuellen und Geschlechts - Differenzen: Hier geben die Stubenfliegen , Flöhe und Kleiderschaben befriedigenden Aufschluss . Es gibt keine Familie, in welcher nicht eine Flohmutter, ein Fliegenkönig oder dergleichen ist, d. h. dem Einen laufen fast alle Flöhe im Hause zu, der Andere wird fast nie von einem belästigt. Im Allgemeinen ist der Floh gynäkophil , er schwärmt auf und für Weiber, aber keineswegs für alle gleich, ihm ist z. B. , wie den Franzosen, die Frau durchschnittlich lieber als das Mädchen, und für Backfische ist er namentlich gefühllos. Ueber Fliegen und Flöhe werden wir später noch höchst Interessantes erfahren, zuvor gebe ich eine Mittheilung von Dr. M. , die auch die Differenz im umgekehrten Verhalten , d. h. in der Reaction des Menschen gegen die Seelenstoffe des Ungeziefers enthält. „ Ich bin ziemlich gleichgiltig gegen Wanzen , bemerke blos sofort ihren entsetzlichen Geruch. Dagegen von der Windelzeit an bis heute macht mich ein einziger Floh durch seinen Stich halb wahnsinnig. Derselbe verursacht mir eine Blase von der Grösse eines Silbergroschens , die eine halbe Stunde lang brennt , unerträglich alle Nerven aufregend, ja manchmal mich sogar geschlechtlich stimulirend. Als ich noch Säugling war , schickte meine Mutter zu zweien Malen zum Arzt, darauf schwörend, ich habe die Pocken. Dagegen war mein Vater und besonders mein um ein Jahr jüngerer verstorbener Bruder nicht nur gegen Ungezieferstich völlig gleichgiltig, sondern letzterer nistete auch gleich Tauben, Kaninche etc. -direct Wanzen. Bei uns herrschte abstracte Reinlichkeit wozu meine Mutter schon durch ihren fabelhaft feinen Geruchsinn gezwungen worden wäre, wenn sie es nicht aus andern Gründen gethan hätte , und meines Bruders Bett wurde täglich auseinandergelegt ; versäumte man dies , so waren am zweiten wieder Wanzen darin. Man sagt, es komme das von süssem Blut was ist das ?" --- -- Nichts anderes, als dass dem Floh der Individualduft adäquat, angenehm , „ ihm süss" schmeckt. Später werden wir noch eine andere Definition erhalten. Im Gegensatz gegen die Flöhe, welche vorwaltend gynäkophil sind , zerfressen die Kleiderschaben mit besonderer Vorliebe die Wollkleider und Pelze der Männer und wieder mit Vorliebe die Stellen, wo der Körperduft am besten entwickelt ist , während sie Stoffe, von Weibern getragen, oft in auffälligster Weise verschonen. Die Stubenfliege unterscheidet ebenfalls die Individualdüfte und plagt gewöhnlich ein oder das andere Individuum mit unvertreibbarer Energie, während es oft im gleichen Haushalt Personen gibt, auf die sich äusserst selten eine 270 Fliege setzt. Auf die Fliege komme ich später noch einmal zurück, bemerke hier nur , dass sie im Allgemeinen androphil (männerliebend) ist. Bei den Eingeweidewürmern spielen die Altersunterschiede eine gewaltige Rolle, z. B. die Madenwürmer sind bei Kindern sehr häufig, bei Erwachsenen selten ; der Gehirnblasenwurm ist nur bei jungen Schafen , die Pferdebrehme fast nur bei Fohlen zu finden. Von den Seuchenparasiten gilt dasselbe : einige derselben, wie Scharlach , sind geradezu Kinderkrankheiten , welche Erwachsene selten und dann nur schwach befallen , während der Typhus den Säugling ganz verschont, im Kindesalter selten ist und erst mit dem Auftreten der Sexualdüfte gefürchtet wird. Auch der Favuspilz gedeiht meist nur auf Kinderköpfen. Im Puerperium ist die Frau immun gegen Typhus. Doch auf die Seuchenparasiten wollen wir erst später in extenso zu sprechen kommen. 3) Die Differenz im Ausdünstungsduft der verschiedenen Körperstellen (Regionaldifferenz) illustriren uns die Läuse. Die Filzlaus geht nur an Scham-, Achsel- und Barthaar, nie auf die Kopfhaare, und die Kopflaus nur an letztere, nie an erstere. 4) Die Affectdifferenzen: Hiermit komme ich zu dem Punkte, der bisher am wenigsten beachtet worden ist, weil diese Differenzen ja meist vorübergehend sind und so auch ihre Wirkungen. Was hier namentlich völlig übersehen wurde , ist der Unterschied zwischen Luststoffparasiten ( Euphorophilen) und Angstparasiten (Dysphorophilen) , ein Unterschied, der von grösster praktischer Bedeutung ist. *) Die Differenz in der physiologischen Wirkung zwischen Luststoff und Unluststoff ist so colossal, dass man schon a priori sagen muss : für ein Thier, dem der Luststoff der ädaquate Instinctstoff ist , muss der correlate Unluststoff unbedingt im höchsten Grade antipathisch sein und umgekehrt, und so ist es auch. Nehmen wir ein naheliegendes Beispiel : Es gibt eine reiche Fauna von Thieren , welche ausschliesslich vom Koth anderer Thiere leben, und der Mensch hat ganz specielle Coprophilen aus der Ordnung der Käfer, der Fliegen etc. Von diesen Coprophilen setzt sich nie eines auf eine frische menschliche Speise. Umgekehrt : die frischen menschlichen Speisen haben sehr viele

  • ) Bei der Wichtigkeit der Sache ist es nöthig , ein paar weitere , kürzere, als Hauptworte brauchbare, technische Bezeichnungen zu schaffen : Dysepi- zoon , Dysentozoon , Dysepiphyte , Dysentophyte schlage ich zur Bezeichnung

der verschiedenen Angststoffparasiten (Dysparasiten) , Euepizoen etc. für die Luststoffparasiten (Euparasiten) vor. 271 Freunde, ich nenne nur die Stubenfliege, und diese gehen fast nie auf Menschenkoth. Denselben Gegensatz bewirken die andern Affectstoffe : Exquisite Luststoffparasiten sind beim Menschen die Läuse und die Darmeinwohner; das ist sogar volksbekannt. Z. B. sagt man bei uns auf dem Lande : „ ein rechter Bub muss Läuse auf dem Kopf haben !" Unter einem „ Lausbuben" versteht man einen kräftigen, energischen wilden, zu Uebermuth und jeder Tollheit aufgelegten Jungen , und wenn man von einem feigen, ärmlichen oder kränklichen Jungen spricht , so sagt man: „ das ist ein Tropf oder Lump, bei dem leben nicht einmal die Läuse". Von den Bandwürmern gilt dasselbe, nur ist es hier wegen der Seltenheit der Infection nicht so bekannt. In Abessinien dagegen, wo der Genuss rohen Fleisches, also die Gelegenheit, Finnen zu verschlucken , ganz allgemein ist , wird es als ein schlimmes Zeichen betrachtet , wenn Jemand keinen Bandwurm hat- und mit Recht -, und wenn er endlich einen bekommt , so wird er von allen Seiten ob dieses Familienereignisses beglückwünscht. Die Kehrseite beim Luststoffparasiten ist, das derselbe sofort in Aufregung kommt, ja flieht, sobald sein Wirth in den Unlustaffect oder dauernde Dysphorie kommt. Volksschullehrer können bei einem Jungen sofort an den Kopfläusen sehen , ob's in der Fechtschule stinkt". Sobald derselbe in Angst kommt, so werden die Läuse lebendig, tauchen aus dem Haarwald auf, klettern verzweifelt an den Haarspitzen umher und flüchten sich auf den Rockkragen u. s . f. , denn der Gehirnangststoff ist unter sie gefahren. Bei den Vogelläusen kann man genau dasselbe beobachten. So lange ich noch meine ornithologischen Studien betrieb, war mir öfter Folgendes aufgefallen : Wenn man einen Vogel herunterschiesst, der aber noch durch Eindrücken des Brustkorbes vollends getödtet werden muss, so laufen seine Läuse wie besessen ganz oben auf den Federn herum , retten sich auf die Hand des Jägers, so dass der letztere seine Beute vor Ekel oft wieder wegwirft : der Todesangststoff schlägt sie in die Flucht. Auch bei den Käferläusen habe ich jüngst bei Versuchen über die Angststoffentbindung dasselbe gesehen : so lange der ergriffene Käfer nicht geängstigt wird und in Folge dessen nicht stinkt , bleiben jene verhältnissmässig ruhig , sobald aber der Angstduft auftritt , gerathen sie in Aufruhr. - Bei den Eingeweide würmern kann die Wirkung der flüchtigen Cerebralaffecte objectiv nicht beobachtet werden , aber dass die pathischen Affectstoffe auf sie wirken, ist volksbekannt : 274 Hier steht nun fest : für eine Reihe von Seuchen sind die adäquaten Instinctstoffe vorzugsweise endogener Natur; also für alle diejenigen , bei welchen notorisch die Seuchenangst die Immunität aufhebt (Pest, Cholera, Pocken), ist der Cerebralangst- stoff ein adäquater Instinctstoff. Diese Seuchenfermente sind Angstduftfreunde (phobophil). Kommt ein Individuum nicht in Angst , so passiren die Fermente den Darmcanal wahrscheinlich genau so harmlos , wie die Eier eines Bandwurms, die in einen falschen Wirth gerathen sind , aber sobald der Angststoff erscheint , beginnt die Vegetation. Ich muss übrigens hier noch voraussenden : -- — Von den Seuchenparasiten gilt genau wie von allen Instinctbeziehungen der Unterschied von Monophilie und Polyphilie , und es scheint , dass kein Seuchenparasit ganz vollständig monophil ist , dass jeder einen gewissen Kreis von adäquaten Instinctstoffen hat, die aber unter einander sehr ähnlich sind. So kommt es , dass einige Seuchen und das sind natürlich dann die gefährlichsten und verbreitetsten alle Stoffe lieben, die für den Wirth Unluststoffe, dysphorische Stoffe sind, wir können speciell diese Fermente dysphorophil nennen. Also nicht blos der Gehirnangststoff hebt die Seuchenfestigkeit des Menschen auf , sondern, was z. B. beim Typhus ganz deutlich ist , es wirken ebenso die Muskelangststoffe, wodurch sich die Thatsache erklärt, dass Menschen, die sich grossen Strapazen ausgesetzt haben, sehr typhuslabil sind. Wenn es wahr ist , dass der Rheumatismus acutus eine parasitäre Infectionskrankheit ist, so möchte ich sein Ferment als exquisit muskelstoffliebend (myophobophil) bezeichnen. Eine ganz besonders prädisponirende Rolle für Seuchen spielt ganz allgemein der Kothduft (stercophile oder gastrophile Fermente) . Hierher gehören alle vorwaltend gastrischen Seuchen, wie Cholera , Abdominaltyphus , Dysenterie , und dies führt uns schon hinüber zu den exogenen Seucheninstinctstoffen. Mit Recht hat man immer und immer wieder darauf hingewiesen, dass die Emanationen der Aborte entschieden für die gastrischen Seuchen prädisponirend, seien und nach dem, was ich in früheren Kapiteln über die Einathmung der Seelenstoffe sagte, ist es auch ganz begreiflich. Wenn der Kothduft der adäquate Typhus und Ruhr ist, so bleibt es duftentbindung im Körper oder ob bei mässiger dung die Ursache halt in unventilis Toetstoff für Cholera, ob eine starke Kothselben stark erhöht, eine duftdichte Kleior ob der Aufentdadurch verhindert, 273 die bedeutendsten , wie v. PETTENKOFER , NAGELI und andere achtlos vorüber gegangen sind. Auch ich habe in meiner Schrift ,,Seuchenfestigkeit und Constitutionskraft" diesen Punkt zwar nicht völlig übersehen (siehe S. 66 u. folg. ) , aber doch ist es mir nicht ganz klar geworden. Die Sache lag so nahe : längst kannte man die Thatsache , dass Gemüthsaffecte von grösstem Einfluss auf die Immunität seien , und dass ebenso Abort - Emanationen das Auftreten der Seuchen begünstigen. In meinen beiden früheren Aufsätzen Nr. 4 und 5 habe ich die Sache zuerst niedergelegt , aber sie bedarf wesentlich der Ergänzung , die ich in Folgendem gebe. Licht begann erst in die Seuchenlehre zu fallen, als man anfing, sie als Gährungserscheinungen, hervorgebracht durch lebende Fermente , oder sagen wir besser Parasiten , zu betrachten und die Gesetze des Parasitenthums auf sie anzuwenden. Aber was man früher vergass, war, dass jeder Parasit ohne jede Ausnahme eines adäquaten Instinctstoffes bedarf, wenn er sich entwickeln soll. Damit soll nicht gesagt werden , dass der von NAGELI und mir ermittelte Einfluss der Concentration der Nährstofflösung *) nicht bestehe , im Gegentheil, ich bin in der Lage, dafür neue Beweise zu bringen ; aber der Instinctfactor ist mindestens ebenso wichtig, und mit seiner Hilfe kommt plötzlich ungeahnte Klarheit in die verwickelte Casuistik der Seuchenlehre. Ich stelle desshalb den Satz auf: Jedes Seuchenferment bedarf zu seiner Entwickelung einen adäquaten Instinct - d. h. Duft- oder Würzestoff, kurz Seelenstoff , um ceteris paribus ein Geschöpf zum Seuchenwirth zu machen und zwar speciell einen Stoff, der für den betreffenden Wirth Unluststoff, Ekelstoff, für das Ferment dagegen Luststoff ist. Die Instinctbeziehung zwischen Seuchenparasit und Seuchenwirth ist also die ganz gleiche wie zwischen Raubthier und Opferthier. Da die Zahl der Seelenstoffe, welche für ein Geschöpf Unluststoffe sind, sehr gross ist, so müssen wir hier die gleiche Sonderung vornehmen , wie bei den Affectstoffen , und exogene und endogene Seucheninstinctstoffe unterscheiden.

  • ) Prof. Feser in München schreibt (Wochenschrift für Thierheilkunde

Nr. 25, 1879) die von mir constatirte grössere Seuchenfestigkeit der Soldaten nur der besseren Ernährung , ich der Entwässerung zu. Da kräftigere , insbesondere eiweissreiche Kost notorisch entwässernd wirkt (siehe Ranke , Grundzüge der Physiologie, 2. Aufl. , S. 509) , so widerspricht die Behauptung Feser's der meinen nicht , dagegen ist die seinige ungenügend , da es noch andere entwässernde Factoren gibt ; siehe übrigens auch Kapitel 25. Jaeger, Entdeckung der Seele. 18 274 Hier steht nun fest : für eine Reihe von Seuchen sind die adäquaten Instinctstoffe vorzugsweise endogener Natur ; also für alle diejenigen , bei welchen notorisch die Seuchenangst die Immunität aufhebt (Pest, Cholera, Pocken), ist der Cerebralangststoff ein adäquater Instinctstoff. Diese Seuchenfermente sind Angstduftfreunde (phobophil). Kommt ein Individuum nicht in Angst , so passiren die Fermente den Darmcanal wahrscheinlich genau so harmlos , wie die Eier eines Bandwurms, die in einen falschen Wirth gerathen sind , aber sobald der Angststoff erscheint , beginnt die Vegetation . Ich muss übrigens hier noch voraussenden: - Von den Seuchenparasiten gilt genau wie von allen Instinctbeziehungen der Unterschied von Monophilie und Polyphilie , und es scheint , dass kein Seuchenparasit ganz vollständig monophil ist , dass jeder einen gewissen Kreis von adäquaten Instinctstoffen hat, die aber unter einander sehr ähnlich sind. So kommt es , dass einige Seuchen und das sind natürlich dann die gefährlichsten und verbreitetsten - alle Stoffe lieben, die für den Wirth Unluststoffe, dysphorische Stoffe sind, wir können speciell diese Fermente dysphorophil nennen. Also nicht blos der Gehirnangststoff hebt die Seuchenfestigkeit des Menschen auf , sondern, was z. B. beim Typhus ganz deutlich ist , es wirken ebenso die Muskelangststoffe, wodurch sich die Thatsache erklärt, dass Menschen, die sich grossen Strapazen ausgesetzt haben, sehr typhuslabil sind. Wenn es wahr ist , dass der Rheumatismus acutus eine parasitäre Infectionskrankheit ist, so möchte ich sein Ferment als exquisit muskelstoffliebend (myophobophil) bezeichnen. Eine ganz besonders prädisponirende Rolle für Seuchen spielt ganz allgemein der Kothduft (stercophile oder gastrophile Fermente) . Hierher gehören alle vorwaltend gastrischen Seuchen, wie Cholera , Abdominaltyphus , Dysenterie , und dies führt uns schon hinüber zu den exogenen Seucheninstinctstoffen. Mit Recht hat man immer und immer wieder darauf hingewiesen, dass die Emanationen der Aborte entschieden für die gastrischen Seuchen prädisponirend, seien und nach dem , was ich in früheren Kapiteln über die Einathmung der Seelenstoffe sagte, ist es auch ganz begreiflich. Wenn der Kothduft der adäquate Instinctstoff für Cholera, Typhus und Ruhr ist, so bleibt es sich gleich, ob eine starke Kothduftentbindung im Körper den Duftstand desselben stark erhöht, oder ob bei mässiger Entwickelung desselben eine duftdichte Kleidung die Ursache der Duftstauung ist , oder ob der Aufenthalt in unventilirtem Raum die Entduftung dadurch verhindert, 275 dass der Mensch seinen Kothduft mit der Athmungsluft immer wieder einathmet, oder ob er sonst duftfrei in einen mit Kothdüften angefüllten Raum tritt und dieselben einathmet. - Dem scheint nun die Thatsache gegenüber zu stehen , dass gerade Canalräumer notorisch gegen gastrische Seuchen fest sind. Dieser Widerspruch ist aber nur scheinbar, ja im Gegentheil eine Bestätigung meiner Lehre , dass die Seuchenfermente von Duftstoffen entscheidend beeinflusst werden und zwar so : Jeder kann sich sofort überzeugen , dass der Duft einer frischen Ausleerung total verschieden ist von dem Stoff der Abtrittjauche. Erstere enthält nur die Ekelstoffe des eigenen Körper- , sowie des Nahrungs - Eiweisses ; bei letzterer bilden die Duftstoffe der Fäulnissfermente (Schwefelwasserstoff, Schwefelammonium etc.), die , wie CoнN nachgewiesen hat , die Excrete der Spaltpilze sind, die Hauptsache. Mit diesen letzteren wird der Körper eines Canalräumers imprägnirt , und da jedes Excret seinem Erzeuger feindlich, instinctwidrig ist (wie z. B. der Alkohol der Alkoholhefe), so muss ein Canalräumer für gastrophile Fermente instinctwidrig verwittert sein. Da nun die Fermente der gastrischen Seuchen saprophil sind, so fällt die Immunität der Canalräumer unter denselben Gesichtspunkt , wie die Durchseuchungsimmunität und die Impfimmunität. Ganz anders liegt die Sache bei einem Menschen, der nur zeitweise die Abort-Emanationen einathmet. Wie wir von der Alkoholgährung wissen, hört dieselbe erst auf, wenn der Alkoholgehalt eine bestimmte Höhe erreicht hat, und so muss es auch bei der Fäulnissgährung sein : Der Körper muss einen bestimmten Sättigungspunkt mit Fäulnissdüften gewinnen, wenn er immun werden soll, und diesen Punkt erreicht eben nur der Canalräumer , der Abtrittbesucher nicht. Ferner kommt Folgendes in Betracht : Der Canalräumer setzt sich ganz besonders den stinkenden Fäulnissgasen aus, welche auf dem Grunde der Cloake entwickelt werden, der Hausbewohner mehr den in den oberen Theilen des Abtrittschlauches entweichenden Düften , welche vorwiegend noch die des frischen , noch nicht faulenden Kothes sind , und diese sind die eigentlichen Instinctstoffe für die Seuche. Eine weitere , in Betracht zu ziehende Duftquelle ist die Nahrung: Kothduft und Kothduft ist durchaus nicht ein und dasselbe ; ausser der Modification des Selbstseelenstoffes enthält der Koth auch die der Nahrungsseelenstoffe, und die sind so verschieden, wie die Speisedüfte selbst. Es ist unmöglich, dass es den mit so feiner Witterung ausgestatteten Seuchefermenten gleichgiltig sei , welche Art Kothduft vorherrsche ; die einen werden ihnen angenehm, die 18* 276 andern unangenehm und wieder andere indifferent sein. Es muss also unbedingt unter sonst gleichen Umständen viel auf die Nahrungswahl ankommen, ob ein Individuum seuchenfest ist oder nicht. In letzter Instanz kommen die Individualduft- Differenzen in Betracht. Was von den Makroparasiten (Stubenfliegen, Flöhen, Würmern u. s. w. ) gilt, muss auch unbedingt von den Mikroparasiten (den Seuchefermenten) gelten : Nicht jedes Individuum duftet ihnen gleich adäquat. Dabei ist aber zweierlei zu unterscheiden : 1 ) Die Qualität des Seelenstoffes selbst , 2) der Grad der Zersetzbarkeit des Selbsteiweisses ; namentlich, ob dessen Seelenstoff leicht in Angststoffmodification entbunden wird. Aengstliche Naturen werden nie so seuchenfest sein , wie torpide. Die zweite Kategorie der Seucheninstinctstoffe sind die exogenen. Hier gewinnen wir die bisher vergeblich gesuchte Definition für das Wort „ Miasma". Was ist das ? ein belebtes Ferment? Mit nichten ! Das Miasma ist blos der adäquate Instinctstoff für ein Ferment, also ein Duftstoff; und es ist unbegreiflich, dass dies so lange unentdeckt bleiben konnte, da wir das Miasma vortrefflich riechen und schmecken. Das Sumpfmiasma riecht überlaut, und wenn wir Sumpfwasser trinken, so schmecken wir es überlaut. Das Miasma allein macht noch keine Malaria , allein es ist der adäquate Instinctstoff für Seuchenfermente, welche sumpfduftliebend (limnophil) sind. --- Schon in einer früheren Schrift *) habe ich hierauf hingewiesen, war aber damals noch nicht davon überzeugt, dass das Miasma ein Duftstoff und zwar ein Instinctstoff sei. Jetzt besteht darüber bei mir kein Zweifel mehr. Damit wird auch mit einem Schlag die Differenz zwischen den zwei bedeutendsten Seuchenforschern v. PETTENKOFER und NAGELI gelöst , von denen ersterer stets das Wasser in's Auge fasste und ihm die Schuld der Infection gab, während NAGELI sich an die Luft hielt. Beide übersehen, dass man es eben mit zwei Momenten, einem gasförmigen, dem Miasma , und einem fixen , dem Ferment, zu thun hat. Das Miasma als Duftstoff verbreitet sich mit Leichtigkeit in der Atmosphäre und da , wie NAGELI richtig bemerkt, der Luftconsum ein ausserordentlich starker ist, so muss, wenn die Säfte des Körpers irgendwie Neigung haben, das Miasma zu fixiren , mit der Athmung rasch eine miasmatische Imprägnirung des Körpers erfolgen (man vergleiche , wie rasch bei meinen Inhalationsexperimenten die Duftstoffe wirken). Damit hat aber der Mensch die

  • ) Seuchenfestigkeit und Constitutionskraft und ihre Beziehung zum specifischen Gewicht des Lebenden. (S. 67.)

277 Seuche noch nicht, sondern er ist erst für das Ferment „ adä - quat verwittert". Ich will nun die Angabe NAGELIS nicht bestreiten , dass die Spaltpilze sehr leicht in die Luft gelangen und so mit der Athmung in den Körper kommen, allein wenn das der gewöhnliche Weg wäre, dann müsste doch die Lunge häufiger der Sitz der primären Affection sein , und das ist sie offenbar nicht. Für das Ferment hat dagegen v. PETTENKOFER den richtigen Weg eingeschlagen, den übrigens das Volk schon im Mittelalter ahnte, als es behauptete, die Juden hätten die Brunnen vergiftet. Das Ferment gelangt höchst wahrscheinlich meist durch das Trinkwasser in den Körper. So wird auch die von v. PETTENKOFER Zweifellos ermittelte Thatsache völlig begreiflich, dass die Epidemien steigen, wenn der Grundwasserstand sinkt. In diesem Fall ist ein gebrauchter Brunnen gleichsam ein Aspirationspunkt für das Grundwasser des umliegenden Terrains , mit welchem nun die dort lagernden Fermente massenhaft dem Brunnen zufliessen, und zwar um so mehr, je stärker der Trockenheit wegen die Brunnen gebraucht werden. Deshalb sind auch die Zieh- und Pumpbrunnen weit gefährlicher als die Quellen . Die letztern haben gegenüber dem umgebenden Grundwasser Ueberdruck , wirken also nicht seitlich aspirirend ; sie können nur gefährlich werden , wenn sie aus einer fermenthaltigen , höher liegenden Bodenschicht kommen. Der Pumpbrunnen hat dagegen hydrostatischen Unterdruck und aspirirt von der Seite her, wo die menschlichen Auswürfe liegen. Mit dem Obigen ist natürlich nicht gesagt, dass das Miasma nur durch Einathmung , der Parasit nur durch Trunk in den Körper gelange, letzterer kann auch eingeathmet werden ; endlich kommt natürlich auch der Fall vor , dass beides getrunken oder beides eingeathmet wird. Der einzige Seuchenschriftsteller, bei dem ich ein klares Auseinanderhalten von Instinctstoff und Ferment gefunden habe, ist ROBINSKI *) , nur dass es ihm nicht beifiel, den Instinctstoff beim richtigen Namen zu nennen und zu erkennen ; er nennt ihn Substrat , was ein schlechtes Wort ist. Unter Substrat , wenn man dies Wort überhaupt hier beibehalten will , versteht man besser die fixen Nährstoffe des Fermentes. ROBINSKI verdankt die Erkenntniss von der Zwiefachheit der Erkrankungsursache der Beobachtung einer Epidemie von Flecktyphus. Er constatirte, dass zur Erkrankung stets zweierlei gehörte : 1 ) Die Berührung mit einem Kranken , 2 ) der Genuss eines übelriechenden, ekelhaften

  • ) Dr. S. Robinski , Das Gesetz der contagiösen Krankheiten. Berlin 1874.

278 Sumpfwassers, wozu in dem von ihm angezogenen Fall die Bevölkerung durch Versiegen der Brunnen gezwungen war. Nur solche Personen erkrankten , welche sich beiden Schädlichkeiten ausgesetzt hatten , dagegen blieben alle frei , welche entweder nur von dem Wasser getrunken hatten, ohne sich der Ansteckung auszusetzen, oder nur mit Kranken verkehrten , aber kein Wasser tranken. Das Letztere enthielt eben den Instinctstoff für das Ferment, ohne welchen letzterer so wirkungslos blieb, wie ein Bandwurm- Ei im falschen Wirth; ebenso machtlos war natürlich der Instinctstoff für sich allein . Beiläufig bemerkt: der Kritik, welche ROBINSKI an dem Werke von Dr. OESTERLEN,,,Die Seuchen . Tübingen 1873", übt, stimme ich rückhaltlos bei. Wozu soll solch' trauriger Nihilismus , solch nacktes Zurschautragen der eigenen Impotenz, solche Verspottung des Forschertriebes und Beschmutzung der Männer , welche mit Hingebung solche schwierige Ziele verfolgen, nützen? Noch dazu von Seite eines Universitätsprofessors, von dem seine Zuhörer Brod und keine Steine erwarten. Solchem Unglauben ist sogar der tollste Aberglauben vorzuziehen. Letzterer ist doch etwas , ersterer das reine Nichts , denn er ist nicht einmal mehr Kritik. Also ROBINSKI hat vollkommen Recht : Zur Ansteckung gehören stets zwei specifische Dinge : Das Contagium, oder besser gesagt , das Ferment , und das Miasma , oder besser gesagt , der adäquate Instinctstoff. ROBINSKI hat auch Recht in der Annahme, dass letzterer in dem Pfützenwasser gewesen , aber erkannt hat er ihn nicht es war der ekle Duftstoff, den man an dem Wasser riechen und schmecken konnte , und es ist Aufgabe der exacten Forschung, diese jetzt von mir wohl zur Genüge gekennzeichneten Stoffe isolirt darzustellen, zu untersuchen und festzustellen, welchen Theilen des Sumpfinhaltes sie zukommen. Ich bin fest überzeugt, es sind das nicht beliebige niederatomige Zersetzungsproducte wie Sumpfgas u. dgl. , sondern specifische Seelenstoffe bestimmter sumpfbewohnender Organismen , worauf manche Erscheinungen hinweisen , die ich aber , als zu weit abführend , hier nicht besprechen kann. Durch Vorstehendes gewinnen wir auch nach einer anderen Seite hin Klarheit. Kein Arzneistoff hat der Pharmakodynamik so viel Kopfzerbrechens bereitet, wie das Chinin ; auf der einen Seite jene unbezweifelbare, höchst energische Wirkung gegen Malariaseuchen , auf der anderen die fast völlige physiologische Indifferenz gegenüber dem gesunden Organismus. Das Chinin hat sein völliges Seitenstück im Insectenpulver. Der Duftstoff desselben ist für den Menschen und die Wirbelthiere überhaupt 279 völlig indifferent , erzeugt nur bei sehr Sensibeln etwas Kopfweh ; gegen die Makro- Parasiten der Wirbelthiere dagegen ist es äusserst different , es tödtet sie auf Entfernung hin und ist geradezu Giftduft. Das Malariaferment ist ein mit Instinct ausgerüstetes Lebewesen ; wenn das , was ihm instinctwidrig ist , ein Seelenstoff, d. h. das Specificum eines bestimmten andern Organismus , des Chinabaumes ist , so ist auch sein adäquater Instinctstoff ein Seelenstoff bestimmter lebender Organismen, bestimmter Sumpfpflanzen (Fieberpflanzen) . Die Aufgabe der Forschung ist es, diese zu finden, und wenn wir sie gefunden haben, so wird die Prophylaxis sicher Nutzen daraus ziehen. Die miasmatödtende Wirkung der Eucalyptus- Bäume scheint mir in ähnlicher Weise aufzufassen zu sein: Dieselben produciren wahrscheinlich Duftstoffe , welche die Fieberpflanzen vertreiben oder das fertige Miasma in der Luft zerstören oder Beides thun. Meine Aufgabe kann hier natürlich nicht die sein , für die einzelnen Malariaformen die adäquaten Instinctstoffe zu bezeichnen, deren es sicher mehrere gibt , ich begnüge mich , darauf hingewiesen zu haben, wo und wie sie zu suchen sind, nämlich mit der Nase und der Zunge, und an bestimmten Pflanzen, nicht allgemein im Wasser und Schlamm, wie man bisher angenommen hat. Möchte sich hierfür ein Arzt, der zugleich Botaniker ist, interessiren lassen, der Erfolg wird seinen Bemühungen sicher nicht fehlen , wenn er mit einer guten Nase arbeitet. Nun noch ein Wort über die Kinderseuchen : Ihre adäquaten Instinctstoffe bildet sicher ein Theil der Duftstoffe, welche die Differenz des Ausdünstungsduftes zwischen Kindern und Erwachsenen bedingen. Schon früher habe ich die Vermuthung aufgestellt, dass dies einerseits die Zahnungsdüfte des Kindes, andererseits die Sexualdüfte des Erwachsenen sind. Die Sache ist aber nicht ganz einfach. Wie die von PANUM beschriebene Scharlachepidemie auf den Faröern beweist, sind die Erwachsenen an und für sich durchaus nicht immun gegen Scharlach, deshalb ist ihre scheinbare Immunität in Ländern, wo Scharlach fortwährend herrscht, blose Durchseuchungs- Immunität, d. h. , weil der Mensch den Scharlach in der Jugend schon gehabt hat , bekommt er ihn später nicht mehr. Die Erkrankung hat also in ihm einen dem Seuchenferment instinctwidrigen Stoff zurückgelassen , und zwar ist das jedenfalls der eigene Seelenstoff des Fermentes , wie ich mich ähnlich schon in meiner Schrift ,, Seuchenfestigkeit" aussprach. Wenn dem so ist, so muss man es riechen 280 können, d. h. der Ausdünstungsduft eines Menschen wird nach überstandener Krankheit anders sein als zuvor. Die Prüfung dieses Satzes ist natürlich schwierig, aber durchaus nicht unmöglich, und ich habe bereits einen Anfang gemacht : Vor einigen Wochen erkrankte ein Kind eines meiner Freunde, dessen Gemahlin einen äusserst feinen Geruchsinn hat , an Scharlach. Die Dame hat mir ein Stück Wäsche , welches das Kind vor der Erkrankung benutzte , übergeben ; dann besitze ich ein zweites , das es während der Krankheit trug , dessen Duft himmelweit verschieden ist von dem des erstern. Das Kind ist nun seit vierzehn Tagen wieder völlig gesund, und der Duft seiner Wäsche ist jetzt nicht mehr so wie während der Krankheit, aber auch nicht so wie vor derselben , was wieder durch ein Wäschestück in meiner Sammlung fixirt ist. Diese eine Beobachtung genügt natürlich nicht , aber sie ist ein gewaltiger Fingerzeig , wo wir die Sache zu suchen haben, sowie dafür, dass eben wieder ein Duftstoff der spiritus rector in diesen Dingen ist. Ich habe Einleitungen getroffen , dass diese Frage in grösserem Massstabe geprüft wird , und glücklicherweise hat ein junger, strebsamer Arzt sich mir zur Verfügung gestellt. Wenden wir uns jetzt zur praktischen Seite meiner Entdeckung mit Bezug auf die Seuchen. Aus dem Gesagten ergibt sich , dass für die Bekämpfung der Seuchen eine ganz bestimmte Indication gestellt ist , welche ich , Desodorisation" nenne , und die ich der bisher geforderten „ Desinfection " gegenüberstelle . Der Praktiker muss hochenttäuscht von der Lectüre des NAGELI'schen Werkes („ Die niederen Pilze und die Infectionskrankheiten" ) sein, wenn ihm dieser Forscher unwiderleglich klar macht, wie schwierig es ist , die als Fermente wirkenden Spaltpilze wirklich abzutödten, und dass es geradezu gefährlich sei, sie durch unvollständige Desinfection blos zu conserviren. Es muss deshalb als eine Erlösung begrüsst werden, wenn sich herausstellt, dass schon die so leicht auszuführende und so leicht zu controlirende Desodorisation der Auswurfstoffe genügt, um von hier aus eine Ansteckung unmöglich zu machen, aber und das ist ein Punkt, der ebenfalls bisher unbeachtet blieb es genügt nicht, die exogenen Duftstoffe , die per inhalationem unsere Seuchenfestigkeit aufheben, zu entfernen und zu vernichten, sondern und das ist fast noch wichtiger — wir müssen unseren eigenen Leib desodorisiren, und darüber will ich in einem besondern Kapitel reden. -- 24. Desodorisation. Eigentlich sollte ich für das , was ich meine, den Ausdruck Desfötorisation gebrauchen , denn im Bisherigen haben wir uns die Einsicht verschafft, dass nicht alle Düfte, sondern nur die übelriechenden Unluststoffe in unserer Säftemasse und der Einathmungsluft unsere Feinde sind, und zwar, wie im Folgenden immer klarer werden wird, unsere allergrössten Feinde. Doch ist das Wort der Ueberschrift gemeinverständlicher, und so nehme ich es , weil ich nicht anstehe, die Desodorisation für den Knotenpunkt aller hygieinischen (und therapeutischen) Massregeln zu erklären. Ich will im Folgenden erstens einen Ueberblick über die Richtungen, in welchen sich die Desodorisation zu bewegen hat , geben und zweitens einige dieser Richtungen , die bisher nicht beachtet wurden, genauer erörtern. Das Hauptobject der Desodorisation ist der Körper selbst. Da in ihm fast fortwährend Ekeldüfte entbunden werden, so muss er einem Regime unterworfen werden, welches zweierlei Ziele verfolgt einerseits die Entbindung von Unlustdüften im Körper auf das geringste Mass zu reduciren, andererseits die Abgabe derselben an die Atmosphäre in thunlichster Weise zu befördern und jede auch nur vorübergehende Aufstauung derselben zu verhindern und zu vermeiden. Mittelbar wichtig sind a) die Einathmungsluft und b) alle fixen Stoffe in den Wohnräumen und deren Umgebung , welche Ekeldüfte entwickeln, also insbesondere die Aborte und AnsammJungen von stagnirenden Wässern, c) Entfernung solcher lebender Organismen, insbesondere pflanzlicher, welche Ekeldüfte exhaliren. Ich wende mich nun speciell zur Desodorisation des Körpers. Hierbei handelt es sich um folgende Punkte. 1 ) Möglichste Verminderung des Gewebs- und Blutwassergehaltes, also Erhöhung des specifischen Gewichtes. Hierüber habe ich in meiner Schrift ,, Seuchenfestigkeit und Constitutionskraft“ , 282 die mit dem vorliegenden Werke eigentlich ein Ganzes bildet , bereits so ausführlich gesprochen , dass ich mich hier ganz kurz fassen kann. Je höher der Gewebswasserstand eines Körpers, um so leichter tritt unter sonst gleichen Umständen Fäulnissgährung der Darmcontenta mit Bildung von Ekeldüften ein , was ja einfach an der Kothentleerung beobachtet werden kann : Fast alle dünnflüssigen Ausleerungen haben Fäulnissgeruch. Da ferner die Abdünstung der endogenen Ekelstoffe mit der Ausscheidung des Gewebswassers, wie noch später gezeigt werden soll, im innigsten Zusammenhange steht, so ist Abhärtung , d. h. Entwässerung, gleichbedeutend mit Desfötorisation , und Alles , was ich in genannter Schrift im Sinne der Entwässerung sagte, erhält jetzt einen erhöhten Nachdruck. 2) Man vermeide solche Nahrungsmittel und Getränke, welche nachgewiesenermassen stark blähen und fötide Winde erzeugen. 3) Der Hauptpunkt bei der Desodorisation des Körpers ist die Erhaltung einer möglichst hohen Perspiratio invisibilis durch Haut und Lungen. Ich will nun zuerst einige Erläuterungen zu Punkt 2 geben. Das erste ist : Da nach meiner Seelenlehre die Eiweissstoffe die Quelle für die Ekeldüfte sind , so geht daraus hervor , dass man kein überschüssiges Eiweiss in der Nahrung aufnehmen, also Stoffe, die sehr eiweissreich sind , wie Fleisch, Käse, Leguminosen u. s. f. , nicht etwa vermeiden , aber nie zur überwiegenden Nahrung machen soll. Das zweite ist : Wenn man glaubt, von den Kothdüften komme nur der Theil in Betracht , welcher in der Lichtung des Darmrohrs enthalten sei , so ist das ganz falsch. Wenn Ekeldüfte im Darminhalt entbunden werden, so durchdringen sie die ganze Säftemasse, und das , was per anum abgeht, ist nur der Ueberschuss , der von der Säftemasse nicht absorbirt worden ist. Ich verweise zunächst auf mein , S. 161 angegebenes Experiment und füge dem noch einige weitere hinzu. 1) Vor der Defäcation Mittel aus 10 Messungen : 145 Ms. Nach der Defäcation 126 Ms., also 19 Ms. Verschnellerung. Dabei zeigt sich aber Folgendes : Das Mittel aus den ersten drei Acten der Messungsreihe war 141 , also noch keine Verschnellerung , das Mittel aus den folgenden sieben war aber 117, sodass die schliessliche Verschnellerung 28 Ms. beträgt. Hierdurch aufmerksam gemacht, wiederholte ich das Experiment an einem anderen Tag, indem ich mich möglichst rasch nach der Kothausstossung an den Apparat begab. Vor der Defäcation Mittel aus 10 Messungen 142,8 (man beachte die nahe Uebereinstimmung dieser Ziffer mit der ent- 283 sprechenden in voriger Messung) . Nach der Defäcation Mittel aus den ersten sechs Acten : 141 Ms. , also Differenz nur 1,8 Ms.; Mittel aus den unmittelbar folgenden 14 Acten: 94,8 Ms. Hier ist die Rolle des Kothduftes vollkommen klar : Die Ausstossung der Duftquelle allein bringt den nervösen Effect noch nicht hervor , es muss jetzt auch noch der in der Säftemasse befindliche Theil ausgeathmet werden, was etwa vier Minuten in Anspruch nimmt. 2) Nachdem ich dies constatirt, variirte ich das Experiment folgendermassen , und zwar mass ich diesmal nicht mich, sondern eine andere Person : dieselbe hatte eine Nervenzeit von 162. Ehe sie zur Defäcation schritt , athmete sie 5 Minuten lang das duftmordende Ozogen ein. In 10 Acten betrug jetzt die Nervenzeit 143,4. Hierauf wurde die Defäcation vorgenommen, und das Mittel betrug jetzt 142 Ms. , also Differenz so gut wie Null. Damit ist völlig bewiesen, dass es nicht, wie man bisher glaubte, die mechanische Erleichterung ist, was das Jedermann bekannte Wohlgefühl hervorruft , sondern allein die Entfernung der Düfte aus der Säftemasse. Da diese vorher durch Ozogen zerstört waren , SO blieb der nervöse Effect der Defäcation aus. 3) Dann füge ich noch den Harnentleerungsaffect bei : Vor der Entleerung hatte ich 142 Ms., nach derselben 136,8 Ms. , also eine Verschnellerung von 5,2 Ms., die weit höher ist als etwaige Messungsfehler und uns zeigt : auch der Harnduft ist ein Unlustduft, und Ausstossung der Duftquelle ruft eine Verschnellerung der Nervenleitung hervor. • Ich schreite nun zur Besprechung von Nr. 3, wobei es sich in erster Linie um die Bekleidung handelt, und dies muss ich ausführlicher besprechen. Aufwelche Weise ich die erste Anregung zu meiner Bekleidungsreform erhielt , kann in meiner Schrift „ Seuchenfestigkeit" nachgelesen werden ; dieselbe enthält aber nicht Alles, weder nach der praktischen, noch nach der theoretischen Seite hin. Zur Ergänzung gehört das Folgende. Als ich die genannte Schrift schrieb, war ich noch der Ansicht, es handle sich bei der Wahl der Bekleidungsstoffe nur um das, was mit dem Körper direct in Berührung kommt , und es stand dabei für mich fest, dass nur thierische Faser tauglich sei, nicht aber Holzfaser (Leinen- oder Baumwollenfaser) . Fortgesetzte Experimente haben mich nun belehrt, dass das höchste Mass von Abhärtung und Desodorisation nur dann erreicht wird , wenn die Kleidung in ihrer Gesammtheit nur aus Thierhaaren besteht , und dass jede Holzgewebeschicht, auch wenn sie durch Thierwollengewebe vom 284 Körper getrennt ist, das Perspirationsmass herabsetzt und dadurch einen zu hohen Gewebswasser-, Organfett- und Duftstoffstand unterhält, also eine dyskrasische Körperbeschaffenheit erzeugt, wenn nicht andere besonders günstige Umstände obwalten. Hierzu kam ich zunächst auf rein empirischem Wege : Zum Gebrauch auf der Jagd hatte ich mir vor Jahren eine Joppe machen lassen, die nicht nur aus Wollstoff bestand, sondern auch mit Flanell gefüttert war , während meine anderen Röcke baumwollenes Futter besassen. Die Joppe trug ich nur im Winter. Als mir im Frühjahr 1878 klar wurde, dass das beste Abhärtungsmittel das Tragen einer warmen Bekleidung in der warmen Jahreszeit (nicht die Gewöhnung an Winterkälte) sei, und dass die Röcke über der Brust geschlossen und doppelt übereinander greifend getragen werden müssen (siehe „ Seuchenfestigkeit" S. 105 u. fgl. ) , liess ich alle meine Röcke dahin abändern und beschloss , die Winterkleider, also auch die Joppe, nicht abzulegen, sondern auch den Sommer hindurch zu tragen. Es fiel mir nun sofort auf, dass mich die Joppe, selbst bei heissem und schwülem Wetter , weit weniger belästigte als die Röcke, trotzdem sie schwerer und dicker war. Dieser Unterschied wurde immer deutlicher, je mehr meine Abhärtung Fortschritte machte, und schliesslich überkam mich in den Röcken mit Baumwollenfutter schon nach wenigen Minuten ein ganz ähnliches Gefühl des Missbehagens, wie wenn man einen Kautschukmantel anzieht. Ja, dieses Gefühl stellte sich sogar bei ganz leichten Sommerröcken mit Holzfaserfutter ein. Ich schnitt hierauf versuchsweise an einem Rock aus dem einen Aermel das baumwollene Futter heraus, während ich es im anderen Aermel beliess. Merkwürdig ! Im futterlosen, also dünneren Aermel hatte ich ein behagliches Wärmegefühl und im dickeren , gefütterten ein unbehagliches Frösteln. Nun schritt ich zur Ersetzung alles baumwollenen Futters durch Flanellfutter in allen Röcken, die ich noch zu tragen gesonnen war. Jetzt hatte ich in allen Röcken das gleiche Gefühl der Euphorie wie in der Joppe. So geändert trug ich nun meine Röcke den ganzen Sommer 1878 hindurch, stets, auch bei grösster Hitze, geschlossen, aber ohne Weste. Meine Euphorie stieg Woche für Woche, ich fühlte mich wie neugeboren ohne dass ich mir damals die Sache auch nur im Entferntesten erklären konnte. Meine ganze Bekleidung setzte sich nun aus Wollstrümpfen , Flanellhemd , wollenen Beinkleidern und wollenem Rock zusammen, an welchem nur die Brusttasche und das Futter des Rockschosses aus Holzfasergewebe bestanden. 285 Daneben schritt ich zur entsprechenden Kleiderreform bei meiner Familie mit demselben Erfolg. Die Hautfarbe wurde blühend, das subjective Befinden besser , die seelische Stimmung, namentlich bei den Kindern, in theilweise überraschendster Weise geändert. Die Verstimmungen wurden seltener, die Reizbarkeit nahm ab, und der höchste Reizaffect, die Angstschwelle, das Verlieren der Fassung, blieb, wenigstens bei den älteren Familienmitgliedern, fast vollkommen aus. Zornanfälle kamen, kommen zuweilen auch jetzt noch vor, aber doch viel seltener und viel schwächer. Sobald aber eines der Kinder da man doch eben nur successive ändern konnte ein ungeändertes Kleidungsstück mit Holzfasergeweben trug, erfolgte jedesmal überaus deutlich der Rückschlag ; ich erkannte schliesslich die Sachlage fast sicher an der Gesichtsfarbe. - Die Versuche hin und her wurden nun so oft mit acht Personen jedes Alters und Geschlechts wiederholt, und zwar stets mit dem gleichen eclatanten Erfolg, dass für Jeden, auch den Zweifelsüchtigsten, alles Bedenken schwinden musste. So kam der Winter heran. Die Frage war jetzt : Ist eine derartige Abhärtung unseres Leibes erfolgt, dass wir in der gleichen Kleidung, die wir in der Sommerhitze trugen, jetzt auch ohne Mantel oder Ueberzieher die Winterkälte aushalten können? Schon die ersten Frosttage bejahten diese Frage zweifellos. Im December fuhr ich bei drei Grad Kälte im einfachen Rock auf dem Kutscherbock einer Droschke fünf Stunden lang und zwar von Morgens sechs Uhr an, ohne dass es mich Ueberwindung gekostet hätte. Also wetterfest waren wir geworden. Auch lagen verschiedene Anzeigen dafür vor , dass sich eine gewisse Seuchenfestigkeit eingestellt habe: Wasserblattern, Scharlach und Keuchhusten in benachbarten Häusern gingen an meinem Hause spurlos vorüber, und meine siebenjährige Tochter blieb den ganzen Winter seuchenfrei, trotzdem ihre Schulklasse, zeitweilig bis zur Hälfte, zum Theil durch contagiöse Krankheiten entvölkert wurde. Mittlerweile hatte ich die Entdeckung der Seele gemacht und schritt zur Prüfung der Körperdüfte. Da trat mir die Thatsache entgegen , dass unser eigener Körper, unsere Leibwäsche , im Vergleich zu solchen Personen, welche reine Wollkleidung trugen, auffallend geruchlos waren. Es handelte sich dabei nicht blos um das Quantitative, sondern auch um das Quale. Am auffallendsten war die qualitative Veränderung an der Fussbekleidung. Ein nicht desodorisirter Mensch braucht nicht gerade besonders auffallend an den Füssen zu schwitzen, auch nicht besonders unreinlich zu sein, so haben die Füsse einen übelriechenden, ammoniakalischen Duft, 286 den ich von einer käsigen Gährung der Epidermisabschuppung herleite. Dieser Duft war bei uns fast ganz verschwunden und hatte einem rein sauren, ähnlich dem Achselduft nicht desodorisirter Personen, Platz gemacht. Der Achselduft seinerseits hatte eben diese stechende Säure verloren und einem warmen", für die eigene Nase nicht mehr abstossenden, milden Dufte Platz gemacht. Auch die Haare dufteten nun erheblich schwächer, wofür meine Sammlung bereits zahlreiche vergleichende Belege enthält. 99 Eine auffällige Aenderung war auch in Bezug auf die Darmfunctionen eingetreten. Ich litt früher in belästigendster Weise an Magen- und Darmwinden und bekam nach jeder Mahlzeit eine starke, gasige Auftreibung des Unterleibs. Magen- und Darmwinde haben sich mit der Auftreibung jetzt seit Monaten völlig verloren, die früher meist dünnen Ausleerungen sind jetzt in der Regel von normaler physikalischer Beschaffenheit, und ebenso die Düfte, die früher stets mit Fäulnissdüften gemengt waren, die bekannten Scatol- und Indoldüfte. Diese Veränderungen nahmen mein höchstes Interesse in Anspruch. Einerseits lieferten sie mir, wie schon aus dem Früheren ersichtlich, die wichtigsten Aufschlüsse für meine Seelenlehre, andrerseits ging ich jetzt ernstlich daran, zu ermitteln, in welchem Zusammenhang diese Desodorisation mit der Wollbekleidung stehe. Die mir bis dahin bekannten, zum Theil schon von v. PETTENKOFER ermittelten Eigenschaften der Thierwolle im Vergleich zur Pflanzenfaser, namentlich ihre grössere Durchgängigkeit für Wasserdampf, ihre geringere Wärmeleitungsfähigkeit und der stärkere Frottirungsreiz für die Haut ihres Trägers, reichten zur Erklärung, wie ich bald erkannte, durchaus nicht hin. Die Augen wurden mir eigentlich wieder mehr zufällig geöffnet. Das einzige Holzgewebe, das ich noch auf dem blossen Leibe trug und noch trage, war ein Halskragen aus gestärkter Leinwand. Mir fiel nun auf, dass dieser Kragen schon nach drei Tagen das unbehagliche, feuchtkalte Gefühl auf der Haut erzeuge, welches ich früher beim Tragen von Hemd und Unterbeinkleidern aus Leinwand oder Baumwolle nach ungefähr derselben Zeit am ganzen Leibe empfand, und das mich dann stets zum Wechseln der Wäsche aufforderte, während mein Flanellhemd diese Wirkung selbst nach Wochen nicht bei mir erzeugte. Ich prüfte nun Hemdkragen und Wollhemd und fand , dass ersterer schon nach drei Tagen fast ebenso stark nach schwarzer Wäsche duftete , wie früher mein ganzes Hemde ; das Wollhemde dagegen war nach drei Tagen noch fast völlig geruchlos, sobald es auch nur wenige Minuten an der Luft gelegen hatte, ja bei einem Versuch, den ich 287 " daraufhin anstellte, duftete das Wollhemd, selbst nachdem ich es 7 Wochen lang Tag und Nacht getragen hatte, noch nicht so stark, als mein Hemdkragen nach dreitägigem Gebrauch. Ich überzeugte mich ferner davon, dass, wenn ein Flanellhemd oder ein Wollstrumpf pünktlich gewaschen wird, sie den Schwarzwäsche-Duft in der Regel so vollständig verlieren, dass man nicht mehr erkennt, wer sie getragen hat. An einem leinenen Hemdkragen ist dagegen der Körperduft durch keine Wäsche zu tilgen , entwickelt sich namentlich, wenn man mit dem heissen Bügelstahl darüberfährt, auch nach sorgfältiger Wäsche noch überlaut. Mittlerweile war mir auch von anderer Seite klar geworden, dass die Haare die Duftorgane der Thiere sind. Das können sie natürlich nur sein , wenn sie die Düfte an die Atmosphäre abgeben, nicht aber, wenn sie dieselben festhalten. Ich machte nun noch verschiedene Versuche, die ich der Kürze halber hier unbesprochen lasse , die aber alle mich davon überzeugten : die Holzfaser hält die übelriechenden Körperdüfte fest , die thierische Wollfaser lässt sie abdunsten. Die zweite , noch wichtigere Entdeckung werde ich weiter unten besprechen. Ich liess mir nun einen Rock machen, in welchem auch die Brusttaschen aus Flanell bestanden, und verglich ihn mit den an- dern, die noch baumwollene Brusttaschen hatten. Der Unterschied war überaus deutlich : hatte ich den neuen Rock einige Tage getragen , zog dann einen alten an und lief mich in diesem etwas warm , so fühlte ich die baumwollene Brusttasche durch die doppelte Wollschicht , die sich zwischen ihr und dem Körper befand, wie eine kühle Hand. Bezüglich der Baumwolltaschen in den Beinkleidern machte ich bald dieselbe Entdeckung, sodass ich auch diese ändern liess . Eine weitere Beobachtung in dieser Richtung ist folgende : Die fortschreitende Abhärtung meines Körpers macht sich auch dem Tastsinn bemerklich. Mein Fleisch begann zuerst an den Beinen, dann an den Armen, bei Contraction der Muskeln, eine brettartige Härte anzunehmen , die schon Manchen in Erstaunen setzte , und zwar trotzdem , dass ich keinerlei Gymnastik treibe. Diese Härte verbreitet sich, unter entsprechender Reduction des Unterhautfettpolsters, seit einigen Monaten auch über den Rumpf, wobei nicht etwa die nun des Fettes beraubte Haut gerunzelt zurückbleibt, sondern sich stramm über die Muskeln spannt. Dabei ist Folgendes auffallend : An meinen jetzigen Röcken befindet sich nur in den Schössen, unterhalb der Taille, ein baumwollenes Futter, und fast genau von hier an stockt die Entfettung. 288 Wenn ich die Rückenmuskeln spanne, so kann man oberhalb des Gürtels keine Hautfalte mehr aufheben , auch bei grösster Anstrengung nicht, unterhalb dagegen ganz bequem. Am Bauch war früher das Fettpolster oberhalb des Netzes dicker als unter dem Netze und leicht sammt einer Hautfalte aufzuheben ; jetzt ist es umgekehrt, das untere Polster ist sich gleich geblieben, das obere fast ganz geschmolzen , und bei gespannter Bauchmuskulatur die Haut kaum mehr aufzuheben. Mit der fortschreitenden Desodorisation unserer Körper hat namentlich auch die Hautfarbe sich entschieden gebessert. Nichtdesodorisirte Personen sind häufig im Gesicht hinlänglich roth tingirt, aber vom Halse ab am ganzen Leibe käsig weiss, selbst wenn sie in Echauffement gerathen. Bei uns ist die Haut gleichmässig tingirt. Das Gesicht wird auch im Echauffement nie übermässig roth, sondern die ganze Körperhaut färbt sich tief rosa. " Nachdem meine Studien über die Bekleidung zu einem gewissen Abschluss gelangt waren , schritt ich zur Veröffentlichung der praktischen Seite in dem hier in Würtemberg stark verbreiteten Deutschen Familienblatt", in welchem ich seit Jahren regelmässig Mittheilungen und Rathschläge über Gesundheitspflege gebe, welche letztere, soweit mir bekannt, auch befolgt werden. Bald nach jener Veröffentlichung meldeten sich Leser , die meine Wahrnehmung bestätigten , und meine Bekleidungsform , die im engern Kreise scherzweise die „Jägeruniform " getauft wurde, machte solche Fortschritte , dass sie heute , wenige Monate nach ihrer Publication, sich bereits zum Rang einer neuen „Mode" (beim männlichen und weiblichen Geschlecht) aufgeschwungen und meiner Seelenlehre praktisch , ehe dieselbe noch recht bekannt geworden , eine breite Gasse gebrochen hat. Durch meine Schüler hat diese Tracht nicht nur in der Studentenschaft festen Fuss gefasst und ist von da nach dem In- und Ausland weitergetragen worden (wie mir Zuschriften aus der Schweiz, Oesterreich, Finnland und Russland und allen Gauen des deutschen Vaterlandes bezeugen) , sondern auch die Aufmerksamkeit von Krieger- und Turn - Vereinen ist rege geworden , sodass ihr vollständiger Sieg über alle entgegenstehenden Bekleidungsweisen, insbesondere den englischen oder französischen Rock, wohl nur mehr eine Frage der Zeit ist . Die Vortheile sind aber auch so augenscheinlich , sie drängen sich so auffällig dem subjectiven Gefühl auf, dass Jeder , der meinen Normalanzug trägt , ihn nicht blos nie wieder ablegen wird, sondern auch sofort zum Mittelpunkt einer activen Propaganda für denselben wird. Eigentlich sollte ich hier meine jüngste, die ganze Sache per- 289 fect machende Entdeckung über die Wolle einschalten , ich will jedoch zunächst beim Rock stehen bleiben. Die Reform der Bekleidung besteht nicht blos in der Stoffwahl, sondern auch im Schnitt, worüber ich schon oben gesprochen habe. Der richtige Schnitt ist der des würtembergischen zweireihigen Soldatenrockes, und was schon daraus, im Gegensatz zum einreihigen Waffenrock der übrigen deutschen Armeecorps, resultirt, kann ich bereits in einigen Ziffern nachweisen. Nach dem letzten , vom preussischen Kriegsministerium ausgegebenen Sanitätsbericht für das Etatsjahr 1873-74 betrug der Gesammtabgang durch Tod , Invalidität u. s . f. des im doppelreihigen Rock steckenden würtembergischen Armeecorps bei einem Mannschaftsstand von 13 904 Köpfen: 228 Mann , d. i. 164 Mann von 10 000. Bei der gesammten übrigen deutschen Armee, in welcher weit überwiegend der preussische einreihige Rock getragen wird, war der Gesammtabgang bei einem Mannschaftsstand von 284 972 Köpfen : 9183, d. i . 322 Mann von 10 000. Also fast genau doppelt so viel als beim würtembergischen Armee corps. Wenn sich das Jahr für Jahr wiederholt , so wird die Reichskriegsverwaltung nicht umhin können, den würtembergischen Waffenrock auch bei den übrigen Armeecorps einzuführen. " 9 Die Tagesbekleidung bildet jedoch nur die Hälfte des desodorisirenden Regimes , die andere Hälfte ist die nächtliche Bekleidung. Von ihr gilt dasselbe ; dass nämlich Holzfaser völlig zu verwerfen und durch Wollfaser zu ersetzen ist. Wir und Alle , die mir gefolgt sind , bedecken uns nur mit einer einfachen, d. h . nicht mit einem leinenen Ueberzug versehenen Wolldecke, wozu im strengen Winter noch eine zweite kommt. Wenn ich bisher ein kleines Federpolster mit Ueberzug aus Holzgewebe hinzufügte, welches nur die Füsse und die Unterschenkel deckt, so erfüllte ich damit die in meiner Schrift „ Seuchenfestigkeit" genauer erläuterte Indication der Hygieine , dass die Füsse wärmer gehalten werden müssen als der übrige Körper ; allein auch hier muss das Holzfasergewebe der Thierfaser weichen, wofür eine meiner praktischen Beobachtungen spricht. Während mein ganzer Körper, soweit er nur mit Wolle bedeckt ist, bereits jetzt schon einen ungewöhnlichen Abhärtungsgrad erreicht hat, machen nur die zwei Regionen, welche noch mit Holzfasergewebe bedeckt sind , eine Ausnahme, nämlich ausser der (S. 287 ) bezeichneten Stelle eben die Vorfüsse , auf denen der Federpfühl liegt. Einmal sind sie die einzigen Stellen, an welchen ich noch unter Umständen Nachts schwitze, und dann bekomme ich Jaeger, Entdeckung der Seele. 19 290 - bei längerem Marschiren noch leicht wunde Füsse oder wenigstens Brennen in den Sohlen, während in allen andern Punkten meine Marschirfähigkeit gegen früher bedeutend gestiegen ist ohne mich speciell darin geübt zu haben. Noch jüngst kletterte ich mit einigen meiner Zuhörer an einem sehr heissen Tag, mit 6 Kilo schwerem Tornister und gerolltem Mantel bepackt , von 712 Uhr Morgens bis 11 Uhr Mittags im stärksten Sonnenbrand an schattenloser , steiler Berghalde Insecten sammelnd umher und marschirte hierauf noch von 212 bis 42 Uhr Mittags, also in der heissesten Zeit, auf staubiger , schattenloser Landstrasse , und am gleichen Tage , Abends, nach Bad und Rast , noch weitere 11/2 Stunden. Das einzige Missbehagen , was ich empfand, war Brennen der Fuss- Sohlen, was mich allein gehindert hätte, noch einige Stunden weiter zu marschiren. Die dritte unerlässliche Massregel ist das Oeffnen der Schlafzimmerfenster bei Nacht. Ich habe bereits in meinem Buch „ Die menschliche Arbeitskraft" (S. 474) die nöthigen ziffermässigen Angaben über den günstigen Einfluss der Manöver auf den Gesundheitszustand der Soldaten gebracht. Hiervon fällt ein sehr guter Theil dem fortgesetzten Aufenthalt in frischer Luft und dem Bivuakiren zu. Die Luft eines Schlaf- (und Wohn-)zimmers muss stets völlig geruchlos sein, wenn sie gänzlich desodorisirend wirken soll; wie viel Duft aber ein Mensch in kürzester Zeit an ein Zimmer abgibt, dafür diene zum Anhalt, dass es zahlreiche Personen gibt, die es selbst nach einer Stunde noch riechen, wenn Jemand während ihrer Abwesenheit, wenn auch nur vorübergehend, ihr Zimmer betreten, und die überdies bestimmt anzugeben wissen, welche der ihnen bekannten Personen es gethan hat. Das Oeffnen des Fensters in einem Nebenzimmer ist durchaus unzureichend , in manchen Fällen genügt auch nicht das eines einzigen Fensters im Zimmer selbst. Es muss ein Luftstrom durch das Schlafzimmer streichen, dem man nur, um die den Schlaf störende Tastempfindung zu verhindern, eine solche Richtung zu geben hat, dass er das Gesicht nicht trifft. Dies wird sehr einfach erreicht, wenn die oberen Fensterflügel sogenannte Fallflügel sind. Dann streicht der Luftstrom an der Zimmerdecke hin, und der Schlafende befindet sich in einer ähnlichen Lage, wie wenn er auf freiem Feld in einer Grube läge, über welche der Wind hin- fährt. Meine Familie schläft schon seit Januar so, auch bei Sturm und grosser Kälte, und befindet sich dabei vortrefflich . Ein nicht ganz unwichtiger Punkt bei der Desodorisation des Körpers , auf den ich erst ziemlich spät aufmerksam wurde , ist die Beschaffenheit der natürlichen Haarbekleidung des Körpers, 291 insbesondere der Kopfhaare, und in deren Betreff gewinnt die Sache noch eine weitere praktische Seite : Herr H. in W. , ein Leser des obenerwähnten Familienblattes, bat mich, in dem Blatte mich darüber zu äussern , warum die Kahlköpfigkeit bei den Männern so häufig sei im Vergleich zu den Frauen. Seiner Meinung nach könne daran unmöglich nur die vermehrte Kopfarbeit des Mannes Schuld sein; er sei durch vieles Nachdenken zu dem Schluss gekommen, dass der beständige Haarschnitt beim männlichen Geschlecht das frühzeitige Absterben der Haare zum Mindesten wesentlich fördere. Unsere Vorfahren," schreibt er, werden uns als Männer mit langem, herabwallendem Haupthaar geschildert. Sollte die Natur den Menschen nur deshalb mit Haarwuchs versehen haben , dass er in bekannter Klugheit denselben so lange mit Verschneiden malträtire, bis sich die Natur durch Kahlköpfigkeit rächt? Ich habe einen Jugendfreund, der bei jedesmaligem Haarschneiden tagelang die fürchterlichsten Kopfschmerzen bekommt warum? Ich glaube, Sie würden sich durch die genannte Untersuchung dieses schwierigen Themas den. Dank Tausender erwerben." Ich habe mich hierüber im „ Deutschen Familienblatt" Nr. 23 und 24 des Jahrgangs 1879 etwa folgendermassen geäussert : Da es die Duftstoffe sind, welche den Affect unterhalten, und die Beruhigung des Menschen nur dann erfolgt , wenn die Stoffe aus dem Körper ausgedünstet sind , so leisten die Haare einen wichtigen Dienst. Deshalb ist ein Mensch mit reichem, langem Haar unbedingt im Vortheil gegen den Kahlköpfigen , der unter sonst gleichen Umständen z . B. seine Affecte schwerer los wird ; dann weil manche dieser Dünste Kopfschmerzen verursachen , so wird er auch häufiger davon geplagt werden. Ich kann mir sehr gut erklären, dass, wie der Correspondent schreibt, Jemand nach dem Schneiden der Haare eine Zeit lang an Kopfweh leidet ; seine Duftorgane sind verkürzt worden, und so ist die Abdünstung der betreffenden Stoffe plötzlich vermindert. Ich habe früher selbst nie begreifen können, warum man im Allgemeinen räth , sich nicht zu jeder beliebigen Zeit die Haare schneiden zu lassen , namentlich nicht bei kaltem Wetter u. s . f. Seit ich die Bedeutung der Duftstoffe und die der Haare als Duftorgane erkenne , verstehe ich es recht gut. Jede Verminderung der Duftabgabe des Körpers hat bis wieder ein Gleichgewicht hergestellt ist eine Verschlechterung der Körperbeschaffenheit, Duft- und Wasseraufstauung, zur Folge , die sich dann in Steigerung der Erkältungsfähigkeit, grösserer Reizbarkeit und dergleichen äussert. 19* 292 Ich schalte hier eine vielleicht auf den ersten Blick scherzhaft klingende Bemerkung ein : Bekanntlich liegt hinter uns eine Zeit , in welcher die Männerwelt allgemein Zöpfe trug. Wir sprechen geradezu von einer Zopfzeit und nennen einen langweiligen, trieblosen, bedächtigen Menschen heute noch einen „ Zopf" , während wir von einem kurzgeschorenen Menschen sagen, er trage sich „,à la mécontent". Da die Duftstoffe auch Das sind , was im Körper treibt und den Affect und die Gelüste verursacht, es aber unter anderem auch auf die Länge der Haare ankommt , ob diese Duftstoffe rascher oder langsamer aus dem Körper entfernt werden, so ist klar, dass ein Zopfträger stets duftfreier , also trieb- und affectfreier ist , als ein sonst gleichbeschaffener anderer Mensch , dagegen der Kurzgeschorene als turbulenter, leidenschaftlicher Mensch, als mécontent, auftritt. Man könnte den Zopf gleichsam den Blitzableiter für die Affecte nennen. Ich will nun nicht sagen , dass wir Männer uns wieder einen Zopf wachsen lassen sollten wie unsere Altvordern , sorgen wir einstweilen nur dafür , dass dieser Blitzableiter dem Haupte unserer Frauen und Mädchen erhalten bleibt. Eine weitere Beobachtung, die ich bezüglich der Haare an meinen Haarnetzen gemacht habe, ist folgende. Ich besitze Netze von solchen Personen, die bereits längere Zeit sich nach meiner Vorschrift in Wolle kleiden, und andere, deren Träger noch keine richtige Bekleidung haben. Die letzteren duften nun ungleich stärker als die ersteren, aber nicht, weil sie länger getragen worden wären. Der Unterschied ist so gewaltig, dass er dem Stumpfsinnigsten auffällt . Ferner besteht auch ein Unterschied in der Qualität der Düfte : Die von falsch bekleideten Personen stammenden Netze sind erheblich widerlicher als die von 99 wollenen" Personen. Von hier aus können wir nun, glaube ich, auch einen Schluss auf ich will nicht sagen alle aber doch eine gewiss häufige Ursache der Kahlköpfigkeit machen. - - Der Körper sucht sich stets der Ausdünstungsstoffe zu entledigen und bedient sich hierzu aller ihm offen stehenden Wege ; ich habe früher gezeigt , dass einer der wichtigsten dieser Wege die Haut ist. Trägt Jemand eine durchlässige Wollbekleidung, so arbeitet die ganze Hautoberfläche gleichmässig ; ist er dagegen mit Holzfasergeweben (Baumwolle oder Leinwand) bekleidet, so arbeiten die von der Kleidung gedeckten Hautflächen ungenügend. Der Körper sucht sich nun unter anderem dadurch zu helfen, dass er die von der Kleidung nicht gedeckten Hautstellen stärker in Arbeit versetzt. Wie er dies macht, kann man bei einem solchen Menschen, 293 wenn er nackt ist, gut sehen : Am Leib ist die Haut blass, blutlos , am Kopf dagegen, und zwar scharf am Halse abgegrenzt, geröthet und zwar unnatürlich stark. Von dem Durchblutungsmass hängt aber das Ausdünstungsmass ab. Bei solchen Leuten ist daher dem Kopf ein unverhältnissmässiges Arbeitsmass aufgebürdet , sie schwitzen viel am Kopf, leiden häufig am Kopfschmerz, und ihre Haare haben eine Menge Duftstoffe zu verduften. Dieses Uebermass von Arbeit muss auf die Dauer nachtheilig auf die Haare, weil erweichend auf die Haut, wirken und veranlassen, dass erstere leicht ausfallen. Dazu kommt, dass die Duftstoffe, insbesondere die übelriechenden Angststoffe und Kothdüfte, die Substanz der Haare selbst angreifen, was sich in dem Grau- und Spröde werden derselben äussert. Es ist ja bekannt, dass Leute, die in anhaltender Todesangst geschwebt haben wobei natürlich eine massenhafte Angststoffentbindung stattfindet , sogar über Nacht grau werden, sowie dass Kummer und Sorge die Haare bleichen. Das Grauwerden und das Ausfallen der Haare sind natürlicherweise nicht nothwendig immer beisammen (z. B. die Dauerhaftigkeit des Farbstoffes der Haare ist nicht bei allen Menschen gleich gross), aber in der Regel trifft beides zusammen. Der Leser vergegenwärtige sich das Bild solcher Leute, das er gewiss schon oft gesehen : Eine kurzbeinige Gestalt mit kugelrundem, schwappendem Leib, puterrothem Gesicht, schnaubend wie eine Dampfmaschine, in der einen Hand den Hut, in der andern das Taschentuch, mit dem er sich jeden Augenblick den Schweiss von der Glatze wischen muss, schwebend in einer Duftwolke, die nicht immer Wohlgeruch ist, und umschwärmt von gierigen Fliegen, die der Duft anlockt. Bei so Einem kann man mit Bestimmtheit sagen, dass er durch falsche Bekleidung und sonstige Hemmung der Ausdünstung zum Kahlkopf geworden ist. Dass es daneben noch andere Ursachen für die Kahlköpfigkeit gibt, auch erbliche Anlage dazu, darüber ist kein Zweifel. Ich gebe nun zum Schluss dieses Kapitels einige psychometrische Messungen mit Bezug auf die eigene Ausdünstung. 1) Fünf Minuten Inhalation des Duftes von zwei leinenen, je drei Tage getragenen Hemdkragen, die längere Zeit in einem Glase eingeschlossen waren : Mittel aus 10 Messungen vor Inhalation 125 Ms., nach derselben 124 Ms., also Resultat Null, allein Maximaldifferenz vorher 48, nachher 70 Ms., also Folge : Unregelmässigkeit der Nerven action. 2) Versuch mit Anlegung von frischgewaschenem Hemde und ditto Unterbeinkleidern , beide aus Holzfasergewebe , in ruhigem , 294 nüchternem Zustand (Abends 6 Uhr) : Vor Anlegung Mittel aus 10 Messungen 124,8, Maximaldifferenz 72 Ms. Nach einstündigem Tragen, während dessen ich eine lebhafte Unterhaltung mit einem Freunde führte, also ziemlich Duftstoff entbunden wurde : Mittel 96,8 , Max. -Diff. 84. Hierauf zog ich die Kleidung wieder aus und verweilte 20 Minuten auf dem Balcon in frischer Luft: Mittel 138,6 Ms. , Max. -Diff. 50 Ms. 3) Zweiter Versuch mit Holzfaserbekleidung , angelegt Nachmittags 4 Uhr : Vor Anlegung Mittel 124,8 (also bis auf die Millsecunde gleicher Werth, wie oben , am Tag zuvor ! ) , Max. - Diff. 70 (nur um 2 Ms. verschieden von Nr. 2). Nach einstündiger, ruhiger Arbeit Mittel 124,8 Ms., Max. - Diff. 70 Ms., also in beiden Ziffern bis auf die Millsecunde gleich der vorigen. Nach weiteren drei Stunden Arbeit Mittel 100,4 Ms. , Max. -Diff. 120 Ms. ! also beträchtliche Aufregung ; auch subjectiv äusserst fühlbar. Nach fünf Minuten langer Einathmung von Ozogen Mittel 117 Ms. , Max.- Diff. 102 , also bedeutend , aber noch nicht vollständig beruhigt. Merkwürdig ist noch, dass ich in den beiden, auf obige zwei Experimente folgenden Nächten sehr lange nicht einschlafen konnte und mich fortwährend nmherwerfen musste, was seit Monaten sonst nicht mehr vorkam. Resultat : Holzfaserkleidung hält die erzeugten Seelenstoffe , die in diesen beiden Fällen überwiegende Luststoffe waren, zurück und schafft einen Affectzustand mit sehr unregelmässiger Nervenzeit, macht also nervös. Würde man sie tragen , während Unluststoffe im Körper entbunden werden was zu untersuchen ich noch keine Zeit und Gelegenheit hatte , so würde auch diese zurückgehalten , und eine Verlangsamung der Nervenzeit mit Unregelmässigkeit die Folge sein. In beiden Fällen also Steigerung des Duftstoffstandes. - Diesen Messungen stehen zahlreiche Messungen zu gleicher Tageszeit bei gleicher Arbeit gegenüber , während welcher ich in Wollbekleidung blieb und keinerlei Veränderung der Nervenzeit eintrat , womit die Aussagen über die desodorisirende Wirkung der Wollbekleidung gegenüber Holzfaserbekleiduug ziffermässig be- legt sind. 25. Seuchenfestigkeit. Noch im vorigen Jahre hatte ich keine Ahnung davon , in welch' innigem Zusammenhang meine Entdeckungen mit meiner früheren von der Bedeutung des Gewebswassergehaltes für die Seuchenfestigkeit stehe , und es war mir sogar höchst unbequem, dass ich gezwungen war, zwischen zwei heterogenen Dingen hinund herzuschwanken. Erst als ich den Angststoff entdeckt hatte, vollzog sich die erste Synthese in einer mich damals natürlich auf das Angenehmste frappirenden Weise. Allein dass der Zusammenhang ein so inniger sei , wie ich jetzt in diesem Kapitel zeigen kann , vermuthete ich damals noch nicht im Entferntesten . Ich habe nun zwar schon in früheren Kapiteln einen Theil dieses Zusammenhanges angedeutet, insbesondere in dem Kapitel „Parasit und Seuche" , aber theils muss hierüber noch Näheres angegeben, theils auf Grund meiner Beobachtungen der capitale Zusammenhang zwischen den Seelenstoffen und dem Gewebswasserstand erörtert werden. Der erste Punkt ist also der , dass jeder Seuchenparasit der Anwesenheit seines adäquaten Instinctstoffes in der Säftemasse bedarf, wenn er wirksam werden soll, und dass das für eine bestimmte Gruppe von Seuchefermenten (insbesondere Cholera, Pocken, Typhus etc.) ein Angststoff sein muss. In dieser Beziehung ist nun folgender Effect meines Desodorisations- Verfahrens von grösstem Interesse. Die Stubenfliege ist ein ganz entschiedener Angststoffparasit. Dies äussert sich schon darin , dass ihr nichts mehr zuwider ist als Zugluft , sie ist am liebsten in dumpfigen , mit allerlei zweifelhaften Gerüchen angefüllten Räumen, wo es an der nöthigen Reinlichkeit fehlt. Ferner : Sobald Jemand krank ist, plagen ihn die Fliegen mit Vorliebe, um seinen Schweiss zu lecken. Der Thierarzt, der für objective Symptome ein viel besseres Auge 296 haben muss als der Menschenarzt, sieht es stets als bedenkliches Zeichen an, wenn auf einem kranken Thiere wie er sich ausdrückt die Fliegen stehen bleiben . Dass die Fliege in Beziehung zum Angststoff steht, ist sogar wiederum volksbekannt und durch eine sprichwörtliche Redensart fixirt. In Schwaben sagen wir von einem verdriesslichen , geärgerten , von Sorgen erfüllten Menschen: „ er hat Mucken". Das gleiche Sprichwort hat im bayerischen Franken , wie mir mein College Prof. ROECKL mitgetheilt, geradezu die Bedeutung : „er hat Angst". Aber auch scheinbar gesunde Leute verfolgen die Fliegen oft mit einer ganz besondern Hartnäckigkeit. Zu diesen Personen gehörte ich selbst und zwar seit meinen Studentenjahren. In diese Jahre fällt nun auch die Entwickelung eines in Säurebildung und Gasentwickelungen bestehenden Magenübels, das bis vor wenigen Jahren unverändert bestand, dann , als ich meine Diät änderte , sich besserte , aber erst mit der Desodorisation völlig verschwunden ist : damit war für mich auch die Fliegenplage verschwun - den. Früher konnte ich im Sommer nie bei Tage schlafen, ohne mir Kopf und Hände mit einem Fliegennetz zu bedecken , und wenn nur ein schmaler Streifen frei blieb , so fand ihn eine Fliege , ja oft genug kroch eine selbst unter das Netz. Jetzt schlafe ich fast immer unbehelligt, und Tag für Tag kann ich beobachten, wie eine Fliege auf mich zufliegt, aber statt Platz zu nehmen, auf Fingerlänge- Distanz abschwenkt. Aber merkwürdig : wenn ich mich einmal, auch nur leicht, geärgert habe, und auch zuweilen Nachmittags während der Pancreasverdauung, mahnt mich der Fusstritt einer Fliege an meine alte Plage und beweist mir, welch' enorm feine Witterung diese Thiere haben. Die Sache erstreckt sich noch weiter. Während es in den benachbarten Häusern Fliegen in Fülle gibt, sind sie in meinem Hause auffallend selten, und meine Tochter, die in die Nähschule geht, erzählte mir, es gebe dort eine Menge Fliegen ; während aber die andern Mädchen sich fortwährend gegen dieselben zu wehren hätten, setze sich nie eine auf sie. Auch die Beziehungen zu einem anderen Makroparasiten, der gleichfalls entschieden dysphorophil ist , nämlich dem Floh, haben sich in meiner Familie in gleicher Weise geändert : er ist fast ganz aus unserem Hause verschwunden. Ich bin nun völlig sicher: Was von den Makroparasiten gilt, ist auch für die Mikroparasiten Gesetz, und ich hatte zunächst schon deshalb die angenehme Zuversicht fest gehalten, dass wir seuchenfest seien. Davon hat mich aber auch ein anderer Fall in meiner Familie überzeugt, der in Verbindung mit meiner neuesten Ent- 297 deckung bezüglich der Rolle meine ganze Seuchenfestigkeitslehre perfect machte. Ich muss dazu Folgendes voraussenden. Bei meinen Studien über den Gewebswassergehalt, welche meiner öfter citirten Schrift ,, Seuchenfestigkeit" zu Grunde liegen, hatte ich das specifische Gewicht des Lebenden in der Weise festgestellt, dass ich das Volumen mittelst Messung von Umfängen und Höhe bestimmte, was natürlich sehr ungenau ausfallen musste. Seit Mitte vorigen Sommers bediene ich mich zur Volumbestimmung der Untertauchung der Person in einem mit Steigrohr versehenen graduirten Zinkcylinder , nachdem der Betreffende vorher eine Maximaleinathmung vollführt hat. Ich bestimme darnach mittelst Spirometer die Vitalcapacität der Lunge, ziehe dieses Volumen von dem Gesammtvolumen ab und benutze dieses reducirte Volumen zur Ermittelung des specifischen Gewichtes. Dass auch diese Messung an Fehlern laborirt, weiss ich sehr wohl, allein ich habe zunächst kein besseres Verfahren, und wie ersichtlich gibt dasselbe auch schon ganz interessante, quantitativ völlig unerwartete Resultate. Es ist hier nicht der Ort, alle meine diesbezüglichen Untersuchungen, insbesondere die im laufenden Jahre nach dieser Methode ausgeführte Wägung von 250 Mann Soldaten, ausführlich zu besprechen ; dagegen gehört Folgendes hierher. Ueber meine Lehre von dem Zusammenhang des specifischen Gewichtes mit Seuchenfestigkeit, wie ich sie in der citirten Schrift niederlegte, liegen jetzt zahlreiche Aeusserungen von Fachmännern vor und, begreiflicherweise, neben unbedingt zustimmenden, auch ablehnende. Eine der letzteren stammt von Prof. FESER an der Thierarzneischule von München. In Nr. 24 u. 25 der „Wochenschrift für Theilheilkunde und Viehzucht" 1879 theilt er mit, dass in eigenen Versuchen mit Milzbrandimpfung bei Ratten solche Thiere , die längere Zeit blos mit Brod gefüttert worden waren, stets erlagen, solche dagegen, die nur Fleischkost erhalten hatten, sich milzbrand-fest erwiesen. Er schliesst seine Mittheilung mit der Bemerkung, die von mir in meiner Schrift „ Seuchenfestigkeit" constatirte steigende Widerstandsfähigkeit unserer Soldaten gegen Infectionskrankheiten erkläre er nur durch die gute , kräftige Ernährung , insbesondere durch die dem Militär heutzutage gebotene vorwaltende Fleischkost. Ich bemerkte hiergegen in Nr. 30 der gleichen Zeitschrift : Bei der Seuchenfestigkeit seien zwei Fragen scharf zu sondern: 1 ) Welcher Art ist die Qualität des Körpers , auf der sic beruht ? Das ist die primäre Frage, der Knotenpunkt der ganzen Sache, ohne dessen Erfassung man sich fortwährend in dem Labyrinth der Casuistik verirrt. Das Seucheferment ist eine 298 parasitäre Pflanze, und die Grundfrage ist : welches sind ihre Vegetations - Bedingungen? 2) Durch welche Einflüsse und Umstände erlangt der Körper eine den Vegetations- Bedingungen entgegengesetzte Qualität? Diese Frage ist zwar praktisch sehr wichtig, allein doch nur secundär und voll verwirrender Casuistik. Nachdem NAEGELI die Vegetations-Bedingungen der analogen Fermente, aber freilich nur die eine , nämlich den Concentrationsgrad der Nährstofflösung, für die Verhältnisse ausserhalb des lebenden Organismus, festgestellt hat, habe ich in meiner Schrift nachgewiesen, dass der NAEGELFSChe Satz auch für die Verhältnisse innerhalb des lebenden Körpers gilt, und gesagt: Die Ansteckungsfähigkeit eines Thieres nimmt ceteris paribus ab, je geringer sein Gewebswasserstand wird, über dessen Höhe das specifische Gewicht des Lebenden Aufschluss zu geben vermag. Das gehört zu Frage Nr. 1 . Hieraus folgerte ich für Frage Nr. 2 : Alle Umstände und Massregeln, welche den Gewebswasserstand vermindern, also umgekehrt den Concentrationsgrad der Körpersäfte erhöhen, steigern die Seuchenfestigkeit, und alle, welche ein Hydrostasie erzeugen, vermindern sie. Da es jedem Physiologen *) bekannt ist , auch von Herrn Professor FESER S. 210 Alinea 2 zugegeben wird, dass Fleischkost im Gegensatz zur vegetabilischen Nahrung entwässernd wirkt, so sind die FESER Schen Experimente eine eclatante Bestätigung meiner Seuchenfestigkeitslehre, für die ihm nicht nur die Wissenschaft, sondern auch ich persönlich dankbar sein muss. Wenn er aber sagt, die Immunität der Soldaten älteren Jahrgangs sei nur durch die Fleischkost erzeugt, so hat er sich durch seinen experimentellen Erfolg sein Urtheil trüben lassen. Ich sage : alle Factoren, die entwässernd wirken, steigern die Immunität. Dass dazu Qualität und Quantität der Nahrung gehört , ist unbestreitbar, aber ebenso wenig kann bestritten werden, dass Art und Quantum der Körperarbeit, der Ausdünstungsverhältnisse u. s . f. einen entscheidenden Einfluss auf den Gewebswasserstand und damit auf die Seuchenfestigkeit nehmen. Wenn wir mit der Nahrung Alles machen könnten, dann hätte es keinen Zweck, die Soldaten und die Pferde zu trainiren, und der hohe sanitäre Werth der Trainirung, der therapeutische Werth des diaphoretischen Verfahrens, der Ventilation der Stallungen u. s . f. ist zu notorisch, als dass Herr Professor FESER Glauben finden könnte, wenn er ihn bestreiten wollte.

  • ) J. Ranke, Grundzüge der Physiologie, 2. Aufl. , S. 509.

299 Ich kann nun aber auch durch eine exacte Beobachtung den directen Beweis liefern, dass selbst intensivste Eiweissernährung nicht im Stande ist , Immunität zu erzeugen , wenn die Arbeitsverhältnisse nicht die richtigen sind und irgend ein Factor in Thätigkeit ist , der den Gewebswasserstand erhöht, also der Con- centration entgegenwirkt. Diesen Fall besprach ich in der Zeitschrift nicht , sondern verwies auf dieses Buch, wo er jetzt als eine Erfahrung capitalster Art nach mehreren Seiten hin aufklärend wirkt. Vorigen Herbst trat mein ältester Sohn aus dem realistischen Gymnasium in's humanistische über und hatte nun die Aufgabe, seine Mitschüler , die bereits drei Jahre lang griechisch getrieben hatten, mittelst Privatstunden einzuholen. Um den Folgen seiner Ueberanstrengung, die ich voraussah , vorzubeugen , liess ich ihn nicht nur Fleisch ad libitum essen , sondern auch Morgens und Nachmittags je 1/2 Liter kuhwarme Milch trinken. Trotzdem trat Ueberanstrengung ein. Der Junge, der wie bisher seine Wollkleidung trug und bei offenem Fenster schlief, wurde matt, apathisch, verdriesslich , nervös , sein Gedächtniss liess ihn im Stich und seine Fähigkeit, dem Unterricht zu folgen, sank bedrohlich. Vor Beginn des Semesters , am 14. October, hatte ich unmittelbar nach einer 14tägigen Ferienfussreise sein specifisches Gewicht 1111 gefunden. Als ich ihn nun in den Weihnachtsferien wieder wog, hatte er nur noch 1060, also einen Verlust von 51 Gramm pro Liter ! Ein schlagender Beweis , dass sich Zerfall der Constitutionskraft und der geistigen Leistungsfähigkeit durch eine ganz erstaunliche, der gröbsten Messungsmethode zugängliche Abnahme des specifischen Gewichts verräth und selbst reichlichste Ernährung den Verfall nicht aufzuhalten vermag, wenn anhaltende Ueberanstrengung stattfindet. In den Weihnachtsferien erholte sich mein Sohn wieder etwas, als aber die Arbeit wieder aufgenommen wurde, trat nach etwa zwei Monaten wieder der gleiche Zustand ein , und ich sollte nun auch die Folge dieses Zustandes für die Seuchenfestigkeit kennen lernen. Mein Hausgärtchen wurde im Winter mehrmals mit Abtrittsinhalt gedüngt und, wie sich herausstellte, überdüngt. Im Frühjahr bearbeiteten ich , mein Sohn und meine zweite Tochter den Garten. Da wir die nassen Schollen nicht zerkleinern konnten, liessen wir sie trocknen , wobei sie fast steinhart wurden, und zer- klopften sie nun an einem sehr trockenen Tage wie Strassenbeschlag , wobei es sehr staubte. Die Inhalation dieses düngerhaltigen Staubes zog nun mir und meiner Tochter einen zwar hart- 300 näckigen, aber durchaus fieberlosen Katarrh zu, mein Sohn dagegen wurde von einer vollständigen Infectionskrankheit mit heftigem, nicht typhusartigem, sondern in den Symptomen einer Influenza gleichendem Fieber befallen, denn er lag 10 Tage in vollständiger Prostration mit sehr übelriechender Ausdünstung und fast ohne etwas zu geniessen. Nach seiner Genesung kamen die Ferien , in denen er sich erholte, die Arbeit wurde reducirt, und am 28. Juni hatte er wieder sein specifisches Gewicht von 1127, also um 67 höher als um Weihnachten ! Die Sache ist völlig klar. Wie ich früher nachwies , wird bei geistiger Ueberanstrengung Angststoff entbunden. Die Wirkung desselben auf die lebendige Substanz ist eine lähmende , wobei der Gewebstonus oder, vielleicht objectiver gesagt, die Quellungsfähigkeit derselben ebenso herabgesetzt wird, wie es J. RANKE für andere differente Stoffe an lebenden Froschmuskeln mittelst der Wage nachwies. *) Diese Quellung hat eine Vermehrung des Wassergehalts mit Abnahme des specifischen Gewichts und erhöhter Gährungsfähigkeit zur Folge, und damit ist die Immunität verloren. Ich halte also alles , was ich in meiner Schrift über Wassergehalt und Seuchenfestigkeit sagte, unbedingt aufrecht und kann weiter noch auf eine mir soeben im Manuscript vorliegende, zur Aufnahme in das ,,Repertorium der Thierheilkunde" bestimmte Mittheilung des Hrn. FR. KNOEDLER , Gestütsthierarzt in Ürmény in Ungarn, hinweisen. Derselbe theilt mit , dass in dem Gestüt des Grafen Hunyadi die trainirten Jagdpferde in auffälliger Weise gegenüber den weniger bewegten, das gleiche Futter geniessenden Pferden vom Milzbrand verschont bleiben, und dass damit auch die Erfahrung des Director v. APPEL, eines weit renommirten Züchters und Gestütsbesitzers, harmoniren. Vor Kurzem sollte ich nun von anderer Seite her eine höchst merkwürdige, meine Lehre von der Seuchenfestigkeit und dem sanitären Einfluss der Wolle bestätigende Einsicht gewinnen. Am 21. Juli schrieb mir Hr. A. KINZELBACH, ein mir befreundeter Kaufmann in Stuttgart: ,,Gestern hatte ich Gelegenheit, mit einem alten Fabrikanten von Kunstwolle mich über die Herstellung und Anwendung seines Fabrikates zu unterhalten, und erfuhr von ihm einiges Nähere über den Einfluss dieser Fabrikation auf den Gesundheitsstand der damit beschäftigten Leute , was mich in Erstaunen setzte, weil dieser Einfluss mit Ihren Ansichten über die Zweckmässigkeit der Wolle für Bekleidung des menschlichen Körpers in einer merkwürdigen Uebereinstimmung steht.

  • ) Grundzüge der Physiologie, II. Aufl. , S. 115.

301 Mein Gewährsmann ist Herr KOEBER, welcher seit drei Jahren in Cannstatt eine Kunstwollefabrik betreibt, seine Fabrik aber nicht zur Herstellung von geringen Geweben , sondern zur Anfertigung von Wollmatratzen benützt. Diese Matratzen finden immer mehr Eingang in Spitälern , Irrenanstalten und dergleichen öffentlichen Instituten, und Herr K. hat erst vor wenigen Tagen einen grossen Auftrag der Reichsregierung in Lothringen für eine Irrenanstalt erhalten, auch soll sich Herr Minister v. VARNBÜHLER für die Sache interessiren. Herr K., jetzt schon ein älterer Mann, befasste sich schon in den vierziger Jahren in England mit der Herstellung von Kunstwolle. Als etwa um's Jahr 1847 oder 1848 die Cholera in England grosse Verheerungen anrichtete , machte man die Erfahrung, dass die Arbeiter in Kunstwollfabriken merkwürdiger Weise ganz verschont blieben. Diese Beobachtung führte zu eingehenden Besprechungen im englischen Parlamente; Fabrikanten , Arbeiter, Aerzte aus den Wolldistricten wurden nach London citirt, und ihre Aussagen stimmten alle darin überein , dass die mit Kunstwollefabrikation beschäftigten Leute gegen die Cholera wie gefeit gewesen seien. Ein umfassender gedruckter Bericht über diese Wahrnehmungen existirt , und ich habe Herrn K. gebeten , ihn womöglich sich zu verschaffen , damit ich Ihnen denselben zur Einsicht vorlegen kann. Später errichtete Herr K. eine grosse Kunstwollfabrik in Mannheim und beschäftigte ca. 400 Arbeiter. Viele dieser Leute kamen aus den armen Gegenden des Odenwaldes , waren anfänglich oft krank , z . B. häufig mit Krätze behaftet. Nachdem sie aber eine Zeit lang in der Fabrik beschäftigt gewesen, besserte sich ihr Gesundheitszustand in sehr auffälliger Weise , sodass Herr K. nur selten genöthigt war, einen seiner Arbeiter in ein Spital zu schicken. Eine weitere merkwürdige Beobachtung theilte mir Herr K. mit. Er sagt, wenn einmal Leute mit der Behandlung von Wollhadern und der Fabrikation von Kunstwolle beschäftigt gewesen, so bekamen sie eine solche Passion für den Artikel, dass sie selten wieder die Branche verliessen. ,Sie sollten nur sehen' , meinte er , , mit welchem Vergnügen die sortirenden Mädchen in den keineswegs appetitlich aussehenden Wollhadern herumarbeiten ; es ist gerade, als ob ein behagliches Gefühl sie durchströmte , wenn sie einen Arm voll Hadern aufraffen, um solche von einem Ort zum andern zu transportiren.' Wie gesagt, bei dieser Erzählung fielen mir Ihre Mittheilungen 302 ein, und ich dachte darüber nach, ob nicht Wolle überhaupt einen bis jetzt noch wenig erforschten Einfluss auf den menschlichen Körper ausüben sollte, und darum drängte es mich, Ihnen alsbald zu berichten, was mir der alte Praktiker gesagt. Wie Sie mir jüngst mittheilten , schlafen Sie jetzt sogar zwischen Wolldecken. Sollten nicht Matratzen und Kopfkissen , mit Wolle gefüllt, Ihren Zwecken noch besser entsprechen ? Vielleicht wäre auch die Füllung von gepolsterten Möbeln mit Kunstwolle noch von Einfluss auf die Gesundheit ?" Bald nach Empfang dieses Briefes schritt ich zu folgenden Inhalations-Experimenten : 1 ) Bei mir selbst an getragenen gewaschenen Wollstrümpfen eines meiner Söhne : Nervenzeit vor Inhalation 130,6 Ms., nach fünf Minuten Inhalation 92,2 Ms., also Verschnellerung um 38,4 Ms. 2 ) Mein Freund Dr. S. an den gleichen Strümpfen : Vor Inhalation 167,4 Ms., nach Inhalation 136,8 Ms. , also Verschnellerung um 30,6 Ms. 3) Ich, an getragenen und gewaschenen Wollstrümpfen meiner Frau: Vor Inhalation 117 Ms. (die Kürze dieser Zeit wird durch die freudige Aufregung über die Entdeckung erklärt) , nach Inhalation 96 Ms. Verschnellerung 21 Ms. 4) Ich , an getragenen und gewaschenen baumwollenen Strümpfen meiner Frau : Vor Inhalation 120 Ms. , nach Inhalation 118,6, also Verschnellerung nur 1,4 Ms., was gleich Null ist. 5) Endlich inhalirte ich mehrere Tage darnach an meinen eigenen ungewaschenen, seit fünf Tagen in Gebrauch stehenden Wollstrümpfen : Vor Inhalation 124 Ms., nach fünf Min. Inhalation 93,2, also Verschnellerung 30,8 Ms. ! Also in vom Menschen getragener , gewaschener und ungewaschener Wolle steckt ein Duftstoff, der bei Inhalation als Lustgas , und zwar stärker als Champagner und Haarduft einer geliebten Person wirkt. Es war jetzt nur noch zu entscheiden : Rührt dieser Duftstoff vom Schaf her oder gelangt er erst durch den Gebrauch, vom Menschen aus, in denselben ? Diese Frage entschied andern Tages die Inhalation an einem Paar völlig neuer, ungetragener Wollstrümpfe zu Gunsten der letzteren Alternative : Vor Inhalation Nervenzeit 129,6 Ms., nach Inhalation 132,2, also sogar eine Verlangsamung von 2,6 Ms., die nach meinen Erfahrungen schon zu gross ist , um sie als Null zu bezeichnen. Als ich von diesen Ergebnissen Herrn KINZELBACH Mittheilungen machte, erhielt ich von ihm folgenden Brief: „ Es freut mich, dass Ihnen meine Mittheilungen über die Kunstwolle so wichtigen Aufschluss geben. Da mich die Sache sehr 303 interessirt , und ich von Anfang an der Ansicht war, dass Ihre Seelenlehre vieles Wahre enthalte , so fuhr ich gestern fort, Erkundigungen hinsichtlich des Einflusses der Wolle auf die damit beschäftigten Arbeiter einzuziehen. Ich wandte mich an einen hiesigen Grossisten in Wollhadern, und ohne demselben den eigentlichen Grund meiner Anfragen anzuvertrauen, frug ich ihn , ob er niemals einen nachtheiligen Einfluss wahrgenommen, ob nicht seine Leute, seine Sortirerinnen an Pocken und dergleichen erkrankt wären. Im Gegentheil , erhielt ich zur Antwort , meine Leute sind eigentlich nie krank und bleiben viele Jahre bei mir in Dienst. Als im Jahr 1868 hier die Pocken sehr heftig auftraten , fürchtete ich , es möchten meine Arbeiter durch etwa in den Hadernsteckenden Ansteckungsstoff erkranken , allein sie blieben alle gesund. Ferner erzählte er mir , dass, als im Jahre 1854 die Cholera in München grassirte und so zahlreiche Opfer forderte , in den vielen Haderngeschäften jener Stadt nicht eine einzige Person erkrankte , was damals als eine grosse Merkwürdigkeit angesehen wurde , um so mehr , als diese Geschäfte sammt und sonders in den engsten und schmutzigsten Gassen München's betrieben werden. " Somit ist das Geheimniss der Wolle entziffert: die Wolle zieht beim Tragen die euphorischen Duftstoffe an und lässt die dysphorischen durch , resp. gibt sie beim Waschen ab, während sie die euphorischen nicht abgibt ; sonach ist sie mit Luststoff geladen, der beim Tragen inhalirt wird , aber wahrscheinlich auch direct auf die Hautgefässe erweiternd und ausdünstungsbefördernd wirkt. Dieser Luststoff wirkt entgegengesetzt dem Angststoff, er steigert den Gewebstonus , vermindert also nicht nur die Quellbarkeit der lebendigen Substanz , sondern wirkt sogar noch entwässernd, erzeugt bei längerer Einwirkung jene stramme bretartige Härte der Muskulatur, die ich früher schilderte, und jenes Strammheitsgefühl, das Jeder im Zustand der Lust an sich selbst beobachten kann, während man in Schwaben vom entgegengesetzten Unlustzustand ausnehmend treffend sagt : es sei einem „ läpperig“ , d. h. wässerig zu Muth. Und nun noch einmal zur Seuchenfestigkeit ! Meine Vorschrift lautet jetzt einfach : Wer sich durchweg in Schafwolle kleidet, in Wolle und womöglich auch noch auf Kunstwollmatratzen und bei offenem Fenster schläft und sich keiner körperlichen und geistigen. Ueberanstrengung aussetzt, ist cholera- und pockenfest, ja wahrscheinlich auch sonst seuchenfest. Nun ist wieder höchst merkwürdig , dass dieser Einfluss der Wolle längst volksbekannt ist. Das Sprichwort er sitzt in der 304 Wolle" hat sicher keinen anderen Ursprung als diesen. Bei uns ist es ein allgemein bekanntes Volksmittel, sich bei akuten Halsleiden einen getragenen Wollstrumpf umzubinden, und das Volk findet es probat, was auch die Aerzte gegen dieses „Altweibermittel" sagen mögen. Mehreren Mönchsorden, z. B. den Augustinern, war durchaus wollene Bekleidung vorgeschrieben , die Asceten trugen härene Gewänder und wurden dadurch für alle Entbehrungen abgehärtet , die alten Griechen hatten nur wollene Gewänder. Andererseits hat die Volksstimme insbesondere Sammt und Seide stets als verweichlichend bezeichnet. Erstaunt habe ich mich schon oft gefragt : Wie war es möglich, dass dieses Wissen von der Wirkung der Wolle den Culturvölkern so vollständig abhanden kam , dass die Verwendung der verweichlichenden Holzfaser diese Ausdehnung gewinnen konnte, und dass eine förmliche Wiederentdeckung nöthig wurde ? Offenbar liegt es darin, dass wir keine für die Aufrechterhaltung des öffentlichen Gesundheitszustandes arbeitende und verantwortliche Behörde hatten, und als man endlich solche schuf, die Medicin in einseitiger Verfolgung ihrer therapeutischen Richtung sich vollständig vom Volkswissen und Volksinstinct entfernt hatte. Im Interesse der Sache kann ich hier eine Bemerkung nicht unterdrücken. Meine Schrift ,, Seuchenfestigkeit" , deren Angaben sich jetzt Punkt für Punkt bestätigen , habe ich voriges Jahr 1 ) als Bewerbungsschrift um den Cholera-Preis Bréant an die Pariser Akademie der Wissenschaften, 2) an das deutsche Reichsgesundheitsamt nach Berlin zur Begutachtung gesandt. Die erste Stelle liess mir durch den Herrn General MORIN mittheilen , die sonst interessanten Nachweise seien nicht ausreichend, wogegen zunächst nichts einzuwenden ist ; nur glaubte ich, die Commission werde daraus die Anregung entnehmen, die Prüfung selbst in die Hand zu nehmen. Vom kaiserlichen Reichsgesundheitsamt bekam ich keine Antwort! Ich glaube nun, beide öffentliche Stellen werden sich jetzt dem Schwergewicht der obigen neuen Thatsachen nicht entziehen und eine ernste Prüfung meiner Angaben nicht länger hinausschieben dürfen ; insbesondere das deutsche Reichsgesundheitsamt, nachdem neuerdings eine Seuche, die Diphtheritis , sich ihre Opfer sogar aus unserem Kaiserhaus geholt hat. Ich habe die feste Ueberzeugung , dass mein Bekleidungsregime auch gegen diese Geissel der Culturvölker vollständig schützt. Ich werde übrigens in diesem Verlangen wohl bald auch von anderer Seite unterstützt werden, da nach Öbigem die Wollkleidung pockenfest , also den Impfzwang durchaus überflüssig macht. 305 Ich fordere deshalb die Impfgegner, deren Zahl in fortwährendem Wachsen ist , auf, die Sache in die Hand zu nehmen. Zunächst ist zu untersuchen, ob mein Bekleidungsregime impffest macht d. h. verhindert, dass nach dem Impfen ein fieberhafter Ausbruch von Impfausschlag erfolgt. Hierbei ist aber wohl zu beachten: Wenn ein Kind beim Impfen stark in Angst verfällt, so ist seine Desodorisation aufgehoben , denn es ist von Angststoff durchsetzt. Das Experiment muss also mit Verstand gemacht werden. Ist ein Desodorisirter wirklich impffest, dann ist er auch pockenfest, und wir können unbedenklich den Impfzwang aufheben. Dann muss ich noch eine Bemerkung über den Einfluss der Entwässerung auf die Nervenzeit, die mir meine psychometrischen Untersuchungen ergaben, beifügen und zwar dahin gehend : Die Entwässerung verkürzt die Nervenzeit. Im Monat Mai und Anfang Juni, als die Witterung noch kühl , theilweise sehr kühl war , schwankte meine Nervenzeit in Seelenruhe zwischen 148 und 153 Ms. Als dann die zweite Hälfte mit einigen sehr heissen, schweisstreibenden Tagen, insbesondere der 28. Juni mit 32° C. über mich ergangen waren, ging meine Nervenzeit in Seelenruhe auf 124-130 zurück. Da eine kürzere Nervenzeit, falls sie nicht mit grosser Unregelmässigkeit verbunden ist , entschieden ein Symptom von Euphorie ist , so gewinnt meine Gewebswasserlehre auch von dieser Seite her exacten, ziffermässigen Untergrund. Jaeger, Entdeckung der Seele. 20 26. Affect- und Wetterfestigkeit. Damit bezeichne ich zwei andere, praktisch hochwichtige Consequenzen meiner Bekleidungsreform. Bezüglich der ersteren erinnere ich zunächst an das, was ich früher über die Schwellenwerthe der Affecte gesagt : der unterste ist die Lustschwelle , dann folgt die Zornschwelle und zu oberst liegt die Angstschwelle. Die Folge der Desodorisation und Entwässerung ist nun einfach eine derartige Herabminderung der Zersetzbarkeit des Nerveneiweisses , dass die Schwellenwerthe sämmtlich höher gelegt werden , d. h. dass ein Reiz eine erheblich grössere Stärke haben muss als zuvor, um die betreffende Schwelle zu erreichen. Dies äussert sich nun natürlich zunächst darin , dass die oberste Schwelle , die der Angst , für gewöhnlich gar nicht mehr erreicht wird. Dem entspricht das Verhalten meiner Familienglieder, aber natürlich in der Weise : Ausser dem Duftstoffstand und Gewebswasserstand kommt auch der angeborene, auf der Differenz der Seelenstoffe beruhende Grad der Zersetzbarkeit des Eiweisses bei der Affectentbindung in Betracht. Dieser ist nun einmal bei Kindern grösser als bei Erwachsenen, dann bei weiblichen Personen grösser als bei männlichen. In Angst verfallen deshalb von uns nur noch meine zwei jüngsten Kinder (von 6 und 8 Jahren) , bei den älteren Gliedern kommt sie äusserst selten vor, und von mir kann ich sagen, dass ich im Vergleich zu früher in hohem Grade angstfest bin. Ich habe mich seit Beginn meines Bekleidungswechsels wiederholt in Situationen befunden , in denen ich mich früher der Angst und Sorge nicht hätte erwehren können , und bin doch frei davon ge- blieben. Meine Entdeckung der Seele fiel um die Osterzeit vorigen Jahres, gerade als ich auch mit meinem Bekleidungsregime begann. Ich 307 schrieb damals sofort an mehrere Bekannte, insbesondere an meinen Freund Dr. FERDINAND V. HOCHSTETTER in Wien mit dem Beifügen ich würde die Sache nicht veröffentlichen , da mir der Muth dazu Angesichts des zu erwartenden heftigen Widerspruchs abgehe. Im Juni , als meine Desodorisation und Entwässerung zu einem ersten Abschluss gelangt waren, fasste ich den Muth und habe denselben , trotz mancher Angriffe und Schmähungen, nie auch nur auf einen Augenblick verloren, trotzdem meine objectiven Beweise bis zum Mai dieses Jahres sehr schwach waren. Die einzigen Angstanfälle seit jener Zeit waren die der Uebermüdungsangst, die ich in einem früheren Abschnitt beschrieben habe. Einer der gewöhnlichsten Angstformen ist ausserdem die Prüfungsangst. Ein Kritiker meiner mehrerwähnten Schrift ,,Seuchenfestigkeit" im ,, Literarischen Centralblatt" , der übrigens mit keiner Silbe verräth , dass er sich die Mühe genommen , meine Angaben experimentell selbst zu prüfen , also sein Recht , ein Urtheil zu fällen, durch nichts begründet, hat sich spöttisch darüber geäussert, dass ich behaupte , das specifische Gewicht eines Menschen gäbe unter gewissen Umständen über gewisse geistige Qualitäten Aufschluss , die man sonst nur durch Examina feststelle . Der Beweis für die Richtigkeit meiner Behauptung ist geliefert. Vor Kurzem machte ein 25jähriger Mann, der seit December nach meiner Vorschrift gekleidet ist, seine Dienstprüfung. Im vorigen Jahr hatte derselbe ein specifisches Gewicht von 1060 , vor dem Examen im Juni dieses Jahres ein solches von 1069 , eine Ziffer, die eigentlich erhöht werden da durch eine Vermehrung des absoluten Gewichtes um 3,6 Kilo sicher das Knochenfleischverhältniss zu Gunsten des Fleisches verschoben worden ist . Dieser Mann blieb während der Prüfung in so auffallender Weise von jeder Angst frei, behauptete in solchem Masse seine Geistesgegenwart, dass seine Mitcandidaten und früheren Studiengenossen, welche wussten, dass seine positiven Kenntnisse ihn gerade nicht zu einer überlegenen Zuversicht berechtigten, ihn darüber zur Rede stellten. Auch den Examinatoren scheint die Sache nicht entgangen zu sein und das Prüfungsresultat entsprach durchaus auch qualitativ meiner Vorhersage : Während selten ein Candidat beim zweiten Examen eine höhere Nummer erreicht als beim ersten, und der Betreffende auch durchaus keine höhere erwartete, bekam er doch eine weit höhere Note, wovon alle, die ihn konnten, höchlichst überrascht waren. " Da die studirende Jugend sich bereits meiner Bekleidungsreform bemächtigt hat , so wird meine Angabe in Bälde die ausgedehnteste Bestätigung finden, und obiger Kritiker sich eben so 20* 308 lächerlich gemacht haben, wie es, meiner Seelenentdeckung gegenüber, so manchen Andern geht und noch gehen wird. Diese Angstfestigkeit kommt natürlich auch der Seuchenfestigkeit zu gut, da notorisch die Seuchenangst sofort die Immunität aufhebt. Einen Nachtheil hat übrigens die Angstfestigkeit ; solange nicht alle Personen , mit denen man verkehrt, in gleichem Masse angstfest sind, was ohne Wollbekleidung aber nicht eintritt , so entpuppen sie sich einem sammt und sonders als „Angstmänner" , und man hat Mühe , sie seine Ueberlegenheit in dieser Richtung nicht fühlen zu lassen und verletzendes Auftreten zu vermeiden. Von der zweiten Affectschwelle , der Zornschwelle, gilt Folgendes : Da sie viel niedriger liegt als die Angstschwelle, so ist sie natürlich bei uns noch nicht verschwunden, und ich glaube auch kaum, dass es eine so hochgradige Desodorisirung geben dürfte, um sie etwa in ähnlichem Grade auszuschalten, wie es bei uns mit der Angstschwelle geschehen ist. Dagegen ist die Lage der Zornschwelle bei uns Allen augenscheinlich eine viel höhere geworden. Material dazu haben mir z. B. eben die vorgenannten hämischen Abgeschmacktheiten gegeben , mit denen anonyme Feuilletonisten meine Entdeckung der Seele" zu verspotten suchten . Ich war früher gegen kritischen Tadel sehr empfindlich , er reizte mich nicht nur zum Zorn, sondern die Erregung überschritt oft sogar die Angstschwelle. Hierin und auch sonst im innern und äussern Verkehr ist es anders geworden. وو Allen Eltern ist z. B. bekannt , dass , wenn die Kinder recht ausgelassen lustig sind, sich verfolgen und necken, das Spiel leicht in's Gegentheil umschlägt : „Aus dem Geweiher wird ein Geleier. " Das war früher auch bei meinen Kindern der Fall ; jetzt kommt es dagegen nur noch äusserst selten zwischen ihnen vor, und es spielt diese Erscheinung bei meiner Entdeckung der Seele eine so gewaltige Rolle, dass ich auch keine annähernde Vorstellung von dem mächtigen Eindruck geben kann, den es auf mich macht , wenn ich Monate lang , Tag für Tag vor meinen Augen sich Vorgänge abspielen sehe, von denen ich bestimmt weiss, dass sie früher zu Verdruss und Streit geführt und jetzt in Heiterkeit verlaufen. Ausgeschaltet ist , wie schon gesagt , die Zornschwelle bei keinem von uns, aber sie liegt so hoch, dass ich noch S. 168 erwähnen durfte, ich habe noch keine Gelegenheit gehabt, einen zornigen Menschen zu beriechen. Diese Lücke ist inzwischen allerdings ausgefüllt worden, und ich kann das an der citirten Stelle über den Zornduft in suspenso Gelassene jetzt dahin ergänzen : Der Duft eines zornigen Menschen verräth deutlich die Ge- 309 mischtheit des Affectes. Während die Person , bei welcher ich ihn wahrnahm , in Seelenruhe und Freude sehr angenehm für meine Nase duftet, schlug mir, als sie zornig war, ein entschieden zweifelhafter Duft entgegen, und wie ein Blitz fuhr mir das Wort: „ Stinkmalice" durch den Kopf. Von reinem Angstduft ist der Zornduft jedoch sehr weit verschieden, mindestens eben so weit aber von dem Wohlduft der Freude, und der Ausdruck „ Stinkmalice" ist durchaus zutreffend. Wir bezeichnen mit diesem Wort einen Zorn, der schon stark in den reinen Unlustaffect, bei welchem nur stinkender Angststoff entbunden wird, übergeht, also auch im Ausdünstungsduft vorherrschen muss. Ich habe hier noch eine allgemeine Bemerkung zu machen. Nach der Intensität und dem Verhältniss zwischen Luststoff- und Angststoffwirkung bei dem gemischten Affect des Zorns können wir zwischen Springzorn , bei welchem der excitirende Luststoff überwiegt, und Stickzorn , mit Ueberwiegen des Angststoffes, unterscheiden. Von diesen beiden Zornformen blieb früher keines von uns verschont, denn wir sind sammt und sonders keine torpide Naturen. Jetzt kommt dagegen bei uns nur noch der Springzorn vor , und den Stickzorn konnte ich nur noch ein paar Mal bei meinem jüngsten Knaben, der früher fast täglich derartige Anfälle hatte, beobachten . Auch die Verhältnisse bei den noch vorkommenden Anfällen von Springzorn sind gegen früher erheblich geändert, wobei sich der Unterschied zwischen Seele und Geist ungemein deutlich zeigt : Der seelische Theil des Zornes, der reine Duftstoffwirkung ist, „ verraucht" wieder sehr treffend gesagt, weil er ausgeathmet wirdbei uns sehr rasch, der Puls wird normal und die Nervenzeit ebenfalls , allein die geistige Verstimmung kann bei völliger Seelenruhe fast eben so lange anhalten als früher, ist jedoch weit weniger belästigend und social störend, als es früher der Fall war. Das Vorstehende war bereits geschrieben, als ich bezüglich des Zornes eine neue Beobachtung machte , die sehr belehrend und auch praktisch wichtig ist. Von jeher gewohnt, meine Gefühle nie zu verbergen und ihren Aeusserungen keinen Zwang anzuthun, liess ich zu Hause auch meinem Zorn nur dann keinen freien Lauf, wenn er stärker wurde , den gewöhnlichen Springzorn dämmte ich nicht ein. Vor einigen Wochen ging es mir nun damit genau so, wie ich es S. 220 von meiner Gewohnheit zu trinken schilderte : ich hatte das Gefühl, dass meine Zornäusserungen nur mehr blosse Gewohnheit und keine seelische Nothwendigkeit mehr seien, ich sie also genau eben so unterlassen könne wie das Trinken. Der Erfolg hat meiner Vermuthung bis jetzt vollständig Recht gegeben, ich 310 habe mich wohl ein paar Mal geärgert, aber ich konnte mit grösster Leichtigkeit jedes Lautwerden meiner Erregung verhindern, so dass ich es jetzt für möglich halte , überhaupt zornfest zu werden. Ueberhaupt ist das eine andere allgemeine Seite unserer physischen Veränderung : der Sprechtrieb ist auffallend geringer, was ganz besonders auch von den weiblichen Familienmitgliedern gilt. Wir haben auch hier wieder ein Wort, das belegt, wie pünktlich richtig der Sprachgebrauch das Wort „ Seele“ anwendet: die Sprachseligkeit oder Redseligkeit ist eine Folge zu hohen Seelenstoffstandes , und da Redseligkeit, wie Jedermann bekannt, ein Hemmniss für die geistige Thätigkeit ist , so ist die Herabminderung derselben auch nach dieser Seite hin ein Vortheil. Von der untersten Affectschwelle , der Lustschwelle , gilt das Gleiche wie von den anderen ; sie liegt entschieden höher, aber die qualitative Seite der Sache bedarf noch einer Besprechung, denn hier tritt wieder der Unterschied von Seele und Geist klar zu Tage Wir gerathen zwar schwerer in Lustaffect , aber die Seelenruhe ist nichts weniger als Apathie, sondern der Zustand stiller geistiger Heiterkeit, in der man mit Vergnügen seinen Gedanken nachgeht, die dann auch von einem merkwürdig glatten Flusse sind. Ich werde hierauf bei der Besprechung des Geistes zurückkommen. Bezüglich der Wetterfestigkeit kann ich mich kurz fassen, da ich in meiner oft citirten früheren Schrift mich ausführlicher ausgesprochen und meine weiteren Forschungen mir keinen Anlass gegeben haben, das dort Gesagte zu modificiren, es sei denn durch die folgende Erweiterung: Ausser der Entwässerung kommt noch zweierlei in Betracht : 1 ) der continuirlich hohe Durchblutungszustand der Haut, der stets unter dem gefässerweiternden Einfluss des Luststoffes in der Wolle steht und jede stürmische Schwankung der Blutvertheilung verhindert, und 2) der Umstand , dass der niedere Duftstoffstand für die Entstehung eines pathischen Affectes die gleiche Wirkung hat wie für die der cerebralen Affecte. Um eine Darstellung von dem Masse der bei uns eingetretenen Wetterfestigkeit zu geben, weise ich nicht blos darauf hin, dass bei meinen acht Familienmitgliedern seit Einführung des Wollregimes, also seit länger als einem Jahre, nicht die geringste Erkältungskrankheit vorgekommen ist, und dass mir von zahlreichen Personen, die meine Bekleidung angenommen haben, das Gleiche versichert wird, sondern ich habe auch noch ein paar absichtliche Erkältungsversuche zu erwähnen: Im Februar ging ich mit vier meiner Kinder auf eine der Höhen um Stuttgart. Das Wetter war trübe, stürmisch, Temperatur 311 etwa 9 ° Celsius. Wir trieben ein gymnastisches Spiel , bis wir ordentlich erhitzt waren , dann setzten wir uns eine Viertelstunde lang auf den noch feuchten Boden in den stärksten Windzug ; keines von uns hatte einen Ueberzieher oder ein Halstuch. Im März machte ich am gleichen Ort einen noch riskirteren Versuch, woran auch meine Frau und mein jüngstes Kind (von 6 Jahren) Theil nahmen. Die Luft war zwar wärmer als beim ersten Versuch es war Sonnenschein aber der Boden war noch kälter und feuchter; überall lagen noch Schneestreifen , und das Spiel meiner Kinder bestand darin, dass sie in einem grossen derartigen Schneestreifen umhersprangen , sich mit Schneeballen bewarfen uud dabei natürlich völlig durchnässte Füsse bekamen. Meine Frau setzte sich auf ein paar übereinander gelegte Steine, ich legte mich der Länge nach auf den Rasen , der so nass war, dass mir die Feuchtigkeit durch Rock und Beinkleider schlug ; der Luftzug war dabei ziemlich lebhaft. Ueberkleider trug keines von uns. In dieser Lage verblieben wir durch 3/4 Stunden. Nachtheile ergaben sich weder aus dem einen , noch dem andern Versuch. Einen unbeabsichtigten Erkältungsversuch führte mein ältester Sohn aus. Er fiel im Februar in einen Teich , liess sich aber dadurch nicht in seiner sonstigen Beschäftigung im Freien stören und kam erst nach Hause, als seine Kleider ihm auf dem Leibe ge- trocknet waren. Unsere Wetterfestigkeit ist also jedenfalls nicht mehr viel geringer, als die eines in seinem natürlichen Haarkleide steckenden wilden Thieres , das sich ja auch nicht erkältet , wenn es sich auf den nassen, kalten Boden legt, oder wenn es genöthigt ist, im Winter ein Wasser zu durchschwimmen. Des Menschen Weichlichkeit ist keine angeborene , sondern durch unnatürliche Domestication erzeugt ; auch können wir uns derselben auf die angegebene Weise binnen weniger Monate völlig entledigen. 27. Die Heilkunde. Schon die früheren Kapitel werden den Lesern klar gemacht haben, dass die Entdeckung der Seele auch reformirend in die Heilkunde eingreifen muss. Ich will jetzt einen Ueberblick darüber geben und demselben die Detailfunde , die ich auf diesem Gebiet gemacht , einfügen. Es erhebt aber das Folgende durchaus nicht den Anspruch , etwas Erschöpfendes zu sein. Ich will die Sache in zwei Rubriken bringen, je nachdem wir es mit endogenen oder exogenen Duftstoffen zu thun haben. Zur ersten Rubrik gehört die Lehre vom Fieber. Hier erkläre ich unbedingt Alles, was in den medicinischen Compendien über das innerste Wesen des Fiebers gesagt ist, für ungenügend. Die Ursache des Fiebers ist das Auftreten bestimmter Duftstoffe in der Säftemasse. Schon das muss darauf führen : Wir sprechen vom Kanonenfieber, Verdauungsfieber, fieberischer Angst, fieberischer Geilheit, fieberischer Freude etc., kurz bei allen jenen seelischen Vorgängen, für die ich in den früheren Kapiteln Duftstoffe als Veraniasser nachgewiesen, hat der Sprachgebrauch längst des Wortes „Fieber" sich bemächtigt. Auf der andern Seite kann sich Jeder, der es noch nicht weiss , überzeugen , dass nicht nur bei den obengenannten Fiebern, sondern auch bei den pathologischen Fiebern der Ausdünstungsduft bedeutend verstärkt und qualitativ anders ist , als im gesunden Zustand. Ich stelle desshalb der herkömmlichen Fieberlehre eine neue und zwar, wie ich fest überzeugt bin, richtigere gegenüber : Das Fieber ist ein Symptom einer intensiveren (örtlichen oder allgemeineren) Eiweisszersetzung (Selbsteiweiss oder Objecteiweiss), und die Erscheinungen des Fiebers sind nichts anderes als die Wirkungen des der Eiweisszersetzung entstammenden Duftstoffes, den man in der Ausdünstung des Fieberkranken zu riechen bekömmt. Der Augenblick ihrer Entbindung ist der erste Fieberschauer 313 oder Fieberriesel, von dem d asselbe gilt, was ich S. 159 vom Affectriesel und Affectschauer sagte. Der weitverbreitete Volksglaube , dass es sich bei den Krankheiten um einen bestimmten Krankheitsstoff handle , der aus dem Körper entfernt werden müsse, beruht auf der sinnlichen Wahrnehmung, dass der Kranke anders duftet als der Gesunde, und dieser Glaube ist auch in dem Sinn richtig : Wenn der Fieberduft verschwunden , d. h. ausgestossen ist, resp. nicht mehr entbunden wird, dann ist auch das Fieber gehoben. Das pathologische Fieber ist also nichts anderes als ein pathischer Affect , vom physiologischen Affect durch nichts unterschieden als durch Quantum und Quale des betreffenden Duftstoffes. Um es anders auszudrücken : die Seelenstoffe sind nicht nur die Triebstoffe, Instinctstoffe und Affectstoffe , sondern auch die Fieberstoffe. Dies führt uns auf die praktisch wichtige und verwerthbare Seite dieser Fieberstoffe und zwar zuerst für die Diagnose , nämlich auf die Riechbarkeit der Krankheiten. Die ersten Verdienste in dieser Richtung scheint sich - nach meiner Kenntniss der einschlägigen Literatur -- der berühmte Berliner Arzt Geheimerath ERNST LUDWIG HEIM erworben zu haben. Er constatirte , dass der Geruch das sicherste Mittel sei, um Scharlach , Masern und Rötheln zu erkennen und zu unterscheiden. Dass Pockenkranke einen specifischen Duft ausströmen , ist jetzt ebenfalls bekannt. Aber damit hat es sein. Bewenden nicht ; man kann fast jede Krankheit am Duft erkennen. HEIM scheint das auch gekonnt zu haben. Ich lese in KESSLER, Leben Ernst L. Heim's Leipzig 1835, II. Theil S. 222 : ,,Seine Eigenthümlichkeit ist besonders treffend von REIL gezeichnet. HEIM weiss nicht, sagt REIL, wie er die Leute curirt. Unsereiner sieht, fragt und forscht wochenlang, ehe er zu behaupten wagt, er wisse , wo die Krankheit sitze . Ruft man nun HEIM, SO tritt er in seiner leichten Manier herein , sieht kaum nach dem Kranken , fragt ihn oft nicht einmal und sogleich trifft er den Punkt, auf welchen uns erst eine lange , mühsame Combination geleitet hat. Allerdings pflegte HEIM nicht erst vielfache gelehrte Vergleichungen dieser und jener Erscheinungen anzustellen. Die Lage des Kranken im Bette , sein Athmen , seine Stimme , seine Farbe, seine Gesichtszüge, der Geruch im Zimmer sagten ihm oft im ersten Moment , was kein Compendium der Semiotik zu lehren vermag. Wir erwähnen einen Fall. HEIM wird zu einem im heftigsten Fieber liegenden Kinde gerufen. Sobald er dasselbe gesehen und den Puls gefühlt hat , eröffnet er den Eltern , ihr 314 Kind sei betrunken und werde morgen völlig gesund sein. Die Eltern halten den Doctor selbst für betrunken, bis die Amme gesteht, Branntwein genossen zu haben." Die Lösung ist sehr einfach : HEIM, der, wie aus Allem hervorgeht, einen sehr feinen Geruchsinn hatte, musste den Alkohol riechen. Dr. M. schreibt mir , wenn er und sein Bruder als Knaben sich eine Flasche Wein in ihrem Zimmer versteckten, selbst im Kleiderkoffer, brauchte ihre Mutter blos in's Zimmer zu treten, um den Schatz sofort zu riechen. Herr Stadtdirectionsthierarzt SAUR in Stuttgart behauptet : Wenn er einen Krankensaal betrete , könne er sofort sagen , ob ein Kranker mit acutem Gelenkrheumatismus in demselben sich befinde, und denselben am Geruch entdecken. Er habe das oftmals anderen Aerzten bewiesen. Herr Dr. V. RAU, Director der landwirthschaftlichen Akademie in Hohenheim, der seiner Zeit Medicin studirt und seines feinen Geruchsinnes wegen bekannt ist , versichert mir, Schwindsuchtkranke unfehlbar an dem süsslich- säuerlichen Ausdünstungsduft zu erkennen. In gleichem Sinn sprachen sich auch Laien gegen mich aus. Ich behaupte nun : Jede Krankheit, bei welcher entweder ein fremdes Ferment thätig , oder in irgend einem Organ eine intensivere Eiweisszersetzung im Gang ist, muss mittelst des Geruchsinnes unbedingt und sicher erkannt werden können, und ich halte es für einen grossen Fehler, dass man über der physikalischen Diagnostik die chemische Diagnostik in der Medicin so völlig vernachlässigt. Man wende mir nicht ein , nur wenige Menschen röchen so fein , um sich auf ihre Nase verlassen zu können, denn das ist nicht richtig. 1 ) In vielen Fällen ist der Duft so stark , dass selbst ein Stumpfsinniger ihn riechen muss. Ein solcher Fall war z. B. jüngst in Stuttgart stadtbekannt . Eine sehr populäre , auch mit mir befreundete öffentliche Persönlichkeit starb an einer acuten Nierenaffection , der Harnduft seiner Ausdünstung war so stark, dass er nicht blos das Zimmer , sondern das ganze Haus füllte, was Hunderte von Besuchern gerochen haben. 2) Die Düfte sind meist so ausnehmend deutlich verschieden, dass die Diagnose für jeden Geübteren möglich sein muss. Ich besitze z. B. in meiner Duftsammlung den des Scharlach , der so charakteristisch ist , dass ihn jeder erkennen kann. Man übe eben auf den Hochschulen die Studirenden der Medicin im Beriechen , indem man hierzu mittelst Wäschestückchen oder sonstwie gesammelte Krankendüfte benützt. Wer es nicht riechen lernt , der taugt eben nicht zum Arzt und fällt durch's Examen, 315 oder er wende sich der Chirurgie zu . Allerdings werden es nicht Alle dahin bringen , jederzeit schon beim Betreten des Krankenzimmers die Krankheit auf Entfernung zu riechen , allein dann drücke man die Nase in die Haare oder berieche den Athem der Kranken , dann muss man es wahrnehmen. Offenbar gibt es bereits nicht wenig Aerzte, die das fertig bringen und es wird mir Einer namhaft gemacht , der seine Patienten nicht blos beriecht, sondern sogar beleckt , was ganz vortrefflich ist , denn man muss die Krankheitsstoffe auch schmecken können. Ich bin fest überzeugt : der Erfolg, mit dem so oft Curpfuscher, Harnbeschauer und dergl. Leute dem diplomirten , mit allen Kenntnissen und allen Hilfsmitteln der physikalischen Diagnostik ausgerüsteten Arzte Concurrenz machen, rührt häufig daher, dass diese Leute die Krankheiten mit der Nase sicher diagnosticiren. Für die Patienten ist das Befragen, Betasten, Behorchen, Beklopfen, Entkleiden häufig sehr fatal, sie kommen sich vor wie ein Thier , das der Metzger abgreift. Man muss den Kranken wecken, stören , belästigen, wenn man ihn physikalisch untersuchen will; das Alles fällt bei der chemischen Untersuchung weg. Durch Beriechen der Zimmerluft, des Athems, des Nachttopfes, wird ein feinsinniger, geübter Arzt meist orientirt sein, ohne den Kranken irgendwie belästigen zu müssen, und dass das Publikum einem solchen dann unbedingt den Vorzug geben wird , liegt auf der Hand. Die Zeit wird nicht ferne sein, in der die Lehrer der Medicin diese Seite der Diagnostik nicht mehr werden ignoriren dürfen, sonst kann es ihnen gehen wie den Chemikern, denen jüngst von der Tribüne des deutschen Reichstages von einem Laien zugerufen wurde: Zur Weinprüfung brauchen wir keinen Chemiker , uns sagt in dem Stück unsere Zunge, unsere Nase mehr , als sie allesammt wissen !" Wo oft passirt es einem Arzt , dass er einer feinriechenden Mutter gegenüber, die sich von einem früheren Scharlach- oder sonstigen Exanthemfall im Hause her den specifischen Duft gemerkt hat und ihn in einem zweiten Fall wieder erkennt, in gröbliche Verlegenheit kommt ! Das würde nicht vorkommen, wenn er sich in der chemischen Diagnostik geübt hätte. Nach der therapeutischen Seite hin bemerke ich noch Folgendes : Es handelt sich bei der Therapie, insbesondere der des Fiebers , in der That um die Beseitigung besonderer Krankheitsstoffe, und das sind 1 ) das Wasser, wie ich in meiner mehrerwähnten Schrift (,, Seuchenfestigkeit etc. ") nachwies , 2) die pathischen Duftstoffe , die ich für noch viel wichtiger als das Wasser halte. 316 Somit sind für die Therapie zunächst zwei, jedoch in der Praxis , wie schon im Früheren genauer gezeigt wurde , glücklicherweise zusammenfallende Indicationen gestellt : Entwässerung und Entduftung (Desodorisation) , also möglichste Steigerung der Respiratio invisibilis und der Schweissbildung , selbstverständlich in Verbindung 1 ) mit vollkommenster Ventilation des Krankenzimmers, 2) mit Anwendung von duftmordenden Räucherungen, Verstäubungen und Inhalationen. Ich prognosticire deshalb dem von mir schon oft erwähnten, ausgezeichnet duftmordend wirkenden Ozogen des Herrn Burk und ähnlich wirkenden Präparaten eine bedeutende Zukunft in der Heilkunde und kann die Aerzte nur dringendst auffordern , sich desselben zu bedienen, denn es wirkt, wie ich gezeigt habe, nicht blos auf die Luft des Zimmers desodorisirend, sondern mordet auch ohne Weiteres die Düfte in der Säftemasse des Lebenden , ist also selbst da, wo die Zimmerventilation nichts zu wünschen übrig lässt, ausgezeichnet. Die ersten Versuche machte ich bei den cerebralen Affecten, namentlich dem Zorn , worüber ich schon früher berichtete , und zwar mit hohem, stets sicherem Erfolg, sodass ich einen mit Ozogen geladenen Refraichisseur geradezu eine Affectfeuerspritze nennen möchte. Dann erprobte ich dasselbe bei meinen zahlreichen Inhalationsversuchen, so dass ich jetzt geradezu vor Beginn eines Versuches mich mit Ozogen von etwaigen endogenen Duftstoffen befreie und nach dem Versuch im Stande bin , sofort die Inhalationswirkung auf den Psychometer durch Ozogen zu beseitigen, sodass ich wieder einen Versuch vornehmen kann. Die affecttödtende Wirkung ist nicht blos am Psychometer zu objectiviren, sondern auch subjectiv überaus deutlich . Ich führe dafür ein Zeugniss an: Einer meiner Freunde, Finanzrath Dr. S. , besuchte mich etwa zwei Stunden, nachdem er gespeist hatte. Als ich ihm von der Sache Mittheilung machte, bat er mich, ihm das Ozogen zu zeigen. Ich verstäubte nun solches in der Luft , und schon nach einer Minute rief er aus : es sei doch wirklich merkwürdig, er laborire jeden Tag nach Tisch um diese Zeit so regelmässig an einer psychischen Verstimmung und Depression , dass er sich längst in dieselbe als in etwas Natürliches und Unvermeidliches gefügt habe; er habe es auch eben jetzt , als er eingetreten, so stark wie je gehabt , und nun sei es plötzlich wie weggeblasen , er fühle sich vollkommen frisch und erholt. Ich schloss daraus, es müsse auch bei den pathischen 317 Affecten wirksam sein, denn die günstige Wirkung duftmordender Räucherungen in Krankenzimmern ist ja längst bekannt. Die ersten Versuche machte ich mit dem Kopfschmerz , an welchem die meisten Frauen während der Menstruation zu leiden haben, und von dem es auf der Hand liegt , dass er „ Duftkopfschmerz“ ist. Der Erfolg ist bei meiner Frau jedesmal ein ganz vollständiger, d. h. das Ozogen muss immer und immer wieder im Zimmer verstäubt werden, weil es natürlich das Nasciren des Menstrualduftes nicht sistirt, sondern nur die freien Duftstoffe, die allein wirksam sind, zerstört. Die Tobsucht ist ein Affect wie jeder andere , d. h. das Resultat einer intensiven Eiweisszersetzung ; durch das von mir angezeigte Entwässerungsverfahren werden wir mit der Verminderung der Zersetzbarkeit des Eiweisses prophylaktisch dem maniakalischen Anfall zu Leibe gehen können , und mit dem diesodorisirenden Regime wird auch die nachtheilige , dem Katzenjammer nach einem Rausche gleichende , von den freigewordenen Duftstoffen herrührende , zerrüttend wirkende Alteration auf ein Minimum reducirt werden können. Bei letzterer Indication wird das Ozogen ohne Zweifel eine nützliche Rolle spielen können, vielleicht kann man damit in bestimmten Fällen selbst den maniakalischen Anfall coupiren. Einige Versuche, die ich jüngst mit Ozogen in der Irrenanstalt zu Schussenried anstellen durfte, gaben, zwar kein bestimmtes Resultat, aber veranlassten doch Herrn Director Dr. AST, die Versuche selbst fortzusetzen. Wenden wir uns nun zu den exogenen Duftstoffen. Hierzu ist folgende allgemeine Vorbemerkung zu machen : Die Duftstoffe sind im Sinne der Pharmakodynamik sogenannte Specifica. Nun ist es jedem Arzt und Apotheker bekannt, dass die sogenannte physiologische Schule die frühere Methode der Therapeuten, deren Arzneischatz wesentlich Specifica waren, angegriffen und aus der officiellen Medicin nahezu verdrängt hat, so dass lange Zeit fast nur das Chinin den Posten der Specifica mit Erfolg vertheidigte. Nachdem die „exspectative" Methode, welche die erste Consequenz der neuen Richtung und als Experiment sehr werthvoll war, an dem Widerstand der Patienten , die eben actives Eingreifen verlangen , und sich nicht lange mit Aqua colorata hinter's Licht führen lassen, gescheitert war, sah man sich nach neuen Heilstoffen um, und da eroberten sich denn neben den physikalischen Methoden (Elektricität, Gymnastik, Kaltwassercuren) sehr bald zwei Agentien eine hervorragende Stelle : 1 ) die Heilquellen , 2) das, was man Luftcur nennt. Ich werde nun zeigen, dass man damit wieder vollständig zn den ogenannten Specifica zurückgekehrt ist . - 318 1 ) Die Heilquellen. Als ich den Duftstoff in der getragenen Wolle mittelst des Psychometers entdeckt hatte, schoss mir der Gedanke durch den Kopf: das von den Chemikern und Aerzten so lange vergeblich gesuchte wirksame Princip der sogenannten indifferenten Thermen könne ein ähnlicher Duftstoff, der als Luftgas resp. Nervinum wirkt, sein. Ich schrieb an meinen Freund Hofrath Dr. RENZ in Wildbad , dessen Schrift (,, Die Heilkräfte der indifferenten Thermen") ich in erster Auflage bereits gelesen hatte. Er sandte mir nebst der zweiten Auflage , in welcher er mit Bestimmtheit den Bäderdunst", den „Brunnengeist" des Volkes, als das wirksame Princip denuncirt (was in der . mir allein bekannten ersten Auflage noch nicht geschah) eine Probe des Thermalwasser. Meine Vermuthung bestätigte sich auf das Glänzendste. Hier das Resultat : 99 Durch eine 5 Minuten lange Inhalation aus einem einzigen Glase Wasser, das ich auf Quellwärme gebracht hatte, fiel meine Nervenzeit von 125 Ms. auf 89,2, also um 35,8 Ms ! Um zu zeigen, welche mächtige Action das ist , führe ich an, dass meine Nervenzeit bei einer gleich langen Inhalation aus einem Glase Champagner von 147,8 auf 104,4 Ms., also um 43,4 Ms. gefallen war. Mein Freund Dr. S. machte Nachmittags das gleiche Experiment mit kaltem Wasser aus der nur noch halbvollen Flasche : seine Nervenzeit ging von 136,8 auf 106, also um 30,8 Ms. herunter , und endlich gewann die Frau des Herrn Dr. S. beim gleichen Versuch einen Rückgang von 121,8 auf 83,8 , also um 38 Ms. ! Ich verdanke sodann der Güte des Herrn Hofrath Dr. KUEHNE in Wiesbaden eine Probe des dortigen Kochbrunnens und der des Herrn Dr. BAUMGAERTNER in Baden-Baden eine solche der dortigen Lithionquelle. Die Untersuchung hatte denselben Erfolg : in allen drei Brunnen steckt ein specifisch riechender Duftstoff, der ein exquisites Nervinum ist. Die Specifität verräth sich nicht blos dem Geruchsinn, sondern wird durch die Aufschreibungen des Psychometers in eclatanter Weise bestätigt , indem jede Therme eine andere Schwankungscurve der Nervenzeit gibt. Das ist nicht blos speciell höchst interessant, sondern auch methodologisch, denn der Psychometer entpuppte sich mir hierdurch als eine Art von Spektralapparat für Duftstoffe, d. h. jeder differente Duftstoff liefert eine andere Schwankungscurve. Allerdings, -wenn man mit einem und demselben Duftstoff zu verschiedenen Zeiten operirt , so fallen die zwei Curven nicht ganz gleich aus was seine sehr guten Gründe hat allein doch so ähnlich, dass es sich nur um eine Verbesserung der Messungsmethode handeln wird, um Uebereinstimmendes zu erhalten. 319 Ich gebe nun in Folgendem eine Tabelle meiner bisherigen Prüfungen dieser Sache, zu deren Verständniss ich noch Folgendes anführe : Jede der Ziffern ist das Mittel aus 10 Messungsacten. Die Ziffern der ersten Reihe sind gewonnen ohne Wirkung eines Duftstoffes . Sie zeigen, wie ganz allmählich durch Ermüdung eine Ver- langsamung der Nervenzeit eintritt. Die folgenden Reihen enthalten die Schwankungscurven der betreffenden Duftstoffe und zwar so die erste Ziffer gibt die Nervenzeit vor Beginn der Inhalation. Dann wurde 5 Minuten lang (bei dem sehr concentrirten Oenanthäther und Amylalkohol 2 Minuten lang) inhalirt und darauf die zweite Ziffer genommen ; zwischen die Ermittelung der übrigen Ziffern fiel jedesmal eine 2-3 Minuten dauernde neue Inhalation , während welcher ich das Glas an die Nase hielt und mit einem Löffel darin rührte. Während der Messung selbst stand das Glas vor mir auf dem Tisch ; die Inhalation inclusive Messung dauerte 20-25 Minuten. 1) Ohne Inhalation 117,6-123,0 – 124,2—129,6-132,6-135,4-137 2) absol. Alkohol 3) Amylalkohol 4) Oenanthäther 5) Baden-Baden 6) Wiesbaden 7) Wildbad 120,4-117,4-110,8-118,8-130,6-135,2-123,4 105,6-104,6-104,6- 94,6-123,8-121,0-117,8-95,8 132,2-101,0- 92,2-122,2-106,4- 83,6-108,6 128,2-140,6- 88,4-112,8—83,6 96,4 91,4-95,2 124,899,2- 79,2-120,0-128,4-125 120,0-101,0-97,0- 92,2- 87,8-72,0-80. Ein Blick aufdiese Ziffern genügt, um die ungemeine Verschiedenheit der drei Brunnengeister zu constatiren : Baden- Baden macht regelmässige Oscillationen auf und ab, die nur allmählich schwächer werden , aber noch in letzter Instanz eine Verschnellerung der Nervenzeit um 33 Ms. geben . Die Curve ist ähnlich der des Oenanthäthers. Wiesbaden bringt rasch eine hohe Verschnellerung hervor , die aber auch rasch wieder nachlässt und mit einer der Anfangsziffer gleichen Höhe endet. Wildbad dagegen bringt eine stetige, fast bis zuletzt anhaltende und den höchsten Betrag, nämlich 48 Ms. , erreichende Verschnellerung hervor; von den drei Bädern hat es den kräftigsten Brunnengeist. - Noch merkwürdiger werden die Differenzen , wenn man, statt blos die Mittel zu vergleichen , die einzelnen Messungsacte, zur Herstellung einer graphischen Kurve benützt hierbei zeigt sich ein höchst charakteristischer Rhythmus für jeden der Stoffe. Ich nehme jedoch von der Publikation dieser Detailcurven vorläufig Abstand; zu ihrer exacten Feststellung gehören zahlreichere Versuche, die ich erst machen kann , wenn ich mehr Musse habe als jetzt. Dem Fachmann brauche ich wohl die Consequenzen dieser meiner Detailentdeckung , welche plötzlich eine empfindliche, von 320 den Chemikern trotz eifrigsten Suchens gelassene Lücke schliesst, nicht auszumalen ; weitere Leserkreise möchte ich aber darauf aufmerksam machen. Meine Seelenentdeckung muss doch nicht so ganz verrückt gewesen sein , wenn sich in ihrem Verfolg so capitale Entdeckungen wie die der „ Brunnengeister" einstellen . 2 ) Die Luftcur. Hier steht mir zunächst nur eine psychometrische Entdeckung zu Gebot. Dieselbe fällt zeitlich zwischen die des Wollduftes und die der Brunnengeister. Schon früher hatte mich die notorische Thatsache interessirt, dass kuhwarme Milch entschieden zuträglicher wirkt , als die gleiche Milch, wenn sie abgestanden oder gar abgekocht ist ; ich brachte damals die Kohlensäure damit in causale Verbindung. Als ich die Inhalationsaffecte entdeckt hatte , lenkte sich mein Verdacht sofort auf den specifischen Duft der Milch. Ich combinirte nun damit 1) die Thatsache , dass der Effect der Milchcuren ein noch höherer wird , wenn man die Milch im Stalle selbst trinkt ; 2 ) die Thatsache, dass die Luft der Kuhstallungen notorisch günstig auf Kachektische verschiedener Art , insbesondere Schwindsüchtige wirkt , weshalb man Kranke früher dort schlafen liess . Meine Vermuthung wurde auf's Glänzendste, d. h. durch eine unerwartet hohe Ziffer bestätigt. Zuerst nahm ich das Mittel meiner Nervenzeit : es war 118,6 Ms., dann ging ich in die einen Kilometer entfernte Melkerei, aber ohne den Stall selbst zu betreten , und holte die Milch . Als ich nach einer halben Stunde nach Hause kam, betrug meine Nervenzeit 119,4, also nur 0,8 Ms. Differenz gegen vorher, dann inhalirte ich den Milchduft 5 Minuten aus dem Glas , während ich umrührte. Jetzt war die Zeit 99,8 Ms. , nach weiterer Inhalation von 2 Minuten Dauer 80 Ms. , also 39,4 Ms. Differenz ! Hierauf trank ich die Milch ( 2 Liter) und erhielt nach 7 Minuten Pause eine Nervenzeit von 81,8 Ms. Die nervöse Wirkung geht also auch hier, wie ich es für Bouillon, Brod und Champagner nachgewiesen habe, blos vom Duftstoff aus. Diese Entdeckung wirft auch Licht auf die Thatsache , dass das Kind an der Mutter Brust besser gedeiht als an der Saugflasche : es verliert hier nicht nur nichts von dem Milchduft, sondern es athmet dabei den sympathischen Hautduft der Mutter in intensivster Weise ein. Hier muss ich nun auch auf den für Männer sympathischen Fraue nduft, von dem ich schon früher sprach, zurückkommen, denn es ist mir seitdem ein Fall zu Ohren gekommen, der mir deshalb von so grossem Werth ist , weil ich alle dabei betheiligten Personen kenne . Schreinermeister H. in O., ein zuverlässiger, intelligenter Mann, 321 --- jetzt 41 Jahre alt, Vater von fünf gesunden Kindern, von denen das älteste 17 Jahre alt ist , wurde als junger Mensch von dem mir gleichfalls persönlich und wegen seiner Tüchtigkeit und seiner sichern Diagnose allgemein bekannten Oberamtsarzt Dr. Z. in R. an hochgradiger Tuberkulose behandelt. Kurz bevor er sich 23 Jahre alt verheirathete , wurde ihm von Dr. Z. erklärt , er habe höchstens noch ein halbes Jahr zu leben und auch nur unter der Voraussetzung , dass er sich jeder Arbeit enthalte und sich vor Allem sorgfältigst in Acht nehme. Nach seiner Verheirathung mit einer kräftigen , gesunden , jetzt noch hlühend aussehenden Frau besserte sich sein Zustand sofort, und gegenwärtig ist der Mann vollkommen gesund. Er hat zwar im Bau der Brust unverkennbar den hektischen Habitus , allein keinerlei Lungensymptome und ist von einer, für seine Körperfigur überraschenden, im ganzen Ort bekannten Muskelstärke. Sein früherer Arzt war selbst nicht wenig von dieser Heilung betroffen und rieth ihm, sich dafür bei seiner Frau zu bedanken. Dahin gehört auch , was ich schon früher erwähnt , dass nach dem allgemeinen Volksglauben Mädchenschullehrer, welche fortgesetzt den Mädchenduft einathmen, selten schwindsüchtig werden. - Warum können wir diese Düfte, die jetzt unbenutzt verloren gehen, nicht ebenso gut sammeln, wie die Parfümeure die Blumendüfte ? Man lege den Kühen mit Olivenöl getränkte Tücher auf den Leib und presse sie nachher aus, dann hat man ein Kuhduftöl, wie der Parfümeur sein Veilchenöl, und damit kann jedem Krankenzimmer die heilsame Kuhstallatmosphäre verschafft werden. — Ebenso leicht kann man die Düfte junger , kräftiger Menschen mittelst Auflegen fettgetränkter Tücher auf die Haare des Lebenden sammeln und als Medicin verwenden und so diesen Theil der Volksmedicin , den bisher ausser armen Schullehrern eigentlich nur Geburts- und Geldfürsten geniessen konnten (siehe S. 134) , Jedem zugänglich machen. Ich prognosticire dem Menschenduft und Kuhduft noch eine grosse Zukunft für die jetzt noch so hoffnungslose Therapie der Tuberkulose. Auch von einer anderen Seite präsentirt sich ein animalischer Duftstoff als Medicament. Veranlasst durch meine früheren Publicationen über die Gehirnseelenstoffe schickte mir Herr ADOLF GAUL in Gnoyen in Mecklenburg eine Schrift ( ,, Cerebrotherapie") ein, in welcher ein aus gleichen Theilen Ochsenhirn und Weingeist durch mehrmonatliche Digerirung bereiteter „ Balsamum cerebri" allerdings mit etwas überschwänglichen, mich Anfangs misstrauisch machenden Worten als ein äusserst kräftiges Arzneimittel vom Charakter eines Nervinum beschrieben wird. Das Resultat der Jaeger, Entdeckung der Seele. 21 322 · psychometrischen Untersuchung hat diese Angabe vollauf bestätigt, wie folgende Zifferreihe bei einer 20 Minuten langen Inhalation beweist (jede Ziffer , Mittel aus 10 Acten) : Vor Inhalation 117,6 Ms., nach Inhalation 90-88,6-1878-98, 4-92,4-104 Ms. Ja , 20 Minuten nach Beendigung der Inhalation rief mich eine deutlich subjectiv fühlbare Aufregung noch einmal an den Messtisch , und ich erhielt noch Nervenzeiten von 74 Ms. und als ein Mittel aus 10 Acten : 101,4 Ms. Dieses Ergebniss ist nicht blos pharmakodynamisch interessant, sondern auch methodologisch. Es bestätigt sich meine ursprüngliche Vermuthung, dass die specifischen Duftstoffe der Thiere aus deren Fleisch gerade so durch Digeriren mit Weingeist gewonnen werden können, wie die der Früchte und Pflanzen, und zwar indem wir hierbei die Luststoffe, d. h. die Bouquette gewinnen. Dieser Fund des Herrn GAUL ist deshalb der höchsten Beachtung werth. - - Was ist das wirksame Princip in der Waldluft, der Ge- birgsluft? Ozon , Sauerstoff, Temperatur, Luftdruck? Mit Nichten ! Es sind das vielmehr, meiner festen Ueberzeugung nach, durchaus Specifica , nämlich die specifischen Emanationen der Pflanzen : die Pflanzenseelen, die Pflanzentriebstoffe, die auch das wirksame Princip unserer Frühlingsluft in den Niederungen sind. So lange die Pflanzen im Triebe sind, verduften sie ihre Triebstoffe in die Luft und schwängern damit die ganze Atmosphäre. Das sinkt quantitativ ganz bedeutend, sobald der Frühjahrstrieb vorüber ist, wir können aber diese Luft wieder finden, wenn wir in's Gebirge hinaufgehen, wo der Frühlingstrieb natürlich später beendigt ist, als in der Ebene. Mit Recht legt man einen hohen Werth auf Baumpflanzungen in den Städten, aber radical falsch war die Meinung der Chemiker und Hygieiniker, es geschehe das mit Rücksicht auf die Sauerstoffentbindung; diese ist quantitativ so unbedeutend, dass jene Annahme geradezu lächerlich wird. Das Wirksame sind auch hier, wie in der Waldluft, sicher die specifischen Duftstoffe, welche dem Baum entströmen. Der Baumtrieb ist jetzt leider vorüber , so dass ich die Sache nicht mehr psychometrisch prüfen kann, allein ich sehe dieser Prüfung mit der festen Zuversicht entgegen, dass sich meine Vermuthung hier genau ebenso bestätigen wird, wie beim Wollduft, Milchduft, Brunnenduft , Frauenduft , Speisenduft etc. , denn über alle diese Entdeckungen bin ich nicht per Zufall gestolpert, sondern habe sie stets vorhergesagt. Durch diese meine Funde muss unbedingt die Aufmerksamkeit der Therapeuten wieder auf die so vernachlässigten Specifica und speciell die Duftstoffe gelenkt werden. Die physiologische Schule hat völlig Unrecht gehabt, mit der Dufttherapie zu brechen und 323 merkwürdig : Hier wie überall stosse ich auf die Thatsache, dass , ,,was kein Verstand der Verständigen sieht , das übet in Einfalt ein kindlich Gemüth", das Volk hat allerwärts mit Zähigkeit an seinen Specificis, an seiner Duftmedicin fest gehalten, es trinkt noch alle seine Theesorten, vom Kamillenthee bis zum zusammengesetzten Kräuterthee, reibt noch alle seine Salben und Essenzen ein , die früher gebräuchlich waren , bindet sich den wollenen Strumpf um den kranken Hals oder auf den Kopf, wenn es Kopfschmerz hat, trotzdem es fortwährend von den diplomirten Aerzten darüber verlacht wird. Das Volk findet eben, dass es ,, probatum est", und meine Entdeckungen geben ihm Punkt für Punkt Recht. Vom Wollstrumpf habe ich schon zur Genüge gesprochen; zur ausführlichen psychometrischen Prüfung der Volksmittel hatte ich noch keine Zeit. Ich habe nur flüchtig zwei der gebräuchlichsten Theesorten untersucht ; hier das Resultat : 1) Kamillenthee. 1) Vor Inhalation 2) nach 4 Min. Mittel aus 10 Messungen 3) nach weiteren 4 Min. 130,4 Ms. 138,0 Ms. 145,0 Ms. Maximaldifferenz 42 Ms. Also die beruhigende Wirkung liegt klar zu Tage. 42 Ms. 62 Ms. 2) Hollunderthee. Mit diesem bekam ich folgende Reihe: Vor Inhalation 116,6 ; nach derselben successive : 91,694,8 116,496,4113,2 103,6. Hiermit ist die erregende Wirkung vollkommen klar und der Rhythmus der Schwankungskurve wieder ganz specifisch. Ich habe das Glück gehabt, nähere Einsicht in die alte, volksthümliche Dufttherapie nehmen zu können , und zwar in der Heilanstalt der Frau ELISE REGLIN in Marbach bei Radolfszell. Schon Anfangs , ehe ich meine Entdeckung über die Duftwirkung gemacht habe, staunte ich über verschiedene therapeutische Erfolge dieser Anstalt, in welcher fast nur mit einst volksthümlichen, jetzt von der officiellen Medicin ignorirten Duftstoffen gearbeitet wird, unter anderem auch schwächliche Kinder zu kräftigen , gesunden Wärterinnen in's Bett gelegt werden. Neuerdings hat diese Frau ein bisher noch nicht gelöstes therapeutisches Problem , den Aussatz (Lepra) , zu heilen unternommen und fast durchgeführt, wofür nicht blos ich, sondern auch die Kliniker der Universität Tübingen Zeugen sein können , da die Cur eine Zeit lang unter ihren Augen im dortigen Krankenhause ausgeübt wurde , um für etwaige Zwischenfälle die beste operative Hilfe zur Hand zu haben. 21 * 324 Die Therapie ist eben nur allzu getreulich den Fusstapfen der Experimentalphysiologie gefolgt , welche ebenfalls die Duftstoffe ignorirt hat, weil sie nichts mit ihnen anzufangen wusste, resp. auch in ihren von Düften aller Art erfüllten Laboratorien gar nichts mehr roch. Wer nun blos das, was ich in diesem Buche über die physiologische Wirkung der Duftstoffe ziffermässig festgestellt habe, aufmerksam beachtet und erkannt hat, dass kein einziges Kapitel der Physiologie durch meine Entdeckung auf dem gleichen Platz gelassen wird , es ferner kein Organ , keine Function im ganzen Körper mehr gibt, welche sich der Einwirkung der freien Duftstoffe entziehen kann, wie schon z. B. wenige Minuten Inhalation eines Duftstoffes genügen, die Nervenerregbarkeit in der einschneidendsten Weise zu ändern, der wird sich bald darüber klar sein, dass die Duftmedicin in dem jetzt beginnenden Abklärungsprocess wieder zu Ehren kommen muss. Ich lade die Pharmakodynamiker ein, sich einen Psychometer , wie ich ihn benutze , anzuschaffen und damit unseren Arzneischatz durchzuprüfen, und sie werden ebenso überrascht sein, wie ich es war, als ich mit den physiologischen Duftstoffen zu operiren begann. 1 ) Sie werden finden , dass man eine ganze Reihe von Arzneistoffen gar nicht zu schlucken braucht, um die Wirkung zu haben, da diese lediglich von deren Duftstoffen ausgeht. Wer da weiss, wie schwer es häufig ist, Kinder und andere Kranke , auch Thiere zum Schlucken zu bringen , wird begreifen, welche ungeheuren Vortheile es bietet , wenn an die Stelle der Schluckmethode die Inhalationsmethode gesetzt werden kann.. 2) Sie werden finden, dass eine Reihe von Arzneistoffen völlig mit Unrecht in Vergessenheit gekommen und ausser Gebrauch gesetzt worden sind. 3) Während wir bisher unsere Arzneistoffe der Hauptsache nach aus dem Pflanzenreich und Mineralreich genommen haben, muss sich auf Grund meiner Experimente mit den animalischen Düften die Arzneimittellehre auch diesen zuwenden. Ich füge noch folgende Bemerkung hinzu : Wenn man den Entwickelungsgang der neueren Medicin seit dem Auftreten der kritisch-physiologischen Schule der ich übrigens ihr reinigendes Verdienst durchaus nicht absprechen will verfolgt hat, so muss man zugestehen, dass dieselbe sich überlebt hat. Eine Zeit lang beherrschte sie das Feld und glaubte nicht nur mit der Volksmedicin, die man den sogenannten Curpfuschern überliess, sondern auch mit der von HAHNEMANN begründeten , im Gegensatz zu ihrem Kriticismus „gläubigen" Medicin, der 325 . Homöopathie, rasch fertig zu werden. Quod non ! Nicht nur die Volksmedicin ist heute stärker als je , behördlich anerkannt und hat hervorragende praktische Vertreter und Vertreterinnen, sondern auch die Homöopathie hat eine Machthöhe und Ausbreitung erlangt , die man noch vor einem Jahrzehnt für völlig unmöglich gehalten hätte. Und die herrschende physiologische Schule ? Ihr Kriticismus ist immer weiter in Hyperkriticismus , ja geradezu in Nihilismus ausgeartet , dem Alles, selbst das Vertrauen zu sich selbst , abhanden gekommen ist. Was Wunder , da die Aerzte nicht selbst an sich glauben , dass ihnen auch das Publikum nicht mehr glaubt , und sich der „,gläubigen" Medicin, der Homöopathie , oder den Wunderdoctoren zuwendet, und andererseits , da ihnen der Allopath statt Arznei Geduld anempfiehlt, nach der Polizei ruft, Gesundheitsämter, Gesetze gegen Lebensmittelfälschung und Sanitätspolizei verlangt: „ Wenn der Arzt erklärt, er könne die Krankheit nicht heilen , so soll mich die Polizei vor dem Krankwerden schützen ! “ Ich glaube, der Ausdruck „ abwirthschaften" wird dem gegenüber nicht zu stark sein. In dem gegenwärtigen Kampf wird meiner Ansicht nach weder der Allopath, noch der Homöopath siegen , sondern das, was von beiden Theilen gut und wahr ist ; aber wenn der Allopath bisher über die Wirkung der kleinsten Dosen der Homöopathen lachte, so wird der Homöopath im Hinweis auf meine Inhalationsversuche — bei denen ja dem Gewichte nach unsagbar kleine Mengen die frappantesten Wirkungen liefern — ein äusserst kräftiges Argument für sich gewinnen. Einer wie der Andere wird genöthigt sein, sich bei der Volksmedicin wieder Raths zu erholen; der Homöopath aber wird entschieden weniger Demüthigungen erfahren, denn er hatte nur Eins verloren : gewisse Heilmittel ; der Allopath dagegen hat nicht nur diese verloren, sondern, was noch schlimmer ist, den Glauben an die Heilbarkeit der Krankheiten und das Vertrauen zu sich selbst, was dem Homöopathen nie abhanden kam. - - Das scheint mir die Bedeutung meiner Entdeckung für die medicinische Praxis zu sein. Mit Bezug auf die Praxis der Physiologen kann ich mich kürzer fassen : 1 ) Alle Vivisectoren arbeiten in einem Körper , dessen Functionen durch den Angststoff sammt und sonders modificirt sind, und diese Thatsache gibt vielen experimentellen Resultaten derselben nur eine sehr bedingte Richtigkeit. 2 ) Die Nichtbeachtung der Duftstoffe bewirkt, dass fast sämmtliche Kapitel der Physiologie einer Umarbeitung und Richtigstellung bedürfen. 326 3) Die zahlreichen Forscher, wie HELMHOLTZ, HANKEL, HIRSCH, DONDERS, PFLÜGER, de JAAGER u. A. , welche mittelst des auch von mir gebrauchten oder eines ähnlichen Messapparates eine absolute Ziffer für die Nervenleitungsgeschwindigkeit finden wollten, aber zu den widersprechendsten Resultaten gelangten, weil sie die Wirkung der Düfte auf diesen Factor der Nervenphysiologie nicht kannten, werden über meine Entdeckung am meisten betroffen, aber auch am ersten in der Lage sein, die Richtigkeit meiner Angaben zu bestätigen oder zu widerlegen, wozu ich sie hiermit einlade mit dem Bemerken : qui tacet, consentit. Anhangsweise mache ich noch die therapeutische Angabe, dass sich meine Wollkleidung als die beste Entfettungscur erwiesen hat. Die Wirkung ist eine sehr energische , aber nicht stürmisch und ganz ohne die depressorische, oft geradezu gefährlichen Nebenaffecte anderer Curen. Der Gang meines Gewichtsverlustes war folgender : April ( 1878) 80 Kgr. , Mai 77,80 , Juni 77,60, Juli 77,02 , August 76,5, October 77, November 77, December 76,5, im Juni 1879 endlich 72 Kilo. Also die Hauptabnahme fiel erst in's zweite Frühjahr, betrug aber gegen den Anfang 6 Kgr.d. i.7,5 Proc. Einer meiner Freunde, der sehr an Fettsucht litt, schreibt mir, am 21. Juli dieses Jahres : „ Im April d . J. habe ich Deine Bekleidung und nächtliche Bedeckung angenommen. Alle Deine Angaben über die Vortheile derselben fand ich völlig bestätigt. Du kennst mich als « dicken Kerl» , jetzt habe ich an Umfang mehr abgenommen, als vor zwei Jahren durch eine 7 wöchentliche Bantingcur, und zwar nicht wie bei dieser mit Abnahme der Kräfte , sondern so, dass ich mich ungewöhnlich frisch und kräftig fühle (vigor des Lateiners)" u. s. f. Das Merkwürdigste ist, dass umgekehrt sehr magere Personen an Fleisch gewinnen . Das Gewicht meiner Frau stieg von 51 auf 60 Kgr. ! Von zwei anderen mir bekannten Damen gewann die eine binnen drei Monaten 5 , die andere 10 Kgr. Fin 25 jähriger kräftiger, aber hagerer Mann, der im Herbst vorigen Jahres 73,7 Kgr. wog, wiegt jetzt 77,3, also um 3,6 Kgr. mehr, und hier ist ganz charakteristisch : er verlor dabei 14 Centim. Bauchumfang, dagegen stieg sein Brustumfang so, dass er seine Röcke erweitern lassen musste. Dies beweist deutlich, dass die Gewichtszunahme nicht Fett-, sondern Fleischansatz ist. Ein zweiter 45 jähriger Mann hat durch meine Kleidung schon in 4 Wochen sein jahrelang unverändertes Gewicht von 66 Kgr. auf 68 gebracht. 28. Die Verwitterung. Als Anhang zur Desodorisation will ich noch einige Mittheilungen über die Verwitterung" machen , die eigentlich das Gegenstück zur Desodorisation bildet. 99 Man versteht darunter die Uebertragung eines Duftes auf einen andern Gegenstand. Jäger und Fischer machen hiervon ausgedehnten Gebrauch, um ihrem Köder, ihren Fallen etc. einen entsprechenden , anziehenden Duft zu verleihen oder abstossende Düfte zu decken , aber man bedient sich ihrer auch bei lebenden Wesen , um die psychischen Beziehungen zu beeinflussen, wobei sich also wieder die Duftstoffe als die „seelischen" Stoffe manifestiren. In dem Aufsatz Nr. 2 habe ich bereits einige Fälle angeführt ; ich füge denselben zunächst eine Mittheilung von Dr. M. hinzu. ,,Im Jahr 1851 , als ich zufällig in Pest war , kam der berühmte amerikanische Pferdebändiger RAREY an , um seine Productionen zu geben , wofür ich mich lebhaft interessirte. Da ich englisch spreche, so machte RAREY mir manche intime Mittheilungen. Er zähmte die wildesten Pferde , sowohl in Privatställen, wie bei Tag im Circus , blos vor Sportsleuten. Er sagte mir: «Von den 5 Sinnen des Pferdes ist der allergeringste das Auge ; besser steht es schon mit dem Maule, noch besser mit dem Hufe , sehr excellent mit dem Ohre , aber am höchsten mit den Nüstern , mit dem Geruche. >» Er liess das wildeste Pferd in den leeren Circus , wo er vorher ein Taschentuch hingeworfen hatte. Zuerst raste das Pferd wie toll an dem unbekannten Orte umher, schlug und biss um sich. Plötzlich stiess es auf das weisse Tuch am Boden; es stutzte , bäumte sich , zitterte am ganzen Leibe, kehrte um, raste weiter, mit Vermeidung der Stelle, wo das Tuch lag. Da sich dasselbe aber nicht rührte , blieb das Pferd endlich ängstlich in einiger Entfernung davon stehen , streckte den Hals 328 lang vor , beroch es von Weitem , dann immer näher ; schliesslich betupfte es das Tuch mit dem Hufe, warf es umher und endlich ganz zur Seite und machte von da ab seine Rundgänge in völlig beruhigtem Zustand . Nun trat RAREY ein, sprach das Pferd englisch an , wobei es die Ohren anzog , ging muthig mit erhobener rechter Hand auf das Thier los und schmierte ihm mit der Hand die Nüstern ein. Von da ab folgte ihm das Pferd mit erhobenem Kopfe , wie in der Luft riechend , durch den ganzen Circus , liess sich von ihm berühren , dann fassen , endlich besteigen . Eine Peitsche gebrauchte er nie , denn er sagte : je wilder ein Pferd, desto weniger darf man es schlagen. Als ich ihn frug, was er dem Pferde zu riechen gegeben , lachte er mir in's Gesicht und erwiderte : « Well, ich hatte vorher die Hand in die Hose gesteckt und an die Hoden gehalten und ebenso hatte ich auch das Taschentuch zuvor an meinem Hodensack abgewischt. Bei Ihren Tschikos (Pferdehirten) können Sie das Gleiche sehen , und noch Aergeres !» Später gab RAREY englisch und deutsch eine Broschüre über sein Verfahren heraus, die sehr interessant ist, aber in ihr kommt nicht eine Silbe von diesem Kniffe vor; dazu war er zu sehr prüder Engländer. Ich habe mich hierauf bei verschiedenen ungarischen Pferdehirten erkundigt , und sie erzählten mir ungenirt, wie sie sich ein Pferd durch ihren Körperduft zum Sclaven machen. Der Ungar , als geborener Reiter, hat vor allem die Tugend , dass er sein Pferd , auch das elendeste, verhältnissmässig reiner hält als sich selbst. Er isst nicht, trinkt nicht , ja flieht nicht bei Verfolgung , bevor nach starkem Ritt - sein Ross geputzt , gestriegelt, gewaschen ist. Dafür allein schon ist ihm das Ross so ungemein anhänglich. Dann schläft er mit dem Ross, spielt dem Hengst am Hodensack und dem Gliede jedoch ohne es sexual zu reizen , greift sich selbst an die Hoden , lässt das Thier an der Hand riechen, hält ihm seine Fusssocken an die Nüstern und spuckt ihm in's Maul; ist es eine Stute, so spielt er ihr an der Scham Sodomie treibt er aber nie. Nun ist das Thier von seinem Körpergeruch so imprägnirt (und er mit dem Körpergeruch des Pferdes. JGR.), dass es ihn auf weite Entfernung und mitten aus einem Menschenknäuel heraus riecht und das Haus findet , in dem er sich aufhält. Jeder Tschikos und Betyar hat selbstverständlich eine Geliebte , seine « Rose» (rosza , auch sie nennt ihn rosza) . Bei ihr sucht er aber nicht blos Liebe , sondern auch Schutz und Versteck, also muss das Pferd zuallererst von diesem Verhältniss unterrichtet werden, und es wird auch, wenn noch so entfernt von der Geliebten , durch Dick und Dünn allein den Weg zu ihr finden. Da der Reiter glaubt , sein Pferd verstehe 329 alle seine Worte , so spricht er stets mit demselben , raunt ihm alle seine Geheimnisse in's Ohr, warnt es vor Feinden, feindlichen Orten und Anzeichen und schwatzt ihm natürlich auch stundenlang von all' den Reizen und der Seelengüte der Geliebten , verspricht ihm , die « Rose» werde es mit goldenem Hafer traktiren u. S. W. Bringt nun das Ross den Reiter zur Geliebten , so streichelt und küsst diese das Ross , und sobald es mit ihr allein ist und frisst, schmiert sie ihm ihren Schoossduft um die Nüstern und weiss nun , das Thier werde sicher jeder Zeit den Weg zu ihr finden." Ich erinnere dabei an folgende Thatsachen : CATLIN berichtet in seinem Werk über die Wilden Nordamerika's , dass sie wildeingefangene Mustangs in gleicher Weise durch Verwitterung an sich fesseln. Ferner: Unsere Hundehalter thun vielfach ganz Aehnliches und stets mit sicherstem Erfolg. Sobald sie einen Hund bekommen, so verwittern sie ihn durch Spucken in's Maul, durch Abreiben der Nase mit den Fusssocken, durch Verabreichung von Brod , das sie mit Achselduft oder Genitalduft beschmiert haben, oder sie lassen den Hund auf Wäschestücken schlafen u. s . f. Der Effect der Verwitterung ist natürlich theils geistiger, theils seelischer Natur. Geistig insofern, als das Thier jetzt den Herrn kennt und erkennt, sein Duft ist ihm bekannt. Der andere Effect ist seelisch , und darüber ist Folgendes zu sagen: Alle Thiere, insbesondere aber die feinriechenden und temperamentöseren, sind ungemein empfindlich gegen Düfte anderer Lebewesen und namentlich für Inhalationswirkung: Ein fremder, ungewohnter Duft wirkt von der Säftemasse aus höchst different, d. h. als starker Reiz. Das hört auf, sobald das Thier mit dem Duftstoff imprägnirt wird , und das ist genau dieselbe Erscheinung wie die , dass der Duft einer Speise uns nicht mehr reizt , wenn wir uns durch Einathmung mit ihm imprägnirt haben. Ein Duft, dessen Reizstärke vorher leicht die Zornschwelle oder gar die Angstschwelle erreichte , ist nach erfolgter Imprägnirung nicht mehr im Stande, eine bis zur Zorn- oder gar Angstschwelle gehende Reizung hervorzubringen , er erreicht nur noch die Lustschwelle, ist also „ Lustduft" geworden. Dadurch ist auch der Kniff RAREY'S völlig verständlich. Ein wildes, „, menschenscheues" Pferd ist ein solches, das nicht nur überhaupt , sondern insbesondere durch menschliche Duftstoffe leicht Ueberreiz erleidet. Indem RAREY das mit seinem Körperstoff imprägnirte Taschentuch dem Pferde vorwarf, zwang er es, sich per inhalationem mit seinem Duft zu imprägniren , und wenn RAREY nun in Person kommt, so kann sein Duft nicht mehr als „ Ueber- 330 reiz" auf das Pferd wirken , im Gegentheil : er ist Lustduft geworden , und so ist ,, instinctive Sympathie" künstlich hergestellt. Dass hierzu wenige Minuten Inhalation genügen , beweisen meine Experimente. Dieses ,,physische Verwitterungsgesetz", wie man es recht wohl nennen kann , spielt auch bei dem Verkehr der Menschen untereinander eine Rolle. Wie ich aber im Voraus bemerke, besteht zwischen Selbstduft und Objectduft eine sehr tiefe , schneidende Dissonanz ; so wird die Verwitterung die Dissonanz zwar zu mildern, allein nicht zu heben im Stande sein ; eine solche Antipathie ist unheilbar. Ist dagegen die Dissonanz gering oder ist eben nur der Duft quantitativ zu stark , so dass der antipathische Effect lediglich Ueberreiz ist, so muss die Verwitterung eine physische Zusammengewöhnung zur Folge haben. So kann z. B. manche Verstandesheirath , bei welcher lediglich keine ,,seelische" Harmonie bestand , zur Entwickelung instinctiver Sympathie führen , sobald sich die beiden Gatten gegenseitig genügend verwittert haben. Diese gegenseitige Verwitterung beim ehelichen Zusammenleben erzeugt auch noch eine Gruppe anderer Erscheinungen , die nur so ihre Erklärung finden. Dr. M. schreibt mir ohne dass ich ihn auf die Sache aufmerksam gemacht hätte : „Ich beobachtete viele alte Ehepaare , die sich fort und fort liebten , z. B. Zschokke und sein Bärbeli , Justinus Kerner und sein Rickele , ein altes Ehepaar in Rh. sie bekommen fast dieselben Gesichtszüge , dieselben Gewohnheiten , die gleichen «Geschmäcker», ja dieselben Leibesfunctionen ich sah sie stets genau nach einander auf den Abort gehen und häufig , wenn das eine stirbt, folgt das andere bald nach. " -- - Ich füge dem bei : auch der Ausdünstungsduft wird bei beiden immer ähnlicher. Hierüber habe ich von den verschiedensten Seiten Mittheilungen erhalten , die ich zum Ueberfluss durch die Erfahrungen in meiner eigenen Familie bestätigen kann. Höchst interessant ist die auch dem Volk bekannte Uebereinstimmung der Physiognomien , denn sie wird zu einem der kräftigsten Verdachtsgründe für meine Behauptung, dass die Duftstoffe die vires formativae sind. Endlich noch Eins : Dr. M. schreibt mir : „ Ich bemerke als Anhang zu dem über die Pferde Gesagten : In allen Ländern, die ich bereiste , überzeugte ich mich , dass bei allen Sympathiemittel , die zur Heilung von Krankheiten meist von alten Weibern gemacht und verordnet werden , sowie bei den nicht nur in früheren Jahrhunderten, sondern auch noch heute beim niedern 331 Volk gar nicht so selten gebrauchten « Liebestränken» Frauenschoossduft beigem ischt wird. " Ich habe darüber weiter nichts erfahren können , allein da alle Naturvölker bei ihren Hausthieren die Verwitterung, d. h. die Herstellung von Sympathie durch Körperduft üben , so mussten sie mit Nothwendigkeit darauf verfallen , dies auch auf die Beziehungen von Menschen unter einander anzuwenden, sowie andererseits auf den Einfall kommen , dass diese Düfte auch kräftige Heilmittel seien, was, wie wir früher gesehen, auch durchaus kein. Aberglaube ist. Nachdem Vorstehendes bereits geschrieben war, erhalte ich zwei Briefe , aus denen ich nachstehend das Wichtigste ausziehe: I. „In einigen Gegenden Böhmen's (aber nur auf dem Lande) lässt man einige Tage vor der Hochzeit Braut und Bräutigam durch einen gewissen Zeitraum (gewöhnlich eine Nacht hindurch) allein beisammen und zwar mit der Absicht « aby se sčuchli» , wörtlich : « damit sie sich zusammenriechen. » So nennt man im Böhmischen ein inniges Bekanntwerden. Das Sprichwort «ich kann den Menschen nicht riechen (cititi) » haben wir auch, und cítiti heisst nicht nur « riechen» , sondern auch <fühlen (offenbar merkt man den Inhalationsaffect. JGR. ) . Prag , 20. Juli 1879. FR. BAYER, prof. cand. II. „Mein specielles Studium sind die südafrikanischen Völker, insbesondere die Hottentotten. Zu diesem Behufe habe ich mich Jahre lang abwechselnd unter den Nama quas und Buschmännern aufgehalten. Eines Tages nun sah ich Folgendes : Eines Kaufes wegen war ich im Hause eines Hottentotten, als plötzlich der Schwiegervater des Mannes von einer langen Reise heimkam. Der alte , ehrwürdige Kerl begrüsste alle Anwesenden sehr freundlich. Als nun sein Enkelchen, ein dreijähriger Knabe, an ihn herankam, setzte sich der Alte auf einen Feldstuhl , legte den Kleinen über die Kniee , mit dem Rücken nach unten, deckte seine Genitalien auf und küsste und sog buchstäblich an dem Gliede des kleinen Burschen herum , und dieser machte den Eindruck, als habe er sich diese Procedur schon oft und gern gefallen lassen. Die Handlung mochte etwa zwei Minuten dauern, gerade als ob der alte Knabe sich nicht satt riechen und schnüffeln könne. » Nachher kam der Alte zu meinem Wagen. Ich nahm ihn bei Seite und sagte : « Sag mal, warum berochest und küsstest Du diesen Morgen das Glied Deines Enkels ?» « Aré ! (Ausruf der Verwunderung) thun denn das die Weissen nicht auch ? Wir 332 haben unsere Kinder lieb und wollen den Geruch von ihnen haben, » antwortete der Alte mit einem höchst unverfrorenen Gesichte. «Was für einen Geruch?» fragte ich. « Nun welch' einen Geruch denn anders, als den Liebesgeruch. » Seitdem habe ich öfter Gelegenheit gehabt, dieselben Scenen zu beobachten und dieselben Antworten auf meine Fragen zu erhalten . Wenn einem Hottentotten eine Sache nicht geheuer ist, und ein anderer gewahrt es , kann man oft die Frage hören : Tarëëts tá ham = was thust Du riechen ? Bekanntlich geben die Zauberdoctoren bei den Kaffern vor, den Uebelthäter zu riechen. Strömt etwa der Unglückliche , der den Hass des Zauberdoctors kennt , den Geruch der Furcht aus ? (Hier spielt jedenfalls die Riechbarkeit der Krankheiten mit eine Rolle . JGR . ) . In aufrichtiger Hochachtung Ihr ganz ergebener Stellenbosch, 30. Juni 1879. THEOPHILUS HAHN." (Cap der guten Hoffnung. ) 29. Pflanzenseele. In diesem Frühjahr säte eine meiner Töchter die Küchenkräuter in meinem Hausgärtchen an. In ihrer Abwesenheit fragte ich eines Tages die Pflänzchen waren kaum sichtbar geworden -- das Dienstmädchen , ob sie nicht wisse, was in das Beet , auf das ich deutete, gesät worden sei. Ohne sich zu besinnen, bückte sie sich, pflückte ein Pflänzchen, brach es und sagte kurz : ,, gelbe Rüben !" ,,Und dort, " fragte ich ; dasselbe Manöver: ,, Kerbel !" "" Weiter drüben ?" ,, Bohnenkraut!" So! Vor etwa 10 Jahren fand ich Käferlarven auf einer mir damals unbekannten , schon ziemlich hochgewachsenen Pflanze (es war Johanniskraut, Hypericum perforatum) und fragte einen jetzt gestorbenen, anerkannt tüchtigen Professor der Botanik nach dem Namen der Pflanze. Derselbe erklärte mir : da die Pflanze noch nicht blühe, so könne er es mir nicht sagen. Also : das Volk kennt heute noch die Pflanzenseele praktisch, aber die wissenschaftliche Botanik ignorirt sie , gerade so wie die Zoo-Physiologie die Thierseele ! Auf einem Spaziergang kann sich Jeder überzeugen, dass die Pflanzen specifisch verschieden und generisch ähnlich duften , und dass an einer und derselben Pflanze jeder morphologisch verschiedene Theil verschieden duftet , die Blätter anders als die Blüthe, der Pollen anders als die Narbe, der Samen anders als die Pollen, der Kern anders als die Frucht u. s. f. Also in dem Stück verhält sich die Pflanzenseele wie die Thierseele, und die Frage ist : Spielen die Pflanzen düfte dieselbe physiologische Rolle für die Pflanze , welche ich für die thierischen Düfte nachwies? Ich bin kein Botaniker, kann mich deshalb auch nur auf einige Andeutungen beschränken , dieselben werden aber genügen, um die obige Frage mit ,, Ja" zu beantworten. Die erste Frage ist : Gilt das Gesetz der Sympathie 334 und Antipathie der Ausdünstungsdüfte auch für die Verhältnisse von Pflanze zu Pflanze? Mein botanischer College , Herr Dr. KIRCHNER in Hohenheim, den ich darum befragte, wusste mir nur mit den Worten des THEOPHRAST, Hist. plant. IV, 16, 6 zu antworten : ,,Einige Pflanzen tödten andere zwar nicht , aber sie verschlechtern sie durch die Kraft ihrer Säfte und Düfte, wie z. B. der Kohl und der Lorbeer auf den Weinstock wirken ; denn er soll sie riechen und an sich ziehen (?) . Wenn daher die Rebe ihnen nahe kommt , so soll sie wieder umkehren und ausweichen, als sei ihr der Geruch widerwärtig. Androcydes benutzte diesen Hinweis , um als Mittel gegen den Weinrausch den Kohl anzuwenden, da der Weinstock auch im Leben diesen Geruch fliehe." Dr. KIRCHNER fügte hinzu, ob es wahr sei, wisse er nicht“. Ich erzählte ihm darauf das Nachstehende : Mehrere Freunde und ich haben uns zusammen Wohnhäuser nach englischem System in einem Block gebaut, jedes mit einem Hintergärtchen. Längs der die Gärtchen in einer Flucht abgrenzenden Hinterplanke hatten wir sämmtlich voriges Frühjahr uns von einem und demselben Gärtner die gleichen Rebsorten einpflanzen lassen. Während bei all' meinen Nachbarn die Reben sehr schön antrieben und Schösslinge von über Meterlänge bildeten, blieben meine Reben sammt und sonders erbärmlich zurück; einen hielt ich lange für ganz abgestorben, und keiner trieb Schösslinge, die länger waren als einen Fuss ich hatte längs der ganzen Wand vor den Reben Kohlraben gepflanzt, meine Collegen nicht! Bekannt ist, dass bei manchen Pflanzengattungen eine nahestehende Art eine andere vom Standort vertreibt ; in solchem Verhältniss stehen Achillea atrata und moschata, Primula elatior und officinalis, Rhododendron alpinum und hirsutum. Somit vertreibt die stärkere Art die schwächere ich glaube jetzt : durch Duftstoffe . • - Ueber Sympathiebeziehungen zwischen Pflanzen, gegründet auf Duftwirkung , scheinen ebenfalls exacte Beobachtungen noch auszustehen, allein dass es eine solche geben muss, ist für mich zweifellos. Die thatsächlichen Verhältnisse der Symbiose von Pflanzenarten im Sinne des Mutualismus beruhen sicher auf Duftharmonie. Ich halte es für falsch, zu glauben, das constante Zusammenwohnen gewisser Pflanzenarten, das wir in jedem Wald, auf jeder Wiese beobachten können , rühre nur davon her, dass sie eben die gleichen Standorte lieben. Auch die Thatsache, dass Pflanzen, die gewöhnlich gesellig leben, auf vereinzeltem Standorte nicht gedeihen , deute ich ebenfalls so , denn dass die 335 Wirkungen der Selbstbestäubung und Fremdbestäubung hier nicht die allein massgebenden sind, beweist der Umstand, dass ein vereinzeltes Exemplar einer geselligen Pflanze schon deutlich kränkelt, zu einer Zeit, wo noch gar keine sexualen Functionen ausgeübt werden. Am besten gedeihen dagegen junge Tannen, welche unter der Dachtraufe von anderen Tannen stehen, während die Dachtraufe von Buchen ungünstig auf sie wirken soll ; wenn das wahr ist, so können dabei nur Duftstoffe wirksam sein. Für meine Vermuthung, dass die Düfte in den Beziehungen der Pflanzen unter einander eine wichtige Rolle spielen , scheint auch folgende Stelle aus JUSTINUS KERNER'S Reiseschatten ( S. 412 der Gesammtausgabe von 1834) , auf die ich von befreundeter Seite hingewiesen werde, zu sprechen : ,,Eine jede Pflanze kann, wenn sie beinahe schon am Verwelken ist , durch eine bestimmte andere, welche man neben sie pflanzt, wieder erfrischt werden. Ein welkender Rosenstrauch wird durch neben ihn gepflanzten Lauch wieder in's Leben gebracht. So sucht jede Pflanze eine ihr freundliche, ihr Tod ist Trennung von ihr oder Niefinden derselben. “ - - Da diese Verhältnisse nicht blos wissenschaftlich hoch interessant sind , sondern auch in der Praxis bei der Lehre vom Unkraut, von der Fruchtfolge u. s. f. eine wichtige Rolle spielen müssen, wenn sich meine Vermuthung woran ich jetzt keinen Augenblick mehr zweifle bestätigt, so müssen diese Verhältnisse zwischen zwei Pflanzen mit einigen technischen Ausdrücken fixirt werden. Ich schlage für die ganze Lehre den Namen Paraphytologie vor. Eine Pflanze, welche schädlich auf ihren Paraphyten wirkt, nenne ich einen Dysparaphyten, eine günstig wirkende einen Euparaphyten. Bei der Dysparaphytie hat man dann wieder zu unterscheiden : 1 ) den Fall der Gegenseitigkeit ; 2) den Fall der Einseitigkeit, der dem Verhältniss von Raubthier und Beutethier entspricht und bei den „ Unkräutern" vorliegt ; das Unkraut ist der active Dysparaphyt, die verdrängte Nutzpflanze der passive. Dafür, dass Pflanzen auf Düfte reagiren, führe ich auch folgenden Passus aus einem Aufsatz von CARUS STERNE (Gartenlaube 1875, S. 166) an: „Mrs. Treat befestigte eine lebende Fliege einen halben Zoll hoch über dem Blatt einer Drossera ; nach 40 Minuten war es merklich aufgebogen und nach weiteren 40 Minuten hatte es das Thier ergriffen. ZIEGLER hat gefunden , dass alle todten Eiweisssubstanzen nur dann einen Reiz auf die Blätter der Drossera hervorzubringen vermögen, wenn man sie vorher eine kurze Zeit 336 zwischen den Fingern gehalten hat (sie also mit dem Duftstoff éines lebenden Wesens verwittert sind. JGR. ) ; legte er sie, ohne die Finger zu gebrauchen, mit einer Zange auf die Blätter, so übten sie keine Wirkung. Befestigte er andererseits einen Klumpen Blut- Eiweiss, welchen er vorher eine halbe Stunde in der Hand gehalten hatte, in der Nähe der Pflanze, so hatte sie nach 24 Stunden gänzlich ihre Empfindlichkeit für Eiweissstoffe verloren (Hungerstillung durch Duftwirkung! JGR. ) . Dagegen wurden die Blätter nunmehr durch Chinin, welches in Papier geschlagen war, gereizt (Hungerweckung durch einen Bitterstoff ? JGR. ). " Eine weitere Gruppe hierher gehörender Erscheinungen entnehme ich der Düngerlehre. Die modernen Pflanzenphysiologen sprechen hier immer nur von Salzen und Stickstoff, davon wusste der Bauer früher nichts, aber seit undenklichen Zeiten nennt er den Dünger die Seele" der Landwirthschaft, wieder ein Beweis, dass ich mit meiner Deutung des Wortes Seele", als eines specifischen Duftstoffes, Recht habe. Ferner weiss der Bauer, dass zwischen den Pflanzen und den Dungarten verschiedener Thierfamilien ganz eigenthümliche, mit der blossen Salzwirkung völlig unerklärlich bleibende Beziehungen bestehen. Gemüse- Pflanzen gedeihen z. B. bei Düngung mit Pferdemist weit besser, andere besser bei Kuhdünger ; der Kürbis am besten bei Schweinemist, der für andere Pflanzen schädlich ist ; Taubenmist ist für die meisten unserer Culturpflanzen, wie man sagt, zu „ hitzig" . Auch für den Latrinendünger kennt man Sympathie- und Antipathie-Beziehungen. Neulich las ich eine Notiz , derzufolge die Reben ganz besonders gedeihen sollen, wenn man Dünger verwendet, dem Kuhhaare (die Duftorgane der Kuh) beigemengt seien, und in China scheint man die düngende, treibende" Kraft der Haare schon längst und besser zu kennen als bei uns, denn dort werden sogar die Abfälle beim Rasiren von den Barbieren gesammelt und als Dünger verwerthet. So glaube ich denn die Behauptung aussprechen zu dürfen, das Treibende" im Dünger seien mit nichten die Salze, sowenig als sie in der thierischen Speise das Hungerweckende oder Hungerstillende sind, was ich ja bereits nachgewiesen habe, sondern das Treibende sind die Duftstoffe; sie sind in Wahrheit die Seele des Düngers . Dies wird sich ja an den landwirthschaftlichen Versuchsstationen sehr leicht durch mannigfach variirbare Versuche. bei denen die Haare als die Duftträger nicht zu vergessen sind, sehr rasch feststellen lassen. Dass ich hiermit die Botaniker und Landwirthe auf ein dankbares, noch ganz unbebautes und auch praktisch wichtiges Gebiet experimenteller Untersuchung hinweise , brauche ich wohl nicht 337 weiter zu begründen , die LIEBIG'sche Düngerlehre wird durch meine Entdeckung erheblich umgewandelt. Eine weitere Frage ist : Entbindet bei den Pflanzen , so wie ich es für die Thiere nachwies, eine und dieselbe Pflanze je nach Umständen zwei antagonistische Duftstoffe, wie Luststoff und Unluststoff? Da wir bei denselben einerseits von ,,fröhlichem Gedeihen , andrerseits von „ Trauer" sprechen, so existiren jedenfalls diese beiden antagonistischen Zustände, und es fragt sich nur, ob es auch hier zweierlei Duftstoffe sind, welche diese Zustände bedingen. Die früher geschilderte Thatsache, dass wir bei den Pflanzen denselben Gegensatz von Lust- und Angstparasiten haben, spricht ohne Weiteres dafür. Was einen Parasiten anzieht und abstösst, ist stets in erster Linie ein Duftstoff, in zweiter Linie ein Würzestoff, also muss eine Pflanze, bei welcher wir derlei parasitäre Beziehungen sehen , unbedingt über zwei antagonistische Duftstoffe verfügen. Ich führe weiter an: Bekannte Thatsache ist , dass Käfer , deren Larven sich von todtem Holze nähren , solches Holz bevorzugen , das im Saft geschlagen worden ist , dass also im letzteren die eingetretene Saftstockung Düfte entwickelt , die einem im Winter geschlagenen Holze fehlen. Es ist also hier ganz so wie bei der lebenden Pflanze : Wenn Saftstockungen eintreten, so stellen sich die Unlustparasiten ein. Weiter gestatten mir meine eigenen Erfahrungen zu sagen , dass Holz , zu rechter Zeit geschlagen , auch für unsere Nase anders duftet, als ein im Saft geschlagenes . Von mehreren Pflanzen, z . B. den Spargeln, weissen Rüben etc. wissen wir , dass unter gewissen Umständen Bitterstoffe in ihnen auftreten, die unter anderen Umständen fehlen. Sollten dies nicht Angststoffe sein, ähnlich dem Wildpret beim Thier ? Also scheint sich auch in dieser Beziehung die Pflanzenseele genau so zu verhalten, wie die Thierseele. Eine weitere Frage ist : Entstammen die Pflanzendüfte ebenso der Eiweisszersetzung wie die thierischen Düfte? Auch diese Frage glaube ich bejahen zu sollen. - -- Thatsache ist : Keimende Samen z. B. bei der Malzbereitung , beim Keimen des Kressesamens etc. sehr gut zu riechen entbinden massenhaft Duftstoffe, und die Experimentalphysiologie hat nachgewiesen, dass beim Keimungsprocess eine lebhafte Eiweisszersetzung stattfindet. Dasselbe gilt für die Blüthen ; während die grünen Pflanzentheile Sauerstoff aushauchen und meist nur wenig duften, entbindet die Blüthe Kohlensäure, viele Duftstoffe und zersetzt Eiweiss in sich. Jaeger, Entdeckung der Seele. 22 22 338 In einer von Dr. HERMANN MÜLLER herrührenden Besprechung des TAYLOR'schen Blumenwerkes, im Maiheft des Kosmos (Bd. V. S. 156), finde ich die Bemerkung: ,,Da bunte Blumen in der Regel endständig sind oder an besonderen Stielen sitzen , die aus den Achseln der Blätter oder Zweige hervorgehen, so folgt daraus , dass sie sich an den Stellen befinden, wo die Nahrungszufuhr am geringsten ist. " Das harmonirt damit, dass im Thier bei ungenügender Nahrung Eiweisszersetzung unter Entwickelung von Hungerdüften auftritt, und das Gegenstück ist : Wenn man Pflanzen überreichlich ernährt , blühen sie nicht , während Versetzung auf schmale Kost das Blühen begünstigt. Die Eiweisszersetzung in den Blüthen ist constatirt und bringt auch eine Temperatursteigerung hervor , die z. B. ganz besonders gross bei den zu den Ekelpflanzen gehörigen ArumArten ist ; sie beträgt hier mehrere Grade Celsius : ganz in Uebereinstimmung mit den Thieren, da bei letzteren die Entbindung von Ekeldüften auch Folge der Einwirkung besonders starker Zer- setzungsreize auf das Eiweiss ist. Für sich allein genommen sind natürlich diese wenigen Andeutungen über die Pflanzenseele noch nichts - blosse Casuistik. Halten wir sie dagegen mit Dem zusammen , was ich jetzt schon über die Thierseele zu Tage gefördert habe , so stehe ich nicht an, zu behaupten, dass für die Pflanzenseele das Gleiche gilt, wie für die Thierseele , und fasse es in folgende Sätze : 1) Die Pflanzenseele steckt im Molekül des Pflanzeneiweisses. 2 ) Sie ist ein Duftstoff, der erscheint, sobald das Eiweiss zersetzt wird. 3) Bei mässiger Einwirkung der Zersetzungsreize tritt die Seele als Lustduft auf, der die Pflanze in Euphorie versetzt; überschreitet der Reiz die Unlustschwelle , so tritt sie als Ekelduft (Ekel- oder Bitterwürze) auf und versetzt die Pflanze in Dysphorie, mit Ausnahme solcher Pflanzen, bei welchen , ganz wie bei den Trutzstinkern unter den Thieren , der Ekelduft bestimmte biologische Zwecke erfüllt. 4) Saftstockung wirkt als Unlustreiz und entbindet Unluststoffe. 5) Unterernährung entbindet Düfte, die den Hungerdüften der Thiere zu vergleichen sind und andere morphogenetische Eigenschaften haben als die andern Modificationen , in welchen die Eiweissseele entbunden wird ; in diese Kategorie gehören die Blüthendüfte. 6) Die Duftstoffe der Pflanzen wirken nach aussen in mehrfacher Weise : a) Sympathie und Antipathie zwischen Individuen 339 der gleichen Art resp. Individuen verschiedener Arten bedingend ; b) als Instinctstoff auf die Parasiten , Mutualisten und Pflanzenfresser ; c) als Lockdüfte für Kreuzung vermittelnde Thiere ; d ) vielleicht auch als Trutzdüfte gegenüber von Feinden. 7) Wie zwischen den Thieren besteht auch zwischen den Pflanzen das Verhältniss von Sympathie und Antipathie auf Grund von Harmonie und Disharmonie der beiderseitigen Duftstoffe (wozu auch die Wurzelausscheidungen gehören) . Sympathische Pflanzen wirken euphorisch auf ihren Partner , antipathische dysphorisch bis tödtend. Die symbiotischen Verhältnisse der Pflanzen beruhen in erster Linie auf den Beziehungen ihrer Duftstoffe und erst in zweiter Linie auf den Verhältnissen der Arbeitstheilung in Bezug auf die Existenzbedingungen. 8) Die Pflanzen duften nicht blos , sondern sie riechen auch, d. h. Objectdüfte sind für sie sehr empfindliche Lebensreize, und insbesondere spielen die Duftstoffe des Düngers bei ihnen die gleiche Rolle wie die Speisedüfte in der Nahrung der Thiere. In Bezug auf den letzten Satz noch einen Nachtrag : Ich glaube die Beobachtung gemacht zu haben, dass manche windenden und kletternden Pflanzen ihre Stützobjecte suchen , d. h. in wirklich auffälliger Weise nach derjenigen Richtung, in welcher ein für sie sympathischer Duft auf sie wirkt, wachsen. Geeignete Experimente, zu denen ich hiermit auffordere , werden bald ergeben , ob ich Recht habe. Ich schliesse das Kapitel mit der Bemerkung, dass ich glaube gezeigt zu haben : Auch die Botanik hat alle Veranlassung , von der bisher so ausschliesslich gehandhabten „ Salzphysiologie" abund der „ Duftphysiologie" sich zuzuwenden. 22* 30. Bildungstrieb. MANTEGAZZA ist der Erste, der in dieser Richtung das Richtige nicht erfasste, aber ahnte. Er hat , gestützt auf die Erscheinungen, welche man bei castrirten männlichen Thieren beobachtet, den Satz aufgestellt , dass die spermatische Secretion" jene zur Brunstzeit erscheinenden eigenthümlichen Färbungen und morphologischen Besonderheiten erzeuge , die man an den Männchen solcher Arten im Gegensatz zu den weiblichen Thieren beobachtete. - Das ist richtig, aber falsch ist Folgendes : Er meint : die „ spermatische Secretion", also das Sperma in toto, werde „ reabsorbirt“ , durchdringe mit seiner specifischen Natur alle Gewebe und modificire ihre Ernährung. Ich sage : Nicht das ganze Sperma wird reabsorbirt , sondern das morphogenetisch (organogenetisch und chromogenetisch) Wirksame im Samen ist nur der Duftstoff des Samens , die aura seminalis , die eben allein seine „specifische Natur" ausmacht. Aber- und auch darin hat MANTEGAZZA nicht ganz das Richtige getroffen nicht blos der Samenduft ist es , sondern es betheiligen sich am Effect wahrscheinlich alle die Duftstoffe , welche in der Brunstzeit entweder neu oder in vermehrtem Masse auftreten. Ich erweitere überhaupt den Satz dahin: Die Duftstoffe sind die längst gesuchten und bisher nicht gefundenen vires formativae, wie ich schon in dem Aufsatz Nr. 3 sagte. Ich habe in den bisherigen Kapiteln bereits manches in dieser Richtung Bestätigende erwähnt , wie z. B. die Aehnlichkeit der Zwillingsdüfte beim Menschen , das Aehnlichwerden der Gesichtszüge bei alten Eheleuten u. s . f. Ich kann nun noch einige weitere Dinge anführen. Bei der morphogenetischen Rolle der Duftstoffe haben wir zwei Seiten, die quantitative und die qualitative , auseinanderzu halten. Erstere ist der Wachsthumstrieb , die zweite der Formungs- und Färbungstrieb. 341 An den Pflanzen lässt sich am leichtesten beobachten , dass der Beginn einer Wachsthumsperiode stets mit dem Auftreten grösserer Quantitäten von Duftstoffen zusammenfällt. Am objectivsten belehren uns darüber wieder die Pflanzeninsecten , insbesondere die der Bäume. Sobald im Frühjahr der Trieb in den Bäumen erwacht , SO werden die Blüthen- und Knospenstecher sofort angezogen , und sowie durch die Stichöffnungen derselben der Honigsaft ausläuft, sammeln sich sofort zahlreiche, nur in stockfinsterer Nacht fliegende, also nur durch Duft geleitete Nachtschmetterlinge, um den Saft zu lecken. Wir können es aber auch mit unserer eigenen Nase wahrnehmen. Mich haben mehrere feinriechende Personen versichert Sobald sich im Frühjahr die Natur rege, so rieche die ganze Luft und zwar lange , ehe die Vegetation für's Auge auffällig geworden, namentlich lange, ehe irgendwelche „ Blüthen" vorhanden seien , auf die man die Düfte beziehen könne. Dieser Frühlingsduft wirkt auf den Menschen auch inhalatorisch, steigert seine Triebe (z . B. den Geschlechtstrieb , den Wandertrieb) , und die Consequenz dieses „ Umgetriebenwerdens" ist die Mattigkeit, die sich im ersten Frühjahr so leicht einstellt. Siehe auch, was ich im Kapitel „Heilkunde“ über die Frühlingsluft gesagt. Auf eine andere Thatsache habe ich schon oben hingewiesen : In dem Augenblick , wo im Samen der Wachsthumstrieb erwacht ist, duftet derselbe nicht blos anders , sondern auch viel stärker als vorher. Ich weiss wohl, dass der Leser hier sofort die Gefahr der Verwechselung von Ursache und Wirkung wittern wird, allein ich kenne diese Gefahr so gut wie irgend Jemand und lasse mich nicht täuschen. Nach Dem , was wir bisher von der Thierseele kennen gelernt, und nachdem ich ihre Triebkraft für die anderen Triebe nachgewiesen habe, stehe ich nicht an, sie auch hier beim Wachsthumstrieb für das treibende Moment zu erklären. Der schwierigste Punkt ist natürlich der Formungs- oder Bildungstrieb , und doch ist derselbe, wie MANTEGAZZA gezeigt hat, der experimentellen Prüfung leicht zugänglich, nämlich in den Folgen der Castration bei solchen Wesen, bei denen die beiden Geschlechter im geschlechtsreifen Zustand in Form oder Farbe differiren. Die Sache bedarf jedoch noch einer genauern Erörterung . Zuerst Einiges über den Färbungstrieb. Es mag etwa 20 Jahre sein , als unter den Ornithologen die Verfärbungsfrage lebhaft ventilirt wurde. Man fand , dass bei den Vögeln, und zwar in der Regel gegen Beginn der Brunstzeit , eine Verfärbung auftrete , die nicht etwa darin besteht , dass die alten Federn durch neue, andersfarbige ersetzt werden, oder dass die Fär- 342 bung an Lebhaftigkeit verlöre, d. h. verbliche, sondern es verfärbt sich vielmehr die reife Feder positiv , indem entweder eine ganz neue Farbe auftritt, oder eine Farbe , die bisher nur der Wurzeltheil aufwies , mit einem Mal bis in die Spitzen hinaufdringt (das bekannteste Beispiel für letzteren Fall ist das Männchen unseres Buchfinken). Da die Feder , wenn sie ausgereift ist , keine Blutzufuhr mehr erhält, so konnte man sich die Sache lange nicht erklären. Einige wollten eine geheime Mauserung annehmen sie wurden widerlegt. Andere sagten , bei einzelnen Vögeln, wie z. B. beim Buchfinken , rücke die Farbe nicht in die Spitzen vor, sondern die farblosen Spitzen würden abgerieben und fielen ab, sodass die andere Farbe dann an die Oberfläche rücke auch sie wurden mit dem Zollstab widerlegt, und 'da Niemand hinter die Ursache kam , wurde die Verfärbungsfrage von der Tagesordnung abgesetzt. Ich erkläre nun das Auftreten und den Vorstoss der Farbe für Wirkung der Brunstdüfte. Sobald dieselben Chromogene sind, vermögen sie auch die fertige, jede Blutzufuhr entbehrende Feder ohne Weiteres zu färben ; dass aber die Vögel , wie alle Thiere, zur Brunstzeit eine viel stärkere Ausdünstung haben, ist bekannt. Das Castrationsexperiment muss die Frage endgiltig entscheiden. - Bei der Castration ist nun aber noch Folgendes zn bemerken. Sie unterdrückt, und das könnte als Einwand gelten, das Auftreten der sogenannten secundären Geschlechtscharaktere männlicher Thiere nicht völlig , allein die Sache ist sehr einfach. Zur Zeit, in welcher die Castration ausgeführt wird, also nach der Geburt, ist das Thier bereits ein Männchen und hat gewisse männliche Eigenschaften. Die Veranlasser dieser Eigenschaften sind ja schon unmittelbar nach der Befruchtung vorhanden und zwar wie ich in dem Artikel „Pangenesis" wahrscheinlich machte stecken sie im Molekül des Eiweisses , resp. der Nucleïne der Gewebszellen. Diese können nicht entfernt werden, denn die Castration kann nur diejenigen morphogenetischen und chromogenetischen Effecte verhindern, welche von der aura seminalis ausgehen, nicht aber diejenigen, welche ihre Entstehung der vis formativa der Nucleïndüfte der Gewebszellen verdanken. Erstere werden aber auch nur dann unterdrückt, wenn die Castration möglichst frühzeitig vorgenommen worden ist , denn es geht eben vom Hoden schon sehr früh ein Formungs-Einfluss aus, da dessen vegetative Thätigkeit ohne Duftstoffentbindung nicht denkbar ist. Bezüglich der morphogenetischen Wirkung der Brunstdüfte beim Menschen habe ich schon früher auf die Wirkung derselben hinsichtlich des Wachsthums des Kehlkopfes, der sich im Mutiren 343 der Stimme äussert, hingewiesen, dann auf die Thatsache, dass die Barthaare , die Schamhaare in ihrem Auftreten an die Zeit des Erscheinens der Brunstdüfte geknüpft sind. Hier kann ich noch eine neueste Beobachtung einschalten. Bei meinem ältesten Sohn ist soeben der Eintritt in das Pubescenzalter mit Wechsel der Stimme erfolgt und zwar so, dass der Reiz durch den nascirenden Sexualduft sogar Kehlkopf- und Nasenkatarrh und katarrhalische Affection der Bindehaut erzeugt, Schwindelanfälle, periodisch fiebrischen Puls hervorruft. Der Ausdünstungsduft ist qualitativ radical geändert (besonders deutlich in der Achselhöhle) . Dann ist der Junge in den vier Wochen seit Eintritt des Stimmbrechens um 112 Centimeter gewachsen , während er für den gleichen Wachsthumsbetrag unmittelbar vorher fast drei Monate brauchte. Es ist überhaupt das Brechen der Stimme meist von einem starken Wachsthumsschub begleitet : die Sexualdüfte sind eben Triebstoff. Ein anderer Fall, bei welchem die morphogenetische Rolle der Duftstoffe ganz besonders augenscheinlich ist, liegt in dem Einfluss der Gallinsecten auf ihren Wirth vor. Bei der Gallbildung hat man zweierlei Theorien aufgestellt, die physikalische und die chemische. Die erstere besagt: Die mechanische Reizung, welche die Gallmade ausübe , sei die Ursache der Gallbildung. Diese Theorie ist entschieden falsch, sie kann nur erklären, warum überhaupt an der betreffenden Stelle eine Massevermehrung eintritt, allein um zu erklären, warum die Galle an einer und derselben Pflanze, ja an einem und demselben Theil der Pflanze ganz verschieden ausfällt, je nach der Species des Gallerzeugers, muss sie zu den gewagtesten und künstlichsten Hypothesen greifen. So bleibt nur die chemische Theorie, nach der die specifischen Duftstoffe der Gallmade in das Gewebe der Pflanzen eindringen und dort specifisch morphogenetisch wirken ; die Galle ist das Product der gemeinschaftlichen morphogenetischen Thätigkeit der Pflanzenduftstoffe und der Duftstoffe des Gallinsectes , und das steht in völligem Zusammenhang mit den anderen dringenden Verdachtsgründen, dass die Duftstoffe die Formbildner sind. Dann noch Eines zur Vervollständigung des Artikels Pangenesis : Seit ich die überraschende Bekanntschaft mit der Wirkung der Duftstoffe durch Einathmung gemacht habe , scheint sich mir noch ein anderes Räthsel zu klären und ein anderer Weg zur experimentellen Prüfung zu eröffnen , ich meine das sogenannte „ Versehen ". Wie ich jetzt schon oft gezeigt, haben die Gelehrten sehr unrecht daran gethan , wenn sie auf das ,,Volkswissen" , die ,,Bauernregeln" etc. geringschätzig herabblicken , und so bin ich 344 denn auch jetzt durchaus nicht mehr abgeneigt, dem festen, schon in der Bibel niedergelegten Volksglauben beizutreten , dass ein trächtiges Thier , eine schwangere Frau sich an einem anderen Wesen ,, versehen", d. h. Eigenschaften desselben auf die in ihm sich entwickelnde Leibesfrucht übertragen kann; nur ist das Wort , versehen" falsch , weil die Wirkung sicher nicht durch den Gesichtssinn vermittelt wird , sondern dadurch, dass das trächtige Wesen den Ausdünstungsduft der fraglichen Objectperson einathmet. Ich habe ja jetzt zweifellos nachgewiesen, dass die Duftstoffe ihre sonstigen Wirkungen unfehlbar entfalten , mögen sie innerlich entstanden oder von aussen eingeathmet sein, und das wird auch von ihrer Formungswirkung gelten, wenn sie eine solche haben. Allerdings wird das ,, Versehen" an bestimmte quantitative und qualitative Verhältnisse gebunden sein : einmal wird eine länger andauernde oder sonst intensive Einathmung erforderlich sein , dann aber auch eine bestimmte qualitative Beziehung zwischen dem fraglichen Seelenstoffe , also wahrscheinlich sympathische" Beziehung , d . h. eine sehr ausgesprochene Harmonie der Duftbewegungen , so dass eine lebhafte Wirkung auf die lebendige Substanz entsteht. Einem Geistlichen , mit dem ich meine Funde öfter besprochen, verdanke ich die Kenntniss folgender eigenthümlichen , durch beistehende Figur verdeutlichten Erscheinung. In dessen Garten stehen zahlreiche Rosenbüsche derselben Sorte. Ihm fiel nun auf: Während an allen Büschen die rudimentären Blättchen an der Basis des Blüthenstiels einfach, schmal und lanzettförmig sind, siehe Fig. I , b, haben sie bei einem Rosenbusch, der dicht an einem Busch von echtem Gaisblatt (Lonicera caprifolium) steht, sämmtlich eine ganz abweichende Bildung. Sie (Fig. II b u. V) sind bedeutend grösser, breit eiförmig , an der Spitze etwas herzförmig, und aus dem Herzeinschnitt erhebt sich noch ein winziges Terminalblättchen. Auch die weiter abwärts stehenden Blätter zeigen (Fig. III u. IV) eine ungewöhnlich starke Verbreiterung der blattartigen Säume zu beiden Seiten des Blattstiels im Vergleich zu Fig. I a : kurz , hier wie dort eine Neigung der Blätter zur Verbreiterung. Bekanntlich ist das echte Gaisblatt von anderen Loniceren dadurch verschieden, dass die Blätter viel breiter und die oberen sogar an der Basis so verbreitert sind , dass je zwei gegenüberstehende zu einem einzigen, den Stengel völlig umfassenden Blatt verschmelzen. Es wäre natürlich lächerlich , dies sofort als einen Fall vón Versehen" d. h. von morphogenetischer Einwirkung des Gaisblattduftes auf den anstehenden Rosenbusch zu deuten , allein bei den "" 345 a b V I N I zahlreichen sonstigen Verdachtsgründen für die morphogenetische Rolle der Duftstoffe, für den Umstand, dass die Düfte des Düngers notorisch wachsthumstreibend auf die Pflanzen wirken (siehe Kap. 30) , ist a priori die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass exogene Düfte auch formbildend wirken können, und so ist der Fall jedenfalls verdächtig und eine Aufforderung, die bei den Pflanzen vorkommenden individuellen Variationen in dieser Richtung zu prüfen und direct Experimente anzustellen , was ja gar nicht so schwierig ist. Deshalb habe ich auch diesen Fall besonders angeführt ; bis jetzt gab nur das Castrationsexperiment einen Anhaltspunkt für die Prüfung dieser Frage, und das hat seine besonderen Schwierigkeiten ; obiger Weg aber kann von jedem für wissenschaftliche Fragen sich interessirenden Pflanzenzüchter beschritten 346 werden. Ich wäre für Mittheilungen einschlägiger Versuche und Erfahrungen sehr dankbar. Ich meine natürlich nicht , mit diesen wenigen Andeutungen und denen der früheren Kapitel die Frage nach der vis formativa endgiltig erledigt zu haben , ich will damit nur eine Anregung und einen methodologischen Fingerzeig zur experimentellen Forschung gegeben haben. Was ich aber hier nicht unterlassen will , ist ein energischer Protest gegen den neuerdings von einem Engländer, SAMUEL BUTLER , gemachten Versuch , die vis formativa auf ein durchaus anderes Gebiet, das geistige , zu verlegen. Er vergleicht die Constanz , mit welcher die vis formativa von Generation zu Generation stets das gleiche Lebewesen hervorzaubert, mit den Erscheinungen der Uebung und des Gedächtnisses : Die Constanz der Vererbung sei das Resultat jahrtausendelanger Uebung, und Butler muss nun natürlich annehmen , dass im Ei und Samenfaden ein Element stecke , welches Gedächtniss und Erinnerung , also ein vollständig entwickeltes Wissen von der zu schaffenden Form habe. Wenn das richtig wäre, dann könnten die Naturforscher ruhig die Bude zuschliessen und sich auf die Anbetung des unerforschlichen Geistes beschränken. Wie ein Naturforscher von dem Range Dr. HERMANN MUELLER'S zu derselben Zeit, da MANTEGAZZA und ich der vis formativa so nahe auf die Spur gekommen sind , Butler's Theorie goutiren und als einen Fortschritt begrüssen konnte, ist mir völlig unverständlich. Für den Naturforscher muss principiell feststehen : So lange im Körper irgend ein stoffliches Element sich befindet, dessen Rolle nicht bis zu den letzten Consequenzen erforscht ist, haben wir kein Recht, eine solche Gruppe von Erscheinungen , wie die morphogenetischen, ohne Weiteres sammt und sonders dem metaphysischen Theil der Organisation aufzuhalsen und dadurch jedem Erklärungsversuche und jeder experimentellen Prüfung zu entziehen. Nun wird mir Dr. H. MUELLER nach Durchlesung meines Buches zugeben , dass wir uns bisher in fast völliger Unkenntniss von der physiologischen Wirkung der merkwürdigsten Stoffe, die es gibt, der Duftstoffe , befunden haben, und wird mir weiter zugeben, dass die Naturforschung jetzt, wo ich ihr, wie ich hoffe, definitiv die Augen oder besser gesagt die Nase über das geöffnet habe , was man bisher das Unbewusste nannte , jetzt wo sich ein neues immenses Arbeitsfeld vor ihr erschliesst , solche Wortspielereien wie die BUTLER'schen den Laien überlässt und dagegen das von mir erschlossene Feld energisch bebaut. Man gebe sich keiner 347 Täuschung hin : Meine Entdeckung hat eine neue Bahn gebrochen, so gut wie die DARWIN'sche Lehre, und binnen Kurzem wird sich die nachwachsende Jugend in diese Bahn ergiessen , so wie wir uns einst in die von DARWIN gemachte Bresche warfen. Wer aber durch eine vorgefasste Schrulle sich abhalten lässt, den Wettkampf auf dem neuen Boden aufzunehmen , der wird sich sehr bald überflügelt fühlen und das Nachsehen haben. Das rollende Rad der Naturforschung ist ebensowenig aufzuhalten, als das der Zeit ; wer es versucht , wird zermalmt , ein Satz , für den die DARWIN'sche Lehre manche Beispiele liefert die jetzt noch unter uns wandeln. 31. Sprachliches über die Seele. Meiner Aufforderung im Ausland" , am Schluss des vorn unter Nr. 7 wieder abgedruckten Artikels „ Seele und Geist" , ist von Seiten der Sprachforscher in umfassender Weise entsprochen worden , wofür ich den betreffenden Einsendern meinen verbindlichsten Dank sage. Sie haben mich in den Stand gesetzt, für eine Reihe von Sprachen wie aus Folgendem ersichtlich meine Deutung des Wortes „ Seele" jedem Zweifel zu entrücken und eine Summe von Worten , deren Zusammenhang von den Linguisten bisher nicht entfernt geahnt wurde, auf einige wenige Wurzeln naturhistorischen Inhalts zurückzuführen. Nur in einem Punkt ist mein Wunsch unerfüllt geblieben , in Bezug auf die Sprache der Naturvölker , die sicher noch durchschlagenderes Material enthalten : Ich gebe zuerst meinen verehrlichen Correspondenten das Wort und zwar, soweit es angeht, in chronologischer Reihenfolge. Am 19. März schreibt mir Herr FR. PRUSIK, Gymnasialdirector in Raudnitz a/Elbe (Böhmen) : „Geehrter Herr! Anlässlich Ihrer neuerlich wieder im « Ausland» behandelten Theorie erlaube ich mir, Ihnen mitzutheilen, dass auch die slavischen Sprachen чvý und лνευμa scharf von einander unterscheiden, indem sie letzeres durch duch, ersteres durch ein von diesem gebildetes Femininum : duša (spr . duscha) ausdrücken. Ihre Grundbedeutung ist flare, spirare (blasen, hauchen, athmen) ; vergleiche das lithauische dusti, keuchen. Das slavische duch hat neben der physikalischen (Hauch, Athem) auch die chemische Bedeutung (Ausdünstung) , indem es im Böhmischen und Russischen in der Form duch (Masc. ) , im serbo-kroatischen in der Form duha (spr. ducha, Fem. ) , den Geruch (odor) bezeichnet. Das Slovakische gebraucht duch in übler Be- 349 deutung, Gestank, wogegen das Russische seinen Plural duchí nur für Wohlgerüche oder für wohlriechendes Wasser gebraucht. Eine mit dem schwäbischen Ausdruck vollkommen übereinstimmende Phrase hat auch das Böhmische: toho člověka nemohu cítiti : den Menschen kann ich nicht schmecken, d. h. ausstehen. Das Zeitwort cititi bedeutet spüren , riechen (trans. ) . Vergleiche auch das Böhmische : to mi nevoní, das gefällt mir nicht ( voněti, riechen, intrans. duften) ; ta prace mu smrdí die Arbeit gefällt ihm nicht (smrdeti, stinken). " (Vgl. oben das Hottentottische ! JGR. ) Auf eine Anfrage meinerseits erhielt ich von dem Herrn Director am 28. März folgendes Schreiben : "" Geehrtester Herr ! Ihre Vermuthung über die Wurzelverwandtschaft von dem slavischen duch und dem deutschen Duft ist eine richtige, denn beide basiren auf der Wurzel dhu, welche (nach FICK , Vgl. Wörterbuch 3 , I, 119) a) anfachen, fächeln , schütteln , stürmen, bedeuten. Denselben Bedeutungsübergang hat man merkwürdigerweise auch bei dem deutschen Seele und Geist! (Hierbei ist auch das verschiedene Geschlecht zu beachten wie bei duch und ducha, spiritus und anima. ) Ich will nun nach FICK die Ableitungen und Wortbildungen von der Wurzel dhu (dhú , dhav) zusammenstellen , wobei ich bemerke, dass die consonantischen Stammerweiterungs- Suffixe die ursprüngliche Bedeutung der Wurzel bekanntlich nicht afficiren , sondern blos die verschiedene Bedeutung der daraus entspringenden Wörter modificiren. Auch das soll noch bemerkt werden, dass ich nur die erste sub a) angeführte Bedeutung verfolge , die hier unseren Zweck haupt- sächlich berührt. Wurzel dhu (dhú, dhav). I. Sansk.: dhu, dhu-noti, dhuv- ati, dhú-náti, anfachen ; dhavitra, n. Fächer, Wedel ; dhuv- ana, m. Feuer ; Griech.: 9- anfachen, brennen, opfern ; 90- ua, n. , Iv- oía, f. Opfer; Jú- os, n. Räucherwerk ; 9ú- uov, n. Thymian ; (FεF-elov) Jé- stov, n. Schwefel ; Latein.: sub-fi- o, räuchern ; sub-fî- men. Goth.: dau- nis, f. Dunst. Althd.: tu- nist, Dunst. II. Sansk.: dhu-pa, m. Rauch, Räucherwerk, Duft ; dhu-paya, räuchern, dampfen machen; Griech.: Tu-gos (für Ju-nos) Rauch, Qualm ; Neuhd.: Du- ft. III. Sansk.: dhu-ma Lat.: fû-mus Lit.: du-mas Slav.: dy-mr, m. Rauch, Althochd : tuo- m, m. Dampf, Dunst, Duft; tuo- man, dampfen, duften. 350 IV. Slav.: du- chr m. Odem, Hauch, Geist, du- ša (für chja) f. Seele; dy-chati di-chnati, atior, athmen, hauchen. Vergl. goth.: dins, althochd.: tior, neuhochd.: Thier. Damit hängt unstreitig zusammen: V. Die Wurzel dhu mit der Bedeutung sinnen, nachdenken, sich berathen. Der Uebergang von hauchen zu sinnen ist recht deutlich in dem slavischen duchr (Geist , eigentlich Hauch) gegenüber duha (Seele) veranschaulicht : Zend: du, sinnen, nachdenken, sich berathen, sprechen ; Griech.: Jav-ua, n. Bedenken, Staunen ; 9v- µós, m. Sinn ; Slav.: di-vo, m. di- vr, n. Wunder (gehört nicht auch hierher deva, deus, Zeus, Gott, d. h. Geist ? JGR. ) Lit.: dû-mà, f. Sinn; Lett.: dô- ma, Meinung ; Slav.: du-ma f. (russ.: = cogitatio , consilium , Stadtrath; poln.: cogitatio, superbia, cantilena; altslov.: βουλευτήριον, senatus) . = Vergl. böhm.: zá-dum-civy, tiefsinnig , schwermüthig ; du-mati putare, cogitare, consulere; russ. auch ge- sonnen sein wollen. " = Am gleichen Tage mit vorigem Brief erhielt ich folgendes Schreiben von Herrn GEORG BAUER, k. k. Gymnasialprofessor in Fiume. „Hochgeehrter Herr Professor ! Ihr Artikel « Seele und Geist>» in Nr. 10 des Auslandes bewog mich, Ihnen Folgendes mitzutheilen. Wir Kroaten sagen in unserer Sprache (die von Graz bis zum Balkan und von der Donau bis zum adriatischen Meer gesprochen wird) : duh, Geist, Geruch, Hauch; duha, Geruch, Hauch (niemals Geist) ; duhalo, Blasebalg ; duhan, Tabak (weil er riecht) ; duhati, athmen, hauchen, blasen, wehen; duša, (spr. duscha, entstanden aus duh-ja), Seele; bez duše (wörtlich : ohne Seele) , gewissenlos, herzlos *) , dušak, Athemzug; dušiti, riechen, duften, ersticken, würgen; dušati, duften ; dihati , athmen, riechen; dihnuti, einen Athemzug thun, beriechen; disati, athmen, riechen ; disiti, riechen, duften ; doch, Athem, Hauch; nyodan doch (duh), Wohlgeruch; dahnuti, athmen, hauchen (ovo meso je dahnulo , dieses Fleisch hat angefangen stinkend zu werden) ; dahnati, schnaufen u. s . w. Leider hat die kroatische Sprache auch einzelne Fremdwörter wie miris , Duft, mirisati, duften ; sie sind aber glücklicherweise nicht sehr im Gebrauch und aus der Schriftsprache ausgemerzt. Hier citire ich ein lyrisches Volkslied, das deutlich die Identität der Seele mit dem Dufte hervorhebt. Es steht in Senoa Antologija pjesničtva hrvatskoya i srpskoya. Agram 1876. S. 13.

  • ) Von anderer Seite erhalte ich hierzu das russische Wort duschistyi (Adject, von duscha) , wohlriechend. JGR.

351 Najljepši miris. Oj djevojko, dušo moja! Cim mirišu njedra tvoja! Ili dunjom il nerančom, Ili smiljem il bosiljem?" Djevojka mu odgovara: "Oj vjere mi mlad junače ! Moja njedra nemirišu Niti dunjom nit nerancom, Niti smiljem nit bosiljem, Nego dušom djevojačkom.“ Der schönste Duft (wörtlich) . ,, O Mädchen, meine Scele, Wonach duftet der Busen dein ? Nach der Quitte oder der Pomeranze, Nach der Strohblume oder Basilikum ? Das Mädchen ihm antwortet: O meiner Treu, junger Held ! Mein Busen duftet Weder nach der Quitte, noch der Pomeranze, Weder nach der Strohblume, noch dem Basilikum, Sondern nach der Seele eines Mädchens." Herr Prof. BAUER hat mir noch zwei weitere Gedichte mit derselben Auffassung der Seele mitgetheilt, von Anderen wurde ich auf ähnliche Stellen aus den Schriften von MORITZ JOKAI , BERTHOLD AUERBACH , BERNARDIN DE ST. PIERRE etc. aufmerksam gemacht, die anzuführen mir der Raum verbietet, ich gebe nur noch ein Citat aus JoLOWICZ „ Polyglotte der orientalischen Poesie" . S. 198 : Mit Locken, die bis auf die Hüfte wallen, Mit Blumen duftig an das Ohr gesteckt, Mit Mundeswohlgeruch und Busenkränzen Wird nun des Jünglings Sehnen aufgedeckt. Einem Schreiben des Herrn LEOPOLD EINSTEIN aus Fürth vom 31. Mai entnehme ich Folgendes : „In einem zum Theil fertigen Werke , das aus Vorträgen in der Naturhistorischen Gesellschaft zu Nürnberg entstand und den Titel « Der Darwinismus in der Bibel» führt , habe ich in den << Noten auch Ihre Ansichten über die Seele bereits zu Concept gebracht , wie ich sie insbesondere Ihrem Aufsatz im « Auslande>> entnommen. Dass ich mich zu dieser Anschauung bekenne, mögen Sie aus Folgendem entnehmen : Vor etwa vier Jahren ergötzte ich mich eines Tages in dem Hofe eines Hauses an dem köstlichen Blumenduft, der blühenden Hollundersträuchen entströmte, und schrieb folgende Gedanken in mein Tagebuch : Reach nichoach ist der stereotype biblische Ausdruck für den <lieblichen Opferduft» , an welchem der altsemitische Gott mit eben so viel Wohlgefallen sich gelabt haben mag, als ich mich an dem Dufte ergötzte , den der Flieder auf dem Lebensaltar der Natur mir (ihrem Gotte, der sie allein begreift und fähig ist, ihre Gaben zu würdigen) spendete. Nun ist reach, wie das wurzelverwandte deutsche riechen ein Derivat von ruach, welches die Begriffe bewegte Luft und Geist vereinigt. Diese Worte: ruach und reach , Hauch, Duft , Geruch und Geist brachten mir zum Bewusstsein , dass dieser köstliche Duft der Geist sei , den die 352 " Blüthen aushauchen, und zwar ein echter Schöngeist , der unserer Nase ästhetische Begriffe beibringt vom Wahren, Guten und Schönen, ja von der echten Poesie ; denn es ist poetische Begeisterung (man beachte einstweilen dieses Wort. JGR.) , wenn die Blume, geschmückt mit dem Liebreiz der Farbenpracht u. s . f. , diesen Geist aushaucht zur Nasenweide der höchsten Animalien. Ist nun der Geruch ein Product der Blüthe , ein Ueberschuss gesteigerter Naturkraft im individualisirten Stoffe , so ist auch der Geist des Menschen der aus der obersten Spitze seines blühenden Stammes, dem Gehirn, entströmende Ueberschuss von Kraftentwickelung , der Blüthenduft, als Quintessenz seines ganzen körperlichen Wesens, welcher uns erscheint als Gefühl, Wille und Vernunft, dessen Producte wir als Geistesfrüchte bezeichnen. Soweit schrieb ich damals in mein Tagebuch. Als mir später NORK's etymol.- symbol. - mythol. Realwörterbuch in die Hand kam und ich den Artikel « Geruch» aufschlug , fand ich darin folgende Erklärung : Der Geruch ist die Seele der Pflanze, daher nephesch Seele und Duft, neschamah Athem, Hauch, Seele (Spr. 20, 27 von nascham wehen , basam riechen (daher auch Bisam JGR.) , ruach Hauch und Geruch ; ferner ist der Geruch auch die Sprache der Pflanze , wie jene von BAUR ( Symb. 1. S. 29) aus HAFIZ angeführten Verse beweisen : Hört, hört das Geheimniss der Rosen, Wie sie statt mit Worten durch Düfte nur kosen . Da nun räuchern synonym ist mit anbeten, so erklärt sich auch die biblische Redeweise zu einem süssen Geruch des Herrn» ; eben weil das Gebet die « Speise des Herrn» ist, folglich auch die Handlung, welche mit demselben verbunden oder doch eine Folge der Andacht ist : das Opfer. Denn da das verbrannte Material ( Fleisch , Fett , Knochen) an sich nichts weniger als einen guten Geruch gibt, und die Formel keineswegs dem Weihrauch beigelegt wird, so ist der bildliche Sinn jener Worte ausser Zweifel gesetzt (BAHR, Symb. II S. 349). Soweit NORK. Der letzte Satz beweist die einseitige Beschränktheit des Verfassers, die aber für seine Zeit entschuldbar ist. Was gut riecht, schmeckt auch gut als Speise, und was das Volk gerne ass, davon gab es auch seinem Gotte. Der Speisezettel seines Volkes Israel galt daher auch für ihn als Menu ; denn der Mensch ist ja, nach MOLESCHOTT , was er isst , und FEUERBACH hat darüber eine Abhandlung geschrieben , wo er dasselbe auch für die Götter nachweist. Aber NORK gab mir nun weitere Anregung und ich schrieb dann ungefähr Aehnliches nieder , wie Sie im Ausland» Nr. 10 353 dieses Jahres über nephesch , psyche u. s. w. sich ausgesprochen haben. Indessen fand ich den bedeutsamen Unterschied nicht heraus, den Sie bei Ihrem scharfsinnigen Tiefblick zwischen nefesch und ruach constatirten das ist perfect ! Nur schade, dass die supranaturalistische Bibelgläubigkeit oft die besten Köpfe so verdreht, dass sie die wahre, echte, natürliche Geistesnahrung weder goutiren noch verdauen. " Nun möchte ich Sie noch auf das 27. Kapitel im 1. Buch Mosis aufmerksam machen, wo z. B. öfters der Ausdruck : matammim, schmackhafte Gerichte, Leckerbissen, vorkommt, denn dieses taam ist nicht nur Wohlgeschmack der Speisen , sondern wird von hier aus auch noch auf Geistiges übertragen, wie der ästhetische und intellectuelle Geschmack, daher noch der heute in der jüdisch - deutschen Umgangssprache so beliebte Ausdruck betaamt und untum. Taam heisst aber auch der Grund, die Ursache, namentlich im talmudischen Chaldäisch, z. B. maj tame? was ist der Grund ? Ueberhaupt kommen davon folgende Bedeutungen in der Bibelsprache vor : 1 ) taam (verb. ) kosten, metaph. erkennen ; 2) taam (subst. ) a) Geschmack , b) Meinung , Wille *) , c) Klugheit, Scharfsinn, scharfsinnige Rede, d) Sitte. Weiter will ich noch auf die Stelle V. 28 desselben Kapitels hinweisen, wo es heisst : Jacob (mit dem Jagdgewande Esau's bekleidet) trat hin , und Isaak küsste ihn und roch den Geruch. seiner Kleider und segnete ihn mit den Worten : « Siehe, der Geruch meines Sohnes ist wie der Geruch des Feldes , womit Jehova ihn gesegnet hat. (Den Hebräern war also sehr wohl bekannt, dass selbst zwei Brüder verschieden duften, und dass der Duft am Gewande haftet ; Jacob aber täuschte seinen blinden Vater durch den Gewandduft seines Bruders. JGR. ) Als ich Ihre Bemerkung über den Duft und Fleischgeschmack eines geängstigten Thieres las , bemerkte ich zu dem angeführten Texte meines Manuscriptes : Der jüdische Schlächter weiss , dass seine rituellen Vorschriften es ihm strengstens untersagen, ein geängstigtes Thier zu schlachten. Der Grund ist jedenfalls, weil ein solches abgehetztes Thier stinkend , also unrein war. Nun weiss ich nicht, ob ich Ihnen überhaupt etwas Neues gesagt habe , während ich Ihnen erst das volle Verständniss des seelichen Wesens» verdanke. Aber der Accord gleichgestimmter Geister wirkt wohlthuend wie die Combination eines aus verschie-

  • ) Also meine Behauptung S. 332 , die Duft- und Würzestoffe seien auch

der Wille, die einige Zionswächter zu wuthschnaubenden Ausfällen gegen mich veranlasste, ist ebenso biblisch wie meine ganze Seelenlehre. JGR. Jaeger, Entdeckung der Seele . 23 354 denen Duftstoffen gebildeten Blumenflors. Wer weiss, ob sich nicht einmal eine Harmonielehre für die Nase wird schreiben lassen ? Die Nase scheint mir überhaupt in der Urzeit die erste Rolle gespielt zu haben ( sehr richtig , wie ich später zeigen werde. JGR. ) ; denn in der hebräischen Sprache heisst sie aph und wird nach den zwei Nasenlöchern apaim (dual. ) das ganze Gesicht genannt : aber auch der Zorn heisst aph (hithanaph, sich erzürnen) . Weiter ist es eine an Jehovah gerühmte Eigenschaft, dass er erech- apaim langnasig , ein metaphorischer Ausdruck für lang müthig , schwer zum Zorne zu reizen , sei. “ - Zudiesem letzten Ausspruch meines verehrlichen Correspondenten erlaube ich mir zu bemerken : Die Langnasigkeit wäre auch eine vortreffliche Bezeichnung für Allwissenheit ; die Nase ist speciell der Sinn, der in's Verborgene, Unsichtbare sieht und Alles ausspionirt, was den Naturvölkern sehr wohl bekannt war. Ihr Gott musste unbedingt als mit einem vortrefflichen Geruchsinn ausgestattet gedacht werden. = Hieran schliesse ich die Mittheilung des Herrn Prof. G. in M. „Das Hebräische nefesch soll nach der neuesten Auflage des GESENIUS Schen Wörterbuches von der Wurzel fasch , sich ausdehnen, herkommen. (Dieselbe verkehrte Anschauung, welche Einem fort und fort bei den Linguisten begegnet , als sei der abstracte Begriff älter als der concrete. JGR. ) Das Verbum nafusch ist im sogenannten Niphal gebräuchlich als Athem schöpfen ; arabisch ist nafs Seele; syrisch: nafscho. Arabische Bildungen sind ferner naffasa recreavit ; tanaffasa, sich erholen, ausschnaufen ; nafassa und tanafasa anhelando expedivit rem ; nafas spiritus, anhelitus. Dem hebräischen ruach Geruch, Wind, Geist, reach Geruch, hereach, riechen , Wohlgefallen haben an etwas, gehen im Arabischen parallel : racha wehen, Abends d. h. während des am Abend sich erhebenden Windzugs etwas thun ; rach Wein (wegen des Duftes) , Freude (sehr bezeichnend. JGR. ) , stürmischer Tag ; rauch Windhauch (Rauch JGR. ) , Vergnügen ( auch sehr gut. JGR.) , ruch Odem, Hauch, Seele, Geist ; rich Wind, Duft ; raicha Geruch, Duft; raichan duftende Pflanze, besonders Ocymum. → = Dieser Tage habe ich in meinem chinesischen Privatstudium die Bekanntschaft eines Wortes gemacht , das Sie interessiren dürfte. Wie ich MEDHURST Chinese and English dictionary entnehme , ist es ein sehr viel gebrauchtes Wort und heisst transscribirt : Khi (MEDHURST radic. 84, Nr. 4) . Als Bedeutung finde ich angegeben : breath, spirit, origin of Life ; the primary matter, animal life; influence (bezeichnet die Inhalationswirkung der Düfte vortrefflich. JGR. ) ; the air of heaven ; the dual principle of nature 355 (Dualismus von Lust- und Unluststoff. JGR. ) ; odour, vapour, halo, exhalation; to smell." - Ich gebe nun etwas ausführlich den ersten Brief, den mir Hr. Prof. G. in M. nach Lesung meines Artikels im „ Ausland" schrieb, weil ich an denselben polemisch anzuknüpfen habe : „ Ich gestehe , dass ich den sprachlichen Aufstellungen Ihres Artikels in mehr als einem Punkte nicht beizutreten vermöchte, so sehr es vielleicht speciell bei den fraglichen hebräischen Wörtern den Schein haben mag, dass Ihre Voraussetzung zutreffe. Ich bin noch keineswegs überzeugt, dass nefesch und ruach ursprünglich « Geruch>> oder « etwas Riechbares » bezeichnet haben, um so weniger, als ich durch Vergleichung des Arabischen zu dieser Annahme nicht genöthigt bin. Vielmehr finde ich bis jetzt , wie im Indogermanischen so im Semitischen, nur die Begriffsentwickelung vor mir, wonach an das allgemeinere Moment der Luftbewegung das Bestimmtere des Hauchens und an dieses das noch bestimmtere des Ausdünstens, Geruchgebens sich anschloss . Eine Wurzel konnte also das letztere bedeuten , musste es aber nicht von vornherein, und ob eine Ableitung wie nephesch oder ruach nun ursprünglich an das letztere und nicht an das erste oder zweite anknüpft, das wäre eben noch die Frage. Dass animus , anima, лνεvμa u. a. ursprünglich ganz und gar nichts Anderes besagen als Hauch oder bewegte Luft, dürfte unwiderleglich sein. Im sehr massgebenden Sanskrit liegt die Sache nicht Anders, ob man átman, Geist, Seele von an oder von av vā ableitet . Ein ganz schlagendes Beispiel für die angegebene Begriffsentwickelung ist das sanskritische çushma (spr.: schuschma) , das von çush (schusch) çvas (schwas) schnauben, fauchen, sprühen abgeleitet, der Reihe nach diese Bedeutungen hat: 1 ) Zischen , Sprühen , Hauch; 2) Duft einer Pflanze, eines gährenden Getränkes ; 3) Muth, Erregtheit, Trieb (vortrefflich ! JGR. ) , geistige Kraft , Geschlechtstrieb (wieder vortrefflich , weil in allen diesen Zuständen der Ausdünstungsduft gesteigert ist. JGR. ). Es wäre nun völlig verfehlt , hier Nr. 3 aus Nr. 2 statt aus Nr. 1 abzuleiten. " = Hierauf antworte ich Folgendes : = Das Sprachräthsel wird nun und nimmer erklärt werden, wenn wir nicht unverbrüchlich daran festhalten , dass die Menschen in der ersten Zeit der Sprachschaffung in dem Zustand sogenannter ,,Naturvölker" oder auch, anders gesagt, im gleichen geistigen Zustand wie unsere Kinder sich befanden, das heisst 1) im Zustand hochentwickelter Sinnesschärfe , insbesondere hochgradiger Schärfe des Geruchsinns. Alle Wilden riechen und unterscheiden den Individualduft von Mensch und Thier, und dass es auch der mensch23* 356 liche Säugling kann, davon habe ich in früheren Kapiteln mehrere Beispiele angeführt. 2) Das Streben ist fast ausschliesslich auf die Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse und Genüsse gerichtet , bei welchen heute noch Geschmacks- und Geruchsinn eine völlig souveräne Rolle spielen. 3) Das Sprachbedürfniss knüpft unmittelbar an die leiblichen Bedürfnisse und sinnlichen Wahrnehmungen an und schafft zuerst Worte für die concreten Objecte, die zur Befriedigung der leiblichen Bedürfnisse dienen , und diese Worte haben zunächst nie eine allgemeine , zusammenfassende Bedeutung, sondern sind stets die Erkennungszeichen für das Specielle , und wo es nothwendig ist, das Individuelle. Bleiben wir zur Illustration zunächst beim Kind, beim Säugling. Das wichtigste Object für ihn ist nicht die Mutter im Allgemeinen, sondern seine eigene Mutter , und wenn es Mama ruft, so meint es nicht alle ,, Mammen", sondern nur die seine. Wenn das Kind die Sprache erlernt, so sind die ersten Worte die Namen bestimmter einzelner Personen seiner Umgebung, seiner Eltern, seiner Geschwister, d. h. die Laute, mit welchen es sie herbeirufen kann. Diese Namen braucht es Jahre lang ganz ausschliesslich, bis endlich das Bedürfniss in ihm erwacht, einen zusammenfassenden Namen für die Mitglieder seiner Familie , z . B. Eltern oder Geschwister , zu gebrauchen. Das Kind hat nur das Bedürfniss , eine einzelne Person zu rufen, nicht aber seine ganze Familie , und lediglich das Bedürfniss beherrscht den Sprachgebrauch und die Sprachschöpfung. Nun kommen wir zu unseren Worten. Wenn der Mensch so weit ist , dass Worte für die Qualitäten der ihn umgebenden, sein Wohlsein bedingenden Personen geschaffen werden sollen , so wird er wieder zu allererst solche Qualitäten herausgreifen , welche ihm ein Unterscheidungsmerkmal für die Personen abgeben und nicht diejenigen , welche allen gemeinschaftlich sind. Wenn er also anfing, den Luftstrom , der zu Mund und Nase ein- und ausgeht, lautlich zu bezeichnen , so interessirte ihn an diesem Luftstrom zu allererst das , wodurch sich der des einen Menschen von dem des andern unterscheidet, und das ist nicht der physikalische Theil der Erscheinung der ist ja bei allen Menschen, ja bei allen höheren Thieren fast gleich —, sondern der specifische Duft derselben. Dieser war für den Naturmenschen unbedingt das allerwichtigste Erkennungsmittel und Unterscheidungszeichen. Und begreiflicher- - 357 weise : Nachts , um die Ecke und durch Gebüsch hindurch ist das Auge machtlos ; hier wirken nur Nase und Ohr, und von diesen beiden ist die Nase unbedingt Meisterin. Der anschleichende Feind kann sich hüten, ein Geräusch zu machen, und wenn sich Jemand dem Ohr als bestimmtes Individuum nicht verrathen lassen will, so braucht er nur zu schweigen , der Nase dagegen vermag er sich nicht zu entziehen , ja mit ihr erräth man sogar sein lebloses Eigenthum. Die Nase und Das , was die Nase wahrnimmt , spielt heute noch bei wilden Völkern eine ungeheure Rolle , und bei den Urmenschen musste es gerade so sein. In welcher Achtung und in welchem Gebrauch die Nase bei primitiven Völkern steht , davon nur ein Beispiel : Mein Freund, Dr. Klunzinger , der viele Jahre als Sanitätsarzt in Kosseir am rothen Meer lebte , erzählte mir , es befinde sich dort bei jedem Gericht ein Detective, der fast ausschliesslich mit der Nase arbeite. Er beriecht am Thatort die Fussspuren, verfolgt sie , von der Nase geleitet , durch die Wüste , und wenn ihm ein Verdächtiger vorgeführt wird , so beriecht er nur dessen Fusssohlen , um sofort zu erkennen , ob er der Gesuchte ist oder` nicht ; sein Ausspruch aber ist für das Gericht massgebend. Wenn heute die Hunde eine aufsteigende Entwickelung bekämen und bis zur Sprachbildung gelangen würden, so wäre eines der ersten Worte , welches sie schüfen , das für den Duft, der für sie das wichtigste Erkennungsmittel jeglichen Dinges ist. Ganz ähnlich musste es auch beim Menschen sein. Wenn deshalb ein Wort einerseits den Duft, andererseits physikalische Erscheinungen oder abstracte Eigenschaften bedeutet, so ist die erste Bedeutung unbedingt die primitivste, und durchweg gilt für die Wurzelforschung: Unter allen Bedeutungen der Wurzel ist stets die concreteste, speciellste und sinnlichste die uranfängliche , alle anderen sind abgeleitet. Wer an diesem Grundsatz nicht festhält, der lasse die Hand von der Wurzeldeutung. Das Festhalten an diesem Princip ist es, das mich meine ersten Erfolge auf dem Gebiet des Sprachursprungs *) gegenüber den Bestrebungen der ausschliesslichen Büchergelehrten erringen liess , und ihm verdanke ich auch die sprachliche Entdeckung der Seele, die Jedem einleuchten muss, der die Naturvölker und die Kinder kennt. Ich weiss sehr wohl, dass diese Ansichten in den Kreisen der Linguisten vom reinsten Wasser für absolut ketzerisch gelten. Schreibt doch sogar AUGUST FICK in der zweiten Auflage seines

  • ) Ausland 1867, Nr. 42. 44. 47 ; 1868, Nr. 17 ; 1870, Nr. 16.

358 Wörterbuchs der indogermanischen Sprache, das im Jahr 1871 , also 12 Jahre nach dem Erscheinen des DARWIN'Schen Werkes, erschien , S. 933 : „ Somit ist aus der Kindersprache für den Ursprung der Sprache gar nichts zu lernen ! " Das Pendant zu diesem unglaublichen Ausspruch ist folgender Passus auf S. 932 : „Für die indogermanische Sprache ist eine, wenn auch freilich äusserst geringe Betheiligung der Schallnachahmung an der Schaffung der Elemente nicht zu leugnen ; so scheint ( ! ) es sicher, dass der Kukuksruf durch ein nachahmendes Kuku wiedergegeben wurde, und mögen auch andere Vögel nach ihren charakteristischen Stimmen benannt worden sein , wie kukubha, tatara , titabha (vergl. Sanskrit : titibha, ein Vogel) . (Für den Verfasser existirt also auch in dieser Beziehung blos Sanskrit , und er nimmt sich nicht die Mühe, in unserem Wald und bei unserem Volk und den Kindern herumzuhören , wo einfach jedes Thier , das einen charakteristischen Schrei hat, nach ihm benannt wird. JGR. ) Dass aber über diese paar Fälle hinaus die Schallnachahmung einen irgendwie erheblichen Beitrag zur Sprachbildung geliefert, ist auf Grund der Erkenntniss der ältesten Sprachzustände unbedingt in Abrede zu stellen. (!) " Mit diesen zwei Grundsätzen , zu denen als dritter noch die Ignorirung der wilden Völker gehört, muss jedem das Verständniss der Urelemente der menschlichen Sprache und ihre Entstehungsgeschichte ein Buch mit sieben Siegeln bleiben, und dass sich das bei FICK bewahrheitet hat , belehrt eine Durchsicht seines auf S. 1016 begonnenen Versuchs, die wahren Verbalwurzeln der indogermanischen Sprachen festzustellen. Glücklicherweise hat sich die Naturforschung , indem sie das Problem der Anthropogenesis in Angriff nahm , jetzt auch der Glossogenesis bemächtigt, und wenn die Linguisten uns auf diesem Wege nicht folgen wollen , dann müssen wir eben sehen , wie wir allein fertig werden. Um das Dareinreden werden wir uns so wenig kümmern , als sich die Prähistoriker von den Historikern hofmeistern lassen. Die nachwachsende Generation wird die Resultate beider zu vereinigen wissen. Ich möchte hier noch eine allgemeine Bemerkung hinzufügen, in Bezug auf welche ich mich glücklicherweise in Uebereinstimmung mit den Linguisten, z. B. mit Fick, befinde : Bei der Auslösung der letzten Sprachelemente hat man scharf zwischen primären und secundären Wurzeln zu unterscheiden. Die primäre Wurzel ist ein einfacher Naturlaut (ein eigener oder ein fremder) , die secundäre Wurzel ist bereits ein Compositum aus einem einfachen Naturlaut und einem beigefügten 359 zweiten, der eben schon deshalb beigefügt wird, um den Unterschied zwischen dem Naturlaut und dem Wort zu schaffen. Z. B. der Zischlaut ,, sch" ist ein Naturlaut. Um nun unterscheiden zu können , ob Jemand einfach zischt oder ob er „ sprechen" will, ändert er nicht blos den Ton, sondern er fügt dem Zischlaut einen zweiten Laut bei, und dieser Laut bezeichnet zugleich , welche Bedeutung der Naturlaut jetzt haben soll , er wird zum Determinativ, ähnlich wie in der Hieroglyphenschrift oder noch ähnlicher wie in der chinesischen Schrift , wo die meisten der Bilderzeichen aus zwei Zeichen combinirt sind , einem für den Klang, einem andern für den Sinn ; sie heissen deshalb auch hingsching d. h. ,, Bilder und Klänge ". (Siehe TYLER, Urgeschichte der Menschheit S. 127.) Fast alle Wurzeln der Wurzelwörterbücher sind secundäre Wurzeln, denn die Auslösung der primären Wurzeln ist eben dem reinen Linguisten nicht möglich , es gehört der Naturforscher dazu , der die Naturlaute und die Naturgeschichte kennt. Ich will nun im Folgenden die bei unserem Thema in Betracht kommenden Worte auflösen und auf ihre primären Wurzeln zurückführen. Die wesentlichsten Urwurzeln , um die es sich bei meiner Seelenlehre handelt , gruppiren sich, wie ich schon im Aufsatz Nr. 7 sagte, um einige demonstrative, dem Athmungsvorgang entnommene Laute. Der capitalste ist der Zischlaut (s, sch, sh, sz, s, c) . Dass dies der Hauptlaut der Urwurzel ist , wird sehr hübsch dadurch illustrirt , dass wir , wenn im Affect gesprochen wird , dieses scharfe s besonders betonen. Wenn wir z. B. einen Menschen in der Erregung ein Schwein" oder einen „ Sau ..." nennen, oder wenn wir von infamem „ Stinken" reden , so legen wir einen ganz besondern Accent auf den Zischlaut (das hört freilich der Sanskritforscher nicht, weil seine Bücher nicht schimpfen, aber der Naturforscher hört es) . Ich will nun im Folgenden alle die Worte zusammenstellen, in welchen der Zischlaut die Urwurzel bildet, wobei sich die gewiss charakteristische Thatsache ergibt, dass gerade solche Handlungen, Zustände und Objecte, bei welchen der Geruchsinn eine Hauptrolle spielt, aus dieser Urwurzel herausgewachsen sind , und zwar ganz besonders , wenn es sich um üble Düfte oder um eine Verstärkung der Ausdünstung handelt. Ich scheide die Worte in zwei Gruppen , je nachdem das Determinativ vorn oder hinten beigefügt ist, wobei ich die wenigen, bei denen es in die Mitte gerathen ist, nicht besonders auszeichne. 360 Ableitungen aus der primären Wurzel „ sch" : 1 ) Determinativ vorn : baasch und beesch, semit. stinken'; büdosch, ungar. stinken , unangenehm sein , faul (stinkfaul) sein, stänkern, büdökö Schwefel, büdöschfereg Stinkwurm u. s . f. , A as, Arsch, garstig , wüst , Mist, Nase; hieran schliessen sich dann unsere schon früher besprochenen Worte psyche , griech. Seele , nefesch , nafas , semit. Seele u. s. 1. , neschamah , Odem ; endlich reihe ich hier ein das Wort Geist , angels. gaest, Geist, dann Gischt und Gas , nordisch gosa, hauchen. 2) Determinativ hinten. Voran stelle ich die Worte für die Nase: ung. szaglo Nase , szag Geruch , szagolni riechen ; sanskr. çipra Nase , stag stinken ; slav. smarda ; lit. smirdas; lat. merda , Gestank , Koth , Unflath , Mist ; slav. smirdeti oder smrděti stinken ; gothisch smarn, Mist, das hochdeutsche Schmarren; germanisch smarna , althochdeutsch smer, Schmeer, wozu auch das schwäbische schmergelig und schmoren gehören ; deutsch : scheissen, Schiss (Verdoppelung des Zischlautes äusserst significant) ; sanskr.: skudha und lett.: sudas Mist ; slav.: starva und lithauisch : sterva , Aas ; deutsch : Schwein ; slavodeutsch : svaine , goth.: sveina , keltoslav.: svína , griech.: σus , lat.: sus, deutsch: Sau; skag, indogerm.: Bock; Schmutz ; slavodeutsch : skarna , auch Mist. Nordd. svala : Rauch , slavodeutsch : sval schwelen und lit.: smala Theer. - Deutsch : Schmecken auch gleich riechen; lett.: smacka Geruch, Geschmack und Dunst; germ.: smak schmelen , schmauchen; engl.: smokeRauch; sanskr.: svad schmecken und zwar gut, daher svádu süss , engl.: sweet, lat.: suavis, hierher auch deutsch : schön , charmant, auch schlecht. - Deutsch : schwitzen , sanskr.: svid, althochd.: swizjan ; sansk.: svidra und sveda ; altgerm.: svaita ; althochd .: sweiz, Schweiss. Sanskr.: çushma, siehe oben S. 355. Deutsch: spucken , speien, Spuk und Gespenst; lat.: spuo ; gothisch : speivan ; sanskr.: stuv. Sanskr.: spaima ; lat : spuma Schaum. - Sanskr.: spárája ; lat.: spirare athmen; spiritus Geist ; deutsch : schnau - fen, schnauben; sanskr.: skrap räuspern. Zu spuo gehört nach FICK auch die indogermanische Wurzel pu, stinken, bei wel- cher das s verloren gegangen. -- - - Nun, und das Hauptwort „Seele" ? Die Linguisten setzen das Worte, das im Sanskrit saiala heisst, nur in Verbindung mit See , Meer. Ich behaupte, es gehört gleichfalls unter die Derivata der primären Wurzel ,, sch" wie alle vorigen und das Wort See ebenfalls. Wenn Jemand an's Meer kommt , so wird ihm zu allererst und am allerstärksten der starke, völlig specifische Ausdün- 361 stungsduft des Meeres auffallen , den auch alle Seefische , Seepflanzen u. s. f. im höchsten Masse aushauchen. Das Meer unterscheidet sich von jedem Süsswasser dadurch : es ist das Wasser mit dem „ sch" d. h. mit dem enormen specifischen Duft. Auch zwei andere Worte gehören hierher: 1) Sal, Salz. Der Naturmensch , der zwischen Schmecken und Riechen so wenig unterscheidet als der Bauer von heute , hält das Salz , das er schmeckt, für das „sch", das er riecht. 2) Das Wort Meer, althochdeutsch mari, lateinisch mare, hängt zusammen mit der semitischen Wurzel mar , lateinisch amarus, bitter; die Bildner dieses Wortes lernten offenbar zuerst das Meer in der am Strand. so verbreiteten Form der Bitterseen kennen. Sie benannten es nach dem Geschmack , denn das „sch" bedeutet auch Spucken , und jeder , der zum ersten Mal am Strand zu trinken versucht, wird das Wasser ausspucken, weil es abscheulich schmeckt. So ist eben der Naturmensch: Er schuf seine Namen nach dem praktisch wichtigsten und greifbarsten Merkmal. Die Behauptung der Linguisten, das Wort „ See" komme her von dem gothischen Verbum seivan ,, sich bewegen", ist geradezu lächerlich. Bewegt sind alle Wasser und tausend andere Dinge. Der Urmensch musste ein Wort haben, welches nicht das allen Wassern Gemeinsame, sondern gerade das für das Meerwasser Charakteristische , Specifische bezeichnete , deshalb nannte er es das Wasser mit dem ,, sch", das man nicht trinken kann, weil das „ Sch“ „ garschtig" schmeckt. - Ehe ich nun zum Zusammenhang von See und Seele gehe, habe ich noch ein Hühnchen mit den Linguisten zu rupfen. Bei der Silbe sal oder sel unterscheiden die Sprachforscher und wie ich glaube mit Recht zweierlei Bedeutungen, nämlich eine, bei der sie Seele bedeutet, und eine andere ( z . B. Anhängsel, Stöpsel , Wechsel) , die mit der Seele nichts zu thun hat, sondern Diminutivbedeutung hat, wie bei unserem Mädel u. s. f. Das s vor dem el ist Genitivzeichen , allein , wenn sie nun die letzten auch in dem Wort Trübsal, Labsal finden , so ist das falsch. Trübsal ist der Zustand, in welchen man durch den Angststoff versetzt wird, Labsal der Gegenstand , welcher einen Labduft enthält. In Rinnsal ist dagegen das sal das Diminutiv , deshalb kann man auch sagen Gerinnsel , aber kein Mensch wird sagen dürfen Trübsel , deshalb sind die beiden sal grundverschieden. Ein feindseliger Mensch ist einer mit antipathischem Ausdünstungsduft. Seligkeit ist der Zustand , in welchen man durch Lustdüfte versetzt wird, und das Wort Begeisterung bedeutet ganz das Gleiche. Wenn , wie früher bemerkt , Schiller sich beim 362 Dichten einen Teller mit faulen Aepfeln vorstellte , so gerieth er durch die Inhalation des ihm sympathischen Duftes in den Zustand der Begeisterung , in den sich ein anderer z. B. durch den Geist des Champagners versetzt. Sobald man also in den Worten beseligen“ und „ begeistern" die Worte „ Seele" und ,,Geist" in ihrer ursprünglichen sprachlichen Bedeutung als „ Duft“ nimmt , so sind sie von einer überraschenden Naturwahrheit , die mir wieder beweist , dass meine Entdeckung nur die Wiederentdeckung eines uralten Wissens ist . 66 Wie taugt nun See und Seele , sai - ala , zusammen? Das Meer ist das grosse Ding mit dem ,, sch", die Seele ist das „, sch“ der kleinen Dinge, der Menschen, Thiere und Pflanzen, das „ le “ , „ala" ist die gleiche Diminutivsilbe wie das obige „ al" . Der Schwabe würde sagen : Die Seele ist das besondere ,,G'schmäckle“ oder „ G'rüchle", an dem man jedes Ding vom andern unterscheidet. Es fällt mir hier noch ein Wort ein , das zur Wurzel „sch" gehört: Der Thee heisst bei den Slaven tschai, das Wasser mit dem „ sch" , das man trinken kann. Wenn die Hunde glossogenetische Fortschritte machen würden, so würde auch bei ihnen das „ sch“ zum Wort für die Düfte , also die Seele werden , denn wenn ein Hund stark schnüffelt, so hört man deutlich das sch". Eine zweite Urwurzel für unsere Worte ist das „ ch" oder ,,kh", welches offenbar nur eine Abschwächung des „ sch" , des Zischlautes, ist. Ich verzichte hier auf eine Sammlung aller Derivata und führe hier nur an: Hauch , Rauch, Geruch, riechen , das hebräische ruach, Geist, u. s. f. und das chinesische khi (s. oben). Die dritte Urwurzel ist das noch weiter abgeschwächte blosse hauchen, das fast nichts mehr ist als der A-laut , allenfalls mit einem „th" oder „h" verbunden ; dahin gehört Athem, sanskr. átmann , Geist , griech. anemos, Wind, lat. anima, Seele, animus Geist, Muth, Sinn u. s . f. Bezeichnend ist , dass auch hier , wie im Deutschen und Slavischen , die Seele weiblich , der Geist männlich ist, was offenbar damit zusammenhängt, dass eben die Frau stärker duftet , seelischer ist als der Mann, bei dem das Geistige , der Verstand, überwiegt. Ferner möchte ich darauf hinweisen , dass die beiden abgeschwächten Urwurzeln nicht zur Bezeichnung übelriechender Dinge verwendet werden. Ziemlich isolirt steht die im Griechischen pneuma , Geist , pneo, athmen, steckende Urwurzel „pn" , welche einem Nasenlaut entnommen ist. Zum Schluss dieses linguistischen Excurses möchte ich noch die Vermuthung aussprechen, dass die Eingangs abgehandelte Wurzel duh sich doch sehr nahe mit den zwei ersten Urwurzeln im Sla- 363 vischen, duch , Geist und ducha, Seele berührt ; übrigens genügt für den naturhistorischen Zusammenhang auch das demonstrativ sanft spukende duh, und dies gehört eben unter die Kategorie der abgeschwächten Wurzeln, weshalb seine Derivate auch mehr für die wohlriechenden und schwachriechenden Dinge verwendet werden, im Gegensatz zu dem heftigen, für Stinkendes sich eignenden ,, sch". Nun bleibt mir noch ein nicht uninteressanter Punkt. Sobald wir die Worte „ Seele", psyche, nafasch, duscha u. s . f. als „Duft" auffassen, so eröffnet sich sofort ein überraschendes Verständniss für die uns theilweise so fremd vorkommende Naturanschauung alter Völker und noch lebender Naturvölker. CARL DU PREL hat im V. Band des ,, Kosmos " ( April- und Maiheft) einen interessanten Aufsatz Die Lyrik als paläontologische Weltanschauung" gebracht , in welchem er nachweist , dass Dichter und alte Völker alle Naturobjecte für beseelt und lebendig hielten , resp. halten oder schildern . Das ist höchst einfach : Alle Naturobjecte duften und zwar ganz specifisch , ja sogar die Steine und das süsse Wasser, denn wir riechen den Regen , ehe er da ist , und die Karavanen in den afrikanischen Wüsten nehmen sich zahme Mantelpaviane mit, um durch sie das Wasser wittern zu lassen , reichen ihnen sogar Salz, um sie durch Durst dazu anzuspornen. Warum sollte der primitive Mensch den Düften nicht die gleiche Rolle beilegen , die er sie beim Menschen spielen sieht? Wie ich früher schon zeigte , musste er den Duft , das „ sch ", unbedingt als Lebensprincip auffassen , denn die Leiche ist entseelt, ihr specifischer Duft ist fort, also musste er umgekehrt jedes Ding, so lange es seinen specifischen Duft hat , für „lebendig" erklären. Der zweite Punkt ist die bei fast allen Urvölkern spukende Lehre von der „ Seelen wanderung" . Solange wir unter Seele das Bewusste verstehen, behält diese Lehre für uns stets etwas Unverständliches ; sobald wir die Seele dagegen als Duft nehmen, so haben wir für die Lehre sofort eine greifbare naturhistorische Basis. Dem feinsinnigen Naturmenschen konnte unmöglich die Thatsache fremd bleiben , dass ein Mensch nach der Speise duftet, die er gegessen hat , die „Seele" der Speise also in ihn eingewandert ist. Da er nun ferner wusste, dass die Affecte mit dem Auftreten besonderer Düfte verbunden sind , und dass nach dem Genuss von Fleisch eines Thieres die Affect- und Triebverhältnisse eines Menschen in der früher bereits besprochenen Weise sich ändern (der Mensch ist , was er isst, MoLESCHOTT) , SO musste er 364 einerseits darauf verfallen, dass er durch den Genuss von Fleisch eines andern Lebewesens sich dessen Eigenschaften erwerbe ; daher der weit verbreitete Gebrauch , das Blut oder Fleisch muthiger Thiere (Löwen u. s . f. ) . oder das des bezwungenen starken Feindes zu trinken , um sich Muth zu machen ; andererseits musste sich daraus fast mit Nothwendigkeit die Lehre von der Seelenwanderung" entwickeln. So wirkt also meine Entdeckung auch auf diesem Gebiet plötzlich lichtverbreitend, und umgekehrt wird dasselbe zu einem Beweis für die Richtigkeit der sprachlichen Seite meiner Entdeckung. Jetzt noch eine Bemerkung : Das Bewusstsein, dass man unter der Seele die Düfte zu verstehen habe, finden wir: 1 ) sobald wir in frühe Zeiten zurückgehen. In der ältesten hebräischen Literatur (den Büchern Mosis) ist es, wie ich zeigte , noch völlig lebendig. Zur Zeit , als das Neue Testament geschrieben wurde, war es den Juden schon abhanden gekommen. Auch die Griechen kannten schon die Seele nicht mehr, und die Römer natürlich noch weniger; 2) wenn wir zu den Naturvölkern oder solchen Völkern uns wenden , die weniger von der „Cultur beleckt" sind , noch innigere Fühlung mit der Natur haben und namentlich noch nicht von der Prüderie angekränkelt sind. Die oben citirten serbischen Dichter kannten z. B. die Seele noch vollständig, überhaupt steht man weiter ostwärts der Sache noch näher. Hiefür gebe ich ein charakteristisches Beispiel. Als meine Entdeckung der Seele in erster Auflage erschienen war, brachten einige Journale Besprechungen derselben, mit denen ich im Ganzen recht zufrieden sein konnte. Aber bald kam eine Fluth von spöttischen Angriffen gerade aus den Ländern , in welchen sich die Elite der Gesellschaft am meisten von der Natur entfernt hat. In einem Briefe, den ich aus Budapest erhielt, heisst es dagegen: ,,Ganz Pest schwärmt für Ihre Theorie , besonders ALADAR GYOERGY, Hauptmitarbeiter des «Hon» ; JOKAI erklärt Sie für einen Columbus u. s . f. , und doch las Niemand etwas von Ihnen als den Artikel von A. Dux, den ich Ihnen anbei sende. " -- Ferner liegt und darum citire ich eben JOKAT'S Urtheil den feinsinnigen Dichternaturen das Verständniss der Natur noch sehr nahe. Auch findet man Verständniss , sobald man sich an die unteren Volksklassen , insbesondere unsere Bauern , wendet, die mit der Seele" der Landwirthschaft zu thun haben, und denen Prüderie fremd ist. Ich könnte mehrere Beispiele anführen , wie diese sofort, als man Ihnen die Sache explicirte, ein merkwürdiges 99 365 Verständniss dafür entwickelten. Je hochweiser dagegen einer ist oder sich dünkt , um so mehr sträubt und spreizt er sich dagegen. Auch bei den Frauen , die viel feinsinniger sind als die Männer, fand die Sache in einzelnen mir bekannt gewordenen Fällen sofort ein unerwartetes Verständniss. Da der Theologe, in Folge der Rehabilitation der biblischen Trichotomie und des Einsetzens des „Geistes" in sein volles Recht, meiner Lehre nicht lange widerstehen kann , so sitzt der Widerstand gegen sie sehr oberflächlich , und der Theil , den die vorliegende Schrift nicht beseitigt, wird durch die Zeit verschwinden. Nachdem ich den unanfechtbaren mathematischen Beweis geliefert, welche enorme Rolle die Duftstoffe im Körper spielen , wie kein Kapitel der Physiologie , kein Zweig der biologischen Praxis unberührt von ihnen bleiben kann, müssen Naturforscher und Laien unbedingt einen besonderen Namen für diesen Factor haben, denn namenlos können sie ihn eben nicht handhaben , und wenn nun ein sonderbarer Kauz ihm heute einen anderen Namen als den bisherigen geben wollte, so müsste er einen Kampf aufnehmen, der tausendmal grösser wäre als der , den meine ganze Lehre zu bestehen hat. Das wird man danach bleiben lassen und sich fügen. Nun zum Schluss : Nachdem aus diesem Kapitel und aus den im Context angeführten Volksausdrücken klar hervorgeht , dass die Urmenschen , welche die Sprache schufen , die Seele genau kannten und genau wussten , was sie mit dem Wort bezeichnen wollten , wie konnte es denn kommen , dass die Culturvölker dieses Wissen so vollständig verloren haben? Ich will den Grund mit zwei drastischen Worten sagen : Die Cultur macht 99 verstunken und verlogen". Ad Nr. 1. Bei einem wilden Volksstamm sieht nicht nur ein Individuum dem andern so gleich wie ein Ei dem Andern , sondern sie duften auch so ähnlich (schon weil sie auch völlig das Gleiche essen) , dass die Duftverhältnisse vollständig klar sind; wenn einer stinkt , so ist er entweder in Angst oder krank oder in Verdauung begriffen, und wenn einer besonders wohl duftet, so ist er vergnügt. Bei den Culturvölkern , die stets aus Rassevermischungen hervorgegangen und individuell sehr weitgehend differencirt sind , compliciren sich die Duftdifferencen in sinnverwirrender Weise; wenn z. B. einer stinkt, so kann es ausser Obigem noch sein 1 ) Rassendifferenz wie z. B. Jude und Christ ; 2) Individualdifferenz : antipathischer Duft ; 3) differente Nahrung, z. B. der Zwiebelesser stinkt dem Zwiebelfeind; 4) cariöse Zähne ; die wilden Völker haben bekanntlich fast nie schlechte Zähne: bei Culturvölkern sind sie ungemein häufig ; 5 ) differente Beschäftigung , wie bei Gewerben , die mit stinkenden Stoffen umgehen; 366 6) Differencirung in Arm und Reich und damit verbundener Unterschied in Bezug auf Reinlichkeit ; 7) das Heer der verschiedenen Cultur - Krankheiten , von denen jede wieder anders stinkt. 8) Beim Zusammendrängen von Menschen in grossen Städten entstehen so zahlreiche Ekeldüfte in allen möglichen Combinationen, wovon sich Jeder tagtäglich bei einem Gang durch eine Grossstadt überzeugen kann , dass man gar nicht mehr weiss , wer oder was stinkt, und man schliesslich sagen möchte : bene olet, quod non olet. Ad Nr. 2. Mit der Cultur kam die Sitte auf, sich zu parfümiren, um all' die Gerüche, mit denen man anstössig werden konnte, zu maskiren, und so wurde der Geruchsinn auch von dieser Seite irregeführt. Dazu kommt noch, dass trotz allem der Geruchsinn der durchdringendste aller Sinne ist, und je mehr gerade die Spitzen der cultivirten Gesellschaft Leute enthalten, die Ursache haben, nicht in ihr Innerstes blicken zu lassen und ihre Cerebraldüfte, Sexualdüfte , Krankheitsdüfte , Speisedüfte etc. zu verheimlichen , um so ,,salonunfähiger" wurde die verrätherische Nase. Wenn wirklich Einer noch eine feine Nase besass , so durfte er es nicht wissen lassen , denn weil man vor einem solchen kein Geheimniss haben kann , so hielt man sich ihn vom Leibe. So wurde es denn verpönt, von Düften und vom Riechen auch nur zu sprechen, und die Cultur brachte den Menschen allmählich um seinen Instinct, seine Nase damit um seine Gesundheit und um sein Wissen von der Seele , als der Trägerin der Triebe , Affecte , Instincte und der Individualität. Der Sprachgebrauch schleppte das Wort noch fort, aber der sublimirte, immer prüder , feiger und heuchlerischer werdende Theil der tonangebenden Gesellschaft legte dem Wort immer sublimirtere Bedeutungen bei , und so wurde es zu einem nebelhaften Begriff. - 32. Der Geist. Hier muss ich zuerst etwas über das Wort sagen , was zur Ergänzung des in den Kapiteln 7 und 30 Angeführten gehört. Wie ich gezeigt , haben alle mir bekannt gewordenen Sprachen den Gegensatz von Seele und Geist, beide Worte sind den Functionen des Geruchsinnes entnommen, und dass beide bereits eine so capitale Bedeutung gewonnen haben , kommt einfach daher , weil bei den Naturmenschen der Geruchsinn unbedingt der wichtigste war und ist. Weiter habe ich gezeigt , dass man mit den beiden Worten einfach das Subjective und Objective , das Riechende und das Duftende unterschied , wobei natürlich das erstere zur Bezeichnung des metaphysischen , die Empfindung repräsentirenden Princips werden müsste. Betrachten wir nun speciell die zwei deutschen Worte „ Seele und Geist" in ihrer jetzigen Handhabung , so will mir scheinen , als habe man es mit zwei nebeneinander herlaufenden antagonistischen Auffassungen zu thun. Nach der einen bedeutet Seele das Objective , den Duft, Geist das Subjective , Empfindende, nach der anderen ist es gerade umgekehrt. Die erstere ist unstreitig die ältere, denn sie ist, wie ich schon früher gezeigt, durch den gemeinen Sprachgebrauch in viel ausgedehnterer Weise fixirt als der zweite Ausdruck; Worte wie Glückseligkeit, Labsal, Trübsal, Redseligkeit, Weinseligkeit, Leutseligkeit, Beseligung, der Gebrauch des Wortes ,, Seele" als Schmeichelwort gegenüber geliebten d. h. sympathischen Duft ausströmenden Wesen, insbesondere des Kindes und des Weibes wozu das Wort Geist nie verwendet wird, geben unter Hinzurechnung des früher Gesagten dieser Auffassung entschieden das Uebergewicht. Da zudem die lutherische Bibelübersetzung die Grundlage unserer Schriftsprache ist, so ist diese Auffassung sanctionirt und hat sich unbedingt das Prioritätsrecht verschafft. 368 Die zweite Strömung finde ich darin, dass in den Bezeichnungen : Brunnengeister , Quellgeister , Blumengeister , Weingeist, Kirschengeist u. s. f. das Wort ,, Geist" als Name für Duftstoffe auftritt, und die Kehrseite ist, dass sich in die Philosophie und von ihr aus soweit sie überhaupt sich um diesen Factor des Organismus kümmerte auch in die Naturforschung das Wort „ Seele" als Bezeichnung für das Subjective, Metaphysische einschlich und in dem Wort „, Psychologie" fixirt wurde. Diese Auffassung scheint mir nun die spätere, aber dem deutschen Sprachgeist doch eigentlich fremde zu sein. Woher sie stammt , mögen die Sprachhistoriker ausmachen. Ich habe mich, freilich nur durch einen glücklichen Zufall , für die ältere biblische Auffassung der Worte entschieden und deshalb den Sturm der Vertreter der anderen Auffassung gegen mich heraufbeschworen, was mich aber nicht bestimmen kann, meine Wahl rückgängig zu machen. Ich nehme also das Wort ,,Geist" als den Namen des metaphysischen Princips im Organismus in gleichem Sinne wie der Theologe. Wenn ich mich nun hier in diesem naturwissenschaftlichen Buch über den Geist äussere , so muss ich mich im Voraus dagegen verwahren, als habe ich hier ebenso Erschöpfendes und eben so viel Neues zu sagen wie über die Seele. Was ich lediglich thun will, ist in dem Streit zwischen Naturforschung (d. h. nur einem Theil ihrer Vertreter) und Theologie, ob es nämlich einen selbständigen Geist gibt oder nicht, meine Stellung zu nehmen, unter Angabe der mich bestimmenden Gründe. Ich habe den Geist selbst noch nicht in den Bereich meiner Untersuchungen gezogen, nicht weil dies sachlich unmöglich wäre im Gegentheil, es geht bis zu einem gewissen Grad sehr gut sondern einfach, weil ich zu den geplanten einschlägigen Experimenten einen Assistenten brauche und mir ein solcher von meiner vorgesetzten Behörde noch nicht verwilligt worden ist. Ich hätte es also so machen können wie jeder Naturforscher : nur über das zu schreiben, was man speciell untersucht hat , und zu schweigen von Andrem . Der Leser wird mir nun zugeben, dass dies in meinem Fall nicht geht. Wir haben da ein naheliegendes Präcedenz : Darwin vermied es in seinem ersten Werk , die Consequenz seiner Abstammungslehre für den Menschen zu ziehen. Diese Reserve hat ihm nicht nur nichts genützt er musste nachher doch mit der Sache herausrücken , sondern eher geschadet : man legte es ihm als Mangel an Muth aus oder als Beweis, dass er Schlimmes zu verheimlichen habe. So würde es dem Entdecker der Seele genau auch ergehen , und deshalb werde ich mich rückhaltslos über alle und jede Consequenz meiner Entdeckung äussern. 369 Ich behalte mir also vor, falls ich die Mittel dazu erhalte, die von mir geplanten Experimente über den Geist auszuführen und in einer besondern Schrift über das Gefundene Bericht zu erstatten. Hier soll nur Das niedergelegt werden, was mir bei meinen Untersuchungen über die Seele bezüglich des Geistes nebenher klar geworden ist. Diese Klarheit erlangte ich dadurch, dass ich fand, man könne aus dem lebendigen Mechanismus dasjenige Element, welches ich die Seele nenne , ausschalten , dass sich aber dann der Rest deutlich als eine Zweiheit aus radical verschiedenen Factoren entpuppt. Als Seele kommen nach dem früher Geschilderten nur die aus dem Eiweiss frei gewordenen Duftstoffe in Betracht ; diese lernte ich bis auf einen verschwindend kleinen Rest aus dem Körper entfernen, und hierüber will ich zuerst einige Worte sagen. Wenn man die frei gewordenen Seelenstoffe am sofortigen Entweichen hindert , so setzen sie sich wieder fest durch eine Art lockere Bindung und zwar so , dass sie z. B. durch Ozogeneinathmung nicht zerstört werden können. Diese Festsetzung scheint um so leichter und hartnäckiger zu sein , je wasserhaltiger die lebendige Substanz ist ; sie scheint sich dann so zu verhalten wie die Milch , von der es bekannt ist , dass sie alle Duftstoffe anzieht. ― Hat man nun einen schon im Voraus genügend desodorisirten und hochgradig entwässerten Körper , dessen Eiweiss jetzt auch durch die Entwässerung schwerer zersetzbar geworden ist , so bedarf es nur einer sehr flotten Transspiration , wie sie beim Marschiren in einer reinen, warmen, frischen Luft eintritt und — um die Kothdüfte abzuhalten einer längeren Enthaltung vom Speisegenuss , so geräth man in den Zustand völligster Seelenruhe. Die schönste Gelegenheit geben mir hierzu meine Dienstgänge nach Hohenheim, wenn ich sie so ausführte, wie ich S. 207 beschrieben habe. Der Zustand stellt sich dann auf dem Heimwege ein, erreicht aber meist schon vor Ankunft in meiner Wohnung sein Ende, da alsdann Hungerdüfie nasciren. Am deutlichsten empfinde ich ihn , wenn ich am Rand des Stuttgarter Thalkessels ankomme , aus dem Wald heraustrete und bergab gehe , wobei die verminderte mechanische Leistung des Bewegungsapparates auch diese Duftquelle spärlicher fliessen lässt. Ferner habe ich diesen Zustand auch öfters Morgens im Bett, wenn über Nacht ein recht frischer Windzug durch das Zimmer gegangen ist. Zunächst wird Einem in diesem Zustande höchster DesodoriJaeger, Entdeckung der Seele. 24 370 sation klar, dass nur die Duftstoffe die Ursache der Affecte und Triebe sind, denn man fühlt sich im höchsten Grade trieb- und affectfrei , und die Aussenwelt macht fast gar keinen Eindruck auf Einen. Man hört zwar Alles und sieht Alles , allein es ist Einem Alles vollständig gleichgiltig. Dann wird Einem klar , dass die Denkoperationen lediglich keine Function der Duftstoffe , also keine seelische Function sind. Wenn das der Fall wäre , so müssten sie jetzt vermindert sein, das sind sie aber nicht, im Gegentheil : die Gedanken fliessen jetzt mit einer solchen wunderbaren Leichtigkeit, Klarheit und Präcision wie sonst nie. Der Vorgang hat einige Aehnlichkeit mit dem Träumen, aber ist doch dadurch wesentlich verschieden, dass kein ungereimtes Zeug auftaucht, was beim Träumen bekanntlich Folge partieller , also unvollständiger Sinnesrapporte ist. Dabei ist es Einem vollständig deutlich, dass Das, was jetzt thätig ist , ganz allein im Kopfe und zwar in den oberen Theilen desselben sitzt, wohin ja die Experimentalphysiologie längst den Sitz des Bewusstseins verlegt hat. Ja , der Körper kommt Einem geradezu wie etwas Fremdes vor. Man vergisst auf Augenblicke vollständig , dass man geht , der Körper ist eine reine Reflexmaschine , wie ein in Gang gesetztes Uhrwerk. Der Geist kann zwar jeden Augenblick in dieses Triebwerk eingreifen und verfügt dazu über eine auffallende Präcision , aber er thut es ohne äusseren Anlass nicht. Kurzum, es ist , als ob Geist und Körper sich von einander losgelöst hätten und jedes für sich arbeitete. Dieser Zustand hört plötzlich auf, wenn sich die Hungerdüfte rühren , jetzt fühlt man sich als etwas Ganzes , Einheitliches , so dass ich den Satz aufstellen möchte: die Seele hält Geist und Leib zusammen , sie erzeugt das Gemeingefühl , wobei man sich als etwas Ganzes fühlt. Nebstbei bemerke ich , dass man die Hungerdüfte jetzt riecht : sie sind der bekannte saure Schweissgeruch. Dagegen glaube ich, dass man in dem Zustande zuvor fast geruchlos ist leider habe ich noch nie Jemand zur Hand gehabt , der dies hätte objectiv untersuchen können ; ich kann nur sagen : während ich mir nicht bewusst bin, vorher etwas gerochen zu haben , rieche ich , sobald der Hunger kommt, die Säure. — Ehe ich weiter gehe, will ich noch etwas über den oben geschilderten Zustand sagen. Ich glaube , dass es der Zustand ist, der den Indiern bei ihrem Nirvana vorschwebt , und dessen Erreichung das Ideal aller Asceten ist. Ich kann auch aus meiner Erfahrung bestätigen, dass es ein sehr angenehmer Zustand ist, 371 aber durchaus verschieden von dem, in welchen man durch einen Luststoff versetzt wird, denn letzterer ist immer mit Thätigkeit verbunden, und man fühlt sich eins mit seinem Körper, was beides beim Nirvana , so will ich den Zustand kurzweg in der Folge nennen , nicht der Fall ist. Ausser diesem natürlicherweise vorübergehenden Zustand des Nirvana ist für das Verhältniss von Körper, Seele und Geist der Vergleich lehrreich , den ich zwischen meinem jetzigen, durch das Desodorisirungs- Regime gewonnenen Zustand und meiner früheren Verfassung ziehen kann. Meine geistige Arbeit vollzieht sich mit einer weit grösseren Leichtigkeit und Sicherheit als noch vor einem Jahre, und der Unterschied ist so bedeutend , dass ich ihn durchaus nicht auf Rechnung der längeren Uebung setzen kann. Ich bemerke den Unterschied sowohl beim Sprechen als beim Schreiben, und die Beobachtung erstreckt sich auch auf meine Familie ; mein ältester Sohn lernt leichter und zeichnet leichter, meine älteste Tochter sagt das Gleiche vom Klavierspiel ; auch andere Personen im Normalrock haben mir gleiche Mittheilungen gemacht. Die Eigenschaften der Geistesgegenwart und Thatkraft sind bedeutend gesteigert. Man geht beherzt und mit Lust an jede Arbeit und lässt sich durch Hindernisse nicht schrecken oder aus der Fassung bringen. Ich möchte hier noch ein Wort anführen : man spricht oft vom ,, Soldatengeist". Ich habe mir früher darunter hauptsächlich das Standesbewusstsein resp. den Corpsgeist vorgestellt. Jetzt weiss ich besser, was derselbe ist , da ich ihn ebenfalls habe : Es ist eben jene höhere Freiheit und Beweglichkeit des Geistes , auf der Muth , Geistesgegenwart, geistige Energie , Gleichmuth und Frohsinn beruhen , und die ein Mensch gewinnt, wenn er einem desodorisirenden und entwässernden Regime unterworfen wird. Der Soldatengeist ist einerseits der Gegensatz zu dem, was der Volksmund wieder völlig treffend die ,,Stinkfaulheit" nennt - weil die stinkenden Unlustdüfte diesen Zustand hervorbringen - und der ja immer auch mit Feigheit, verdriesslichem und sorgenvollem Wesen gepaart ist. Anderseits ist er aber auch der Gegensatz gegen den durch die Luststoffe erzeugten Zustand der Lüsternheit , Begehrlichkeit , unmotivirten Ausgelassenheit und krankhaften Nervosität und Aufgeregtheit. Das Alles zeigt uns klar : 1 ) Die Functionen des Geistes stehen quantitativ im umgekehrten Verhältniss zur Höhe des Gewebswasserstandes, und deshalb wiederhole ich die von der Kritik so sehr belachte Behauptung von der Ponderabilität der geistigen 24* 372 Energie mittelst des specifischen Gewichtes in optima forma und mit gesteigertem Nachdruck, wobei ich auch auf S. 307 u. 315 verweise , und fordere die Herren Kritiker auf , gefälligst selbst nachwägen zu wollen , ehe sie urtheilen , sonst werden ihre Leser nothwendig den Eindruck der Leichtfertigkeit ihrer Behauptungen gewinnen. 2) Die Seelenstoffe beeinflussen die Geistesfunctionen sehr einschneidend. Die Unluststoffe hemmen dieselben wahrscheinlich mittelbar (durch Schädigung des Nervenapparates) und unmittelbar. Die Luststoffe wirken dagegen erleichternd und beschleunigend auf die geistigen Functionen und zwar wahrscheinlich auch mittelbar und unmittelbar , aber sie zwingen dieselben qualitativ auf bestimmte Bahnen und indem sie die Entladungen der vom Sinnesapparat kommenden Anstösse auf den Bewegungsapparat beschleunigen, beeinträchtigen sie die Functionen der Ueberlegung, der Beobachtung und der gedächtnissmässigen Fixirung. Im Affect handelt man zwar rasch , aber leicht unüberlegt , ist ein schlechter Beobachter und Lerner. - Nun zur wichtigsten, streitigsten Frage : Gibt es einen Geist im Sinne der Theologen, als etwas Selbständiges, vom Körper Ablösbares , zwar Substantielles aber von der ponderablen „ irdischen“ Materie Verschiedenes ? oder sind die geistigen Erscheinungen lediglich Functionen bestimmter somatischer, aus Ponderabilien aufgebauter Theile? Ich stelle hier die neuesten Erfahrungen der Experimentalphysiologie voran , welche Professor MUNK in Berlin gemacht und in den Verhandlungen der dortigen chirurgischen Gesellschaft veröffentlicht hat , und benütze hierzu ein Referat von A. BERNSTEIN in der „ Neuen Freien Presse" vom 1. März 1879 : „Einem Hunde wurde die Schädeldecke an beiden Seiten geöffnet und von dem blossgelegten Gehirn ein Stück Rinde an jeder Seite abgeschält, ungefähr in der Gegend, die hinter und über dem Ohre liegt. Nach drei bis fünf Tagen , in welchen der entzündliche Zustand so weit beseitigt war, dass man mit dem Thiere gewöhnliche Versuche anstellen konnte, ergab es sich, dass das Thier sich in einem durchaus normalen Zustande befand , Bezug auf seinen Gesichtsinn fand eine merkwürdige Veränderung statt. Der Hund sieht Alles, was er im gesunden Zustande sehen konnte; er bewegt sich ganz frei und ungenirt im Zimmer wie im Garten, ohne an einen Gegenstand anzustossen ; legt man ihm Hindernisse in den Weg , so weicht er diesen ebenso geschickt aus, wie im unverletzten Zustande ; er steigt über den Fuss eines Menschen oder den Körper eines Thieres , die ihm den Weg ver- 373 sperren, vorsichtig hinweg, so dass ein Zweifel über den richtigen Gebrauch seiner Augen nicht obwalten kann , aber sein Verstand hat gelitten. So freudig er sonst Menschen , die er kannte , begrüsst hat , so kalt und gleichgiltig ist er jetzt ihnen gegenüber. So hungrig und durstig er auch ist , er sucht nicht mehr in der früheren Weise an den Stellen im Zimmer nach, wo er sonst sein Futter erhielt. Setzt man ihm den Futternapf und den Wassereimer mitten in das Zimmer , so geht er um sie herum, ohne ihrer zu achten. Nahrungsmittel , vor die Augen gehalten, lassen ihn unbeweglich , so lange er sie nicht riecht. Der Anblick der Peitsche, der ihn sonst stets in die Ecke trieb, schreckt ihn nicht im Mindesten. Er war abgerichtet, wenn man die Hand an seinem Auge vorbei bewegte, die gleichseitige Pfote zu geben ; jetzt bleibt die Pfote in allen Fällen in Ruhe , bis man ihn durch den Ruf « Pfote» zur Hingabe derselben bewegt. Alle diese und ähnliche Erscheinungen machen es ganz zweifellos , dass das Thier zwar ebenso gut wie vor der Operation alle Gegenstände sieht , aber das Erkennen Derer, die ihm bisher vertraut waren , ist durch den Eingriff in das Gehirn zerstört worden. In derjenigen Stelle der Gehirnrinde , welche man fortgeschnitten, muss also etwas gesessen haben , was das Erinnerungsvermögen hervorruft, das Vermögen, welches allen Operationen unseres Verstandes zu Grunde liegen muss. Noch merkwürdiger und bezeichnender für diesen Zustand ist das Verhalten des Thieres in all' den Fällen , welche ihm zum erstenmale nach dieser Operation begegnen. Es liegt still und stiert mit grossen Augen seine Umgebung an, als fühle es mit Erstaunen , wie sehr fremd ihm Alles sei . Sobald aber das Fieber vorüber ist, zeigt das Thier die Möglichkeit, neue Erfahrungen zu machen , gewissermassen wie ein neugeborenes Thier zu lernen , was es sieht. Man kann dieses Lernen ausserordentlich erleichtern , wenn man dem Thier Gelegenheit gibt , neue Erfahrungen wiederholt zu machen. Man braucht nur seinen Kopf ein paarmal in den Eimer hineinzudrängen , bis das Wasser die Schnauze berührt , und fortan weiss der Hund , wo er seinen Durst löschen kann. Ebenso geht es mit dem Futternapf. Nach wenigen Tagen fängt der Hund auch wieder an, Menschen und Gegenstände seiner Umgebung zu kennen und ein Verständniss dafür zu gewinnen . Und in demselben Masse, wie dies der Fall ist , nimmt auch sein Anstieren der Gegenstände ab und mässigt sich seine unverkennbare Neugier. Worüber das Thier aber keine Gelegenheit hat, neue Erfahrungen zu machen, das bleibt ihm selbst nach Wochen völlig unbekannt , wie vertraut es auch vor der Operation damit 374 gewesen sein mag. So erkennt der Hund auch nach Wochen nicht eher die Peitsche , als bis er sie nach der Operation wieder einmal auf seinem Rücken verspürt hat. In hohem Grade belehrend sind die Versuche, welche Professor MUNK im weitesten Umfange hierüber angestellt hat. Wenn man dem Thiere die volle Gelegenheit gibt, neue Erfahrungen zu sammeln , so ist es in fünf bis sechs Wochen vollständig wiederhergestellt und von unversehrten Hunden nicht zu unterscheiden. Wenn man, statt an beiden Halbkugeln des Gehirns, nur an einer einzigen die Operation vorgenommen , so zeigt sich dem entsprechend die ganze Reihe der Erscheinungen nur an einer Seite. Das allbekannte Gesetz , wonach eine Kreuzung der beiden Halbkugeln des Gehirns stattfindet , so dass die rechte Seite des Gehirns die linke des Gesichtes und die linke Seite des Gehirns die rechte Seite des Gesichtes dirigirt, findet auch hierbei statt. Hat man an der rechten Seite den Ausschnitt vollzogen , so ist damit das Erkennungs- und Erinnerungsvermögen des linken Auges gestört. Verbindet man dieses Auge, so leistet das rechte Auge ungestört seine Dienste ; verbindet man das rechte Auge, so ist die Störung des linken Auges vollständig. Aus dieser Thatsache geht mit Bestimmtheit hervor , dass eine völlige Unabhängigkeit der Augen von den entsprechenden Seiten des Gehirns stattfindet . Das weitere Ergebniss der zahlreichen Versuche ist , dass für jeden unserer Sinne ein eigenes geistiges Centrum existirt, in welchem die durch diesen Sinn gemachten Erfahrungen deponirt sind , das Centrum des Gesichtsinnes ist keineswegs identisch mit dem unseres Gehör- oder Geruchsinnes u. s. f. “ Der Leser wird sofort erkannt haben, dass diese höchst interessanten Versuche zunächst für unsere Frage nichts entscheiden. Sie constatiren nur, dass die geistigen Functionen , soweit sie in unmittelbarer Beziehung zu den Centralstationen des Nervensystems stehen , räumlich ausgebreitet und örtlich fixirt sind. Das Entscheidende liegt in den Erscheinungen der Aufmerksamkeit. Jeder kann an sich die Thatsache ermitteln : 1 ) dass die Aufmerksamkeit zweierlei Formen annehmen kann : die der Concentration und die der Zerstreuung ; 2) dass sie stets als eine völlige Einheit erscheint ; sie kann immer nur auf einen Punkt des Erfahrungs-Apparates concentrirt werden, nie auf zwei zugleich. Wenn wir es versuchen, so bemerken wir sofort, dass es zu keiner Gleichzeitigkeit, sondern nur zu einer raschen Hin- und Herbewegung derselben von einem Punkt zum andern kommt; [e2ee 375 3) dass die Aufmerksamkeit sich frei von jedem Sinnes- und Willenscentrum eigentlich in jeder beliebigen Richtung, nach jedem beliebigen Orte bewegen kann. In Verbindung mit der durch MUNK ermittelten Thatsache der Localisirung der einzelnen geistigen Erfahrungscentren ist diese Bewegung der Aufmerksamkeit unbedingt als Locomotion aufzufassen; 4) wenn der Concentrationspunkt (Blickpunkt) der Aufmerksamkeit auf einem bestimmten Erfahrungscentrum liegt , so ist letztere deshalb doch nicht von den anderenCentren völlig abgezogen, denn sobald dort eine Sinneserregung eintrifft , wird der Concentrationspunkt dorthin gezogen , aber allerdings um so langsamer, je stärker die Concentration auf einem anderen Punkte war. Fragen wir uns jetzt : Können diese Erscheinungen der Aufmerksamkeit die Function eines der uns bekannten körperlichen Bestandtheile der grauen Hirnrinde sein ? Von solchen kennen wir viererlei : 1 ) die Ganglienzellen ; 2) die gemeinschaftliche Matrix, in der alle Ganglienzellen eingebettet sind, und die wir Neuroglia nennen ; 3) die circulirenden Flüssigkeiten Blut und Lymphe; 4) die Quellungsflüssigkeit der Gehirnrinde. Dass die Ganglienzellen nicht in Betracht kommen können, liegt auf der Hand, denn erstens sind sie eine ungeheure Vielheit , die Aufmerksamkeit ist eine exquisite Einheit , zweitens sind sie durchaus nicht locomobil. Die Neuroglia ist zwar eine Einheit und deshalb auch von verschiedenen Forschern als der Sitz des Bewusstseins angesprochen worden, das ist sie nun allerdings, allein nicht in dem Sinn, dass die Aufmerksamkeit eine Function , etwa ein Erregungszustand ihrer Gewebsbestandtheile sein könnte. Es liesse sich zwar begreifen, dass die Neuroglia örtlich und zwar an jedem Ort in Erregung versetzt werden könnte, allein es spricht völlig gegen Alles , was wir sonst über die lebendige Substanz wissen, dass die Erregung stets nur an einem Orte sollte stattfinden können. Die circulirenden Flüssigkeiten sind natürlich ebenfalls ausgeschlossen, da sie durch den ganzen Körper circuliren, also die Aufmerksamkeit resp. das Bewusstsein unmöglich in der Gehirnrinde localisirt bleiben könnte. Eben so ist die Quellungsflüssigkeit ausgeschlossen , denn diese unterliegt, wie jede Flüssigkeit , den Gesetzen der Diffusion, und das ist mit der Localisirung unverträglich. So bleibt lediglich kein anderer Ausweg, als die Erscheinungen der Aufmerksamkeit einer eigenartigen, uns noch nicht bekannten Substanz zuzuschreiben. Aber nicht blos die Erscheinungen der Aufmerksamkeit zwingen uns zu dieser Auffassung, sondern auch die, welche man an den localisirten, keiner Ortsbewegung fähigen geistigen Centren der 376 einzelnen Sinnesorgane wahrnimmt. Ich meine den colossalen Unterschied zwischen dem erstmaligen Wahrnehmungsact einer Sinneserregung und jedem folgenden der gleichen Erregung, kurz : den Act des Wiedererkennens. Wenn auch zweifellos der im zweiten Band meiner Zoologie geschilderte Stimmungsvorgang in den Terminalstationen des Nervenapparates , den Ganglienzellen , stattfindet , so kann damit das Wiedererkennen durchaus nicht erklärt werden, dieses setzt unbedingt die Annahme einer Zweiheit voraus, nämlich einer im Erregungszustand befindlichen Ganglienzelle, und eines Zweiten, das diese Erregung als etwas schon Dagewesenes erkennt, welches also von den früheren Erregungsvorgängen einen bleibenden Eindruck gewonnen. Weiter ist klar , dass dieses Zweite von ähnlicher resp. gleicher Art sein muss wie das Etwas , von dem die Erscheinungen der Aufmerksamkeit ausgehen. Der Physiologe befindet sich also seinem Object gegenüber völlig in der gleichen Lage wie der Physiker , welcher eben bei der Erklärung der physikalischen Erscheinungen mit den Ponderabilien absolut nicht ausreicht, sondern zur Annahme eines imponderabilen „ Aethers" genöthigt wird. Die geistigen Functionen sind durchaus nicht die Functionen der uns bekannten Ponderabilien der Nervensubstanz, wie die Materialisten glauben machen wollen, sondern die einer völlig eigenartigen, selbständigen Substanz, für die wir zunächst lediglich keinen anderen Namen haben und brauchen dürfen als den Namen „ Geist" (oder, wenn wir uns der anderen Auffassung anschliessen wollten,,,Seele"). Der Geist ist etwas Reales , Selbständiges, und es kann sich jetzt nur fragen : Welcher Art ist er ? Stellen wir hier die allererste physikalische Frage, die nach dem Aggregatzustand : Ist er gasförmig, tropfbar - flüssig oder fest ? Die Antwort ergibt sich leicht. Die ersten beiden Aggregat-Zustände sind völlig ausgeschlossen, da der Geist offenbar den Gesetzen der Diffusion , welchen alle Flüssigkeiten unterworfen sind , nicht folgt , sonst könnte er ja nicht in der Gehirnrinde localisirt sein; als Gas müsste er verdunsten und beim Desodorisations - Verfahren mindestens quantitativ geschädigt werden, was nach dem Obigen nicht der Fall ist ; als tropfbare Flüssigkeit müsste er sich, falls er sich soll bewegen können, mit Blut und Lymphe mischen, dann wäre er überall, mischte er sich aber nicht, so wären solche Bewegungen, wie sie die Aufmerksamkeit zeigt, nicht möglich. Endlich beseitigt die Thatsache der Ansammlung von Erfahrungen jeden Gedanken an eine tropfbare Flüssigkeit so bleibt also nur noch der feste Aggregat-Zustand. - 377 Für diesen spricht die Localisirung und die Fähigkeit, Eindrücke anzunehmen und dauernd zu bewahren, die auf eine Plasticität, wie die eines Metalles , hinweist, allein die Locomobilität der Aufmerksamkeit widerspricht unbedingt dem festen Aggregatzustand; er würde freie Bahnen in der Hirnrinde voraussetzen, in denen die Bewegung erfolgen könnte, und derartige kennen wir nicht und können sie uns auch nicht denken. Der Geist ist also eine Substanz von eigenartigem Aggregatzustand (nennen wir ihn den geistigen Aggregatzustand) , welcher ihn befähigt, sich zwischen den Molekülen und Atomen der ponderabilen Substanz wie ein Gas oder eine Flüssigkeit zu bewegen, ihn jedoch den Gesetzen der Diffusion entzieht. Vergleichen wir ihn nun mit dem Aether der Physiker. Dieser Vergleich fällt durchaus zu Ungunsten einer Identität aus. Nach der Lehre der Physiker ist der Aether im gasförmigen Aggregatzustand, durchdringt Alles und Jedes, ist also allgegenwärtig, während der Geist unbedingt localisirt ist. Weiter sagt der Physiker von seinem Aether unbedingte Elasticität aus , während der Geist in höchstem Masse plastisch ist, Eigenschaften , welche sich vollständig ausschliessen. Sie lassen sich so wenig vergleichen als ein Stück Blei und Wasserstoffgas. Nun bleibt uns der schon oft gemachte Vergleich von Geist und Elektricität übrig. Hier bestehen drei unverkennbare, so viel ich weiss noch nicht beachtete Aehnlichkeiten. 1 ) Beide befinden sich nur an der Oberfläche ihrer Träger und sind nicht gleichmässig in der Substanz diffundirt. Wie der Elektricitätsträger nur eine Hülle von Elektricität besitzt, so liegt der Geist nur in der Peripherie des Gehirns , in der Rinde desselben. 2) Beide sind stets eine Einheit. Wenn sich zwei mit elektrischen Hüllen versehene Wolken vereinigen , so treten auch ihre beiden elektrischen Hüllen zu einer gemeinsamen zusammen, und die Millionen von Zellen eines Thierkörpers werden ebenso durch eine gemeinschaftliche Geisteshülle zu einer Einheit verbunden, wie die Millionen Dampfbläschen einer Wolke durch ihre gemeinsame elektrische Schicht ; der Unterschied ist nur der , dass bei der Wolke die Elektricität an der Oberfläche des gesammten Complexes liegt, der Geist an der Oberfläche des Nervencentrums, mit dem alle Körpertheile leitend verbunden sind. 3) Wenn wir einem Elektricitätsträger einen Entlader nähern, so macht die elektrische Hülle die gleichen Bewegungen wie der Geist bei der Aufmerksamkeit : sie concentrirt sich an der dem Entlader nächstgelegenen Stelle , aber auch gerade wie der Geist d. h. ohne sich deshalb von irgend einem Theil der Oberfläche 378 völlig wegzuziehen ; sie wird dort nur vermindert , bekommt aber nirgends so zu sagen ein Loch. Dieser Concentrationspunkt kann eben so beliebig seine Lage wechseln, wie der des Geistes, und an jeden Punkt der Oberfläche verlegt werden. Das sind drei sehr interessante Aehnlichkeiten , allein denen stehen sofort zwei gewaltige Unterschiede entgegen. 1 ) Die Elektricität kann durch Verbindung mit einem metallenen Leiter entladen , dem Elektricitätsträger geraubt werden ; das ist beim Geist nicht der Fall , denn wir können den Körper vollkommen in die Bahn eines Elektricitätsleiters einschalten, ohne dass unser Geist den mindesten Schaden erfährt. 2) Der Geist ist plastisch , die Elektricität nicht. Mit diesen beiden Punkten ist jeder Gedanke an die Identität beider radical ausgeschlossen. Der Physiologe macht es hier genau wie der Chemiker mit seinen Elementen , er prüft sie auf ihre Eigenschaften, und wenn sie differiren, so gibt er jedem einen eigenen Namen und unterschei- det sie. Wenn er nun auch wegen der Aehnlichkeit gewisser Eigenschaften von Schwefel und Selen die stille Hoffnung hegt, es würden sich diese beide Elemente doch noch auf eine Einheit zurückführen lassen, so würde ihn Jeder auslachen, wenn er darauf hin sie als identisch behandeln wollte. So ist es also lediglich unwissenschaftliches Gewäsche , wenn Jemand Geist und Aether oder Geist und Elektricität , weil sie in einigen Eigenschaften harmoniren, als identisch behandelt. Der Geist , mit dem der Physiologe zu operiren hat, ist eben etwas Eigenartiges und muss seinen eigenen Namen so lange behalten , bis ihn Jemand factisch mit etwas anderem Bekannten identificirt hat, und selbst dann wird er den Namen nicht verlieren , so wenig als Schwefel und Selen, wenn Jemand nachweisen sollte, dass diese beiden Elemente z. B. nur allotrope Zustände eines und desselben Elementes seien. Also, es gibt einen Geist in dem Sinne , wie ihn die Theologie und die Philosophie längst annehmen, als eine durchaus eigenartige imponderable Substanz, die unbedingt auch abgelöst von ihrem zeitweiligen Träger muss existiren können oder jedenfalls als ablösbar gedacht werden kann. Wir haben nun noch die chemische Frage zu stellen : Ist die geistige Substanz einem ähnlichen Stoffwechsel unterworfen wie die ponderablen Substanzen ? Wenn wir die Erscheinungen des Gedächtnisses zu Rathe ziehen , so sprechen diese entschieden gegen einen solchen , denn die Eindrücke , die der Geist empfangen, haften mit einer Zähigkeit , welche sich schwer mit einer grösseren Zersetzungsfähigkeit vereinbaren lässt. Unverwischbar sind allerdings , wie Jeder weiss , die Eindrücke nicht , allein die Art der 379 Labilität des Gedächtnisses spricht nicht für Zersetzung als Ursache der Verwischung. Auch allgemeine Gründe sprechen dagegen: Ein Axiom des Chemikers lautet : corpora non agunt nisi fluida, und doch sahen wir oben, dass der Geist unmöglich als Flüssigkeit gedacht werden kann. Aber auch der Physiker denkt sich seinen Aether nicht als dem Stoffwechsel unterworfen und in chemischer Affinität zur ponderabeln Materie stehend , wenigstens bin ich noch nie auf eine chemische Molekularformel gestossen, in welcher Aetheratome als Constituentia figurirt hätten. Jedenfalls dürfte sich also in Bezug auf Zersetzbarkeit der Geist von der lebendigen Substanz mindestens eben so bedeutend unterscheiden wie ein edles von einem unedlen Metall. Wenn daher der Theologe dem Geist die Qualität der „, Ewigkeit“ zuschreibt, so habe ich als Physiologe lediglich keinen Grund, dem zu widersprechen, und ebensowenig Grund, eine Fortdauer des Geistes nach dem Tode des Körpers, und zwar in seiner erworbenen Qualität, zu leugnen. Ich mache dazu ein offenes rückhaltloses Geständniss : Mein wissenschaftlicher Entwicklungsgang hat drei Phasen durchlaufen. Zuerst , in meiner Sturm- und Drangperiode , habe ich das Metaphysische nicht blos ignorirt , sondern geradezu geleugnet ; dann folgte eine Zeit sie ist durch das Erscheinen meiner Schrift Die DARWIN'sche Theorie und ihre Stellung zu Moral und Religion" fixirt in der ich das Metaphysische zwar nicht mehr ignorirte , auch nicht mehr leugnete , aber doch noch nicht daran glauben konnte ; ich hielt es für eine Illusion , aber für eine höchst nothwendige, die Jeder, auch der Naturforscher, vertheidigen müsse , wie der Soldat seine Fahne. (Ich bin wohl insofern ein Unicum unter den naturwissenschaftlichen Hochschullehrern, als ich seit damals , also seit 10 Jahren , in meiner Vorlesung über Anthropologie am Stuttgarter Polytechnicum Jahr für Jahr in 2-3 stündigem Vortrag die Nothwendigkeit der Religion gegen die Behauptungen der materialistischen Philosophie vertheidige. ) In die dritte Entwickelungsphase bin ich durch die Entdeckung der Seele getreten : Ich glaube jetzt ebenso unerschütterlich an das Metaphysische, als ich die Materialität der Seele gegen jeden Zweifel zu vertheidigen im Stande zu sein mich fühle. Ich werde von jetzt an so lange unerschütterlich daran glauben , bis mir ein Materialist die Erscheinungen des Geistes mit den Gesetzen der Aggregatzustände in Einklang bringt und mir dieselbe so sinnlich wahrnehmbar vordemonstrirt, wie ich ihm jeden Augen- blick die Seele vorweisen kann. Somit gebe ich meinerseits sowohl in meiner Eigenschaft als Mensch, wie als Naturforscher, den Theologen und Philosophen den 380 Geist ebenso ohne jeden Vorbehalt als ihre real existirende Domaine preis, wie ich mit Entschiedenheit die Seele als voll zur Domaine der Naturforschung gehörig reclamire, und ich glaube, dass dieser Ausspruch des Mannes , der sich als Entdecker der Seele jedenfalls den Anspruch erworben hat, in dieser Frage gehört zu werden, wenigstens etwas zu dem Erfolg beitragen wird, der meiner Seelenentdeckung in mehreren Zuschriften prophezeit wird: ,,den längst in der Luft liegenden Ausgleich zwischen Religion und Naturwissenschaften herbeizuführen ". Das wird freilich noch manchen langen und schweren Kampf mit den extremen Heissspornen beider Parteien absetzen , allein ich trete zuversichtlich in denselben ein, da es mir an Bundesgenossen bei dieser Friedensarbeit schon jetzt und zwar aus beiden Lagern nicht fehlt. - Also noch einmal : es gibt einen Geist, und derselbe ist metaphysischer Natur; wenn ich also hier noch einige Bemerkungen dazu mache , so kommt denselben nur der Werth von Hilfsvorstellungen zu , welche ich aus dem Gebiete der ponderabeln Materie herbeiziehe. Zunächst constatire ich, dass nach meiner festen Ueberzeugung nicht blos der Mensch, sondern jedes Thier einen Geist hat, eine Anschauung, welche auch schon das alte Testament vertritt. Wahrscheinlich kommt auch sogar den Pflanzen etwas Aehnliches zu; jedoch bin ich weit entfernt , mich hierüber in Speculationen einzulassen ; hierbei hat lediglich das Experiment das entscheidende Wort zu sprechen. Ueber das zeitliche Verhalten des Geistes im Individuum möchte ich nur soviel sagen : Wie , wann und wo derselbe dem Individuum bei der Entwickelung zugesellt wird, entzieht sich der Beurtheilung, aber über die Entwickelung desselben, die Pneumatogenesis , lässt sich sagen : Er differencirt sich im Laufe der Entwickelung in einen einheitlichen, aber locomobil bleibenden Theil, das Ich , und einen zweiten, local sich fixirenden Theil , welcher von allen Erregungen , die das Nervensystem (ich will es in der Folge kurz Neuron nennen) durchziehen , einen bleibenden Eindruck erhält. Die Erfindung des Phonographen ermöglicht uns einen , freilich sehr hinkenden, Vergleich : Wie die Schwingungen der Membrane des Phonographen ihren Eindruck auf der Stanniolplatte zurücklassen, erzeugen die Erregungen des Ganglienapparates Eindrücke auf den Geist : Das Resultat ist ein Neurogramm. Das ist aber sehr wohl von dem Eindruck zu unterscheiden , den die Erregung in den physikalischen Endapparaten der Grosshirnrinde den Ganglienzellen selbst zurücklässt, und den ich im zweiten Bande meiner allgemeinen Zoologie als Stimmung derselben 381 bezeichnet habe. Denn wie ich schon oben sagte : Der Act des Wiedererkennens ist nur als Zusammenwirken von zwei Factoren zu begreifen, von denen ein jeder bleibende Eindrücke von früheren Erregungen erhalten hat , nämlich dem bestimmten Ganglien - Mechanismus und dem neurogrammirten Theil des Geistes, selbstverständlich unter Betheiligung des Ich's als drittem Factor. Von hier aus gewinnen wir auch eine Hilfsvorstellung für die merkwürdige, wiederholt_genau beobachtete Erscheinung des gedoppelten Bewusstseins : Es bilden sich zwei concentrisch zu einander liegende Neurogrammirungsflächen ; diese können unmöglich gleichzeitig in Action sein , sondern jeweils nur die , welche im Horizont der Terminal-Ganglienzellen des nervösen Apparates liegt. Dem Wechsel zwischen den zwei Zuständen läge also eine Hebung resp. Senkung des Geistes in der Hirnrinde zu Grunde. Mit diesen Andeutungen begnüge ich mich, mögen sie Andere weiter ausspinnen oder bessere erfinden ; mir genügt zunächst, die feste wissenschaftliche Ueberzeugung gewonnen zu haben , dass es einen Geist gibt. 33. Die Körperregierung. Betrachten wir irgend einen Mechanismus oder irgend welche Organisation , so stossen wir stets auf ein ganz bestimmtes mechanisches Princip, das durch die Zahl Drei ausgedrückt ist , so dass ich sage : Drei ist die Zahl , welche jeder Stabilität und oscillirenden Labilität zu Grunde liegen muss. Bezüglich der oscillirenden Labilität , die bei jeder Arbeitsmaschine , also auch bei einem lebenden Geschöpf, in Betracht kommt, gilt , dass sie stets aus drei Factoren zusammengesetzt sein muss. Haben wir nur zwei aufeinander wirkende Factoren, so ist der, Endeffect ihrer Wirkung stets Erreichung eines Gleichgewichtzustandes , in welchem sie zur Ruhe kommen, und damit hört die Maschine auf zu arbeiten. Nehmen wir den allereinfachsten Fall : Wenn ein Pendel aufgehängt wird , so haben wir einen Mechanismus aus zwei Factoren, nämlich dem Pendelgewicht und dem Erdgewicht. Ueberlassen wir diese beiden sich selbst , so setzen sie sich in's Gleichgewicht, und damit ist die Arbeit beendet. Soll sie wieder beginnen, so gehört ein Tertium dazu , welches die Herstellung des Gleichgewichtes und die Ruhe verhindert oder neuen Anstoss gibt, nur so entsteht ein lebendiger Mechanismus : die Pendeluhr. Ein anderes Beispiel : Setzen wir einen mit gespanntem Dampf gefüllten Dampfkessel mit einer Maschine in Verbindung , so wird letztere so lange gehen, bis die Dampfspannung und der Massewiderstand der Maschine in's Gleichgewicht gekommen sind, dann steht alles still ; es gehört ein Tertium , das Feuer, dazu, um die Erreichung des Gleichgewichtes zu verhindern. Dieses Gesetz der Dreizahl : Zwei Antagonisten und ein balancirendes Element, zieht sich durch alle lebendigen Organisationen. Der Körper eines höheren Thieres z. B. besteht aus den zwei Antagonisten : animalem Theil ( Hautmuskelschlauch) und vegetativem 383 Theil (Darmschlauch), zwischen beiden ist ein balancirendes Element für den Stoffwechsel : das Gefäss- System ; und eben so bedarf der Kraftwechsel eines balancirenden Elements zwischen beiden : des Nervensystems. Für die Mechanik der animalen Theile haben wir beim vierfüssigen Thiere die Dreieinigkeit von Rumpf und den zwei Beinpaaren, beim zweifüssigen den Rumpf und die beiden Beine ; ferner die Dreizahlen : Kopf, Rumpf, Glieder, oder Kopf, rechte und linke Körperhälfte ; in der Schichtungsfolge des Körpers Epithelialis , Muskularis und dazwischen die balancirende Bindeschicht (Conjunctivalis) u. s. f. Bei den socialen Organisationen, die der Mensch schafft, befolgt er stets das Princip der Dreizahl, von Fürst, Executive und Legislative an bis zu dem einfachsten Schiedsgericht, das aus zwei antagonistischen Parteivertretern und dem dritten , dem Unparteiischen , zusammengesetzt wird. Keine Organisation, die diesem Princip des Tres faciunt collegium untreu wird , hat Aussicht auf Bestand d. h. Lebensfähigkeit, denn sobald zwei Gewalten einander gegenüberstehen , so gibt es nur zweierlei : absolute Ruhe d. h. Tod, oder Krieg, der wieder mit absoluter Ruhe endet, sobald ein Antagonist den andern vernichtet hat. Es handelt sich also bei der Trichotomie nicht um mystische Zahlenspielerei, sondern um einen obersten mechanischen Grundsatz, wenn ich sage, die lebendige Organisation besteht aus drei Theilen: Leib, Seele und Geist. Das mechanische Verhältniss ist ein ungemein klares und einfaches, und zwar folgendermassen : Die zwei Antagonisten sind Leib und Geist. Eliminiren wir die Seele, so gelangen wir zu dem sogenannten Nirvana des vorigen Kapitels, welches nothwendig zum endlichen Stillstand und Gleichgewicht zwischen Beiden führen müsste. Das verhindert die Seele: Sobald der Sauerstoff nichts Anderes mehr findet, greift er den aus Eiweiss aufgebauten Leib an , die Seele wird frei , tritt als treibender, das Gleichgewicht störender Factor auf und gibt der Maschine mit dem Affect neues Leben. Z. B. bei dem Bestreben des Asceten will ,, der Geist den Leib tödten", wie sich diese Leute selbst ausdrücken. Dies gelingt nicht , weil im richtigen Moment die Seele in der Form der Hungerdüfte dazwischen tritt. Will der Geist dem Körper Gewalt anthun, indem er ihn zu übermässiger Arbeit zwingt, so tritt wieder die Seele im UebermüdungsAffect auf und gebietet Frieden. Kurz : Leib, Seele und Geist bilden einen höchst einfachen, aber äusserst sinnreichen Mechanismus nach dem Princip der Dreiheit, dem gegenüber die dualistische und nicht minder die monistische Auffassung mechanische Undinge sind. Mit dieser Erkenntniss muss auch die Wissenschaft von den 384 Organismen ihre Zweitheilung in Physiologie und Psychologie aufgeben ; wir haben es eben mit drei Theilen, der Physis , der Psyche und dem Pneuma, zu thun, und so zerfällt der functionelle Theil der Organologie in Physiologie , Psychologie und Pneumatologie. Die erste enthält die Lehre vom Kraft- und Stoffwechsel, die zweite die Lehre vom Trieb, Affect und Instinct, und die dritte die Lehre von Bewusstsein, Verstand und Vernunft. Endlich muss noch eine zusammenfassende Disciplin auftreten, welcher ich den Namen Körperregierungs - Lehre , Guberniologie, gebe. Sie hat sich damit zu beschäftigen, wie die obersten Regierungsbehörden des Körpers zusammengesetzt sind und zusammen arbeiten. Diese Disciplin hat ihre symptomatische Seite und ihre genetische ( Guberniogenese ) , und ich will einige Andeutungen hierüber geben und zwar insbesondere in genetischer Richtung, weil diese uns einmal zu einer Definition des Unterschiedes von Thier und Mensch und zweitens zur praktischen Frage der Pädagogik führt. - -- Der befruchtete Keim besteht aus beseeltem Protoplasma und Geist. Die Entwickelung schafft aus dem Protoplasma einen zusammengesetzten Thierkörper, in welchem ein Theil, das Nervensystem , sich zu einer beherrschenden Stellung aufschwingt. Mit ihm tritt der Geist in engere Beziehung, und von ihm erfährt derselbe seine Differencirung und Ausbildung. Die Seele ist allgegenwärtig in jeder lebendigen Substanz und tritt jedesmal auf das Actionsfeld, und besonders leicht aus dem Nervensystem heraus, sobald ein Reiz sei es von Aussen oder vom Geist aus auf die lebendige Substanz wirkt. Die chemische Specifität der Seele schafft bestimmte Relationen der Anziehung und Abstossung zwischen dem Subject und den Objecten der Aussenwelt, die wir Instinct nennen. So lange der Geist noch nicht entwickelt ist d. h. noch keine Erfahrungen gesammelt hat, wird das Verhalten des Organismus nach Innen und Aussen lediglich vom Instinct bestimmt : Das Geschöpf führt Anfangs ein völlig instinctives Leben , ja es verdankt der Keim seine Entwickelungs-Fähigkeit bereits dem Befruchtungs-Instinct, den ich früher geschildert. Bei der Entwickelung des Geistes, die wir uns oben als Neurographirung vorgestellt haben, spielt nun die Seele d. h. der Instinct eine äusserst wichtige Rolle. Jede Erfahrung erhält ihre seelische Stempelung (Lust oder Unlust), und so erfolgt die Erziehung des Geistes an dem Gängelband und unter der Vormundschaft des Instinctes : Die Seele ist daher der erste Führer und Erzieher, also auch der oberste Herrscher im Körper. Mit der Zeit, aber wesentlich als eine Function der Zeit, kann 385 ein Herrschaftswechsel eintreten, indem sich der Geist von der Vormundschaft des Instinctes befreit und das oberste Regiment in der Organisation ergreift . Dieser Herrschaftswechsel ist die Folge davon, dass der Geist fortgesetzt Erfahrungen sammelt, und Das, was vorher nur der Instinct von Fall zu Fall dictirte , jetzt als Wissen und Gegenstand der Vorausberechnung im Geiste fixirt worden ist. Anfangs z. B. flieht das Thier seinen Feind nur instinctmässig , d. h. sobald es in dessen antipathische Ausdünstungs-Atmosphäre tritt , und das ist ganz mechanisch , weil die Duftdissonanz zwischen den beiderlei Seelenstoffen ein zur Flucht treibender d. h. bestimmte Nervencentra (Fluchtcentra) erregender Factor ist. Bei dieser Gelegenheit hat aber der Geist mehrfache Eindrücke erhalten : 1 ) den Geruchseindruck, Gestank ; 2) den Gesichtseindruck ; 3) vielleicht einen Gehörseindruck ; 4) den Eindruck des durch Inhalation des Feindesduftes erzeugten Gemeingefühls. Wenn das öfter geschehen, dann bedarf das Thier nicht mehr der Inhalationswirkung des Feindesduftes, d. h. des instinctiven Eindruckes, um zu fliehen, es genügt das Erblicken oder das Hören, ja zuletzt sogar blos die Vorstellung des Feindes, um Flucht herbeizuführen. Damit hat sich Das vollzogen, was wir die Ersetzung des unfreien Instinctwillens durch den freien geistigen Willen nennen. Die Willensfreiheit wird um so grösser, je reicher das Wissen, und je besser es verknüpft ist, weil jetzt eine Voraus- berechnung im ausgedehntesten Masse und damit ein Handeln möglich ist, welches durchaus frei vom unmittelbaren instinctiven Zwang ist. Allein ganz ausgeschaltet wird der Instinct damit keineswegs : Sobald es zum Contact kommt und die Seelendüfte ihre Inhalationswirkung entfalten, dann greifen sie , je nachdem , hemmend oder beschleunigend in die Körperregierung ein, und damit ist die Freiheit des geistigen Willens gehemmt. Der Geist muss jetzt einen Kampf mit dem Instinct aufnehmen, bei welchem es eben wie bei jedem Kampf heisst : Der Stärkere wird Meister. Also, wir brauchen nicht die Sclaven unserer Instincte und Triebe zu sein, wir können gegen sie ankämpfen, allein wer fortwährend instinctwidrig handelt, ruinirt das dritte Élement der Maschine: den Körper. Dieser Herrschaftswechsel ist nun an bestimmte Bedingungen gebunden: 1) An die Zeit. Die Aufsammlung und Fixirung der Erfahrungen braucht Zeit ; deshalb können nur langlebige Thiere (Makrobioten) in diesen Zustand kommen. Hierzu gesellt sich noch Folgendes: Wir sehen an jedem Geschöpf zwei Entwickelungsphasen Jaeger, Entdeckung der Seele . 25 386 in Bezug auf die Plasticität des Geistes : eine jugendliche Periode erhöhter Plasticität, und eine dem erwachsenen Zustand entsprechende Periode verminderter Plasticität. Ist die erste Periode kurz , so kann der Geist ceteris paribus nie eine so hohe Ueberlegenheit gewinnen als da , wo sie lang ist. Darum sind Geschöpfe mit langem Entwickelungs- resp. Kindesalter (Makropäden) bevorzugt. 2) An räumliche Verhältnisse. Alle Erfahrungen weisen darauf hin, dass die absolute Oberflächen - Ausdehnung der grauen Hirnrinde als Intellectfläche, ich möchte sagen Neurogrammirungsfläche zu betrachten ist, und mit der Ausdehnung derselben wächst die Quantität von Erfahrungen, die aufgesammelt werden können. Dies verleiht den grosshirnigen Thieren (Makrencephalen) einen grossen Vorzug. Nun, in allen obigen Punkten zusammen ist der Mensch bereits allen Thieren überlegen : Er ist ein Makrobiot , den nicht viele Thiere an Lebensdauer übertreffen, er ist weiter ein Makropäde, d. h. er hat das längste Entwickelungsalter unter allen Thieren und fast absolut das grösste Gehirn. Hierzu gesellt sich der ungeheure Vortheil, welcher der Aufsammlung von Erfahrungen durch das Hilfsmittel der Sprache erwächst. Damit sammelt er zu seinen eigenen praktischen Erfahrungen noch die Erfahrungen nicht blos der Mitwelt, sondern auch diejenigen vorangegangener Generationen hinzu, und damit wächst die quantitative Differenz zwischen Thiergeist und Menschengeist so colossal an, dass sie nothwendig den Eindruck der qualitativen Differenz machen muss. Damit ist aber die Differenz noch nicht erschöpft ; es gehört noch Folgendes hinzu : Wir sahen früher, dass bei der Entwickelung des Geistes eine Differencirung in den das Ich bildenden , seinen einheitlichen Charakter bewahrenden Theil , und den neurogrammirten Theil stattfindet. Geistige Thätigkeit ist die Bewegung des Ich's als Aufmerksamkeit zwischen den einzelnen Punkten des neurogrammirten Theiles. Nun : je grösser die Neurogrammirungsfläche ist, je zahlreicher die dort verzeichneten Eindrücke, zwischen denen das Ich sich hin und her zu bewegen hat , endlich je häufiger es gezwungen wird, von einem Punkt zum andern sich zu bewegen (Geistesgymnastik) , um so beweglicher resp. freier muss der Ichtheil des Geistes werden. Dem gegenüber behält das Thier, dessen Neurogrammirungsfläche gering und nur spärlich neurogrammirt ist, und das in Folge des Mangels an mannigfaltiger Anregung geringer Geistesgymnastik unterworfen ist , einen gebundenen, schwer resp. nur in ganz bestimmten Bahnen beweglichen Geist . Die Freibeweglichkeit des Geistes steigert sich beim Menschen, gegen- 387 über dem Thier, zu einer derartigen Unabhängigkeit des Geistes, dass er sich gleichsam mit sich selbst beschäftigen, also auch einen Geist ausser sich denken kann , und das ist die Grundlage der Vernunft. Die Aufgabe der Erziehung ist die Herbeiführung des eben geschilderten Herrschaftswechsels und die Einsetzung des Geistes in eine möglichst machtvolle Position, worunter aber nicht zu verstehen ist , dass man deshalb von der Seele resp. dem Instinct ganz abstrahiren könne und dürfe, aber und das ist praktisch wichtig : -- Die Seele ist stets bereit, dem Geist seine Herrschaft streitig zu machen: Leidenschaft macht blind und taub , d. h. legt den hauptsächlich mit den physikalischen Sinnen arbeitenden Geist lahm. Die Aufregung , welche die freien Seelenstoffe hervorrufen, ist auch der Fixirung der Erfahrungen ungünstig und hemmt die Bewegungen des Geistes, damit die Entwickelung seiner Beweglich- keit. Deshalb hat meine Entdeckung der Seele und mein Bekanntwerden mit den Mitteln, die Beeinflussung des Geistes durch die freien Seelenstoffe auf ein Minimum zu reduciren , meine Entdeckung , dass die Zersetzungsfähigkeit des Eiweisses durch Entwässerung vermindert, die Abdunstung der Seelenstoffe zur zweckmässigen Bekleidung und sonstiges Verhalten beschleunigt , meine Entdeckung, dass in einem abgehärteten und desodorisirten Körper resp. Gehirn der Geist sich viel freier und energischer zu bewegen vermag, unstreitig eine hohe praktische Bedeutung für die genannte pädagogische Aufgabe und für die Herbeiführung eines Lebensregimes, das dem Geiste das höchste Mass von Herrschaft über seine Triebe, Instincte und Affecte, d. h. die Seele sichert. So wird meine Entdeckung nicht blos zur Erlangung der theoretischen Berechtigung des Geistes , sondern auch zur Verbesserung seiner praktischen Situation ein Scherflein beitragen, und meine Lehre wird mit der Zeit Denen zum Sieg verhelfen, welche niemals dem Anathema beistimmten , welches die Idealisten den Naturwissenschaften entgegenschleuderten, in dem falschen Glauben , dieselben arbeiteten der geistigen Hebung des Menschen entgegen und führten die Herrschaft ,, des Fleisches über den Geist" herbei . Die Wahrheit ist eine einzige und untheilbare , und es gibt keine sich widersprechenden naturwissenschaftlichen und theologischen Wahrheiten; der Widerstreit besteht nur in den wirren Köpfen der Fanatiker beider Richtungen . Jeder Fortschritt auf dem Gebiete der Naturwissenschaften ist stets auch ein geistiger Fortschritt gewesen , und so wird auch die Entdeckung der Seele zum Gewinn für den Geist. Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig.

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