Ein geisteskranker Bildhauer. Die Charakterköpfe des Franz Xaver Messerschmidt  

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"Ein geisteskranker Bildhauer. Die Charakterköpfe des Franz Xaver Messerschmidt" is an essay by Ernst Kris on Franz Xaver Messerschmidt.

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E-in geisteskranker JJildhauer

(Die Ckarakterköpfe des Franz Xaver JM-esserscLmidt) 1

Von

Ernst JVris

YV ien


Meine Damen und Herren!

• Ich weiß mich einig mit Ihnen in der Skepsis gegen die herkömmlichen Versuche, die psychoanalytische Psychologie auf die Geisteswissenschaften, oder genauer, auf Probleme anzuwenden, die sonst nach geisteswissenschaft- lichen oder kulturhistorischen Methoden untersucht werden ; einig mit Ihnen aber auch in der affektiven Sphäre: Ich kenne aus Erfahrung die Unlust des Zuhörers, dem bei solchen Untersuchungen weite und ermüdende Um- wege zugemutet werden, und da sich zu dieser Unlust, die ich in der Identi- fizierung mit Ihnen erlebe, noch die gesellt, die ich als Vortragender empfinde, kann ich weder versuchen, mein Thema noch meine Fragestellung zu empfehlen oder zu entschuldigen. Dagegen scheint es mir erlaubt, die Be- rechtigung unserer gemeinsamen Stellungnahme, unserer Skepsis also und unserer Unlust, durch eine kurze Überlegung nachzuweisen, die die grund- sätzlichen Schwierigkeiten der Anwendung psychoanalytischer Psychologie auf das Arbeitsgebiet der Geisteswissenschaften prüfen soll.

Als vor bald drei Jahrzehnten, in den Anfängen und im Heldenzeitalter der Psychoanalyse, Freud und der kleine Kreis seiner Schüler die ersten Versuche unternahmen, psychoanalytische Grundsätze „anzuwenden , standen sie vor zweierlei Aufgaben; die eine von ihnen hat seit einiger Zeit schon an Bedeutung verloren. Denn damals, als der Psychoanalyse ein bescheidenes klinisches Erfahrungsmaterial zu Gebote stand, mußte jeder Weg willkommen sein, auf dem die Geltung der neuen Befunde erhärtet und gesichert werden konnte: sie waren am Seelenleben des Kranken gewonnen, an primärem Material; daß sie sich zwanglos auf die Aussagen, die die menschliche Geschichte in Dichtung, Sage und Mythos bot, also auf Aussagen eines sekundären Materials, übertragen ließen, war bedeutsam genug. Seit es aber nicht mehr unsere Aufgabe sein kann, die zu überzeugen, die an den


i) Vorgetragen in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung am 24. November 1932-


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Befunden der Psychoanalyse zweifeln, ist die Rolle dieser Arbeiten eine be- scheidenere geworden. Es kommt hinzu, daß an diesem sekundären Material besser die ersten und allgemeineren Befunde der Psychoanalyse überprüft werden konnten als die subtileren, in weitere Tiefe führenden, die seit etwa anderthalb Jahrzehnten die Entwicklung der psychoanalytischen Klinik be- stimmen.

Auch die zweite Aufgabe war von vornherein gestellt. Die Psychoanalyse sollte da eingreifen, wo andere Forschungsmethoden versagt haben. Sie sollte —- eine Reservetruppe — in die Bresche eingesetzt werden, wo die Wissen- schaft bereit war, eine Schlacht verlorenzugeben; sollte Lücken schließen, die zwischen den schon gesicherten Forschungsergebnissen etwa noch klafften. Das ist mehrfach geschehen und mag auch in der Zukunft seine Bedeutung behalten. Doch erschöpft diese Aufgabe sicherlich nicht die Rolle, die die psychoanalytische Psychologie in ihrer gegenwärtigen Gestalt und in ihrer künftigen Entwicklung in der Erforschung kulturwissenschaftlichen Materials zu spielen berufen ist.

Lassen Sie mich, was ich meine, an einem Beispiel verdeutlichen : Nehmen Sie an, ein psychoanalytisch geschulter Psychiater käme in die Lage, eine psychiatrische Krankengeschichte zu bearbeiten, die etwa vor längerer Zeit und von einem Arzt aufgezeichnet worden sei, der mit der Methode und dem Ziel der Tiefenpsychologie in keiner Weise vertraut war. Er wird sich dieses Auftrages mit allen Kräften zu erwehren suchen, ihn als unlösbar hinstellen oder zu einer sehr wenig befriedigenden Lösung gelangen. Denn jener andere, ältere ärztliche Beobachter mag mancherlei Wertvolles berichtet haben; es steht doch zu befürchten, daß er als Nebenbefund unterdrückt hat, was dem Psychoanalytiker als wesentliches Merkmal über bedeutsame Zusammenhänge hätte die Augen öffnen können. So oder ungefähr so steht es vielfach auch mit den uns vorliegenden Forschungsergebnissen der Kultur- wissenschaft. Der Versuch, sie durch psychoanalytische Einsichten näher zu erläutern, setzt es in der Regel voraus, daß mindestens ein Teil der Forschungs- arbeit selbst von neuem geleistet werde, gleichviel, für wie wichtig oder unwichtig man den Beitrag hält, den die Psychoanalyse hier überhaupt zu leisten imstande ist.

Die Bedeutung dieses Beitrages und damit ein Stück weit auch die Richtig- keit der hier vertretenen Auffassung kann durch eine andere, gleichfalls durchaus geläufige Überlegung beleuchtet werden.

Was die Psychoanalyse heute zu bieten imstande ist, eine Psychologie der zentralen seelischen Vorgänge, hat es vor dem zwanzigsten Jahrhundert inner-

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halb der Wissenschaft nicht gegeben. Sie hat das Erbe der Populär- psychologie angetreten, deren Geschichte noch ungeschrieben ist und die man als die Summe der jeweils herrschenden Ansicht über Art und Natur des menschlichen Seelenlebens überhaupt aus den mannigfachsten Zeitäuße- rungen erst rekonstruieren müßte.

Eine Verschiebung hat stattgefunden: etwas, was früher in außerwissen- schäftlicher Sphäre lag, ist in die wissenschaftliche eingetreten. Macht man sich mit diesem Gedanken erst vertraut, so merkt man bald, daß solche Ver- schiebungen sich im Laufe der geschichtlichen Entwicklung auf vielen Ge- bieten — wir möchten vergleichsweise sagen, als historische Mechanismen -

immer wieder abgespielt und den Aufschwung und die Bedeutung des einen Niedergang und Verarmung eines anderen Zweiges menschlicher Einsicht oder Betätigung zur Folge gehabt haben können.

Darum also, weil eine wissenschaftliche Psychologie der zentralen seeli- schen Vorgänge des menschlichen Lebens grundsätzlich neu ist, meine ich, daß sie in dem Material der kulturwissenschaftlichen Forschung nicht sowohl Ergänzungen bringen und Ergebnisse sichern als auf neue Fragestellungen hinführen wird, auf Fragestellungen, die erst jetzt, da sie sinnvoll geworden sind, auch faßbar werden. Das ließe sich sehr viel ausführlicher darstellen, besser begründen und mit mancherlei Beispielen belegen. Hier aber durfte es vorgebracht werden als Selbstbericht des Vortragenden über seine Arbeit Denn die Problemstellung der Studie, die ich hier vorbringen möchte, hat sich mir erst im Laufe der Zeit ergeben. Ursprünglich hatte ich die Ab sieht, mit den psychoanalytischen Einsichten „in die Bresche zu treten" „eine Lücke zu füllen", und war dabei genötigt, in die Einzelheiten der historischen Forschungsarbeiten selbst einzutreten, die ich nach allem für geleistet hatte ansehen können, um erst den Boden für die psychologische Fragestellung zu bereiten. Diese recht umfängliche Untersuchung ist eben im Druck erschienen; 1 sie gibt alle Vorarbeit und ein Stück der psycho- logischen Deutung selbst.

1) Unter dem Titel „Die Charakterköpfe des Franz Xaver Messerschmidt, Versuch einer historischen und psychologischen Deutung" in Jahrb. d. kunsthistor. Samml. in Wien, N. F., Bd. VI, Wien 1932, Verlag Anton Schroll; auch als Sonderdruck. Der Hinweis auf diese Veröffentlichung enthebt mich der Pflicht, das vielfältige Quellen- material an dieser Stelle nochmals zu nennen. — Auch für die künstlerische Tätigkeit Messerschmidts darf ich auf diese Veröffentlichung verweisen, in der die Hauptwerke des Meisters und beinahe alle der bei seinem Tode erhaltenen Charakterköpfe abge^ bildet sind. Diese Abbildungen — von denen dank dem freundlichen Entgegenkommen des Verlages Anton Schroll eine Auswahl hat übernommen werden können — sind


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Heute glaube ich mich darauf beschränken zu dürfen, Sie vor fertige p r0 bleme zu führen und deren Lösung selbst ein Stück weit zu vertiefen. pa diese Probleme enger mit der psychoanalytischen Klinik zusammenhängen als sich auf den ersten Blick erwarten läßt, ist es der Hauptzweck dieses Vortrages, mir von den Klinikern unter Ihnen Belehrung zu erbitten.


Es soll sich darum handeln, einige Werke eines Künstlers zu erläutern, der in der Kunstgeschichte seiner Zeit an erster Stelle steht und als Hof- bildhauer der Kaiserin Maria Theresia bekannt ist. Seine Arbeiten werden in Museen aufbewahrt — im Wiener Barockmuseum im Unteren Belvedere ist seinem Schaffen ein sehenswerter Saal gewidmet — und man darf ihn den bedeutendsten deutschen Plastiker seiner Zeit heißen. Daß in diesem Wien, in dem er die wichtigsten seiner Jugendjahre verbrachte, eine Straße aach ihm benannt ist, sei als äußeres Zeichen seines seit seinem Tode fort- dauernden Buhmes erwähnt.

Was ich aus der Biographie dieses Mannes, des Franz Xaver Messer- schmidt, vorzutragen beabsichtige, ist weniger als sonst in jeder ausführ- licheren Lebensbeschreibung nachgelesen werden könnte. Ich befinde mich damit im Gegensatz zu der Verpflichtung, die die psychoanalytische Methode sonst dem Patho- oder sagen wir Psychographen auferlegt. Aber ich habe Grund, den meisten Angaben, die über den Meister und sein Leben ver- breitet sind, zu mißtrauen. Die Gründe dieses Mißtrauens gehören durchaus in den Gang dieser Darstellung und sollen knapp vor ihrem Ende noch gestreift werden.

II

Franz Xaver Messerschmidt ist im Jahre 1736 in Wiesensteig in Schwaben als Sohn einer vielköpfigen Familie geboren worden, die, wenn wir kärglichen Nachrichten vertrauen, in ärmlichen Verhältnissen lebte. Frühe Neigung, aber auch glückliche Familienbeziehungen konnten schon den Knaben seinem Lebensberuf zuführen. Die Brüder der Mutter waren Bildhauer, der eine, Johann Baptist Straub, ein führender Vertreter des Münchner Barock, Messerschmidts erster Lehrer. Von München soll Messer-


mcht nach den Originalen der Charakterköpfe, sondern nach Gipsabgüssen angefertigt, die sich im Besitze des Bundesmobiliendepots in Wien und im Besitze Sr. Durchlaucht des regierenden Pursten von Liechtenstein auf Schloß Feldsberg befinden.


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schmidt nach seiner Lehrzeit, deren Dauer wir nicht kennen, nach C zu seinem anderen Oheim, dem Bildhauer Philipp Jakob Straub gezn sein; 1752, sechzehn Jahre alt, kommt er nach Wien an die Akadem" Hier hat er, anfangs, wie es scheint, unter großen Schwierigkeiten, sein Weg gemacht, wird 1757 auf Fürsprache seines Protektors, des Akadem' direktors und Hofmalers Meytens, „Stuckverschneider" am kaiserlich Zeughaus, ist seit 1760 im Dienste des Hochadels und des Hofes tat' reist 1765 nach Rom — vielleicht auch nach Paris und London — ! und wird 1769 auf Grund des Ansehens, das er sich durch seine Werk erworben hatte, Substitutprofessor der Bildhauerkunst an der Wiene Akademie.

Bald nachher scheint er erkrankt zu sein, denn als im Jahre 1774 ^ er ordentliche Professor der Bildhauerkunst stirbt, wird nicht Messerschmidt der „das Recht zu seinem unmittelbaren Eintritt in das Amt und die Be- soldung des Verstorbenen . . . erhalten hatte" vorgeschlagen, sondern drei andere, auch in den Augen der Zeitgenossen minder verdiente Meister Die näheren Umstände dieses Vorschlages kennen wir aus einem klugen und einsichtigen Promemoria des Fürsten Kaunitz, das der Kaiserin Maria Theresia die Stellungnahme des akademischen Kollegiums zur Kenntnis bringt. Wir heben eine Stelle hervor:

„Es ist aber in Ansehung- dieses Mannes das wichtigste Bedenken, daß er drei Jahre, sei es wegen seines Notstandes oder aber aus natürlicher Disposition einige Verwirrung im Kopf hat wahrnehmen lassen, welche, obschon sie sich seitdem gelegt hat, und ihm wieder wie vorher zu arbeiten erlaubt, dennoch von Zeit zu Zeit sich in einer nicht vollkommen gesunden Einbildungskraft äußert, . . . darin, daß er alle übrigen Professores und Direktores für seine Feinde hat, noch immer seltsame Grillen in der Einbildung hat und also niemals vollkommen ruhig sein kann."

Wir erfahren hier von einer psychischen Erkrankung, der Messerschmidt etwa im Jahre 1771, in seinem 35. Jahr verfällt, die sich seither gebessert hat, so daß er, zwar arbeits-, aber nicht lehrfähig geworden ist und man, wie Kaunitz weiter berichtet, Bedenken trägt, ihm Schüler anzuvertrauen. Bei der Kennzeichnung seines Verhaltens wird auf paranoide Züge hin- gewiesen.

Daß es sich in der Tat um einen psychotischen Schub gehandelt haben muß, der eine weitgehende Remission erfuhr, wird durch die Kenntnis der weiteren Lebensschicksale Messerschmidts sichergestellt. Er verläßt nach der schweren Enttäuschung, die ihm widerfahren ist, Wien, reist in seine schwäbische Heimat nach Wiesensteig und steht alsbald mit dem Münchner Hof in Verbindung; doch waren die dort angeknüpften Verhandlungen


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m Scheitern bestimmt. Als ihn seine Wiener Freunde dazu zu bewegen uchen, die ihm von der Kaiserin auf Bitten der Akademieprofessoren und all f Vorstellung des Fürsten Kaunitz schon 1774 bewilligte Pension endlich anzunehmen, weigert er sich brieflich, da er kein Gnadengehalt, sondern Bezahlung für geleistete Arbeit wünsche; die Worte, mit denen er seinen Brief beschließt, beleuchten seinen Zustand.

... da ich schon acht Jahre, von meinen Feinden verfolgt, keine meiner Kunst gemäßigte Arbeit bekommen hatte ... ja es scheint, ganz Deutschland meyne, es «ei mich zu verfolgen ihr Pflicht."

Dieser Brief ist an Messerschmidts Bruder Johann gerichtet, der in Preßburg lebte. Auch er war Bildhauer, mehr Handwerker als Künstler, und noch wenige Jahre vorher hatte es zwischen den Brüdern erbitterte Streitigkeiten gegeben, in deren Verlauf der unbegabtere Johann mit bloßem Degen gegen Franz Xaver losging.

Diese Vorfälle sind aber längst vergessen, denn 1777 zieht Messerschmidt aus München nach Preßburg und findet im Hause seines Bruders für drei Jahre eine Zufluchtsstätte; dann kauft er sich selbst draußen an der Stadt- grenze, beim Judenfriedhof, in einer Gegend, die als unheimlich gilt, ein Haus. Hier treibt er die letzten drei Jahre seines Lebens sein Wesen.

Man hat das Bewußtsein, daß nun ein großer Mann in Preßburg lebt, nicht verloren ; Reisende und Kunstfreunde scheuen die Mühe nicht, aus Wien nach Preßburg zu fahren, um den großen Mann zu besuchen, dessen Werke in aller Munde waren. So läßt sich aus den Reisebriefen und der Kunstliteratur der Zeit ein Stück weit Einblick in seine letzten Lebens- jahre gewinnen. Er gilt als Sonderling und Narr, dessen Hang zu Einsam- keit bekannt ist, ist für Besucher schwer zugänglich und weigert sich, seine Werke zu zeigen. Das Gefühl, daß man ihn zu wenig schätze, beherrscht ihn; sucht ein Käufer den Preis einer seiner Arbeiten zu erfahren, so nennt er unsinnige Summen; ein Kranz von Histörchen berichtet, wie er immer wieder hochgestellte Gönner durch Spott und Ironie abschreckte; auch soll er häufig versichert haben, er werde seine Werke vor seinem Tod in die Donau werfen, wie er denn auch allem Anschein nach manches noch selbst zerstört hat. Alle wissen zu berichten, daß sich in seinem Wesen Stolz und Narrheit mische, manche aber versichern auch, daß er als Geisterseher gelte. Was das zu bedeuten hat, erfahren wir aus einem ausführlichen Bericht, den wir Friedrich Nicolai verdanken. Dieser kluge und seines Streites mit den Weimarer Dioskuren wegen zu Unrecht vielgeschmähte Mann, hat im VI. Band seiner „Beschreibung einer Reise durch Deutsch-


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land und die Schweiz im Jahre 1781" eine Begegnung mit Messersch - J ausführlich geschildert. Seine Darstellung, die deutlich den Anteil d Verfassers an der psychischen Haltung Messerschmidts verrät und m h dem Geisteskranken als dem Künstler gilt, wird uns, wenn wir sie späterer Stelle heranziehen werden, auch die Möglichkeit bieten, uns selb ein Urteil über die Art von Messerschmidts Erkrankung zu bilden.

Im Jahre 1783 ist Franz Xaver Messerschmidt im siebenundvierzigste Lebensjahr an einer Lungenentzündung gestorben.

Als Teil seiner Biographie selbst ist noch seine Tätigkeit als Künstle kurz und in äußerster Schematisierung zu kennzeichnen. Seine ersten u n bekannten Werke — Heiligenfiguren oder Bildnisse — knüpfen an die rühmliche Tradition der bayrisch-österreichischen Barockkunst an, über- ragen aber das durch das Herkommen gewiesene Niveau in mehrfacher Hinsicht. Einflüsse italienischer und französischer Kunst, die er auf seiner Reise aufnimmt, verarbeitet er in großartiger Freiheit, und man darf be- haupten, daß etwa die in den sechziger Jahren entstandenen Statuen des deutschen Kaiserpaares und die Büste Joseph IL einen Höhepunkt deutscher Kunst ihrer Zeit bezeichnen. Etwa um 1770, in den Jahren seiner ersten Erkrankung, tritt eine — im Gange seiner Entwicklung einigermaßen vorbereitete — Wandlung seines Stils ein; Pathos und Schwung treten zurück, kühle Sachlichkeit der Schilderung herrscht vor: Messerschmidt hat als einer der ersten deutschen Künstler, als Bildhauer offenbar als erster, den Weg zum Klassizismus eingeschlagen. Der antikische Charakter seiner Werke tritt immer deutlicher zutage, ohne daß auch an den Bildnissen seiner Spätzeit die souveräne Beherrschung der Naturwiedergabe, die Kunst des Porträtisten, eine Minderung erfahren hätte.

Die Arbeiten Messerschmidts verteilen sich auf die ganze Dauer seines Lebens (ob er während des einen oder anderen kurzen Zeitabschnittes der künstlerischen Tätigkeit hat entsagen müssen, läßt sich freilich nicht be- antworten), und seine künstlerische Kraft ist auch nach seiner Erkrankung nicht erlahmt. Der entscheidende Stilwandel in seinem Schaffen hat sich offenbar erst in seiner Münchner Zeit vollzogen, und noch in seinen letzten Lebensjahren, als Sonderling in Preß bürg, hat er dem Zeitstil neue Nuancen abgewonnen. Heben wir nochmals hervor, daß sich seine reiche künstlerische Produktion (die sich übrigens erst zu einem Teil hat rekonstruieren lassen) der Kunst seiner Zeit einfügt, einen im Sinne der kunstgeschicht- lichen Entwicklung bedeutsamen und geschlossenen Ablauf bietet und auf einer im Sinne geläufiger Wertungen hohen Stufe die formalen Probleme





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arbeitet, denen die europäische Kunst seiner Tage zugewandt war. Diese F ,+stellung ist für die Beurteilung von Messerschmidts Persönlichkeit von Bedeutung, da sie uns über das Maß seiner Realitätsanpassung unter-

III

Seit dem Anfang der siebziger Jahre aber standen nicht mehr die Werke . Vordergrund seines Interesses, die er im Auftrage anderer ausführt, vielmehr galt seine Aufmerksamkeit vor allem — und später in den Preß- burger Jahren zuweilen ausschließlich — einer Serie von annähernd lebens- großen männlichen Büsten, von denen sich aus einer Zahl von über sechzig, die sich nach Messerschmidts Tod in seiner Werkstatt vorfanden, neun- undvierzig in verschiedenen Materialien, meist in Marmor oder Blei, aus- geführt, in Museen und Privatsammlungen verstreut, erhalten haben. Auf diesen Köpfen, die zuerst bald nach seinem Tod und später, bis in die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, immer wieder in Wien zur Besichtigung ausgestellt und zum Verkauf ausgeboten wurden, beruht in erster Linie sein seit seiner Lebenszeit nie erloschener Nachruhm; an sie vor allem hat sich der Anteil von Mit- und Nachwelt geknüpft, der ihm neben manchen anderen Ruhmestiteln auch den eines österreichischen Hogarth eintrug. Man ist gewohnt, sie als „Charakterköpfe zu bezeichnen, als physiognomische Studien anzusehen, — wie sie denn schon manchen Zeit- genossen als Darstellungen der Leidenschaften galten. Dieser Auffassung entsprechen auch die Bezeichnungen, die an den einzelnen Köpfen haften und schon vier Jahre nach Messerschmidts Tod nachweisbar sind.


1) Um die „Realität", die hier in Rede steht, zu kennzeichnen und damit Anschluß an eine in den Geisteswissenschaften gegenwärtig viel erörterte Frage zu gewinnen, empfiehlt es sich, hier auf eine sonst nicht unbedenkliche Unterscheidung einzugehen, die Benedetto Croce vorgeschlagen hat. Wir sind bemüht, die empirische Person, deren psychologische Stellung wir prüfen, im Zusammenhang ihrer Lebenssituation zu sehen, um über das Maß ihrer Realitätsanpassung zu einem Urteil zu gelangen; (im konkreten Fall betrifft dies die Beziehung des Messerschmidt zu seiner Umwelt, etwa zu Arbeitsgenossen, Kunstfreunden und Auftraggebern.) Eine analoge Einsicht dürfen wir für die ästhetische Person, den Menschen als Schöpfer seiner Werke, den Künstler also als Schöpfer des Kunstwerkes, anstreben. Die „Realitätsanpassung", sei, so darf man vermuten, in diesem Falle dadurch bestimmt, wie weit sich das Werk einem Strukturzusammenhang einfüge und den Anforderungen entspreche, die sich aus diesem Zusammenhang ergeben. Als solcher Strukturzusammenhang darf offenbar auch die historische Tendenz oder Richtung angesehen werden, der sich eine Leistung einfügt. Wir glauben danach zu einer Einsicht gelangt zu sein, die sich auf die Realitätsanpassung Messerschmidts als Künstler, auf die seiner ästhetischen Person bezieht.


In den meisten Fällen erfassen nun diese Bezeichnungen durchaus n* h den Eindruck, den wir von den Köpfen empfangen; in vielen Fällen sie geradezu unsinnig. (Vgl. etwa Abb. 14 oder 20.) Meint man etwa a den Augen des „Bekümmerten" (Abb. 27) etwas wie Trauer oder Besorg ' ablesen zu können, so hebt doch die fratzenhaft herabgeschlagene Liu diesen Eindruck wieder auf, ohne daß ein anderer an seine Stelle zu trete vermöchte. Das Verhältnis von „Benennung" und „Ausdruck" wird noch besser durch ein anderes Beispiel gekennzeichnet. Der Kopf des „Erhängten" (Abb. 13) dankt seinen Namen offenbar nur dem um den Hals legten Strick, während die Züge — Mund und Augen krampfhaft ver- schlossen, zugekniffen — der durch die Bezeichnung ausgelösten Erwartung in keiner Weise entsprechen. Wir sehen ein, daß offenbar ein Teilelement für die Wahl der Bezeichnungen maßgebend war; an späterer Stelle erst werden wir verstehen lernen, was das bedeutet.

In jenen Fällen, in denen wir die Bezeichnungen als befriedigend empfinden — beim Kopf des „Schlafenden" (Abb. 1) oder des „Gähners" (Abb. 9) etwa, — erfahren wir, in welchem Sinne sich Messerschmidt physiognomischen Studien zugewandt hat.

In den Jahren, da er an den Köpfen arbeitete, war, aus vielfachen Quellen gespeist, namentlich in Deutschland, beinahe gleichzeitig aber auch in Frankreich, man kann sagen in ganz Europa, ein allgemeines Interesse an Fragen der Physiognomik erwacht, das durch nichts besser gekennzeichnet wird, als durch den allgemeinen Anteil, der die glänzende Polemik begleitete, die noch in den siebziger Jahren zwischen zwei der bedeutendsten Köpfe Deutschlands, zwischen dem Züricher Pastor Lavater und dem Göttinger Professor Lichtenberg ausgebrochen war. Dem einen galt Physiognomik als die Lehre von der Zuordnung menschlicher Eigenschaften zum festen, anatomischen Gerüst des Kopfes, dem anderen, einem weisen Spötter, Patho- gnomik, die Lehre vom Ausdruck des menschlichen Antlitzes, als ein frucht- barer Weg zur Menschenkenntnis. Beide Auffassungen lassen sich bis in die pseudoaristotelische Physiognomik zurückverfolgen und haben bis in unsere Tage als Themen der Körperbauforschung und der Ausdruckspsychologie ihre Bolle bewahrt; mit beiden Bichtungen aber hat, was die Köpfe Messer- schmidts bedeuten können, keine Berührung. Sein Versuch läßt sich einer anderen Bichtung eingliedern, die seit dem siebzehnten Jahrhundert im akademischen Kunstbetrieb fest verwurzelt war. Im Bahmen dieser „Künstler- physiognomik" konnten am Ende des achtzehnten Jahrhunderts zwei Auf- gaben als zeitgemäß gelten: die eine (schon von Charles Lebrun 1667 vor-


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gezeichnete), paradigmatische Beispiele für den Ausdruck typischer Ge- fühle zu suchen, die andere, zu zeigen, wie sich das menschliche Ant- litz in verschiedenen Situationen verändere; mit dieser zweiten Aufgabe (die, soviel wir wissen, zuerst um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts vo n dem englischen Anatomen Parsons in dieser Form gestellt worden war) lassen sich Messerschmidts Versuche in Zusammenhang bringen. Was er an den Köpfen des „Gähnenden" oder des „Schlafenden" (Abb. 1 und 9) darzustellen unternimmt, sind Verhaltensweisen der Muskulatur des mensch- lichen Antlitzes und steht in keiner Beziehung zum Ausdruck von Affekten.

Auch dieser so eingeschränkten physiognomischen Aufgabenstellung aber entsprechen nur die angeführten und kaum andere aus der Serie der Charakter- köpfe.

Wir greifen jetzt auf einige Köpfe, die sich unschwer als Selbstbildnisse des Künstlers erkennen lassen; auch die Köpfe des „Schlafenden" und des „Lachenden' (Abb. 1, 2) sind ihnen anzuschließen. Verschiedene Bezeich- nungen — „der Zuverlässige", „der Melancholikus", „der tapfere Feldherr (Abb. 3, 4, 6) — vermögen uns nicht recht zu befriedigen. Über- blicken wir die ganze Beihe dieser Köpfe, so fällt zunächst eine seltsame Starre und Leere des Ausdrucks auf. Die Köpfe unterscheiden sich vor- nehmlich durch den Wechsel der Haartracht — der Perücken möchte man sagen ; verschiedene Versuche, die mimische Haltung da und dort zu verändern, vermögen den Eindruck der Gleichförmigkeit nicht zu ver- wischen.

Von jedem der verschiedenen Typen, in die Messerschmidt sein eigenes Antlitz „gekleidet" hat, lassen sich nun Fortbildungen und Varianten an- führen. Als eine solche stellt sich etwa der Kopf des „mürrischen alten Soldaten (Abb. 5) dar, dessen krampfhaft verschlossener Mund dem Antlitz keinen faßbaren Ausdruckswert verleiht. Das gleiche gilt für die Köpfe des „Mißmutigen" (Abb. 7) oder des „Satyrikus" (Abb. 8), die die Verzerrungen der Gesichtsmuskulatur in weiterer Steigerung kennen lehren; bald sind Mund und Augen verkniffen, bald die Augen aufgerissen, die Stirne gerunzelt und nur der Mund versperrt. Dieses Spiel mimischer Konstellationen wiederholt sich mit einiger Mannigfaltigkeit: wir heben etwa die Köpfe des „Verdrießlichen" und des „abge- zehrten Alten mit Augenschmerzen" (Abb. 11, 14) hervor. Oft ist die Nase in den Kreislauf der Verzerrungen einbezogen, und eine Serie von Köpfen — „Einfalt im höchsten Grade", ein „Schafskopf",


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16) — zeigt Abwandlung und Steigerung


„der heftige Geruch" (Abb. 15 dieser Versuche.

Überblicken wir die vorgeführten Beispiele. Zwei ineinandergreifende Tendenzen lassen sich unschwer erkennen. Die eine, wir möchten sagen legitime, sucht ein Stück unmittelbar verständlicher Charakteristik — meist durch äußere Kennzeichen — zu bieten; die andere drängt offenbar danach, Ausdruck in Grimasse abgleiten zu lassen. Manchmal, etwa am Kopf des „aus dem Wasser Geretteten" (Abb. 12), ist es offenbar nach- träglich gelungen, den grimassierenden Ausdruck zu rechtfertigen, denn das feste Verschließen von Mund und Augen läßt sich der Situation — dem Auftauchen aus dem Wasser nach der Rettung — als verständliche Reaktion einfügen. Ähnlich ist auch die Wirkung des „heftigen Geruches" (Abb. 15) zu erklären: der Krampf, der auch die Nase erfaßt hat, kommt als „Wittern" zur Geltung. Wir dürfen, was hier geschehen ist, als einen Versuch beschreiben, die vorgegebene mimische Konstellation nachträglich zu ratio- nalisieren.

In den überwiegend meisten Fällen aber — das läßt sich freilich nur an der ganzen Reihe der Charakterköpfe und nicht vor den wenigen Ab- bildungen aufzeigen, die hier als Beispiele vorgeführt werden können — ist ein faßbarer Ausdruck nicht zustande gekommen, der Versuch solcher Rationalisierungen unterlassen worden oder mißglückt und das Spiel der Gesichtsmuskulatur Grimasse geblieben.

Suchen wir uns, ehe wir fortfahren, was wir unter Grimasse verstehen, in erster und schematischer Annäherung zu vergegenwärtigen: Aus der Erfahrung des Alltags kennen wir sie unter zweierlei Bedingungen: als mißglückte Ausdrucksbewegung, dann, wenn eine verdrängte Regung sich vorschiebt — das Lächeln bei der Beileidsbezeugung — und als beabsichtigte Kundgebung. (Einer „schneidet" eine Grimasse.) In beiden Fällen weist sie uns auf aggressive Neigungen hin, die sich im ersten Falle gegen das Ich des Handelnden durchsetzen, im zweiten mit Absicht zum Ausdruck ge- bracht werden. Diesen beiden Fällen dürfen andere gegenübergestellt werden, die wir in der Erfahrung des Alltags nur selten antreffen und nicht mehr ohne weiteres geneigt sein werden, der Breite der Norm zuzurechnen. Wir meinen die Fälle, in denen dem Ich die Herrschaft über das Mienenspiel für längere Zeit entgleitet; dann, wenn etwa ein körperlicher Schmerz oder ein Durchbruch der Leidenschaft uns übermannt. Wir sprechen in diesen Fällen vom verzerrtem Gesicht und dürfen in gröbster Schematisierung an- nehmen, daß hier, ähnlich wie bei der mißglückten Beileidsbezeugung, aber


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doch mit Unterschieden, die gewichtig genug sind, das Ich einem Ansturm der Leidenschaft erlegen ist und seine Funktion — die Steuerung des Mienen- spiels — nicht hat ausüben können. 1

Die Grimasse ist aus einem besonderen Grund unserer Aufmerksamkeit gewiß. Denn an diesem mißglückten oder pathologisch entstellten Mienen- spiel tritt ein Wesenszug aller Ausdrucksbewegung mit voller Deutlichkeit zutage: ihre Zugehörigkeit zum Gebiet der Autoplastik.

Der schlechthin verständliche, mit Sicherheit deutbare Ausdruck sondert sich von jenem, der „nicht zu uns spricht", wie etwa die mimischen Kon- stellationen an den meisten der Messerschmidtschen Charakterköpfe. Wir dürfen hoffen, uns ihrem Verständnis zu nähern, wenn wir jenes Verfahren anwenden, mit dem wir auch sonst gewohnt sind, die großartigen Bildungen der Autoplastik — als Vorbild darf hier das hysterische Symptom gelten — ein Stück weit zu erfassen : indem wir sie nämlich als Anzeichen für Vor- gänge im Unbewußten ansehen und in ihren Sinngehalt durch psychoanalyti- sche Deutung einzudringen versuchen.

Die Grundlage, deren wir bei einem Versuch dieser Art nicht werden entbehren können, ist durch Äußerungen Messerschmidts und einige Be- merkungen über sein Verhalten geboten, die uns Friedrich Nicolai, dem es gelungen war, sich Messerschmidt in Preßburg zu nähern und sein Ver- trauen zu gewinnen, überliefert hat. Aus der umfangreichen Darstellung Nicolais greifen wir einige Stellen heraus, dürfen aber nicht erwarten, ein vollständiges und auch nur einigermaßen abgeschlossenes Bild von Messer- schmidts Gedankengängen oder seines Benehmens zu gewinnen; unsere Ein- sicht muß vielmehr fragmentarisch bleiben, und auch an den angezogenen Stellen läßt sich durchaus nicht alles einem Deutungszusammenhang ein- fügen.


l) Zu einer anderen Auffassung der Grimasse ist der Berliner Psychiater Bernt Götz in einer freundlichen und eingehenden Besprechung meiner ohen S. 386 genannten, wesentlich für kunstwissenschaftliche Leser bestimmten Arbeit über die Charakterköpfe des Messerschmidt gelangt. Er schreibt (Deutsche Literatur- Zeitung 1933, Sp. 762 ff.): „Die Grimasse ist vielmehr die verzerrte Darstellung eines Typus, während die Karikatur der tendenziös verzerrte Hinweis auf einen Menschen ist." Ich vermag mich dieser Auffassung nicht anzuschließen, darf aber darauf hinweisen, daß, was der Verfasser als meine Ansicht über die Karikatur bezeichnet, — daß sie ein Bildnis sei, dessen Ähnlichkeit im Häßlichen liege, — von mir ausdrücklich als die älteste mir bekannte aus dem siebzehnten Jahrhundert und aus dem Kreis des Giovanni Lorenzo Bernini stammende „Definition" angeführt wurde. Eine Wesensbestimmung der Karikatur aber ließe sich mit den Mitteln der psychoanalytischen Psychologie ganz anders begründen und ausbauen.


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Messerschmidt erzählt, daß ihn Geister „besonders nachts" plagen; er, de ständig keusch gelebt habe", müsse von den Geistern Peinigungen erleiden, obe-1 ' sie doch gerade deswegen mit ihm in gutem Einvernehmen stehen müßten n Geist der Proportion sei neidisch, weil er, Messerschmidt, der Vollkommenheit • der Proportion so nahegekomen sei; damit hänge es zusammen, daß er, wenn er einem marmorenen oder bleyernen Bild" gerade an einer Stelle des Gesichtes arbeit 11 „welche mit einer gewissen Stelle der unteren Theile des Körpers analog wäre" 1 seinem Unterleib oder in seinen Schenkeln Schmerzen empfinde.

Eine weitere Äußerung bezieht sich auf die Haltung der „ganz zusammengekniffene Lippen", die schon Nicolai an den meisten der Köpfe aufgefallen war. „Der MensÜ müsse billig", meint Messerschmidt, „das Rothe der Lippen ganz einziehen, weil kei Tier es zeige ... Die Tiere hätten große Vorzüge vor den Menschen, sie könnten viele Sachen in der Natur erkennen und empfinden, die den Menschen verbot " bleiben". S n

Auch von der Arbeitsweise des Künstlers vermittelt uns Nicolai eine Vorstellung- Um über die Geister der Verhältnisse Macht zu bekommen, kneift sich Messerschmidt an verschiedene Teile des Körpers, besonders in die rechte Seite unter die Rippen und verbindet damit eine Grimasse, welche „mit dem Kneifen des Rippenfleisches das jedesmal erforderliche Verhältnis hat; ... er kniff sich, schnitt Grimassen vor dem Spiegel und glaubte die bewunderungswürdigste Wirkung über seine Herrschaft über die Geister zu erfahren." „Während der Arbeit selbst sah er jede halbe Minute in den Spiegel und machte dabei mit größter Genauigkeit die Grimasse, die er eben brauchte."

Ehe wir an die Verwertung dieses aus dem Jahre 1781 stammenden Berichtes schreiten, empfiehlt es sich zunächst, die Frage der Diagnose neu aufzuwerfen. Die Vorstellungen und Verhaltensweisen, die wir aus dem Bericht Nicolais kennenlernen, geben dem Urteil recht, das das akademi- sche Professorenkollegium schon 1774 über Messerschmidt geäußert hat. Es handelt sich in der Tat um eine Psychose, in der paranoide Züge neben anderen stehen, die dem weiteren Bild einer Schizophrenie entsprechen.

In dem Material des Wahnes lassen sich da und dort wohlbekannte Bildungs- eindrücke als Bausteine aufzeigen; das alte Künstlerproblem der Proportion — der göttlichen Proportion, wie man namentlich seit dem sechzehnten Jahr- hundert zu sagen gewohnt war — wird mit der Vorstellung von der Ver- folgung durch die Geister verknüpft; das tierische Antlitz, das seit dem klassischen Altertum als Grundlage physiognomischer Studien galt, — diese Auffassung war im sechzehnten Jahrhundert durch Giovanni Battista Porta, im siebzehnten durch Lebrun vertreten worden und hatte zu Messerschmidts Lebzeiten in den Studien Lavaters und Goethes wieder eine Bolle zu spielen begonnen, — wird mit der Bildung der Lippen an den Charakterköpfen in Zusammenhang gebracht.


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Als Ausgangspunkt weiterer Überlegungen wählen wir nun das letzte Stück von Nicolais Bericht: Messerschmidt schneidet während der Arbeit vor dem Spiegel Grimassen, die er in seinen Bildwerken festhält. Verbinden w ir diese Schilderung mit jenen Bemerkungen, die wir an die Betrachtung einzelner Köpfe geknüpft haben und mit denen wir versucht haben, die Problemstellung innerhalb der Physiognomik zu kennzeichnen, die sich Messer- schmidt an den Büsten des „Lachenden" (Abb. 2) oder „Gähnenden" (Abb. 9) etwa erwählt hatte, so gelangen wir leicht zur Einsicht, daß der Kopf, dessen Abwandlung im mimischen Verhalten zu studieren Messerschmidt begonnen hat, immer sein eigener war; er hat ihn nur äußerlich ver- schiedenartig drapiert, sich bald mit anliegendem Haar, bald mit einer Art Perücke, bald als Glatzkopf dargestellt. Dann aber drängt sich uns eine Ver- mutung über den Sinn des Grimassierens selbst auf: Wir gewinnen den Ein- druck, daß wir es mit apotropäischen Handlungen zu tun hatten, daß die Grimassen etwa dazu bestimmt seien, die Geister abzuhalten oder einzu- schüchtern, wie denn Messerschmidt geglaubt haben soll, durch seine Grimassen „die bewunderungswürdigsten Wirkungen von seiner Herrschaft über die Geister zu erfahren". Die Annahme einer solchen Begression auf ein magi- sches Verhalten, die sich dem klinischen Bild zwanglos einfügt, ist zugleich geeignet, uns einen weiten Ausblick zu eröffnen: Die Bolle apotropäischer Magie im Kulte der Primitiven, als deren deutlichster Ausdruck Verbreitung und Bedeutung der Masken gelten dürfen, legt den Gedanken nahe, in der Grimasse eine — autoplastische — Vorform der Masken zu sehen, eine Maske in statu nascendi.

Um die spezielle Bedeutung der Grimassen Messerschmidts aufzuklären, knüpfen wir an zwei der von Nicolai überlieferten Bemerkungen an, die sich zwanglos verbinden lassen. Die eine besagt, daß die Geister Messer- schmidt wohlwollend gegenüberstehen müßten, weil er keusch gelebt habe, und die andere, man müsse das „Bothe der Lippen" einziehen, um, wie die Tiere, die Geister besser zu verstehen. Danach wird man in erster An- näherung das Einziehen des Lippenrots als eine Verleugnung der Sexualität verstehen dürfen, wobei die Lippe nicht nur selbst als Sinnbild sexueller Regungen aufgefaßt wird, sondern auch an eine Verlegung von „Oben nach Unten" gedacht werden darf, die in Messerschmidts Wahn selbst eine Rolle spielt; verbindet er doch die Arbeit an einer Stelle des Gesichtes seiner Köpfe mit schmerzlichen Empfindungen in der Sexualregion. Dann aber dürfen wir — auf Grund allgemeiner klinischer Erfahrung — aus den aufeinandergepreßten Lippen auf die Absicht schließen, den Körper vor


dem Einfluß der Geister zu versperren. Erinnern wir uns an die geläufi Doppelrolle der Verfolger im paranoiden Wahn, daran, daß sie zugle" b strafen und verführen, 1 so ist uns die Vermutung nahegelegt, es handl sich hier um die Abwehr der Verführung als Weib. Nun wird auch d Wechsel zwischen gewaltsamem Aufreißen und festem Zukneifen der Aus verständlich — etwa als Versuch, dem Anblick der Geister zu trotze oder ihn zu verleugnen; man darf auch noch wagen, die Haltung de Nase, das Wittern, in analogem Sinn zu deuten — und wir werden sehen daß manches für diese Auffassung spricht. Auch eine Anzahl von Köpfen, die bisher nicht hatten herangezogen werden können, lassen sich diesen Deutungs- versuch einfügen, einen von ihnen haben wir in anderem Zusammenhang — . als es sich um die Charakteristik der an den Köpfen haftenden Namen handelte — schon als den des „Bekümmerten" (Abb. 27) kennengelernt doch finden sich den einzelnen Bildnistypen entsprechend mehrere Büsten mit einer ähnlich schlaff herabgeschlagenen Lippe (Abb. 10) und neben diesen auch eine, die einen wie im Ekel halbgeöffneten Mund zeigt (Abb. 25). Es liegt nahe, diesen Zug als ein Nachgeben, als Willfährigkeit gegen die Geister aufzufassen.

Bedeutsamer aber als diese Versuche einer Deutung der verschiedenen Einzelzüge der mimischen Konstellationen, die sich auf so schwankendem Boden zwar nicht über das Vorgebrachte hinaus sichern läßt, obgleich es möglich wäre, sie nach mehrfacher Bichtung zu erweitern und fortzusetzen, ist eine Einsicht, die sich hier auf das Ganze der Serie der Charakterköpfe eröffnet. Bei allem Wechsel innerhalb der mimischen Konstellationen — nur eine kleine Anzahl der verwendeten Kombinationen schon bekannter Einzelzüge konnte hier angeführt werden — muß immer wieder auf die Gleichartigkeit der Wirkung verwiesen werden, die von den einzelnen Köpfen ausgeht. Je länger ein Beschauer die Serie Stück für Stück betrachtet oder auch — und dieser Befund ließ sich durch Versuche sichern — je mehr Köpfe ein Beschauer schon kennt, desto geringer wird sein Interesse an den einzelnen Köpfen; die Versuche den „Ausdruck zu deuten" werden

1) Als auf leicht zugängliche Beispiele verweise ich etwa auf das Selbstzeugnis eines Psychotikers, die „Denkwürdigkeiten" des Senatspräsidenten Schreber, an denen Freud zuerst, 1911, seine Auffassung der Paranoia entwickelt hat (Ges. Schriften, Bd. VIII, S. 555 ff.), oder auf einige in Kräpelins Psychiatrie mitgeteilte Beispiele (vgl. III/2, 8. Aufl., S.g37ff,bes. 997). Vgl. dazu auch O. Penich el, Perversionen, Psychosen, Charakterstörungen, Wien 1951, S. 83: „Allerdings verhängen diese halluzinatorischen und wahnhaften Gebilde nicht nur Strafen über den Kranken, sondern erscheinen auch als die teuflischen Versucher, die den Kranken zur Sünde verführen . . ."


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bald aufgegeben, das Mienenspiel bald als Grimasse erkannt, — das Lachen des gehenden" (Abb. 2) etwa als verkapptes Grinsen, — bald aber erschließt sich auch die Gleichförmigkeit der Grimassen selbst, so daß aus der Betrachtung der Köpfe ein Eindruck erwächst, der das klinische Bild der Erkrankung bestätigt und ergänzt: Der Eindruck, daß hier das künstlerische Schaffen unfrei und an sehr einengende Bedingungen gebunden ist, deren Stereo- type auch ohne Kenntnis der Begleitumstände als pathologisch erlebt wird. Nur zwei Köpfe lösen sich ganz aus diesem Bann (Abb. 19, 20); sie sind schon äußerlich durch kleineres Format von den anderen unterschieden. Statt aller Beschreibung lassen wir Nicolai sprechen:

„Nun standen in einem Winkel des Zimmers noch zwei Köpfe von einer schwer zu beschreibenden Gestalt. Man stelle sich vor, daß alle Knochen und Muskeln eines menschlichen Gesichts so zusammendrückt und vorwärtsgezogen wären, daß die äußerste Spitze der zurückgeschobenen Stirn und die äußerste Spitze des hervorgedrückten Kinn- knochens einen Winkel von zwanzig Grad macht, daß also das Gesicht beinahe in die Form eines Schnabels gezogen ist, obgleich doch immer die menschliche Gestalt bleibt."

In der Tat trifft diese Schilderung den Kern; wir würden sagen, der Kopf sei bloß eine Akzedenz des Schnabels.

„Da ich merkte", fährt Nicolai fort, „daß Messerschmidt diese Bilder nur kurz, mit starren Augen betrachtete und gleich das Gesicht abwandte, so fragte ich mit der größten Behutsamkeit, was diese vorstellen sollten. Messerschmidt schien ungern die Erklärung zug eben ... und seine sonst lebhaften Augen wurden ganz gläsern, indem er mit abgebrochenen Worten antwortete „Jener (nämlich der Geist) habe ihn gezwickt und er habe ihn wieder gezwickt, bis die Figuren herausgekommen wären. Ich habe gedacht: Ich will dich endlich wohl zwingen; aber er wäre beinahe darüber des Todes gewesen." Ich merkte aus allem, daß diese Karrikaturen menschlicher Gesichter eigentlich die Gestalten waren, unter denen die betrogene Phantasie des •\rmen Messerschmidt sich die Geister der Verhältnisse vor-stellte.« 

Messerschmidt fügt noch hinzu, daß er sich wohl imstande fühle, die ganze Serie der Charakterköpfe nochmals zu arbeiten „nur die beiden Schnabelköpfe ausgenommen, welche er nicht zum zweyten Mal hervorbringen könne."

Es ist nun in der Tat durchaus wahrscheinlich, daß hier, nach Nicolais Vermutung, der Geist, der Messerschmidt verfolgte, in seiner doppelten Rolle vor uns steht. Auch an diesen Köpfen sind die Lippen fest zusammen- gepreßt, aber dann — gleichsam wie ein Teig — zu spitzer Form aus- gezogen. Denken wir an die Köpfe mit fest verbissenen Lippen zurück, aus denen wir auf eine feminine passive Einstellung zu schließen versuchten, so meinen wir hier ein Sinnbild der Aktivität zu erblicken. Die Angst,' e der Anblick der Schnabelköpfe auslöst, können wir uns an dieses Be- kenntnis zur phallischen Sexualität geknüpft denken, die in der Projektion


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dem Geist zugeschrieben wird. Wichtiger aber ist, — und zwar sowoh wenn wir nach dem Eindruck der Köpfe selbst schließen, wie wenn w" versuchen, die Wahnvorstellungen nach Analogien zu ergänzen, — j, was in diesen Köpfen dargestellt wird, unmittelbar als Illustration eine Fellatio aufgefaßt werden kann, zu der die Geister Messerschmidt auffordern

Solche Deutungsversuche aber, die sich dem schon Angedeuteten zwanp los anschließen, führen an einem anderen, zentraleren Problem vorbei da die Kenntnis der Schnabelköpfe uns nahelegt. Wir gehen vom Auffälligst«  aus, von ihrer Wirkung auf den Beschauer; sie ist nicht nur dem Grad nach stärker, als die der anderen Köpfe, sondern auch der Art nach ver- schieden. Hier ist keine mimische Konstellation, ist keine Grimasse geboten Das Thema des „Antlitzes' ist beibehalten, so daß „doch immer die mensch liehe Gestalt bleibt", die aber mit souveräner Freiheit transzendiert win Der Weg Messerschmidts hat hier von der Grimasse zum Ornamentalen, zum eigengesetzlichen Gebilde geführt, das in einer Kunstgeschichte der Zier- form seine Stelle hat, von der Autoplastik eines mimischen Zeremoniells zur Alloplastik, zum Kunstwerk. So scheint der psychologischen Sonder- stellung der Charakterköpfe, ihrer Sonderstellung als Angstobjekte, eine andere, eine künstlerische, zu entsprechen. Suchen wir ein allgemeines Ergebnis aus diesen Überlegungen zu sichern, so gelangen wir auf festeren Boden. Die künstlerische Umgestaltung der Wirklichkeit, der die Schnabel- köpfe ihre Wirkung verdanken, meinen wir damit in Zusammenhang bringen zu dürfen, daß der sexuelle Kern von Messerschmidts Wahnvorstellungen hier am stärksten zum Ausdruck drängte. Nach Erfahrungen, die wir der Kenntnis der Traumarbeit danken, läßt sich vermuten, daß die künstlerische Umgestaltung der „Wirklichkeit" sich hier so weit entfalten mußte, um den latenten Inhalt der Phantasie zu verhüllen. 1

Den Zusammenhang zwischen der Stilisierung, der die Naturform unter- worfen wird, und dem weiten Gebiet der sexuellen Symbolik kennen wir aus zahlreichen dem Bestand vorgeschichtlicher und „primitiver Kunst zu-


i) Vgl. dazu die Auffassung von B. Götz, der in seinem Referat über meinen oben zitierten Aufsatz (Deutsche Literatur- Zeitung 1933, Sp. 762 fr.) die zusammengepreßten Lippen „aus einer Bangnis vor dem Verströmen ins Weite, vor dem Ichverlust" ver- stehen möchte; er meint, daß „der Schnabel" des Schnabelkopfes, „der vom Zentrum des Kopfes abspreizt" nicht „nur die sexuelle Entselbstung", sondern „die Entselbstung überhaupt" bedeute; die Schnabelköpfe seien „Verkörperungen des schlechthin Frag- würdigen". Daß ich die „Bangnis vor dem Ichverlust", das „Verzagen" des Schizophrenen „innerhalb einer kontinuierlichen Depersonalisation" auf meine Weise zu deuten suchte, ist Götz offenbar entgangen.



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All. 3: „Der tapfere FeUl:


All. 4: „Der MelancLoliteJ



Alk 5: „Ein mürriscler alter /Soldat"


All. b: „Der .Zuverlässige"



Abb. /: „Der Mißmutige"


ALL 8: „Der Satiriki



Abb. 9: „Der Gälmer"


ALb. 10: „Der Trotzige"



Abb. ii: „Ein abgeselirter Alter mit Augenschmersen"


ALL. 13: „Em aus Jem "Wasser vreretteter"



Abb. i3: „Ein ErLängte


ALL. l^: „Der Verdrießliche"



ALL. i5: „Der lieftige Gerudi"


Abb. 16: w-E*& iSckaislcopl"



AM>. V : »E^ alter frölilidier Läckle


ALL. 18: „Jim Heudiler und Verleumder"



Abb. 19: „Zweiter uclmabelkopf"




Ä !

Abb. ao : „Erster Sdinabelkopf"


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Abn. si: „Der düstere Mann (?)"


Abb. 22: „Der unfällige Fagottist"



A üb. 3 3: „Der mit Verstopfung BeliaJtete" Abb. %^\ „Innerli'cli verschlossener Gr



Abb. 28: Der Kapusiner Fehler

Preßbarg, Museum



Abt. 29 : Van Swleten


Wien, Barockmuseum


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hörigen Beispielen. 1 An den Charakterköpfen des Messerschmidt selbst , » e gnet noch ein Fall analoger Stilisierung, der uns vertieften Einblick . die Bedingungen ihres Zusammenkommens verspricht. An manchen der Köpfe finden wir die Form der Lippe in besonderer Art ausgebildet, als Band, das den Mund verdeckt (Abb. 21, 23 f.). Nach allem, was wir schon er- mittelt zu haben glauben, ist es nun naheliegend, nach dem symbolischen Sinngehalt dieser Bildungen zu suchen. Er ergibt sich, wenn wir das Band als Gürtel — als Keuschheitsgürtel — auffassen. In manchen Fällen, etwa an einem Kopf, der als „Verschlossener Gram" (Abb. 24) bezeichnet wird, bleibt die Stilisierung durchaus nicht auf dieses Einzelmotiv beschränkt, erfaßt vielmehr den ganzen unteren Teil des Antlitzes und verarbeitet die am Kinn zusammenfliessenden und die Bandlippe einrahmenden Faltenzüge zu einem selbständigen maskenhaften Gebilde. Bedenken wir nun, daß das Einziehen des Lippenrots, das feste Versperren des Mundes jene Haltung ist auf der der größte Nachdruck ruht, so dürfen wir die Annahme vor- bringen, Messerschmidt habe die natürliche Bildung der Form dort ver- lassen, wo ihre magische Bedeutung überwiegt.

Mit dieser Auffassung läßt sich, was sich über die Beihenfolge ermitteln ließ, in der wir die Charakterköpfe entstanden denken dürfen, einigermaßen in Einklang bringen. Die Arbeit hat am Anfang der siebziger Jahre ein- gesetzt; 1776 waren sechs, ein Jahr später zwölf „metallene Kopfstück" vollendet, Anfang der achtziger Jahre etwas über sechzig in Messerschmidts Werkstatt zu sehen. Als Nicolai sie besuchte, sah er Messerschmidt am einundsechzigsten Kopf arbeiten; als der Künstler zwei Jahre später starb, waren neunundsechzig Köpfe vorhanden. Ordnet man die, die sich erhalten haben, auf Grund ihrer formalen Eigentümlichkeiten, so wie etwa die Kunstgeschichte sonst nicht näher bestimmtes Material einanderzureihen gewohnt ist, so liegt es nahe, jene Köpfe an den Anfang zu stellen, die Nicolai als die „simplen der Natur gemäßen" anspricht; er meint damit offenbar die „Selbstbildnisse" (Abb. 1 — 4, 6). An diese lassen sich jene anderen anschließen, die, „um den übernatürlichen Sinn der Tiere nachzuahmen, mit zusammengekniffenen Lippen und angespannten Konvulsionen dargestellt waren. 2 Aus diesen läßt sich ohne Mühe eine Beihe bilden, die auf der

1) Über diese Frage bereitet unsere Kollegin Frau Dr. S. Gutmann seit vielen Jahren eine Arbeit vor, deren Kenntnis ich wertvolle Anregungen verdanke.

2) Nicolai zählte vierundfünfzig solcher Köpfe; es scheint, daß Messerschmidt selbst noch manche von ihnen vor seinem Tod zerstört oder etwa durch andere, heute er- haltene, ersetzt hat; auch in dem uns erhaltenen Material müssen alle außer acht Köpfen dieser Gruppe angeschlossen werden.


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einen Seite unmittelbar an die Selbstbildnisse anschließt, auf der aber in den Büsten ausklingt, an denen die Nase besonders betont W *

könnte etwa den als „heftigen Geruch" (Abb. 15) bezeichneten W ' T Ende rücken und wäre nun geneigt, die Schnabelköpfe an diesen anzuschlieR

Diese Anordnung, die Messerschmidts künstlerische Entwicklung »l sinnigen Weg vom Natur-Näheren zum Natur-Ferneren erscheinen ließ ^ man darf sie eine stilgeschichtliche nennen, - trifft offenbar nichtV Reihenfolge, in der die Köpfe entstanden sind; denn so unklar auch H Emzelheiten dieser chronologischen Fragen sind und werden bleiben müs, P so gut ist es zu verbürgen, daß die Schnabelköpfe nicht als letzte der iJb ' und daß mindestens einige der Selbstporträte - etwa das des „Schlafenden" - nach ihnen entstanden sind. 1 Damit tritt an die Stelle einer „ geschichtlichen eine stilpsychologische Einsicht; die Formensprach der Schnabelköpfe bezeichnet nicht ein zeitliches Spät- oder Reifestad 1 m Messerschmidts Stilentwicklung, sondern steht mit dem Gegenstand Z Darstellung dh. wie wir nun sagen dürfen, mit ihrer psychologischen Bedeutung für Messerschmidts Vorstellung in Zusammenhang

Mit dzesen Überlegungen haben wir der Tragfähigkeit unseres Materials vielleicht zuviel zugemutet und uns, aus dem Zusammenhang dieses Vor- trages hinaustretend, auf ein weites und anziehendes Gebiet gewagt das als Hauptgegenstand der Kunstpsychologie - denn nichts Geringeres' stein' m Rede als die Wechselbeziehung von inhaltlicher Bedeutung und formaler Gestaltung - von dem schmalen Pfad, auf dem wir uns fortbewegen nicht weiter zugänglich ist. S

Kehren wir zu Messerschmidts Charakterköpfen zurück. Ihr näheres Studium führt uns auf eine große Zahl von Fragen, von denen sich nur einige als lösbar erweisen.

Der Bericht Nicolais hat, was aus dem Vergleich der Köpfe untereinander, aus der Kenntnis der typischen Elemente der Grimasse wahrscheinlich zu machen war, sichergestellt, daß Messerschmidt für seine Charakterköpfe nicht verschiedene Modelle benützte, daß er vielmehr stets das Spiegel- bild des eigenen Antlitzes nachahmte. Angesichts dieser Einsicht gewinnt der sonderbare Versuch, die eigene Person in so verschiedener Aufmachung - als Glatzkopf, als Greis mit wallendem Haar oder als Jüngling mit knapp anliegender Frisur - darzustellen, eine besondere Bedeutung. Wir dürfen sie-ganz im Sinne der Erfahrungen aus dem Seelenleben der Schizo-


1) Vgl. dazu die Ausführungen in meiner oben S. 3 86 angeführten Arbeit.


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uhrenen — als Versuch des Künstlers ansehen, sich die Existenz seiner Person immer wieder zu beweisen und zugleich als Versuch, dem eigenen Ich immer von neuem zu entgehen. Damit erscheint denn seine Arbeit an den Charakterköpfen in neuem Licht: es liegt nahe, sie als Versuche der Selbstheilung anzusehen.

Nicht nur für die Art, in der Messerschmidt die Aufgabe, die er sich stellte, zu lösen unternahm, ist diese Einsicht gültig, schon die Zuwendung zu physiognomischen Problemen — die Wahl des Themas also, das um seiner didaktischen Bedeutung willen gerade Messerschmidt freilich nahe genug lag — darf man sich auch aus dem gestörten Persönlichkeitsbewußtsein der Schizophrenen determiniert denken. Wissen wir doch, daß der Beginn der Arbeit an den Charakterköpfen in die Zeit von Messerschmidts „erster" Erkrankung fällt. Erinnern wir uns nun der Beihe der Selbstbildnisse mit ihrer seltsamen Stumpfheit und Ausdrucksarmut (Abb. 3, 4, 6), so können wir uns des Gedankens kaum erwehren, daß hier einer vor dem Spiegel um einen echten Ausdruck ringt, darum ringt, den entgleitenden Kontakt mit der Umwelt, dem zu dienen die vornehmste Aufgabe der Mimik ist, noch zu erhaschen. 1 Wie die Zuwendung zu physiognomischen Problemen über- haupt, wie die Themenwahl also, so darf auch die Ausführung selbst als Restitutionsversuch imponieren, Bei diesem Versuch ist an Stelle des schlecht- hin verständlichen mimischen Ausdrucks ein System fester mimischer Kon- stellationen getreten, die, ungeeignet eine soziale Funktion zu erfüllen, den Kontakt mit der Umwelt herzustellen, zum Träger eines magischen Zere-

1) Solchen Gesichtern begegnen wir zuweilen an Geisteskranken. Die psychia- trische Diagnose ist gewohnt, mit dieser „leeren" und „stumpfen" Mimik ebenso zu rechnen wie mit dem „gekünstelten" oder „überspitzten" Ausdruck, hinter dem sich die Ausdrucksarmut zuweilen zurückzieht. Das Unechte der mimischen Haltung ist in diesen Fällen oft nicht leicht ohne längere Beobachtung zu erkennen und unser Urteil bleibt vor M Omentphotographien unsicherer als in der klinischen Erfahrung selbst. Am ehesten scheint sich der psychotische Habitus in der Mimik darin zu verraten, daß nicht alle Teile des Gesichtes auf die eine vorherrschende Ausdrucks- haltung abgestimmt sind, daß also die Mimik nicht vereinheitlicht ist. Diese Ein- sicht ist der psychiatrischen Praxis durchaus geläufig. So soll etwa — nach einer freundlichen Mitteilung, die ich H. Nunberg verdanke — Bleuler die Diagnose Schizophrenie oft gestellt haben, nachdem er durch Abdecken mit vorgehaltener Hand die obere und untere Gesichtshälfte des Patienten gesondert betrachtet hatte. Auch an den Charakterköpfen begegnet öfters eine Uneinheitlichkeit des Ausdrucks — an den grimassierenden Köpfen ist zuweilen der Ausdruckswert einzelner mimischer Elemente einander geradezu entgegengesetzt ■ — und am Antlitz des Menschen Messerschmidt selbst hat ein kenntnisreicher Beobachter, der ihn zu Ende des Jahres 1780 besuchte, den Eindruck hervorgehoben, den die „zerstörten Züge" des Künstlers auslösen.


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moniells geworden sind, aus dessen Zusammenhang allein wir in den Sin gehalt einzelner mimischer Elemente einzudringen vermochten.

Auch die besondere Aufgabe aber, die sich Messerschmidt innerhalb seines Themas, der Physiognomik, gewählt hat, nicht die Affektlagen, sondern Reaktionsweisen der Gesichtsmuskulatur zu studieren, dürfen wir uns e " Stück weit durch seinen psychischen Zustand bestimmt denken, als Versuch auf einem Umweg — gleichsam von außen, von der Oberfläche her — ' doch zu einer sozial wirksamen mimischen Haltung zu gelangen.

Völlig gelungen ist dies nur in wenigen Fällen, etwa am Kopf des „Gähnenden" (Abb. 9); eben da aber handelt es sich um eine mimische Verhaltensweise, die wir als Reflexbewegung anzusehen berechtigt sind; sie tritt in der Ontogenese als erste „mimische" Leistung des Neugeborenen auf; ein Seelisches ist zunächst in ihr nicht enthalten. An anderen Charakter- köpfen tritt der Ausdruck nur als zusätzliches Element neben die grimas- sierende Haltung, als ein Versuch, die Grimasse ausdruckshaft zu färben oder — wie oben gesagt wurde — zu rationalisieren.

An einigen Köpfen meint man auf den ersten Blick den Ausdruck vor die Grimasse stellen zu dürfen — etwa am Kopf des „erbosten Zigeuners" (Abb. 26). Hier glauben wir Wut zu finden, einen durch nichts ge- hemmten Paroxysmus der Leidenschaft; um solche Affektentladung und das unheimliche Gefühl, das sie auslöst, zu kennzeichnen, spricht man wohl auch von „sinnloser" oder von „wahnsinniger" Wut. Das kann kein Zufall sein; man empfindet die Nähe der Psychose. Bedenkt man, daß unter einem halben hundert Büsten diese Wut beinahe der einzig echte, jedenfalls der stärkste Ausdruck affektiven Erlebens ist, so liegt es nahe, anzunehmen, daß sonst aller Affekt vermiedMotor aller dieser Sagen- bildung aber ist die Auseinandersetzung mit dem Bildzauber, dessen magi- sches Zeremoniell, wie es scheint, den Zugang zu den Anfängen bildender Kunst eröffnet.

Ich muß darauf verzichten, diese großartige Kette, die uns die unlösbare Verbundenheit aller Vorstellung vom Künstler mit jener Vorzeit beweist, da er als Magier galt, hier Glied für Glied vorzuführen. Wir werden uns aber nicht wundern, daß im Wahn des Schizophrenen die Vorstellung von der Gottähnlichkeit des Künstlers und seines Schaffens auftaucht. Jenen Griff Messerschmidts an die Rippe dürfen wir uns doppelt determiniert denken: Aus der Angst vor der Kastration — er prüft, ob die Rippe noch da ist, aus der der Gott das Weib schuf, und damit wäre der Anschluß an die von uns vermutete Phantasie von der Vergewaltigung durch die Geister gegeben — und aus der Identifizierung mit dem Menschenschöpfer selbst: Der Bildhauer


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e ;ft bei seiner Arbeit an die Rippen, um wie der Herr aus der Rippe Menschengestalt zu bilden. 1

pie Identifizierung des schizophrenen Künstlers mit dem Schöpf ergott h timmt a i,er auch die Vorstellung Messerschmidts, daß ihn der Gott der Proportion aus Neid verfolge. Wie so vielen anderen Künstlern gilt auch dem Messerschmidt die Proportion, die „divina proporzione" als Geheimnis Gottes, um das er sich bemüht; damit verstößt er gegen das Verbot. Die nrometheische Auflehnung taucht in dem Wahn als Projektion auf: Ihn, den Aufrührer, verfolge die Gottheit.

Lassen Sie mich noch mit einem Worte sagen, daß, was uns hier im Wahne des Messerschmidt entgegentritt, in unser aller Vorstellung als archai- sches Erbe fortlebt. Überblickt man die Geschichte der sozialen Stellung des bildenden Künstlers in der Gesellschaft, so zeigt sich immer wieder, wie ambivalent wir ihm begegnen ; mit Scheu und Bewunderung, die seiner Kunst, die der Macht des Zauberers gilt, mit gedämpfter Verachtung, die den „Asozialen" als Gefährder der Satzungen immer wieder in das Verließ der Boheme zu verweisen geneigt ist.


i) Und hier scheint sich ein Kreis zu schlie0en, denn was er bildet, sein eigenes Antlitz, gilt ihm als weiblich.


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