Biarritz (Hermann Goedsche)  

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"Seven years after the publication of Eugène Sue's Les Mystères du peuple, a French revolutionary named Maurice Joly plagiarized aspects of the work for his anti-Napoleon III pamphlet, The Dialogue in Hell Between Machiavelli and Montesquieu, which in turn was later adapted by the Prussian Hermann Goedsche into an 1868 work entitled Biarritz, in which Goedsche substituted Jews for Sue's infernal Jesuit conspirators. Ultimately, this material became incorporated directly into the notorious anti-Semitic hoax, The Protocols of the Elders of Zion." --Sholem Stein

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Biarritz (1868) is a book by Hermann Goedsche. It plagiarized a book by the French satirist Maurice Joly, The Dialogue in Hell Between Machiavelli and Montesquieu, and made an addition: the chapter "At the Jewish Cemetery in Prague" ["Auf dem Judenkirchhof in Prag"] described a secret rabbinical cabal, Council of Representatives of The Twelve Tribes of Israel, which meets in the cemetery at midnight for one of their centennial meetings. They report on the progress of their long-term conspiracy to establish world domination. Among the methods to achieve this goal are the acquisition of landed property, the transformation of craftsmen into industrial workers, the infiltration into high public offices, the control of the press, etc. The chairman Levit expresses at the end of the meeting the desire to be the kings of the world in 100 years. This fictional "Rabbi's Speech" was frequently quoted later as an authentic episode and invoked as a proof of the authenticity of the Protocols of the Elders of Zion. In Nazi Germany the chapter was re-printed independently in many editions.

To portray the meeting, Goedsche borrowed heavily from the scene in the novel Joseph Balsamo by Alexandre Dumas, père in which Alessandro Cagliostro and company plot the affair of the diamond necklace, and likewise borrowed Maurice Joly's The Dialogue in Hell Between Machiavelli and Montesquieu as the outcome of the meeting.

Full text

"Retcliffe, John - Biarritz - Erste Abtheilung - Erster Band"[1]

Biarritz.

Von

Sir John Retcliffe.

(Verfasser des Romans »Sebastopol.«) Erste Abtheilung:

Gaeta - Warschau - Düppel. Erster Band.

Masken ab!


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Protest.


Der Herr Verfasser des vorliegenden Buches schrieb seit 1856 mehre Romane unter dem von ihm gewählten Pseudonym »Sir John Retcliffe«. Diese Romane sind:


»Sebastopol«, »Nena Sahib«,

»Villafranca«  (»Zehn Jahre«  »Magenta« und »Solferino«)

zuletzt


»Puebla«.


Daß jenes von ihm gewählte Genre: Die Darstellung der Zeitgeschichte im Gewand des Romans - Anklang und Nachahmung gefunden, kann ihn nur freuen. Er hätte jedoch wohl auf so viel Anstand und Rechtsgefühl im deutschen Schriftstellerthum und Buchhandel hof- fen dürfen, daß dabei nicht auch das von ihm gewählte Pseudonym zum Gegenstand der Spekulation gemacht werden würde.

Diese Erwartung ist eine irrige gewesen. Es sind seitdem nicht [,] nur unter gleichem Pseud- onym verschiedene Romane neu erschienen [,] sondern es wurde selbst versucht, unter dem- selben Autornamen eines seiner Bücher (Villafranca) fortzusetzen.

Der pseudonyme Schriftsteller ist wider solche - Spekulationen machtlos, er kann bei dem Leserkreis eben nur gegen Verwechselungen protestiren.

Im Namen und Auftrag des Autors thut dies hiermit die Verlagshandlung, indem sie erklärt, daß nur die oben angeführten Bücher von dem Verfasser des Romans »Sebastopol« herrühren, und derselbe hiermit jede Beziehung zu anderen unter Mißbrauch oder Nachahmung seines Pseudonyms bisher erschienenen oder noch erscheinenden, oft eine ganz andere Tendenz verfolgenden Schriften ablehnt.

Berlin, März 1868.


Die Verlagshandlung von

C. S. Liebrecht.


[ 9 ]


Castelfidardo!

Eine der infamsten politischen Handlungen der neuern Zeit, ein Bruch des Völkerrechts, wie ihn nur die krasseste Willkür des ersten Napoleon gezeigt, war begangen: der Einbruch der sardinischen Armee ohne jede Ursach, ohne Kriegserkärung in das päpstliche Gebiet, das heißt in den geringen Theil, der aus dem Kriege und den Revolutionen von 1859 dem Oberhaupt der katholischen Kirche noch geblieben war. -

Ganz Italien befand sich in wilder Aufregung. Die Revolution unter’m Schutz des könig- lichen Purpurs und im Kleide des rothen Hemdes war überall Sieger. Graf Cavour hatte mit Geschick und Erfolg die sardinischen Millionen ausgestreut und Nizza und Savoyen unter der Farce eines Plebiscit dem großen Spekulanten in Volkssouveränität und gloire verschachert! - Der geheime Besuch in Chambery am 16. September hatte die Komödie geordnet und das Reugeld für den Wechsel Orsini: »Frei bis zur Adria!« gezahlt. Der großen Liga der Revolution war [ 10 ]

durch plein pouvoir aus Neapel und Warschau eine Thätigkeit angewiesen, die das pariser Kai- serthum in Ruhe sich kräftigen ließ, und für die Armee fand man einstweilen, bis die große Frage der » Revendiocation « oder der »natürlichen Gränzen« des alten napoleonischen Reichs am Rhein verhandelt werden könnten, Beschäftigung in der wenig ehrenvollen Besiegung der Langzöpfe am Peyho und in der Expedition nach Syrien, um Fuad Pascha zu zwingen, zweihundert gläubige Muselmänner einen Kopf kürzer zu machen als Genugthuung für fünf- zigtausend am Libanon und in Damaskus ermordete Christen!

Seit dem Jahre 1848 war kaum eines wieder so reich an verschiedenen blutigen und politi- schen Ereignissen gewesen, als das Jahr 1860. Spanien hatte bei Tetuan und Marocco gesiegt, und des kühnen Ortega wahnwitziger Handstreich zu Gunsten der verlorenen und ihres Va- ters unwürdigen Bourbons war am 22. April in Tortosa mit christinischen Kugeln bezahlt worden.

Die Verständigung der deutschen Fürsten in Baden-Baden (18. Juni) war durch das dra- stische Erscheinen des französischen Kaisers vereitelt; im Norden störte der dänische Ue- bermuth selbst die Schlafmützen des deutschen Bundestags aus ihrer Ruhe; England hielt Revuen über seine Milizen gegen französische Landung; Preußen begann das mächtige Werk seiner neuen Armee-Organisation und der Regent schickte seinen Feldjäger nach Cassel, um die Verfassungswirren zu schlichten; Oesterreich erfand seinen Reichsrath und ließ seine Ge- neräle und Minister sich den Hals abschneiden zur Sühne für die Betrügereien im [ 11 ]

lombardischen Feldzuge; Rußland vergaß die wiener Sünden und der Kaiser von Japan und der Fürst von Montenegro wurden einstweilen gemeuchelmordet. In Amerika bereitete sich der blutige Secessionistenkrieg und selbst die kleine Schweiz schlug die Kriegstrommel gegen die französischen Gelüste, während in Mittel- und Norddeutschland der National-Verein eine zweite Regierung im Staate etablirte.

Der Schauplatz der Haupttragödie war Italien. Was je ein Land an Schmach, Treubruch, Verrath und Jämmerlichkeit geleistet, das war hier in dem kurzen Zeitraum eines Jahres überboten. Die Erbärmlichkeit der Regierungen wetteiferte mit der Feilheit der Regierten.


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Was Wunder, daß die Revolution überall offene Thüren und Herzen fand. Kaum hätte es ge- schadet, daß ihr Orkan die Luft reinigte, wenn eben nur nicht die dynastische Spekulation im Hintergrund gestanden, und das schöne Land und der ehrliche Kämpfer dafür zum Spiel- ball zwischen Mazzinismus, piemontesischem Großmachtskitzel und napoleonischer Politik geworden wäre !

Oeffentlich mit der schaamlosesten Stirn von dem sardinischen Gouvernement desavouirt, im Stillen unterstützt, dampfte als Pionier des künftigen Königreichs Italien Garibaldi, der enthusiastische und kühne Vorkämpfer der italienischen nationellen Selbstständigkeit und Freiheit, der Held von Rom und der sardinische General von Como und Varese - noch erbittert über die Verschacherung seiner Geburtsstätte! - nach Sicilien und landete am 11. Mai in Marsala unterm Schutz der Covetten Englands, das überall die Freiheit zu fördern liebt, mit Ausnahme seiner [ 12 ]

eigenen Länder. Am 27. war er mit seiner kleinen Truppe in Palermo eingedrungen und hatte, unterstützt von der jämmerlichen Feigheit und dem Verrath im Lager der Königlichen, inner- halb zweier Monate Sicilien erobert - für wen? das wußte er selbst kaum, aber Graf Cavour hatte ihn darüber nicht lange in Zweifel gelassen.

Am 9. September war die Avantgarde der Rothhemden unter Major Missori nach dem Fest- land übersetzt, am 19. folgte Garibaldi nach Reggio und rückte gegen Neapel. Sein Zug dahin war eine Reihenfolge von schimpflichen Verräthereien und von Handlungen der Feigheit und Treulosigkeit auf Seiten der Königlichen Truppen, wie sie - zur Ehre des militärischen Rufs! - noch die Geschichte keiner Nation - mit Ausnahme der schottischen im Verkauf Carl Stuarts! - befleckt hat.

Wir werden später Gelegenheit haben, darauf näher zurückzukommen.

Welche Sünden und Beweise von Unfähigkeit auch die Bourbonen der Neuzeit auf den verschiedenen Thronen, die sie inne hatten, sich haben zu Schulden kommen lassen - den Treubruch der großen Masse des neapolitanischen Heers gegen seinen jungen König, die Ver- rätherei seiner nächsten Verwandten und Diener, - die lang vorbereitete, nicht auf das Wohl der Nation, sondern auf die Erwerbung neuen Gebietes und Machtvergrößerung gerichtete Intrigue des piemontesischen Hofes wird kein rechtliches Herz billigen, und die Geschichte wird später - wenn jene Flackerfeuer politischer Leidenschaften verglüht sind - den wahren Richterspruch darüber thun.

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Unsere Aufgabe ist es, auch diesen Kampf zu schildern, wie er hineingreift in die gewaltige Geschichte unserer Zeit.

Wir haben oben bereits erwähnt, daß dem Papst von seinem weltlichen Gebiet außer Rom und der Campagna nur noch die Provinzen Umbrien und die Marken geblieben waren. Wenn auch nicht Pius IX., der Mann mit dem freundlichen wohlwollenden Herzen, so besaßen doch die Staatsmänner des heiligen Stuhls, vor Allem der Cardinal-Staatssecretair Antonelli Scharfblick genug, um zu wissen, daß die Politik Cavour nicht Lust hatte, sich mit dem Raube und der Annectirung der Legationen zu begnügen, und daß die Revolution fortwährend im Kirchenstaat geschürt wurde.

Daß die päpstliche Regierung einen Angriff von Außen, dem Kriege mit einer größeren Macht nicht gewachsen war, wußte man sehr gut. Sie mußte sich in dieser Beziehung auf den


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Schutz einer Großmacht verlassen, und hatte die gefährliche Wahl zwischen Frankreich und Oesterreich. Das letztere hatte seine Besatzungen aus den Legationen bei dem Feldzuge von 1859 zurückgezogen - Frankreich dagegen Rom und Civitavecchia besetzt gehalten; - was blieb also übrig, als sich auf jede Gefahr hin dem französischen Schutz anzuvertrauen. Aber der Kaiser Napoleon verstand seinen häuslichen Frieden, das heißt die Beschützung Roms, mit seinen Concessionen an die italienische Revolution zu vereinigen, und begnügte sich zu dem Zweck, die Agitation in Rom und seiner Landschaft im Zaum zu halten. Die Sicherung des übrigen Gebiets gegen die Rebellion im Innern und den Angriff von Freischaaren sollte der päpstlichen Regierung selbst und ihren Truppen überlassen bleiben.

[14]

Nun befand sich aber das päpstliche Militair in einem so kläglichen Zustande, daß es diese Aufgabe in keiner Weise erfüllt hätte. Konnte es doch schon - obgleich damals noch die Schweizer Regimenter in ihrer festen Nationalität bestanden - nicht der Revolution von 1849 Herr werden und der Papst mußte nach Gaeta flüchten.

Der Beschluß der Eidgenossenschaft vom Jahre 1849, der ihren Unterthanen den ferneren Eintritt in fremde Kriegsdienste versagte, hatte in der Zusammensetzung der bisherigen Sold- truppen von Rom und Neapel eine sehr unvortheilhafte Veränderung hervorgerufen. Aus den zuverlässigen Corps, die bisher in Sold genommen wurden, um der Unlust der Mittel- und Süditaliener, selbst Soldaten zu werden, Rechnung zu tragen - war eine Fremdenlegion von Abenteurern und verlorenen Söhnen aller Nationen geworden, der die nothwendige schar- fe Zucht der Fremdenlegion von Algerien mangelte, und deren Elemente jeder Verführung der revolutionairen Propaganda zugänglich waren. Die Indigeni, die einheimischen römi- schen Truppen waren noch kläglicher, und eine energische Reorganisation daher dringend nothwendig.

Die Wahl der Person eines Oberfeldherrn, der dies schwere Werk ausführen sollte, fiel durch die Bemühungen des neuen päpstlichen Kriegsministers, Monsignore Graf Merode, auf den französischen General Lamoriciere, den Helden von Constantine, den Louis Napoleon bei dem Staatsstreich mit andern Gegnern hatte verhaften und verbannen lassen.

Der Papst hatte seinen großen Protektor in Paris um

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die Erlaubniß zu dieser Wahl ersucht und diese war in Gnaden ertheilt worden - das Wei- tere behielt man sich ja doch vor. Lamoriciere hatte mit einer Proclamation am 8. April das Kommando übernommen und in fünf Monaten bei den tausend Hindernissen, die ihm über- all durch alte Mißbräuche und den Modus der römischen Verwaltung im Wege standen, das Mögliche geleistet.

Aber mitten hinein in seine Bemühung schob plötzlich das Turiner Kabinet seinen Gewalts- akt.

Während Garibaldi Italien von Süden her revoltirte, und das bourbonische Königthum zu vertreiben daran war, sollte die sardinische Armee ihm von Norden her darin zu Hilfe kom- men, indem sie die neue päpstliche Armee verhinderte, sich mit dem jungen König und dem treugebliebenen Theil seines Heeres an der Volturno Linie oder in Gaeta zu verbinden und gemeinsam die Freischaaren wieder zurückzuwerfen, und indem man zugleich allen Verträ- gen zum Hohn das Gebiet des Kirchenstaats bis auf den Rayon der französischen Besatzung von Rom dem neuen Italien des Königs Viktor Emanuel einverleibte. Graf Cavour durfte nicht


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länger zögern, seine Hand auf die Eroberungen seiner Avantgarde, der Freischaaren, zu le- gen, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, daß der alte Republikaner Mazzini, der sich mit Ledru Rollin bereits in Neapel eingefunden, die Beute ihm entriß.

Mitten im Frieden, ohne jede Berechtigung, allem Völkerrecht und aller souverainen Selbst- ständigkeit in’s Gesicht schlagend, den Vertrag von Zürich gänzlich ignorirend, forderte plötz- lich das Kabinet von Turin, nachdem die [16]

Armee des Res gentiluomo, - des Königs Ehrenmann, wie ihn die Revolution nannte, - im Stillen an die Gränze des päbstlichen Gebiets gerückt war, am 7. September die römische Re- gierung auf, sofort alle fremden, in päbstlichem Dienst stehenden Truppen zu entlassen, und General Fanti mußte an Lamoricieere erklären, daß er Befehl habe, sofort in die päpstlichen Staaten einzurücken, wenn die Truppen des Papstes es wagen sollten, in irgend einem Ort des eigenen Gebiets eine revolutionaire Bewegung zu Gunsten der sardinischen Annektirung zu unterdrücken!

Die Forderung war eine offenbare Verhöhnung alles bisherigen Rechts.

Indeß - was kümmerte man sich darum!

Kardinal Antonelli hatte natürlich im Namen seines Souverains dieses Verlangen zurückge- wiesen.

Diesem empörenden Akt revolutionairer Willkür sahen die Monarchen von Gottes Gnaden, die legitimen Besitzer der europäischen Throne schweigend zu - der Kaiser Napoleon und der Vertrag von Zürich hatten ja die Nicht-intervention proklamirt.

Was that es zur Sache, daß sie auch den italienischen Fürsten ihren Thron garantirt hatten!

Nur der Kaiser von Oesterreich antwortete der Infamie mit einem Manifest an seine in päpstlichen Diensten sich befindenden Unterthanen, in welchem er sie aufforderte, treu und muthig gegen die Revolution anzukämpfen.

Am 10. September machte eine Bande von 600 Freischärlern von der Romagna aus einen Einfall in das päpstliche Gebiet und plünderte Fossombrone.

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Oberst Zambelli sandte zwei Compagnieen und ließ die Freischärler hinaus und zurück über die Gränze jagen.

In Folge dessen rückte ohne Kriegserklärung die ganze piemontesische Armee in das päpst- liche Gebiet ein, überfiel die kleinen päpstlichen Abtheilungen und Garnisonen und zwang sie zu capituliren.

Nur mit Mühe gelang es einigen größeren Kolonnen, sich nach Ancona zurückzuziehen. -

Dies ist der Augenblick, in dem wir nach Beendigung unseres Romans Villafranca (Solferi- no) unsere Darstellung der Zeitgeschichte wieder aufnehmen.


Das alte Leben von Loreto - als noch jährlich weit über hunderttausend Pilgrime zu sei- nem Heiligthum strömten, bevor es die frevle Hand der Franzosen von 1797 seiner Schätze beraubt, - schien wiedergekehrt und füllte die lange Straße des freundlichen Städtchens der Macerata.

Aber statt der Muschelhüte sah man nur die Kaskets der Cacciatori oder die Helme der Dragoner und Bärenmützen der Gensdarmen, statt der langen Pilgerstäbe rasselten die Säbel



und Kolben der Gewehre auf den breiten Marmorstufen des prächtigen Doms, der die casa santa - das Haus der heiligen Jungfrau - in seinen Mauern birgt.

Offiziere und Soldaten der Linien- und Schweizer-Regimenter, der Franco-Belgischen und Irischen Legion, die Bersaglieri und Guiden, Artillerie, Gensdarmen und Chevauxlegers tum- melten sich bunt durcheinander, das gewöhnliche Straßenleben der italienischen Orte ver- doppelnd.

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General Lamoriciere (de la Moriciere) war am Abend vorher, den 16. September, in Lo- reto mit dem Reservecorps auf dem Weg nach Ancona eingerückt, nachdem Graf Palffy mit den Guiden und einer Eskadron Gensdarmen die piemontesischen Dragoner, die sich bereits der Stadt bemächtigt hatten, hinausgeworfen. Loreto, ein Städtchen von etwa 8000 Einwoh- nern, liegt auf einem baumreichen Hügel und bildet eine einzige lange Straße. Von der Höhe sieht man das etwa 3 Miglien entfernte adriatische Meer. Die Piemontesen in bedeutender Uebermacht sperrten im Thal des Musone den Weg nach Ancona.

Es war etwa 6 Uhr Nachmittag, als eine Gesellschaft von Offizieren in der Nähe des Doms unter und vor den Arkaden einer Locanda plaudernd und trinkend stand und saß. Es wa- ren ältere und jüngere Männer von den verschiedenen Waffengattungen und Nationalitäten, welche das Corps des Obergenerals bildeten.

Die zahlreichste Gruppe umstand einen jungen Offizier in der kleidsamen Uniform der franco-belgischen Legion, dessen Schärpe den Adjutanten und dessen noch dampfendes von einer Ordonnanz umhergeführtes Pferd den zurückgelegten scharfen Ritt erwies. Er mochte etwa vierundzwanzig Jahr zählen, hatte eine feste mittelgroße Figur und sein offenes Gesicht zeigte bei einem gewissen Phlegma doch eine große Willenskraft.

»Ich kann Sie versichern, Messieurs,« sagte der Offizier, ein Weinglas in der Hand, »ein Ritt von Macerata über Lupone und Montesanto in vier Stunden hierher ist kein Spaß; aber Sie haben ja gestern den Marsch selbst [19]

gemacht und können daher beurtheilen, was Coeur de Hon, mein wackerer Brauner geleistet hat. Auf Ihr Wohl, meine Herren und daß ich Ihnen ein unnützes Ausrücken erspart habe. Wir werden alle Kräfte morgen brauchen.« 

Er leerte das Glas, das einer der Offiziere sogleich wieder füllte.

»Unser Bataillon war bereits angetreten zum Abmarsch,« bemerkte ein Kapitain des Schweizer-Regiments, »und hier Lieutenant Uhde mit zwei Geschützen sollte uns begleiten, um eine Diversion gegen Recanati zu machen, als Sie mit der Nachricht eintrafen. Cialdini muß geglaubt haben, daß General Pimodan auf der geraden Straße von Macerata marschiren werde.« 

»In einer halben Stunde werden Sie die Spitze unserer Kolonne auf den südlichen Höhen an der Küste sehen.« 

»Dann werden die Sardinier erkennen, daß sie genarrt sind und ihre Schlachtstellung bei Recanati vergeblich ist,« sagte Major Bell. »Wie stark ist Ihr Corps noch, Herr von Merode?« 

»Das erste und zweite Bataillon Cacciaton 1 , die zwei Bataillone Carabinieri und Bersaglieri und das meine, Monsieur.« 

»Und Cavallerie?« 


Oäger.


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»Die deutschen Chevauxlegers und zwei Eskadrons Dragoner; die Batterie ist leider ziem- lich schlecht bespannt. Der Teufel hole Graf Cotodon für seine Fahrlässigkeit in der Absen- dung der Pferde von Triest. Der General hätte [ 20 ]

lieber einen Offizier senden sollen, statt des Stallmeisters Seiner Heiligkeit, der Nichts kennt, als die gemästeten Walachen, die alle Woche einmal die Staatskutsche vom Vatikan bis zum St. Peter ziehen!« 

Ein alter Kapitain zuckte die Achseln. »Das kommt von dem leidigen Nepotismus. Wenn er sich nur darauf beschränkte, könnten wir von Glück sagen. Aber er erstreckt sich in einem so gefährlichen Augenblicke, wie der gegenwärtige, selbst auf die Besetzung der Offizierstellen in der Armee.« 

Der junge Belgier richtete sich straff in die Höhe. »Wie meinen Sie das, Herr Kamerad?« 

»Nichts für ungut,« entschuldigte der Deutsche. »Es fällt mir nicht ein, brave Leute, wie Sie zu meinen, ob Sie ein Vetter des Kriegsministers sind oder nicht, der ja selbst unter Lamori- ciere in Algerien den Kugeln gestanden. Aber wenn Sie nach jenem Tisch blicken, werden Sie selbst zugestehen, daß ich nicht so Unrecht habe.« 

»Wen meinen Sie?« 

»Nun die beiden Herren dort, die unter dem Halunken Vial vor Neapel davon gelaufen sind, direkt bis Rom, und von denen der Eine, weil er ein Principe ist, vor drei Tagen uns als Major octroyirt wurde und der Andere morgen einen Zug Geschütze führen soll.« 

»Das ist freilich eine schlechte Empfehlung. Aber welche Nachrichten haben Sie von An- cona und wie ist es dem General mit der Kriegskasse ergangen? Wir hörten nur, daß er aus Besorgniß um diese den Umweg an der Küste genommen.« 

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»Quatrebarbes, der brave Weißbart,« berichtete der Major der Schweizer, »hat am 12. den Belagerungszustand in der Festung proklamirt. Sie wissen von dem Unheil bei Fanno?« 

»Nein, Major, Nichts Näheres!« 

»Nun, nachdem unsere Leute die eingedrungenen Freischärler aus Fossombrone gewor- fen, schickte am Dienstag der Delegat von Urbino die Nachricht, daß die Piemontesen ohne Kriegserklärung über die Gränze gedrungen seien. Ihre Lanziers überfielen das Detaschement kurz vor Fanno und versprengten es. Die Besatzung von Fanno mußte kapituliren, wie die von Perugia, Pesaro und Orvieto, dem Rest der Kolonne gelang es, sich mit Brigade de Courten zu vereinigen und am 14. Ancona zu erreichen. Lieutenant v. Falckenstein und Kapitain v. Einem deckten den Rückzug und haben sich vortrefflich gehalten. In Ancona selbst arbeitet man Tag und Nacht an den Befestigungen, die leider sehr vernachlässigt sein sollen.« 

»Und die sardinische Flotte?« 

»Der St. Paolo 1 , den wir zum Glück in Porto di Recanati auf Recognoscirung trafen, wäh- rend die Barken zum Transport des Geldes für die Festung ausgeblieben waren, wußte noch Nichts von ihr. Aber es geht das Gerücht, Fischerbarken hätten gestern draußen auf der Adria sechs Kriegsdampfer in der Richtung nach Norden gesehen.« 

»Hoffentlich waren es französische Schiffe. Sie wissen,

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daß heute General Goyon mit 25,000 Mann und 48 Geschützen in Rom eintreffen muß.« 

1 Ein kleiner päpstlicher Dampfer.


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»Glauben Sie wirklich daran?« sagte hinter dem Offizier eine klangvolle Stimme.

Ahe wandten sich um - ein Offizier der Gulden aus dem Stabe des Ober-Generals war zu der Gruppe getreten.

»Ah, Marmont, Sie sind es! ich sah mich vorhin vergeblich beim General nach Ihnen um.«  Der Belgier reichte dem Angekommenen die Hand, die der junge Herzog von Ragusa mit Wärme schüttelte. »Aber was soll das heißen? Glauben Sie nicht, daß der Kaiser Wort hält?« 

»Grammont 1 hat es an den Kardinal versichert und Ihr Onkel hat die Depesche dem Gene- ral mitgetheilt,« sagte der Guide spöttisch; »aber glauben Sie wirklich, daß Louis Napoleon den Widerstand des 2. Dezember vergessen hat? Es dürfte ihn kitzeln, dem Ruf seines alten Gegners einen Streich zu versetzen. Ein Desaveu des Gesandten wird ihn weniger kümmern, als die Gardinenpredigt von Madame Eugenie.« 

»Es wäre schändlich!« rief Graf Palffy, der Kommandant der Bersaglieri. »Das Versprechen lautet ausdrücklich, daß der Kaiser sich jeder piemontesischen Invasion in dem Kirchenstaat widersetzen werde. Nur daraufhin hat Oesterreich sich aller Intervention enthalten.« 

Der Herzog lachte. »Lieber Kamerad,« sagte er, »begnügen Sie sich mit dem Ruhm Ihrer gestrigen kühnen

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Recognoscirung und dem Tode des schönen Rappen, den die Kartätsche Ihnen unterm Sattel tödtete - viel andere Lorbeeren dürften uns nicht grünen. A propos - was macht Ihr Begleiter, der tolle Irländer mit seiner Kopfwunde?« 

»Der hat einen so harten Schädel, daß ich glaube, selbst ein Zwölfpfünder würde davon abprallen,« meinte Major Bell. Dort drüben sitzt er und trinkt mit den Italienern und würde selbst das Tuch schwerlich um den Kopf gebunden haben, wenn seine schöne Schwester ihn nicht dazu beredet hätte. Kommen Sie her, O’Donnell - es ist die Rede von Ihnen!« 

Der Irländer, der mit einem Theil seiner Compagnie vor der Kapitulation des Generals Schmidt in Perugia sich durchgeschlagen und die Kolonne des Obergenerals erreicht hatte, erhob sich auf den Ruf und trat zu der Gruppe. Er war ein großer athletischer Mann mit dem Aussehen eines ächt irischen Gentleman’s. Denn obschon er keinen Offizierrang bekleidete und nur als Freiwilliger diente, war er doch ein solcher und die munteren blauen Augen, das hübsche frische Gesicht mit den etwas zu starken Lippen verkündete nebst den kräftigen Gliedern den Sohn der Smaragdinsel.

»Den Teufel auch, meine Herren,« sagte er lustig, »es muß eine wichtige Sache sein, um die Sie den Sohn meines Vaters bei einer Fogliette dieses prächtigen Traubengewächses stören. Was behebt?« 

»Wir wollten nur wissen, lieber Kamerad,« sagte einer der Offiziere, »ob Ihnen die Kartät- sche gestern Abend nicht geschadet hat?« 

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»Beim heiligen Patrik, Sir, nennen Sie das Ding, was mir am Kopf vorbei schrammte, eine Kartätsche? Ich will keine Fuchsjagd in Galway mehr mitmachen, wenn eine irische Kartoffel nicht härter ist.« 

»Dennoch, Monsieur O’Donnell,« sagte der Guide, »hat Sie der Obergeneral für diese Kar- toffel zum Lieutenant bei den Dragonern ernannt.« 

»Bah - im Ernst, Acuschla, mein Liebling?« 

1 Herzog von Grammont, französische Gesandte in Rom.


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»Auf Wort - Ihr Patent wird noch diesen Abend unterzeichnet.« 

Der Irländer machte einen lustigen Sprung und riß das schwarze Tuch von seiner Stirn, die noch eine tüchtige Schramme zeigte.

»Den Teufel auch, dann ist es um so nothwendiger, daß ich es mit einigen Flaschen begieße, ehe Mary mir eine Predigt des Anstands hält. Der alte Geizhals, mein Onkel, muß mir einige seiner marokkanischen Millionen zur Equipirung leihen!« 

»Der Herzog von Tetuan ist Ihr Verwandter?« frug der Belgier.

»Zum Teufel ja, obschon er Nichts wissen will von mir, weil er behauptet, ich hätte das Vermögen der O’Donnell’s in Sherry und Pferdehufen durchgebracht, und sei ein Taugenichts. Als ob ein ehrlicher Bursche, wenn er auch noch so kräftige Hände hat, einer ganzen Armee von Constablen und Sherifs Widerstand leisten könnte, wenn sie sich in den Kopf gesetzt haben, sein Erbe in Beschlag zu nehmen?!« 

»Und deshalb haben wir das Vergnügen, Sie in

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unseren Reihen zu sehen, Lieutenant O’Donnell?« frug lachend der Guide.

»O heiliger Patrik, nein - es war noch ein anderer fataler Umstand dabei. Die Sherifs hätten mich wenig genirt, aber ich mußte einer Lady aus dem Wege gehen, die sich mit Gewalt in den Kopf gesetzt hatte, ihre zwanzigtausend Pfund Einkünfte mir an den Kopf zu werfen.« 

»Wie - eine Dame mit zwanzigtausend Pfund wollte Sie heirathen, und Sie weigern sich?« 

»Den Teufel auch, s’ist ’ne Engländerin mit Schmachtlocken, und Mary würde sich im Leben nicht mit ihr vertragen! Sie wissen, Sir’s - die Engländerinnen haben alle einen Strich zu viel.« 

Das Gelächter der Offiziere war allgemein und hatte den Kreis vergrößert.

»Sie sind ihr also durch Ihre Flucht aus England glücklich entgangen?« frug der Guide.

»Entgangen? - Zum Henker, da kennen Sie den Eigensinn der Weiber schlecht. Sie verfolgte mich nach Madrid und Paris, wo ich ihretwegen zwei Duelle an einem Tage hatte, und ich wette hundert Pfund gegen eine alte Katze, wenn sie gewußt hätte, wohin wir gegangen, sie wäre uns sicher nach Rom nachgereist.« 

»Monsieur O’Donnell,« sagte der Belgier lächelnd - »ich glaube, ich habe eine schlimme. Nachricht für Sie.« 

»Was beliebt?« 

»General Pimodan ist Ihnen übrigens zu Dank verpflichtet, denn durch Sie haben wir min- destens eines unserer Geschütze weiter gebracht.« 

[ 26 ]

»Ich verstehe Sie nicht, Sir.« 

»Hören Sie. Auf dem Marsch kurz vor Macerata trafen wir einen Reisewagen mit vier Pfer- den bespannt, der von Rom kam und nach Ancona wollte. Der Vetturin hatte vortreffliche Pferde und der General besann sich nicht lange, sie in Beschlag nehmen und vor unsere herzlich schlecht bespannten Geschütze legen zu lassen.« 

Der Irländer sah den Sprecher noch immer mit erstaunter Miene an. »Der Teufel soll mich zu einem Frikassee hacken, wenn ich begreife . . . « 

»Nun, Parbleu - ich dächte, die Sache ist ziemlich leicht! Der Wagen gehörte einer Eng- länderin, die mit Paß und besonderen Empfehlungen des britischen Consuls, nur von einem alten Diener und ihrem Courier begleitet, reist.« 


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»Von einem alten Diener - einem Kerl, dürr und [und] lang wie eine Hopfenstange, mit weißem Haar?« 

»Accurat gezeichnet, und ich erinnere mich, daß die Dame durch ihren Courier beim Kom- mando nachforschen ließ, ob sich ein Landsmann von ihr, Herr O’Donnell oder O’Connell - ich verstand nicht recht - bei den Truppen befände.« 

Der Unglückliche fiel unter dem schallenden Gelächter der Offiziere wie ein leibhaftiges Bild des Jammers auf den nächsten Stuhl und starrte geistesabwesend bald auf den Einen, bald auf den Andern.

»O Jammer, Jammer!« stöhnte er, die Hände abwechselnd auf die Knie schlagend - »ich bin ein verlorner Mensch! Bitten Sie den General, daß er mich an die äußerste Spitze der Avantgarde schickt - aber Gott soll

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meine Seele verdammen, ich glaube, sie holt mich aus einem Kanonenfeuer heraus, wenn sie erst eine Ahnung hat, daß ich hier bin. Um Himmels willen, geben Sie mir einen Rath, was ich thun soll?« 

»Aber zum Henker, ist denn die Miß so alt und häßlich?« 

»Häßlich? Sie ist das hübscheste und beste Mädchen, das ich kenne, und gerade zwei- undzwanzig alt! Das ist es ja eben - sie ist die beste Partie in ganz Irland. Wenn nur das verdammte Testament nicht wäre!« 

»Was für ein Testament?« 

»Nun - von dem alten Wucherer, ihrem Vater! Er war der Hauptgläubiger und hat uns rui- nirt. Rein um etwas eher aus dem Fegefeuer zu kommen, hat der Cujon auf dem Todtenbette verordnet, daß seine Tochter mit all’ dem Geld mich heirathen soll. Aber ich will den Teufel thun und ihn erlösen, und sollt es mir das Herz abstoßen!« 

Das Gelächter verdoppelte sich bei dem naiven Geständniß. »Hören Sie, Herr Kamerad,«  sagte der italienische Artillerie-Offizier, der gleichfalls herangetreten, in schlechtem Franzö- sisch, »ich bin bereit, Sie von Ihrer Qual zu befreien und die Lady mit all’ ihrem Geld zu heirathen.« 

»Den Teufel werden Sie!« knurrte Paddy mit einem Blick wie ein bissiger Bullenbeißer auf die hagere kleine Figur des Neapolitaners. »Ich schlüge Ihnen alle Knochen im Leibe entzwei! Heiliger Patrik, was sollte Miß Judith auch mit einem Haut- und Knochenmanne, wie Sie, anfangen?« 

»Signor . . . ,« brauste der Italiener auf.

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»Frieden, meine Herren!« sagte der alte deutsche Major, »dort kommt der Obergeneral.« 

General Lamoriciere kam mit seinem Stabe von der Recognoscirung, die er gegen Castelfi- dardo unternommen.

Der General zählte damals 54 Jahr - er ist am 5. Februar 1806 in Nantes geboren und der Sohn einer legitimistischen Familie; - aber weder die achtzehn Feldzüge in Algerien, mit deren letztem er Abd-el-Kader zwang, sich dem Herzog von Aumale zu ergeben, noch die Deputirten-Campagne von 48 bis 51, während der das dankbare Volk von Paris ihm das Pferd unterm Leib erschoß und der purpurlustige Präsident den Freund und Kriegs-Minister Cavaignacs nach Ham und in die Verbannung sandte, noch die Gicht hatten seine Haltung


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gebeugt. Der General saß legere im Sattel und unterhielt sich mit dem Obersten Blumenstiel, dem Chef der Artillerie.

Die Offiziere hatten sich sämtlich erhoben und salutirten achtungsvoll den Oberst- Kommandirenden. Der Herzog von Ragusa nickte seinen Gefährten im Stabe zu; die ersten Namen Frankreichs und Belgiens waren unter diesem und den Guiden vertreten. Der Führer der Letzteren, Graf Bourbon Chalus, blieb hinter der Suite zurück und hielt bei den Offizieren.

«Sie haben die Zeit richtig bestimmt, Herr Kapitain,« sagte er zu dem Belgier, «die Spitzen der Kolonnen des General Pimodan sind seit fünf Minuten auf den Höhen sichtbar, in zwei Stunden kann das Gros in Loreto sein. Leider mangelt es an Proviant für die arme Bursche - die Santa Casa hat sich nicht auf so vielen unheiligen

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Besuch eingerichtet. Marmont, ich habe einen Auftrag für Sie.« 

Der junge Herzog trat näher an den Sattel, von dem herab der Major leise mit ihm sprach. Marmont wandte sich zu der Gesellschaft zurück, sein Blick schien nachdenkend die Einzel- nen zu mustern.

»Der Einzige, der das Stück ausführen könnte, ist Palffy,« sagte er kopfschüttelnd, »aber der General wird ihn morgen besser brauchen. Wollen Sie mir freie Hand geben in der Wahl?« 

»Ich vertraue Ihnen; es muß ein Mann sein, der lieber das Genick bricht, als sich einholen läßt und - gerade heraus - an dessen Leben nicht viel gelegen ist. Sobald Pimodan hier ist und die Dunkelheit eintritt, kann er seine Instruktionen in Empfang nehmen. Der General hat eines seiner eigenen Pferde für ihn bestimmt und der Führer wird bereit sein!« 

»Ich hoffe, ich schaffe Ihnen den richtigen Mann. Wenn ihn ein Unglück trifft, wollen wir für seine hübsche Schwester sorgen.« 

»Wen meinen Sie?« 

»Den Irländer, der von Perugia zu uns stieß. Der Bursche warf gestern bei dem Angriff, als die Gensd’armen sich weigerten, im Trabe vorzugehen, einen Sergente aus dem Sattel, sprang hinein, ohne den Bügel zu berühren, und zwang den wilden Hengst, als hätte er ihn ein Jahr lang in der Manege geritten. Da hat er gleich Gelegenheit, sein Lieutenantspatent einzuweihen.« 

»Ich habe ihn auch bemerkt, aber ich dachte, er wäre

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verwundet. Eh bien, sprechen Sie mit ihm. Um 8 Uhr ist Kriegsrath bei dem General - wir werden alle Hände voll zu thun haben. Addio!« 

Als der Herzog sich nach dem Legionair umsah, den er soeben zu einem Abenteuer auf Tod und Leben empfohlen, sah er ihn im Gespräch mit zwei Frauen, oder vielmehr mit einer derselben; denn die zweite, eine Nonne vom Orden des heiligen Franciscus, stand mit einem Geistlichen einige Schritte von den Sprechenden entfernt.

Die Dame, mit welcher der Irländer sprach, war jung und von einer gewissen, den günstig- sten Eindruck machenden anmuthigen Frische. Sie trug ein kurzes schottisches Kleid und eine helle Reitjacke darüber, die von dem blau und grün carirten Stoff des Kleides und der Weste gefällig abstach. Ein einfacher weißer Kragen ließ den schön geformten vollen Hals sehen, und ein niederer grauer Filzhut mit blauer Feder saß auf dem üppigen kurz geschlungenen Haar von köstlich blonder Farbe, wie sie in dieser Nüance eben nur der Norden hervorbringt. Strahlende Augen von wahrem Azur blickten unter dem Hutrand munter und doch züchtig


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aus dem runden freundlichen Gesicht mit dem zierlichen kecken Stumpfnäschen. Eine gewis- se Familienähnlichkeit bewies, daß die junge Dame die Schwester des Irländers war, auf den sie eifrig hinein sprach, um ihn zu Etwas zu bewegen.

Eine ganz verschiedene Erscheinung bildete die Nonne, obschon ihr Alter nur um wenige Jahre höher sein konnte, als das der Irländerin. Sie war von hoher, und soweit es das plumpe Klostergewand von grobem schwarzem Tuch

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zu erkennen gestattete, schlanker Gestalt. Ein blasses, von tiefem Leid sprechendes Gesicht von edler Regelmäßigkeit und dem feinsten Teint zeigte sich in der helmartigen Umhül- lung der weißen glatten Stirn- und Wangenbinde unter dem schwarzen Kopftuch, wie sie die Schwestern vom Orden des heiligen Franziskus von Assisi tragen, die sich der Kranken- pflege gewidmet haben. Die zarte aristokratische Hand, die das Gebetbuch hielt, barg sich wie verschämt unter dem rauhen Aermel, und die Augen der Nonne waren fest auf den Boden geheftet.

Neben ihr wartete mit einer gewissen Ungeduld ihr geistlicher Begleiter auf die Beendi- gung der Unterredung der jungen Irländerin. Er war eine grobe knochige Gestalt mit glei- chen Gesichtszügen von finsterem Ausdruck, den die buschigen Brauen über der plumpen plebejischen Nase noch unangenehmer machten. Die Farbe seines Teints war eine durchgän- gige Röthe, wie sie wohl Menschen von brutalen Begierden zeigen, und obschon er nicht viel mehr als fünfunddreißig Jahr zählen konnte, fehlte ihm doch alle Elastizität, und sein ganzes Wesen war barsch und abstoßend.

»Nun, Acuschla, Liebling,« sagte endlich der neue Lieutenant, indem er statt des irischen Dialekts, in dem sie bisher gesprochen, sich wieder der französischen Sprache bediente, »wenn Du darauf bestehst, mag’s sein. Ehrlich gestanden ist es vielleicht das Gescheuteste, was Du thun kannst; denn schau Mary, ich kann wegen Deines hübschen Gesichtes doch nicht täglich einem ehrlichen Burschen eine Kugel in die Rippen schießen, und bin augenblicklich selber

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so in der Klemme, daß ich am Liebsten davon liefe. Weißt Du, wer uns auf den Fersen ist?« 

»Wer denn? die Piemontesen!« 

»Hol der Teufel die Piemontesen und ihren Musjöh Garibaldi dazu. Um die ganze Sippschaft kümmere ich mich noch keine Sperlingsfeder Werth. Aber Judith Hoghborn ist keine zwanzig Meilen von hier, ich habe die verdammte Gewißheit erhalten!« 

»Bah - so mache ein Ende und heirathe sie!« 

Terenz O’Donnell starrte seine muntere Schwester fast eben so verblüfft an, als vorhin den Grafen Merode bei der Nachricht, daß die Tochter des Wucherers in der Nähe sei.

»Nun, bei Sanct Patrik und dem Riesen Fingal,« meinte er endlich, »das hättest Du auch früher sagen können. Jetzt ist’s freilich zu spät; denn ich kann mich doch unmöglich von den Weibern zwingen lassen! - Aber Ihr seid und bleibt ein verkehrtes Volk. Wenn man so einfältig ist, Euch nachzulaufen, zieht Ihr einen ehrlichen Burschen bei der Nase herum, und wenn man sich Nichts aus Euch macht, wißt Ihr nicht, wie Ihr scharwenzeln sollt. Hol’ mich der Teufel, ich wünschte, ich hätte meines Vaters Tochter auch erst glücklich unter die Haube, und wenn’s denn keine andere ist, so mag’s vorläufig die Nonnenhaube sein. Ein Kobold, wie Du, wird sich gut darin ausnehmen!« 


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Sie schlug ihn mit der Reitgerte, die sie in der Hand trug, über die Finger. «Ungezogener Mensch,« sagte sie lachend, »was soll der ehrwürdige Herr da denken und Schwester Regina, die eine wahre Heilige ist und ein

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wahres Glück für mich; denn hätte ich sie nicht gefunden, ich hätte wahrhaftig das Reden verlernt, da hier kein Mensch mich versteht, wenigstens kein Frauenzimmer. Ich gehe jetzt mit ihnen nach dem Lazareth, um zu sehen, was Frauenhand helfen kann. Aber wenn Ihr die Fahnen holt, obschon es nur alte zerfressene Roßschweife sein sollen, muß ich dabei sein, ob Nonne oder nicht!« 

Die lustige Schöne machte ihrem Bruder einen zierlichen koketten Knix, der zur größeren Hälfte dem Guiden-Kapitain galt, welcher sich eben dem Irländer näherte und sie galant salutirte, und hüpfte zu der ernsten Nonne und dem Geistlichen zurück, der ihrem weltlichen muntern Gebahren unverwandt mit finsterem Blick gefolgt war, in dem zuweilen ein ganz anderer unheimlich flammender und verzehrender Ausdruck Momente lang loderte, aber immer sogleich wieder beherrscht und unterdrückt wurde.

»Verzeihen Sie, Schwester Regina,« sagte die junge Irländertn, die von dem Geistlichen wenig Notiz nahm, »daß ich Sie so lange aufgehalten, aber ich mußte doch meinem Bruder sagen, daß Sie mich unter Ihren freundlichen Schutz nehmen wollen; und nun lassen Sie uns weiter gehen, wenn es Ihnen gefällig ist.« 

Die barmherzige Schwester nickte ihr freundlich zu und setzte sogleich ihren Weg die Stra- ße entlang fort, ohne auf die kriegerische Umgebung zu beiden Seiten auch nur einen Blick zu werfen. Erst jetzt konnte man sehen, daß der Fuß von aristokratischer Feinheit und Klein- heit, der sich im Gehen zuweilen unter dem schwarzen Gewände vorstahl, nackend war und sie also - wahrscheinlich in Folge eines Gelübdes oder

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einer Buße, denn die Regel des Ordens schreibt dies nicht vor, - barfuß den Weg machte.

Sie waren, verfolgt von den Lorgnons und den Bemerkungen der Offiziere noch keine fünf- zig Schritt weiter gegangen, als ihnen eine Kompagnie des Fremden-Regiments im Anmarsch begegnete.

Es waren zum großen Theil wilde bärtige Gestalten der verschiedensten Nationalität, aus allen Landern Europa’s, Knaben oft von höchstens sechszehn Jahren und Veteranen, die auf allen Schlachtfeldern der verhängnißvollen letzten zwölf Jahre gekämpft hatten - Tauge- nichtse und Vagabonden, die um ihr Leben zu fristen, oder Gelegenheit zu Raub und Plün- derung zu haben, oder um irgend einer Strafe in der Heimath zu entgehen, in die päpstliche Legion eingetreten waren, und wiederum brave kühne Soldaten und begeisterte Kämpfer der von der Revolution bedrängten Kirche, die auf den Nothruf des heiligen Vaters herbeigeeilt waren, bereit, Blut und Leben zu opfern für den hohen Zweck.

Leider war es noch nicht gelungen, diese heterogenen Elemente genügend zu verschmel- zen, um ein tüchtiges Corps daraus zu bilden, und die Offiziere waren gezwungen, manche Nachsicht zu üben.

Der geistliche Herr trat mit seinen beiden Begleiterinnen zur Seite und ging weiter, als der Blick des führenden Kapitains auf die Nonne fiel.

Er senkte betroffen, bestürzt den Degen. »Comteß Amalie - um Himmelswillen . . . « 

Die barmherzige Schwester hatte den Ruf gehört,


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einen Moment zuckte ihr Auge empor, dann heftete es sich wieder fest auf den Boden, eine dunkle Röthe überzog das blasse leidende Gesicht und sie schritt hastig vorwärts.

Der Offizier hatte den Degen eingesteckt und seinem Lieutenant einen Befehl gegeben, dann eilte er hastig den Dreien nach, die bereits den Eingang des Klosters der heiligen Clara erreicht hatten, in dem sich das schnell etablirte Lazareth befand; denn selbst die kirchlichen Gebäude waren unter der Nothwendigkeit mit Truppen belegt.

Die Hand der Nonne, die voraus geeilt, streckte sich bereits nach dem Glockenring, als der Offizier ihr zuvorkam.

»Comteß Amalie - sind Sie es wirklich? wie kommen Sie hierher - und in diesem Gewän- de?« frug er in deutscher Sprache.

Die Nonne wurde todtenbleich und zitterte heftig. Nur mit Mühe konnte sie die innere Bewegung so weit bemeistern, um endlich einige Worte zu antworten.

»Es ist das Gewand meines selbst gewählten Standes, Herr,« flüsterte sie, »mein Name ist fortan allein: Schwester Regina.« 

Der Vicar war herangetreten. »Ich muß Sie bitten, mein Herr,« sagte er rauh gleichfalls in deutscher Sprache, da er die Anrede gehört, »die fromme Schwester nicht weiter zu belä- stigen, oder wenn Sie ihr eine Mittheilung zu machen haben, dies an dem Sprachgitter des Klosters zu thun.« 

Der Offizier sah ihn vornehm und kalt an. »Wenn ich nicht irre, Herr Vicar Tangerfeld?« 

Der Geistliche verbeugte sich leicht.

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»Der Sohn eines Häuslers meines Oheims, des Grafen Wunster, der ihn auf seine Kosten in’s Priester-Seminar schickte?« fuhr der Kapitain mit Härte fort. »Dann werden Sie auch wissen, daß diese Dame meine Verwandte ist, und mir - auch wenn sie die Gelübde abgelegt - nicht verboten ist, mit ihr zu sprechen. Ein Soldat im Felde ist nicht Herr seiner Zeit - unsere Unterredung kann überdies nur kurz sein, da ich meiner Compagnie folgen muß! - Treten Sie also zurück oder ein, wie es Ihnen beliebt - und stören Sie mich nicht weiter.« 

Die rothe Gesichtsfarbe des Vicars wurde noch dunkler bei dem rauhen Verweis, aber er unterdrückte mit der klerikalen Selbstbeherrschung die heftige Antwort und begnügte sich, einige Schritte zurückzutreten und die junge Irländerin auf die Schönheit der Aussicht auf- merksam zu machen, die von der Pforte des Klosters her über die mit Obstbäumen und Wein- geländen bedeckten Hügel hinweg die Aussicht gegen das adriatische Meer hin bot.

Die Nonne war zitternd und erschöpft auf die Steinbank zur Seite der Pforte niedergesun- ken, ihre Hände gefaltet über dem Rosenkranz ruhten in ihrem Schoos und das Auge, aus dem schwere Thränen langsam über die bleiche Wange rollten, auf dem kleinen Crucifix, dem Bilde des erhabenen Märtyrers und Verheißers.

Der Offizier stand vor ihr.

Es war eine mittelgroße proportionirte Figur; das jetzt aufgeregte Gesicht zeigte sonst Freundlichkeit und Ruhe und wies auf ein Alter von etwa 25 Jahren.

»Cousine Amalie, liebste Comtesse, wie kommen Sie

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hierher? in diesem Kleide, in dieser Begleitung, barfuß - Sie noch vor zwei Jahren die gefei- erte Schönheit der ersten Cercles, selbst des Hofes in Hannover?!« 


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»Ich wiederhole Ihnen, Baron Kerßen, ich bin Nichts als die demüthige Schwester Regina. Ein Gelübde hat mich nach Assisi, zum Grabe des heiligen Stifters unseres Ordens geführt. Ich darf und will Nichts von den Weltlichkeiten hören, denen ich entsagt!« 

»Und der Prinz - und — Hermann?« 

Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen, ein krampfhaftes Schluchzen erschütterte ihre Brust.

Der Vicar bemerkte es nicht - er sprach mit der Irländerin.

Einige Minuten kämpfte die Klosterfrau mit den Erinnerungen, die so plötzlich in ihr ge- weckt worden - sie wäre ihrem Zauber, ihren Schmerzen vielleicht erlegen, wenn ihr nicht ein Engel von Oben Hilfe gebracht.

Er schwebte zu ihr nieder auf den Glockenzungen des Abendsegens.

Der milde Ruf zum Abendgebet, der in allen katholischen Ländern noch sorgsam und gläu- big beobachtet wird, verbreitete über die bewegte Menge eine tiefe feierliche Stille. Die Mei- sten sanken in die Knie, - Andere begnügten sich, das Kreuz zu schlagen.

Das stille Gebet hatte auch das Herz der Nonne gestärkt. Als sie sich vom Boden erhob, schwebte der Frieden heiliger Entsagung auf ihrem Antlitz. Sie reichte dem Verwandten ge- faßt die schmale feine Hand.

»Ich hätte gleichfalls nicht erwartet, Sie hier zu sehen, Vetter,« sagte sie, »ich glaubte Sie in Berlin.« 

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»Ich habe schon vor vier Monaten meinen Abschied genommen. Haben Briefe oder wenig- stens die Zeitungen meine Angelegenheit Ihnen nicht gemeldet?« 

»In den Frieden des stillen Schwesterhauses zu Münster dringen nur wenige weltliche Nachrichten; - es scheint, Sie wußten ja auch nicht von der Bestimmung meines Lebens. Es freut mich, wenn es Ihnen und alten Freunden wohl geht — « 

»Er steht seit dem Winter bei einem Linienregiment in Posen,« unterbrach er sie hastig. »Still - Nichts mehr davon! Die Sehnsucht, am Altar der gnadenreichen Mutter aller Schmerzen meine Andacht zu verrichten, hat mich vor acht Tagen von Perugia hierher ge- führt. Der ehrwürdige Herr Tangerfeld hat mich auf meiner Pilgerfahrt begleitet. Der plötzli- che Ausbruch des Krieges hat uns hier zurückgehalten, indem er uns den Weg nach Ancona und Triest versperrte.« 

»Und kann ich Nichts für Sie thun, Cousine - Schwester Regina?« 

»Ich freue mich, Sie unter den Streitern Christi zu sehen. Vielleicht können wir unter Ihrem Schutz Ancona erreichen. Das junge Mädchen dort, die einen Bruder im Heere hat, will uns begleiten. Die Arme schloß sich mir an, weil keine der Frauen weiter hier Englisch verstand. Dürfen wir auf Ihren Schutz rechnen?« 

»Gewiß - nur — « 

»Sie zögern?« 

»Der Ausgang des morgenden Tages liegt in Gottes Hand - der Feind hat dreifache Ueber- macht.« 

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»Der Herr ist auch in den Schwachen stark! Jedenfalls werde ich Gelegenheit haben, auch hier meine Pflicht zu üben. Leben Sie wohl! ich muß zu meinen Kranken.« 


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Sie machte das Zeichen des Kreuzes und zog die Glocke. Die Pforte öffnete sich, - ohne sich umzuschauen trat sie in den Klosterhof.

Als der Geistliche an dem Offizier vorüber ihr nachfolgte, verbeugte sich dieser kurz. «Wenn Sie meiner bedürfen, Herr Vicar, so senden Sie nach dem Quartier der Fremden-Legion.« 

Der Geistliche begnügte sich mit einem bejahenden Zeichen - die Pforte schloß sich wieder hinter ihm und dem Mädchen.


Der Herzog von Ragusa hatte mit jener chevaleresken Cordialität, welche die französischen Offiziere auszeichnet, den neuen Lieutenant untergefaßt und führte ihn die Straße entlang. »Herr Kamerad, ich habe einen Auftrag an Sie!« 

»An mich? Goddam! ich errathe - von der kleinen italienischen Vogelscheuche dort?« 

Der Guide lachte. »Nein - Sie irren vollständig! Diese Herren ziehen einen Messerstoß durch einen Andern einem Degenstich von ihrer eigenen Hand zur Reparirung ihrer Ehre vor. Nein - er kommt direkt, oder vielmehr indirekt vom Obergeneral.« 

»Den Teufel auch! was wünscht er? soll ich eine Batterie mit meinen Landsleuten nehmen? Mit tausend Vergnügen!« 

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»Das ist es nicht, obschon, pardon! nicht viel leichter. Sie sind ein guter Reiter?« 

»Passable! Eine Steinmauer müßte schon über drei Ellen sein, wenn ich’s nicht wagen sollte, und auch da riskirt man doch eben nur das Genick. Aber der Teufel hole hier allen Sport - ich habe hier noch Nichts zwischen den Beinen gehabt, als elende Kracken.« 

»Wir haben uns überzeugt, was Sie leisten können. Ich bin beauftragt, einen Offizier zu suchen, der sich das beste Pferd des Obergenerals wählen mag, um eine Depesche zu über- bringen.« 

»Teufel! das ist verführerisch - der Kastanienbraune mit dem weißen linken Vorderfuß -«  »Er steht Ihnen zu Diensten! ich dachte an Sie - ehrlich gestanden, weil ich glaubte, mit der Entfernung Ihnen einen Dienst zu leisten.« Er sah ihn lächelnd an.

[»] Gewiß, Herr Kapitain, nur « 

»Ich meine die Engländerin mit den Schmachtlocken und den 20000 Pfund Sterling!«  »Gott verdamm mich - ja, das ist wahr! Wenn sie mich hier erwischt, bin ich geliefert. Ich finde nicht einmal Mitleid mehr bei Mary, obschon sie meine leibliche Schwester und sonst ein ganz verständiges Kind ist, die über jeden Graben bis zu zehn Fuß im Fluge setzt!« 

»Ich erkenne vollkommen diese vortreffliche Eigenschaften an, aber es handelt sich jetzt um Ihren Auftrag. Sie sollen nach Ancona!« 

»Nach der Festung? Aber zum Henker, ich bin kein

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Vogel, der durch die Luft fliegt, und auf der Erde steht dieser Herr Cialdini zwischen uns und der Stadt.« 

»Wenn Sie auch kein Vogel sind, Monsieur O’Donnell, so sind Sie doch ein vortrefflicher Reiter, und das ist fast eben so viel, so lange vier gute Hufe aushalten. Der General wird morgen versuchen, den Feind zu durchbrechen. Wie und auf welchem Wege, das wird der Kriegsrath entscheiden, der nach Ankunft des Generals Pimodan stattfinden soll. Wenn unser Angriff aber bei der großen Uebermacht des Feindes gelingen soll, muß zu gleicher Zeit ein


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Ausfall der Garnison von Ancona ihn unterstützen und die Piemontesen im Rücken fassen. Die Nachricht und die Ordre dazu sollen Sie Überbringern« 

«Verdammt, ich möchte es gern - aber ich kenne den Weg und das Terrain nicht.« 

»Man hat dem Obergeneral einen Menschen aus Loreto vorgeschlagen, einen ehemaligen Schmuggler oder Banditen, der die Gegend zu kennen behauptet und das Unternehmen wa- gen will. Aber der Obergeneral traut den Italienern nicht besonders und bei den Meisten mit Recht. Darum soll ein kühner und entschlossener Mann aus unseren Reihen ihn begleiten, ein Mann, der die Depesche trägt, bei dem geringsten Beweis von Verrath den Führer über den Haufen schießt und dann Kopf und Kragen daran setzt, die Posten der Piemontesen zu durch- brechen oder die Depesche hierher zurückzubringen. Der Weg am Meer über Umana soll von dem Feind noch nicht, oder doch nur mit wenigen Posten besetzt sein. Er führt fortwährend an der Küste entlang bis Umana. Haben Sie glücklich diesen

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Ort erreicht, so sind Sie über die feindlichen Linien hinaus und es gilt dann nur noch einen Ritt von acht bis zehn Miglien 1 , der aber unmöglich einem Italiener anvertraut werden darf; denn sie sind fast alle schlechte Reiter, wie Sie gestern bei dem Angriff der Gensdarmen auf Loreto selbst gesehen haben. Ich würde das Abenteuer selber unternehmen, aber der Obergeneral hat mir eine andere Aufgabe bestimmt. Nun sagen Sie mir offen, haben Sie Lust und Kraft, den Dienst zu leisten, oder muß ich mir einen Anderen suchen?« 

»Ich würde Jeden über das Schnupftuch fordern,« betheuerte der Irländer, »der es wagte, mir den Auftrag wegzunehmen. Wann soll ich abreiten?« 

»Sobald es Nacht ist. Sie haben sich in einer Stunde im Hauptquartier einzufinden und bei dem Major der Guiden zu melden. Keine schwere Bewaffnung, sichere Pistolen finden Sie in den Halftern des Pferdes. Also höchstens Ihren Säbel und Ihren Revolver, und dunkle Kleidung.« 

»Ich werde zur Stelle sein!« 

»Der Führer erwartet Sie an der Ecke des Klosters der Franziskanerinnen. Bis dahin also - Parbleu! Da ist Graf Pimodan selbst mit seinem Stabe!« 

Der sehnlichst Erwartete kam mit mehreren Offizieren, darunter dem Fürsten Odescalchi, dem Kommandanten der Cavallerie der Armee, und dem tapfern Major Becdelievre, dem Führer des Bataillons Franco-Belgier, im scharfen Trab die Straße vom südlichen Eingang der Stadt

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her. Der Herzog warf dem Irländer ein kurzes a rivederla ! 2 zu und eilte den Ankommenden entgegen.

Die flanirenden Offiziere, die Soldaten sammelten sich freudig um sie, während der Ge- neral vor dem Thor des bischöflichen Palastes, der zum Hauptquartier diente, vom Pferde sprang.

»Buona sera 3 , Messieurs! guten Abend, Merode!« sagte der tapfere Führer, indem er dem Letzteren die Hand reichte. »Sie sehen, ich habe mich daran gehalten, denn Sie können mir


3 4 italienische Miglien = 1 deutsche Meile. 2 Auf Wiedersehen!

3 Guten Abend!


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höchstens zwei Stunden Vorsprung abgewonnen haben. Meine Avantgarde wird in einer hal- ben Stunde hier sein - ich komme doch hoffentlich noch zur rechten Zeit? - Aber wo ist der Obergeneral?« 

»Hier, lieber Graf! Sie sind bestens willkommen!« 

Lamoriciere war die Stufen herabgekommen, er bewillkommnete herzlich den Kriegsge- fährten und führte ihn die breiten Marmorstufen hinauf.

Der General verfehlte die erste, indem er noch rückwärts seinen Begleitern einen Befehl ertheilte, und wäre stolpernd beinahe gefallen.

»Mort de Dieu! da sehen Sie, Lamoriciere,« sagte er lachend, »mit welchem schlimmen Omen Sie mich empfangen. Aber es thut Nichts, wenn wir nur nach Ancona kommen!« -

Die kommandirenden Offiziere, die zum Kriegsrath berufen waren, eilten nach dem Haupt- quartier, die Adjutanten und Fouriere hatten alle Hände voll zu thun, um für

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die erwarteten und nach und nach eintreffenden Kolonnen der zweiten Brigade Unterkom- men und Proviant anzuschaffen, an welchem es sehr mangelte. Vor dem Hauptquartier la- gerte es von allen Truppengattungen, große Bivouacqfeuer waren in der Straße und in den Gärten angezündet, und die Bewohner des Ortes bewegten sich angstvoll und aufgeregt zwi- schen den Soldatengruppen, in denen man in vier oder fünf Sprachen fluchte, lachte, scherzte und zankte. -

Wohl anderthalb Stunden waren so vergangen, die Nacht - das durchsichtige Dunkel der Nächte des italienischen Spätsommers - bereits über die Hügel und das Meer gesunken, als der junge irische Offizier an dem Marmorbecken der sprudelnden Fontaine im Vorhof des bischöflichen Palazzo lehnte und auf weitere Ordre wartete. Vor der Thür marschirte eben die Musik des Linienregiments der Brigade Courten mit den Fahnen-Kommando’s aller Trup- pentheile auf - das ganze versammelte kleine Heer schien vor dem Hauptquartier zusammen zu strömen und bildete eine breite Gasse nach dem Hauptportal des Doms.

Die beiden italienischen Offiziere, die am Nachmittag mit dem Irländer an einem Tisch gesessen, gingen eben an ihm vorüber.

»Darf ich Sie fragen, mon Prince ,« sagte der junge Lieutenant höflich - »was da eben ge- schehen soll?« 

»Ei, wissen Sie nicht, daß Seine Heiligkeit den Delegaten beauftragt hat, die Fahnen, die Don Juan d’Austria in der Türkenschlacht bei Lepanto zu Ehren der Christenheit eroberte, und die in der santa casa aufbewahrt

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werden, dem Bekämpfer des >neuen Islamismus « 1 zu übergeben, damit sie vor seinem Quartier aufgepflanzt werden und die Kämpfer der heiligen Kirche begeistern? Sie sollen so eben mit aller Feierlichkeit aus der Kathedrale geholt werden.« 

Es lag ein gewisser Hohn in der Mittheilung des Principe, den jedoch der ehrliche Sohn Erin’s nicht begriff- ja er erinnerte sich wohl kaum aus dem Dubliner College, wer Don Juan d’Austria gewesen war.

»Meinetwegen,« murrte er, »eine gute Brigade Paddy’s wäre mir lieber, als der alte Plunder, und wahrscheinlich auch wirksamer. Doch, Achtung, meine Herren, da kommt der Oberge- neral!« 

x Aus der Proklamation Lamoriciere’s vom 8. April.


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Der Feldherr erschien in der That auf den Stufen des Palazzo, gefolgt von den sämtlichen Mitgliedern des Kriegsraths. Die Musik spielte das »Pio nono« und die Fahnen-Kompagnieen setzten sich in Marsch.

»Lieutenant O’Donnell?« rief eine Stimme durch die Gruppen im Hofe.

»Hier, Kapitain!« 

Der Herzog von Ragusa kam hastig heran. »Major Bourbon schickt Ihnen hier die Depesche - er muß mit der Generalität nach dem Dom. Sie kennen Ihre Instruktion. Gehen Sie an die nördliche Ecke des Klosters - dort wird der Führer Sie erwarten. Die Parole ist: San pietro in montorio. In zehn Minuten wird man das Pferd dahin bringen. Haben Sie wegen der Signora, Ihrer Schwester, die nöthigen Anordnungen getroffen?« 

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»Ja, Herr Kapitain.« 

»Schön - sonst hätte ich mich Ihnen zur Disposition gestellt. Noch Eines - sollte ein Un- glück passiren, so sorgen Sie mit Ihrem Leben dafür, daß die Depesche nicht in Cialdini’s Hände fällt. Nun Gott befohlen! Der Himmel bringe Sie glücklich durch alle Gefahren, auf Wiedersehen in ... « 

Er erblickte den Principe und seinen Begleiter, die einige Schritte abseits standen, legte dem Irländer gegenüber bezeichnend den Finger auf den Mund und entfernte sich mit kurzem Gruß.

Auch der Irländer nahm seinen Säbel unter den Arm und verließ den Hof. Der Principe holte ihn jedoch nach den ersten hundert Schritten ein.

»Sie müssen noch in der Nacht hinaus, Herr Kamerad?« 

»Dienst, mon Prince!« 

»Ach - eine Ordre an die Vorposten! ich hätte Lust, statt des Fahnenspektakels hier mit Ihnen zu sehen, ob die Herren Piemontesen gute Wache halten.« 

»Ich bedauere,« sagte der Irländer trocken, »ich muß meinen Weg allein machen! Auf Wie- dersehen!« 

»Morgen?« 

»Wenn uns nicht der Teufel bis dahin eine sardinische Kugel geschickt hat, hoff ich es. Addio Signor!« 

Er wandte sich kurz ab und schritt über die Straße.

»Haben Sie gehört, Negroni,« sagte der Principe, den Arm des Artilleristen nehmend, »der Bursche soll nach Ancona - es ist kein Zweifel, obschon es der Franzose verschluckte, als er uns sah. Was ist zu thun?« 

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»Leider nicht viel, da er in zehn Minuten aufbricht. Wir müssen darauf rechnen, daß sie ihre Augen offen und gute Wache halten. Jetzt gilt es vor Allem, den Beschluß des Kriegsrathes zu erfahren. Das ist Ihre Sache, Fürst, indeß ich den Pater aufsuche, damit er den Boten bereit hält.« 

[»] Sie waren dem Irländer in einiger Entfernung bis zum Franziskaner- Kloster nachgegan- gen und sahen ihn dort an der Ecke der Mauer zu einem bei einem gehaltenen Maulthier stehenden Mann treten. [«]

Der Irländer hatte ihn gleich gesehen und war auf ihn zu gegangen.

»Buona sera, Signore,« sagte er, seine wenigen italienischen Floskeln zusammen nehmend.


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»Gracia, Excellenza!« 

«Ich hoffe, Ihr seid der rechte Mann« fuhr der Lieutenant französisch, der einzigen ihm geläufigen fremden Sprache, fort, aber ich verstehe herzlich wenig Italienisch.« 

»Le mot, monsieur?« 

»Ah, das ist vortrefflich. San pietro in montorio!« 

»Gut, Signor - ich bin der Rechte. Ich bin mit den Herrn Franzosen oft genug in Rom zusammengekommen und verstehe deshalb etwas von ihrer Sprache. Man hat mir gesagt, daß Sie ein vorzüglicher Reiter wären - aber ich sehe Ihr Pferd nicht?« 

»Es wird sogleich kommen.« 

Die beiden Gefährten für den gefährlichen Weg benutzten die Pause, um sich gegenseitig etwas näher zu betrachten. Der Führer war ein Mann von untersetzter

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Gestalt, so viel die Helle der Nacht und das Licht der zahlreichen Bivouacqfeuer zu sehen gestattete, noch in den kräftigsten Mannesjahren, etwa vierzig alt. Ein schwarzer krauser Bart bedeckte den ganzen untern Theil des Gesichts, über der schmalen Habichtsnase und unter dem spitzen grünen Hut, wie ihn die Landleute in den Apenninen tragen, funkelten zwei scharfe dunkle Augen. Der Mann war in einen weiten braunen Mantel gehüllt, dessen zufällige Dehnung die Tracht der Gebirgsbewohner zeigte. Auf seinem rothen Brustlatz hing ein Crucifix, in der bunt seidenen Schärpe, die seine Hüften umschloß, steckten Pistolen und ein neapolitanisches Messer.

Die kurze Prüfung schien beide Parteien ziemlich zu befriedigen. »Sie sollten den Sarras da ablegen, Signore,« sagte endlich der Fremde, »sein Klirren kann uns leicht eine der Schildwa- chen auf den Hals hetzen, die uns sonst nicht bemerkt hätte.« 

»Sie mögen Recht haben - indeß es ist zu spät und ich kann ihn aufhängen, Signor. Wollen Sie mir Ihren Namen sagen, damit ich weiß, wie ich Sie nennen soll, wenn wir miteinander sprechen.« 

»Meinen Namen? Per Bacco - auf unserm Wege werden wir nicht besonders viel plaudern können. Indeß - jeder Mensch muß eine Handhabe für den Anderen haben, und so kann ich Ihnen den meinen immerhin nennen. Ich heiße Antonelli!« 

»Teufel - ein Namensvetter des Kardinals?« 

»Ein wirklicher Vetter, Signore, wenn’s Ihnen Nichts verschlägt! Wir sind Beide aus Terra- cina, und Giacomo

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hätte gewiß auch ein vortrefflicher Brigante oder Schmuggler werden können, wie sein Bru- der, wenn er nicht zufällig geistlich geworden wäre. Da ich aber nicht stolz bin auf Verwandt- schaften und sie mir lieber aufspare, wenn ich wirklich einmal in die Gefahr der Garotte 1 käme, nennen ich und meine Freunde mich lieber Tonelletto.« 

»Tonelletto?« 

» Si , Signore. Es ist ein Name so gut wie ein anderer!« 

»Aber ich hörte in Rom diesen Namen von den Offizieren der Garnison als den eines der berüchtigsten Brigantenchefs des westlichen Appenin nennen?!« 

Der Italiener zuckte die Achseln. »Cospetto - was kann ich dazu thun? Diese Froschfresser von Franzosen machen aus jeder Mücke einen Scorpion und gönnen einem armen Teufel

1 Die römische Hinrichtungsmaschine.


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nicht das Geringste, während sie Briganti im Großen sind! - Aber ich glaube, dort kommt Ihr Pferd.« 

In der That näherte sich ein Gensdarm mit einem einfach gesattelten Pferde von ächt eng- lischer Zucht von der Seite des Palazzo her.

Zugleich kamen Artillerie und mehre Feldwagen der Kolonne Pimodan die Straße herunter gerasselt und durchbrachen die Zuschauermenge, die auf dem Platz der Kathedrale versam- melt war. Eine Ordonnanz ritt ihnen voran und führte sie nach der Stelle unweit des Klosters, wo der Wagenpark und die Geschütze aufgefahren standen. Zwischen den Bagage- und Mu- nitionskarren befand sich eine halbaufgeschlagene Reisekalesche. Auf dem Bock neben dem

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Vetturin saß die kurze bewegliche Gestalt eines Courier, den goldenen Windhund auf dem linken Aermel der Jacke gestickt, zuweilen trotz aller Einsprache des Vetturins die Peitsche gegen die beiden müden Gäule gebrauchend, noch mehr aber seine Zunge, die unerschöpflich schien in Ausrufungen und Anordnungen, die sie in fünf verschiedenen Sprachen durchein- ander mischte.

Auf dem Rücksitz der Kalesche saß eine lange hagere Gestalt mit weißem Backenbart und gelbem Rock, der bis an die Fersen reichte; im Fond eine in ihren schottischen Mantel gehüllte Dame, deren Gesicht der Schleier des Barets verdeckte.

Der Wagen hielt in der Mitte der Straße und war bald von Soldaten und Bettlern umgeben, deren es in Loreto eine Unzahl giebt. Der kleine Courier war ganz Leben und Bewegung.

»Could you recommend me one good inn? 1 - Aussitöt Madame, vous pouvez en reposer en- tierement sur moi! Riposatevi sopra me! 2 - Er winkte einem Burschen, der auf zwei Krücken humpelte und unter kläglichem Wimmern nach einer Gabe den zerlumpten Hut hinhielt. »Av- vicinatevri di me! Das dumme Volk hier versteht seine eigene Sprache nicht! Der Kerl sieht zwar wie der ärgste Vagabond aus, aber lo tengo por hombre de bien! 3 et nous avons besoin de trouver un hötel pour Mylady et we want to sup!

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Den mezzofantischen Uebungen des kleinen Mannes wurde ein Ziel gesetzt durch den langen Kammerdiener der Dame, dem dieselbe einige Worte in englischer Sprache gesagt hatte.

Der Lange packte den Kleinen ohne Weiteres am Kragen und hielt ihn fest.

»Master Jean!« 

» Master Wilkens?« 

»Mylady sagt, Sie möchten die Soldaten fragen, ob sie einen Gentleman kennen, Namens Terenz O’Donnell?« 

»Nonavete ch’a comandare! Messieurs, avez-vous compris?« Er wiederholte die Frage der Dame in französischer und italienischer Sprache.

Mit Gelächter wurde sie wiederholt. Jedermann beeilte sich zu rufen: »Wo ist Monsieur O’Donnell? Wer kennt Signor Terentio O’Donnell?« -

Unterdeß hatte der Gensdarm das gesattelte Pferd zu den beiden seiner Harrenden ge- bracht. Als er die Zügel dem Offizier reichte erkannte er den Gefährten desselben.

können Sie uns einen guten Gasthof zeigen?

2 Verlassen Sie sich auf mich.

3 Ich halte ihn für einen rechtschaffenen Kerl.


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» Per Baccho - Tonelletto, bist Du es wirklich?« 

»Si, Sinore Sergente! in ganzer Person!« 

«Aber Bursche, Du weißt doch, daß hundert Scudi auf Deinem Kopf stehen?« 

»Si, Si! Was ist da weiter! Aber die Zeiten haben sich geändert und ich stehe jetzt im Dienst Seiner Heiligkeit so gut wie Ihr! Sieh da, mein hübscher Offizier karessirt mit einer Klosterfrau und versäumt die Zeit damit.« 

Der Irländer war mit dem Pferd am Zügel an den Thorweg des Klosters gegangen, hatte geschellt und der

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Pförtnerin eine Bestehung gemacht. Gleich darauf war ein Mädchen mit dem Obergewand der Laienschwestern bekleidet herausgekommen und hatte ihm die Hand gereicht.

»Was willst Du, Terenz?« Es war die junge Irländerin.

»Liebling,« sagte der Offizier, »ich habe nur wenige Augenblicke Zeit und wollte Dir nur Adieu sagen. Ein Auftrag entfernt mich für diese Nacht, wahrscheinlich auch für morgen. Du bleibst auf jeden Fall hier im Kloster, bis ich Dir Botschaft sende, es müßte denn sein . . . « 

»Was, Bruder? Du ängstigst mich!« 

»Bah - Nichts! Laß noch diesen Abend die wenigen Sachen aus meinem Quartier holen. In dieser Brieftasche sind die Papiere über das kleine Kapital, das wir bei dem Banquier in Rom deponirt, und hier« - er drängte ihr seine Börse auf - »ich habe redlich getheilt.« 

»Terenz - wo gehst Du hin?« 

»Wohin mich die Pflicht ruft. Das ist das Loos des Soldaten, und nun, sei ein starkes Mäd- chen, Du weißt, daß wir allein in der Welt stehen. San Patrik und die heilige Jungfrau mögen Dich in Schutz nehmen! Hollah - wer ruft da meinen Namen?« 

Es war der Augenblick, in welchem auf die Frage des Couriers die um den Wagen versam- melte Gruppe von Bettlern und Soldaten sich beeilte, nach Signor 0’Donnel[l] zu schreien.

»Hell and Damnation!« fluchte der Irländer, auf die von dem nächsten Feuer und einigen Fackeln hell erleuchtete Gruppe starrend - »San Patrik soll meine Seele

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tausend Jahre im Fegefeuer lassen, wenn das nicht Miß Judith selber ist!« 

Er faßte den Zügel des Pferdes und setzte den Fuß in den Steigbügel.

Der Wagen der Lady wurde von der Schaar der Bettler fast erstürmt, die sich mit hundert Eiden verschworen, den Signore sofort zu suchen und herbeizuschaffen, wenn Ihre Excellen- za nur die Gnade haben wolle, ihnen einige Bajocchi auf Abschlag zu geben. Das Mittel der erschreckten Dame, eine Handvoll Münze aus ihrer Börse unter die Menge zu werfen, machte das Uebel nur noch ärger, denn Ahes balgte sich nun um den Wagen her; der Vetturin brauch- te vergeblich seine Peitsche, um vorwärts zu kommen, der Courier schimpfte nutzlos in fünf oder sechs Sprachen auf die lachenden Soldaten, die einen Kreis um die Reisenden bildeten und nicht wichen und wankten, bis boshaft der Principe, der noch immer in der Nähe stand und das Thun des Offiziers beobachtet hatte, die Nächsten darauf aufmerksam machte, daß der Gesuchte an der Pforte des Klosters eben zu Pferde steigen wolle.

Der Ruf: » Arrestate Signori! Ferma! Ferma! eine Dame will Sie sprechen!« verbreitete sich wie ein Lauffeuer und die Blinden und die Lahmen machten sich eiligst mit gesunden Augen und Füßen auf den Weg, den Entdeckten herbei zu holen.


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Der unglückliche Freier hörte mit wahrem Entsetzen die Rufe, wenn er sie auch nicht verstand - aber er sah die Dame im Wagen sich Vorbeugen und ihrem alten Diener mit der Hand den Platz zetgen, wo die Geschwister standen.

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Mit einer lästerlichen Verwünschung sprang er in den Sattel. »Farewell, Mary!« Die Sporen bohrten sich in die Flanken des edlen Renners, der vorwärts schoß, ein halbes Dutzend Män- ner und Weiber über den Haufen werfend. Von Gelächter, Schimpfworten und Verwünschun- gen verfolgt, jagte der Irländer davon und die Straße hinab, indem er sich kaum Zeit nahm, dem Führer zuzurufen. Der Menschenhaufe und das aufgestellte Gefahr versperrten ihm den Weg - gerade vor ihm hielt einer der eben mit dem Train des Generals angekommenen Muni- tionskarren. Ein Schnalzen der Zunge, die Sporen in die Weichen, und mit gewaltigem Satz flog das edle Pferd mit seinem tollen Reiter über den Karren hinweg.

Lauter Jubel, Händeklatschen und Ewiva’s folgten ihm, als er wie eine Windsbraut im Lau- fe der Gasse verschwand. Der würdige Schmuggler und Brigante, der Vetter der allmächtigen Eminenz, beeilte sich, ihm zu folgen.

Von dem großen Portal der von Papst Paul II. 1467 erbauten, unter Julius II. 1513 vollen- deten Kathedrale klang lustig und anregend die Militärmusik herüber. Aus den weit geöff- neten Broncethüren mit den Reliefs von den Brüdern Lombardi und Tiburzio Vercelli drang ein Strom von Licht bis zur ehernen Statue Papst Sixtus V von Calcagni’s Meisterhand. Die Soldatenreihen schlossen sich - das Kommandowort der Offiziere klang laut über den Platz.

»Achtung! Präsentirt das Gewehr!« 

Der Handschlag rasselte an den Kolben - die Tambours schlugen -

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Aus dem Portal der Kathedrale schritten paarweise zwölf Chorknaben, brennende Wachs- kerzen in den Händen, und reiheten sich auf den Stufen.

Dann kamen die Diakone und die Vikare der Santa Casa und stellten sich zu beiden Seiten des Portals, aus dem jetzt die zehn Träger der Flaggen und Roßschweife schritten, welche die päpstlichen Galeeren am 7. October 1571 unter dem tapferen kaiserlichen Bastard dem Türkenadmiral Ah am Golf von Patras (Lepanto) abgenommen, dessen Wasser vom Blute von 15000 Ungläubigen geröthet war.

Umgeben von den Kanonicis, den Generälen und Stabsoffizieren folgte der Delegat, die von Diamanten und funkelnden Edelsteinen strahlende Monstranz in den Händen.

Unter dem Portal des mächtigen Doms blieb er stehen, während die Fahnenträger sich vor der Statue Sixtus V aufstehen.

Der Strom der Menge hatte die junge Irländerin von dem Eingang des Klosters fortgedrängt - auch die verzeihliche Schaulust und Neugier des Weltkindes mochte das Ihrige dazu bei- getragen haben. Das Klostergewand war etwas zu Gewöhnliches, als daß es Aufsehen erregt hätte, namentlich in einer Zeit, wie die gegenwärtige; dennoch strebte sie vergeblich, aus dem Gedräng zu kommen, bis eine helfende Hand sie unterstützte und unter die einsamen Arkaden der geschlossenen Kaufhallen mehr zog als führte.

Die junge Irländerin erkannte die Uniform eines höheren Offiziers und wollte eben für den freundlichen Schutz danken, als sie sich überzeugte, daß dieser keineswegs

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so uneigennützig geleistet worden, denn der Ritter der Kirche versuchte, sie an sich zu ziehen und zu umschlingen.

«Sträube Dich nicht, Kind« flüsterte der Offizier frivol in italienischer Sprache - »ich kenne das von Neapel her! Cospetto! - wenn Ihr kleinen heiligen Hexen einmal Eurem Gewahrsam entwischt seid, dann treibt Ihr’s toller als die wildeste Ballerina von San Felice!« 

Obgleich das Mädchen nicht genug Italienisch verstand, um die Infamie seiner Worte ganz zu fassen, begriff sie doch leicht ihre Absicht. »Lassen Sie mich los, Herr,« sagte sie franzö- sisch, - »oder ich muß um Hilfe rufen! Ihr Benehmen ist unwürdig eines Offiziers!« 

»Demonio! - Wahrhaftig - es ist die schöne Irländerin oder Pariserin!« rief der Bedränger, »desto besser, meine kleine Schönheit! Ihr sogenannter Bruder ist auf und davon und Sie sind also frei! Kommen Sie mit mir, ich bin nicht geizig, und es soll Dein Schade nicht sein!« 

Diesmal hatte sie die französisch gesprochenen Worte verstanden. Ihre Antwort war trotz des Kleides der Sanftmuth und Demuth, das sie trug, von dem heißen hibernischen Blut diktirt: ein Schlag in’s Gesicht und der Ruf nach Beistand.

»Kanaille! mir das?!« 

Er hob die geballte Faust zur brutalen Mißhandlung; aber eine starke Hand faßte seinen Arm und hielt ihn zurück.

»Sie benehmen sich wie ein Schurke, Signor!« sagte eine strenge Stimme. »Entfernen Sie sich sogleich, oder ich wiederhole die wohlverdiente Züchtigung, die Ihnen diese Dame ert- heilt hat.« 

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Der Italiener schäumte vor Zorn. »Was mengen Sie sich in Dinge, die Sie Nichts angehen? Wissen Sie, mit wem Sie reden?« 

»Mit einem Elenden, der ein schutzloses Weib mißhandeln will, weil es seine schmuzigen Anträge zurückwies.« 

»Ich bin der Principe Caracciolo! Da ich sehe, daß Sie Offizier sind, werden Sie mir Genugt- huung geben für Ihre Beleidigungen! Auf der Stelle!« 

Der Offizier hatte den Arm der Dame unter den seinen gezogen. »Ich bin der Freiherr von Kerssen,« sagte er stolz - »aber ich duellire mich nicht mit Ihnen.« 

»Ah - ich verstehe!« sagte der Neapolitaner höhnisch, - »der ehrenwehrte Cavalier, der schon einmal wegen feiger Verweigerung der Genugthuung aus der preußischen Armee fort- gejagt wurde!« 

»Wer von uns Beiden der Feigling ist, wird sich morgen auf dem Schlachtfeld zeigen, dem unser Beider Leben gehört. Dorthin allein nehme ich Ihre Forderung an; denn ich habe nicht die erste Armee Europas verlassen, um hier einem Genossen des Verräthers Vial zu Liebe meine Grundsätze zu verleugnen. - Kommen Sie, Madame, Sie sollen sicher unter meinem Schutz nach dem Kloster zurückkehren!« 

Ohne das mindeste Zeichen der Beachtung an seinen zähneknirschenden Gegner zu ver- schwenden, führte er das Mädchen fort.

Wieder wirbelten die Trommeln, schwangen die

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Weißkessel, und die ganze vor der Kathedrale versammelte Menge, Soldaten und Volk, sank andächtig vor dem erhobenen Allerheiligsten auf die Knie.


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Der Delegat des Heiligen Vaters segnete die Krieger der Kirche für den bevorstehenden Kampf! -


Lazienki.

1. Die schwarze Brüderschaft.

Dem schönen milden Herbsttage, - es war der 24. Oktober, Mittwoch - war ein milder feiner Regen gefolgt, der jetzt aufhörte und einem glänzenden klaren Sonnenhimmel Platz machte.

Ganz Warschau war in Bewegung - die eine Hälfte, sich an dem Glanz der kaiserlichen Hof- haltung und der zahlreichen fürstlichen Gäste zu erfreuen, - die andere, darüber zu grollen und finstere Pläne zu schmieden.

Es war zur Zeit jener Zusammenkunft der drei Repräsentanten der mit dem pariser Ver- trage zerrissenen alten heiligen Alliance, der zweiten Nachfolger jener Fürsten, welche das mächtige Bündniß geschlossen, das Europa während 35 Jahren den Frieden gesichert hatte. Die mächtigen Wogen der Ereignisse, die alle Grundvesten der früheren Zustände unterwühlt und in’s Wanken gebracht, forderten unter den Mächtigen der Erde, denen Gott die Geschicke der Völker anvertraut hat, neue Verständigungen, neue Bündnisse, um dem Anstürmen der Revolutionen im [60]

Purpur wie in der Blouse die Spitze bieten und den Drang nach Reformen in ein gedeihliches Bett leiten zu können.

Die Zusammenkunft folgte der des Prinz-Regenten von Preußen mit dem Kaiser von Oe- sterreich am 25. Juli in Teplitz und mit der Königin von England am 12. Oktober in Coblenz und war schon lange vorher in diplomatischen Kreisen und den Zeitungen discutirt worden. Die Bemühungen Frankreichs, sie zu hintertreiben, waren vergeblich geblieben.

Am 20sten waren der Kaiser von Rußland und der Großfürst Thronfolger, der erste mit sei- nen fürstlichen Gästen von der Jagd im Bialowiczer Urwalde, in Warschau eingetroffen; am Tage darauf war der Prinz-Regent von Preußen, am Montag der Kaiser von Oesterreich an- gekommen. Militairische Schauspiele auf dem Powasker Felde und glänzende Festlichkeiten hatten sich seitdem gereiht.

Auch am Tage, an welchem wir näher in die Scene dieser Feste eintreten, hatte am Mittag ein großes Manövre im Feuer stattgefunden - die Minister, von denen jeder der drei Monar- chen begleitet war, hatten am Morgen einander ihre Besuche gemacht.

Es war 8 Uhr Abends - also in dieser Jahreszeit schon vollkommen dunkel. Die Stabs- offiziere, die Spitzen der Beamtenkreise, die vornehme Welt war zu dem Fest auf Lazienki geladen, das mit einer Vorstellung des Ballets «Der Seeräuber« in dem zierlichen Parktheater am großen Bassin begann, und mit einer glänzenden Illumination [61]

des Parks beschlossen werden sollte. Halb Warschau war die große Allee und die Wiejska entlang hinaus geströmt, um das feenhafte Schauspiel mit anzusehen, denn noch hatten die geheimen Wühlereien der »Rothen« nicht die spätere Gewalt über das Volk erlangt, um selbst dessen Schaulust in das Programm der Revolution einzuschränken. -


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Die Zakrocymska entlang, aus der Gegend der Citadelle, die in ihrer Vergrößerung jetzt die ganze Stadt beherrscht, kamen in dunkle Mäntel gehüllt zwei Männer, blieben zuweilen an einer oder der anderen Ecke der einmündenden Gassen stehen und tauschten im Vorüberge- hen einige kurze Worte mit Personen, die wie zufällig dort sich umherzutreiben oder irgend einem Geschäft nachzugehen schienen. Die Worte waren so flüchtig und unhörbar, daß selbst die nächsten Vorübergehenden sie nicht hätten verstehen, kaum bemerken können. Auch die gegenseitige Unterhandlung bestand nur in abgerissenen gleichgültigen Bemerkungen, und nur zuweilen fiel ein Wort, das einem ganz anderen Ideengang der Beiden zu gehören schien, als die gleichgültige Unterhaltung, die sie für die Vorübergehenden führten; denn die Straße war trotz der allgemeinen Wanderung nach Lazienki sehr belebt, da ein Theil der Truppen, welche am Mittag das Manövre ausgeführt, die Erlaubniß erhalten hatte, über die Retraite auszubleiben.

Die beiden Männer, die wir begleiten, waren von verschiedener Gestalt und verschiedenem Alter. Der Eine groß, schlank, trug einen Elut und schien, wie das Licht der Gaslaterne im Vorübergehen bewies, etwa sechsundzwanzig Jahre. Sein Gesicht war schmal, blaß und von [ 62 ]

aristokratischem Schnitt, ein schmaler schwarzer Schnurrbart hing nach polnischer Sitte in langen Spitzen über die Winkel des fein geschnittenen Mundes - feurige dunkle Augen liefen etwas unruhig und forschend während des ganzen Weges über die Straße.

Der Zweite, Kleinere war wohl zwanzig Jahre älter, als sein Begleiter - er hatte ein intelli- gentes, scharfes, von Blatternarben überzogenes Gesicht, und die Stärke des hervortretenden unteren Theils sprach von großer Willenskraft. Er trug eine Mütze in Form der Dienstmüt- zen der Eisenbahnbeamten, aber ohne deren Abzeichen. Er war Derjenige, welcher mit den Personen an den Straßenecken die kurzen Worte wechselte. Diese schienen übrigens eine Art Wegweiser zu bilden, denn die Beiden änderten wiederholt danach die Richtung ihres Ganges, bogen in Seitenstraßen ein und kamen nach längerer Strecke wieder auf eine Haupt- straße zurück.

An dem Bern[h]ardiner-Kloster vorübergehend, waren sie im Begriff, nach den Karmeli- tern einzubiegen, als ein lahmer zerlumpter Bursche, der an einem Band um den Nacken eine offene Schwinge mit Citronen, Cigarren, Streichholzbüchsen und dergleichen kleinen Handelsartikeln trug, bei ihnen stehen blieb, einen raschen kurzen Blick des Einverständnis- ses mit dem älteren Manne wechselte und dann in kläglichem Tone rief:

«Cigarren! Cigarren! das Stück drei Kopeken! Kauft! kauft!« 

Der ältere Mann blieb stehen. »Ich habe meine Cigarrentasche vergessen,« sagte er laut. »Haben Sie dergleichen bei sich?« 

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»Nein, ich rauche nicht!« 

»Dann erlauben Sie mir, einige zu kaufen. Komm her, Bursche. Zeige die besten! — Was giebt’s?« fügte er leise bei.

»Hier, gnädiger Herr! Die Mutter Gottes segne Sie - es ist der erste Verdienst, den ich habe!«  wimmerte der Bursche, dann fügte er flüsternd hinzu: »Das Kloster ist bewacht - ich soll Sie warnen - die ganze Polizei ist auf den Beinen!« 

»Was kosten die Cigarren?« 


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»Sechs Kopeken die beste Sorte - wollen Euer Gnaden für meine hungernde Mutter und fünf arme Geschwister ein Paar zulegen, wird es Ihnen Gott lohnen. - Gehen Sie durch die Mazowiecka 1 , sie sind wild wie die Teufel wegen des gestrigen Streichs!« 

»Hier - gieb mir Feuer! - Und heute?« 

»Hier, gnädiger Herr! - In Lazienki selbst sollen sie den Anschlag finden! Wir müßten nicht Polen sein, wenn wir sie nicht überlisten sollten! - Die Mutter Gottes segne die gnädigen Herren für Ihre Gabe!« 

Die letzten lauten Worte galten für das Ohr eines augetrunkenen Bauern, der an ihnen vorbei taumelte und stehen blieb.

Der Bursche, der seine kleinen schlauen Augen in dem rattenartigen Gesicht unter der schmuzigen zerrissenen Pelzmütze überall umherwandern ließ, hatte bemerkt, daß der be- trunkene Bauer einen aufmerksamen Blick auf die

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Gruppe warf und löschte daher schnell das noch brennende Streichhölzchen.

»Hundesohn, einfältiger!« rief der Bauer - »siehst Du nicht, daß mir die Pfeife ausgegan- gen? - Nichts für ungut, Euer Gnaden - ein armer Kerl muß sich auch ein Vergnügen machen, wenn ganz Warschau sich freut! Polen soll leben! Ich küsse Euer Gnaden den Rock! Hast Du nicht eine Kleinigkeit Väterchen für ein Glas Wutki?« 

Er machte den Gruß, den halben Fußfall der niederen Polen, indem sie den Rock küssen, und versuchte dabei den Mantel des Größeren zu lüften.

Der Blatternarbige stieß ihn zurück. »Fort betrunkener Schurke, oder ich rufe die Polizei!« 

Der Bauer hatte seinen Zweck erreicht - er hatte eine kleine Reisetasche unter dem Mantel gesehen und taumelte weiter.

»Vorsicht - ein Spion!« flüsterte der lahme Junge, indem er sich an den beiden Männern vorbeischob.

Der betrunkene Bauer war schon einige Schritte weiter getaumelt - die beiden Männer gingen in der entgegengesetzten Richtung weiter.

Einmal sahen sie sich nach dem verdächtigen Mann um. Er war eben stolpernd zur Erde gefallen, einige vorüberkommende Personen bemühten sich, ihn wieder auf die Beine zu bringen. Das beruhigte sie. »Janko hat sich bei all seiner Schlauheit diesmal getäuscht,« sagte der Aeltere, »der lahme Bursche wittert überall Spione - weil er selbst einer unserer besten ist.« 

Hätte er sehen oder besser hören können, was in der

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Gruppe um den Trunkenen vorging, er würde nicht so unbesorgt gewesen sein.

Daß ein Betrunkener in die Gosse fällt, ist in Warschau gerade nichts Seltenes - man hilft ihm - weil das vielleicht morgen den Meisten selbst passiren kann, - höchstens heraus, lehnt ihn an die nächste Mauer und überläßt ihm, nach Gutdünken weiter zu kommen. So geschah es auch diesmal - die drei oder vier Personen halfen dem Bauer auf die Beine und gingen mit Ausnahme eines Mannes, der wie ein gewöhnlicher Bürger aussah, weiter.

Dieser wollte den Trunkenen auf der Schwelle einer Thür niederlassen und untersuchte dabei seine Taschen mit großer Fingerfertigkeit, als er plötzlich seine Hand wie mit einer eisernen Klammer gefaßt fühlte.

^ei den Benennungen ist Ulica: Straße zu suppliren. Mazowiecka ulica: Masurische Straße.


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»Mach Dich nicht zum Narren, Wassili,« sagte leise aber mit vollkommen ruhiger Stimme der angebliche Trunkene. »Bei mir findest Du Nichts als höchstens Püffe. Achtung, es giebt zu thun!« 

»Niebiski ojcze! 1 Der Kommissar!« 

»Er selbst. Nun rasch! Siehst Du die beiden Männer, die dort eben um die Ecke biegen?« 

»Die im Mantel?« 

»Ja! Schnell ihnen nach - aber vorsichtig - ich muß wissen, wohin sie gehen. In einer Stunde Nachricht an der Ecke des Brühl’schen Palastes! - Fort!« 

Der Polizeidiener in der bürgerlichen Kleidung

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entfernte sich sogleich. Der Andere tappte nach dem nächsten offenen Thorweg. Im Schatten hinter dem Thürflügel ging eine rasche Veränderung mit ihm vor. Er zog unter der Litefka ein fest zusammengepreßtes Packet hervor, öffnete es und entfaltete eine Blouse, wie sie die deutschen und französischen Arbeiter zu tragen pflegen, und zog dieselbe über den kurz- en ärmellosen polnischen Rock, der mehr einer Schoosweste gleicht. Ebenso rasch waren die Beinkleider aus den Stiefeln und über diese gezogen - der niedere Hut mit der breiten Krämpe wurde zusammengedrückt unter die Blouse geschoben und eine gewöhnliche Schirmmütze aufgesetzt. Der so rasch Verwandelte war eben im Begriff, die Veränderung dadurch vollstän- dig zu machen, daß er einen dicken Lippenbart befestigte, als er - sich zufällig umsehend - bemerkte, daß er belauscht worden.

Das schlaue Gesicht des lahmen Jungen grinste um die Thür und hatte der Verwandlung zugesehen. Der Bursche fuhr zwar jetzt, als er den Blick des Beamten auf sich gerichtet sah, zurück und wollte sich eilig davon machen, aber mit einem Sprung hatte der Mann ihn am Kragen.

»Sukin syn! 2 was thust Du hier?« 

War es der Schrecken oder eine gewisse Bosheit, was dem Ertappten die Antwort in den Mund gab, aber sie lautete: »Ihr wolltet ja vorhin Feuer von mir haben, als Ihr noch ein Bauer wäret!« 

Ein Schlag in’s Genick bezahlte die Antwort. Der [ 67 ]

Junge schrie aus voller Kehle: »Hilfe! Hilfe! - Ein Russe! ein Russe!« 

Leute blieben stehen. »Was hat der Knabe gethan? Warum schlagt Ihr ihn?« 

»Wirst Du den Hals halten, Kanaille!« Aber der Bursche schrie noch lauter als vorher.

Der Polizeibeamte schmetterte ihm die Faust in’s Gesicht, daß das Blut aus Mund und Nase stürzte.

Der heftige Ruck des Knaben hatte zugleich das Band zerrissen, an dem er die Schwinge mit seinen kleinen Verkaufsartikeln um den Hals trug. Dieselbe fiel herunter und verschüttete die ganzen Gegenstände auf das Pflaster. Zugleich mit ihnen flatterten aber eine Menge ge- druckter Blätter, die verborgen auf dem Boden der Schwinge gelegen, auf das Pflaster umher.

Das Auge des Polizeibeamten fiel wie das eines Habichts auf die Papiere, während das Gesicht des Knaben unter dem Blute todtenbleich wurde. Jener bückte sich nach einem der


himmlischer Vater! 2 Hundesohn!


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Papiere und hob es auf, während einige der sich umher Sammelnden dasselbe thaten, und entfaltete es. Es trug die Ueberschrift: »Polen!« 

»Ha - Schuft - haben wir die Verbrecher endlich!« Er riß eine kleine silberne Pfeife hervor, die an einer Schnur um seinen Hals hing, und ließ einen schrillen Pfiff daraus erklingen, indem er zugleich den Kragen des Knaben fester faßte. Aber der Bursche wußte sehr wohl, was auf dem Spiele stand, und ehe sich’s der Kommissar versah, hatte er nur die zerrissene Jacke in der Hand, und der Knabe, dessen Beine plötzlich wieder ganz gesund geworden, schlüpfte [ 68 ]

wie ein Wiesel zwischen den Füßen der Umstehenden weg und rannte davon in die nächste Querstraße. Der Beamte wollte ihm nach, aber der Zusammenlauf hinderte ihn daran, wohl meist absichtlich, und als er sich unter Fluchen und Toben und mit dem Beistand der auf das Signal herbeieilenden Polizeiposten Platz gemacht, war der Flüchtling längst auf und davon. Zugleich zerstreuten sich eilig die zuerst stehen gebliebenen Personen, um jedem Zeugniß oder gar einer Verhaftung zu entgehen, und was stehen blieb und gaffte, wußte gar nicht, um was es sich handelte.

Der Kommissar mußte sich daher begnügen, seinen Untergebenen die Ordre zu geben, auf die hausirenden Kinder ein strenges Augenmerk zu haben und bei ihnen nach den verbotenen Plakaten und Flugblättern zu visitiren, die seit der Ankunft des Kaisers in ganz Warschau verbreitet waren und trotz aller Vorsicht der Polizei jeden Morgen sich in der ganzen Stadt angeschlagen fanden, die Aufforderung an die polnische Bevölkerung, vornehm und gering, enthaltend, an keiner der Festlichkeiten zu Ehren der »Unterdrücker Polens« Theil zu nehmen.

Als der Kommissar aber jetzt die entdeckten Flugblätter sammeln lassen wollte, zeigte es sich, daß kein einziges mehr zu finden war, und als später die Polizei viele der kleinen vagabondirenden Verkäufer visitirte, fand sie bei keinem das geringste Verdächtige vor. -

Unterdeß hatten die beiden Männer ihren Weg fortgesetzt, den sie über den Platz vor dem Königlichen Schloß, der Wohnung des Fürsten Statthalter, nahmen.

»Gestern Abend,« sagte der Aeltere spöttisch, indem er [ 69 ]

vor dem großen offenen Quarree stehen blieb, »strahlten diese Fenster in einem anderen Glanz, und dennoch haben wir ihnen denselben verdorben.« 

»Wie so? ich las unterwegs die telegraphische Nachricht, daß gestern ein großer Ball bei dem Fürsten Gortschakoff stattfinden sollte.« 

»Der große Sieger von Inkermann und Balaclava hat sich im Ballsaal blamirt,« sagte höh- nisch der Andere. »Wenn er glaubt, unsere polnischen Frauen lassen sich kommandiren zu seinen Bällen, wie eine Kolonne russischer Soldaten, so irrt er sich. Das ganze Offiziercorps war da und alle die Fremden, die Zahl der Gäste betrug über dreihundert, - und wissen Sie, wie viel ballfähige Damen darunter waren?« 

»Nun? unsere Damenwelt ist doch tanzlustig genug!« 

»Fünfundzwanzig - das ist Alles! Von Polinnen waren nur die Senatorin Potocka, die Fürstin Lubomirska und die Gräfin Kossakowska erschienen - wir werden es ihnen gedenken! - alle anderen hatten absagen lassen.« 

»Freiwillig?« 


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»Bah - auch der Patriotismus muß gelehrt und angeregt werden. Jedes Feuer verlangt seine Nahrung. Am Montag ließen sie von ihrer Eitelkeit sich verleiten, trotz des Odeurs das Ballet im großen Theater in Gala zu besuchen. Dafür fanden zwanzig oder dreißig, als sie nach Hause kamen, ihre kostbaren Klunker mit Oleum begossen und unbrauchbar. - Wir haben uns die Liste der Einladungen des Fürsten zu verschaffen gewußt, und jede Dame hat mit der Post zugleich die Anzeige erhalten, daß es ihr

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ebenso gehen würde, wenn sie es wagte, den Russenball oder noch einmal ein Fest der Frem- den zu besuchen.« 

»Hat die Polizei keine Nachforschungen nach den Urhebern des Verbots angestellt?«  »Anitschkoff 1 ist wie toll danach, - aber es hat ihm Nichts genützt. Im Ganzen ist die russische Polizei während des Sommers ziemlich lässig gewesen und wir haben seit dem Begräbniß der Generalin Sowinski 2 unsere Demonstrationen ziemlich ungestört betreiben können. Nur jetzt, wo der Czar hier ist, rühren sie sich an allen Ecken, aber es ist mehr Lärm als Gefahr, denn mindestens die Hälfte steht in unserm Sold.« 

Sie waren weiter gegangen - in einiger Entfernung folgte ihnen jetzt vorsichtig ein Mann, der sie nicht aus den Augen verlor.

Obschon der Größere und Jüngere vollkommen in den Straßen Bescheid zu wissen schien, überließ er sich doch vollständig der Führung seines Begleiters. Dieser machte in dem Stadt- theil südlich des sächsischen Gartens, den sie jetzt betreten hatten, verschiedene Kreuz- und Querwege, um jede zufällige Spähung zu vereiteln, bis er endlich in den Flur eines Hauses eintrat, in dessen Parterre sich eine der zahlreichen Konditoreien befand, von denen War- schau wimmelt.

Sie gingen durch eine Thür vom Hausflur in ein

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Zimmer hinter dem Laden, das leer von Gästen war. Der Aeltere öffnete ein wenig die Ein- gangsthür und rief: »Schwarzen Kaffee, - zwei!« 

»Gleich, Pan !« 3

Zwei oder drei Minuten später brachte ein junges Mädchen das Verlangte. Indem sie es vor die Herren niedersetzte, wechselte sie einen bedeutsamen Blick mit dem Aelteren. »Unbesorgt, Wanda - er ist einer der unseren. Wer ist im Laden?« 

»Oh Niemand! ein Paar kleine Beamte aus der Nachbarschaft, welche die Zeitungen lesen. - Es ist Alles nach Lazienki.« 

»Und die Schwarzen?« 

»Sie sind am gewöhnlichen Ort. Asnik frug schon vor einer Stunde nach Ihnen. Ich kenne den Herrn nicht! wer ist er?« 

»Er ist vor einer Stunde von Paris gekommen; nicht auf dem gewöhnlichen Wege, son- dern mit der Petersburger Bahn. Herr Graf, erlauben Sie mir, Ihnen Fräulein von Marowska vorzustellen, eine unserer Getreuesten.« 


1 Ober-Polizeiminister von Warschau.

2 Die Wittwe des 1831 beim Sturm auf Wola gefallenen Generals dieses Namens. Das Begräbniß wurde von der »Schwarzen Brüderschaft« zur ersten größeren Demonstration der nationalen Partei benutzt. Die ganze Sache war wohl vorbereitete Komödie.

3 Herr!


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Die junge Chocoladiere verneigte sich mit aller Grazie einer vornehmen Dame. Erst jetzt warf der Fremde einen näheren Blick auf sie.

Es war eine jener eigenthümlichen Schönheiten, wie sie nur der rein sarmatische Stamm zeigt, mittelgroß, schlank und zart ohne mager zu sein, mit schmalem

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farblosem Gesicht, leicht gebogener Nase, niederer Stirn und blitzenden dunklen Angen, jede der lebhaften Bewegungen graziös.

Der Graf erhob sich und machte eine höfliche Verbeugung. »Herr Dubowski hat verges- sen, mich selbst vorzustellen,« sagte er - »einer Patriotin, wie Sie, darf ich keinen Anstand nehmen, meinen Namen zu nennen. Ich heiße Hypolit Oginski.« 

»Graf Oginski - der Verbannte nach Sibirien?« 

»Ich habe allerdings für Seine Majestät den Kaiser von Rußland fünf Jahre am Jenissei Zobel und Hermelin gefangen - bin aber bei der großen Amnestie von Sechsundfünfzig zu- rückgekehrt. Es freut mich, daß Ihnen mein Name nicht ganz unbekannt.« 

»Welche ächte Polin kennte den Mann nicht, der es wagte, dem Tyrannen Nicolaus, ein halber Knabe noch, bei einer Gelegenheit wie die heutige 1 die Antwort zu geben: »Die Zukunft Polens liegt nicht an der Newa, sondern in Paris!« 

Die Augen der jungen Dame funkelten in stolzer Erregung bei diesen Worten.

»Sie werden bereits begriffen haben, lieber Graf,« sagte Dubowski, »daß Fräulein von Ma- rowska keine gewöhnliche Conditormamsell ist; sie hat seit zwei Monaten diese Stelle aus Patriotismus übernommen, um das Geheimniß unserer Zusammenkünfte desto besser bewa- chen zu können.« 

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Der Graf verbeugte sich nochmals achtungsvoll.

»Sie kommen von dem National-Comite?« 

»Ja, Fräulein!« 

»Der heiligen Jungfrau sei Dank! Männer wie Sie sind dringend nothwendig, um die Agita- tion in die rechte Bahn zu bringen. Wenn nicht der Adel und die Patrioten Zusammenhalten, werden wir nie zum Siege kommen. Sehen Sie nicht finster drein, Dubowski - wir wissen Alle, daß Sie und Ihr Bruder ächte Polen sind - aber Sie selbst werden mir zugestehen, daß Leute wie Adam Asnik nicht die Führer einer Nation im Kampf für ihre Freiheit sein können!« 

»Ihr Eifer reißt Sie hin,« sagte der Bruder des später so bekannt gewordenen Professors. »Geben Sie uns den Schlüssel - Sie könnten vorn vermißt werden!« 

Die Polin wandte sich ungeduldig ab. »Nur noch Eins, Graf. Ist Miroslawski wieder in Pa- ris?« 

»Er ist mit Langiewicz noch in Cuneo an der polnischen Militairschule.« 

»Und warum ist er nicht mit Garibaldi?« 

»Sie vergessen, Panna, daß Garibaldi gegen den Papst zieht.« 

»Es ist wahr - wir Polen sind in einer schlimmen Lage. Aber man ruft mich - hier ist der Schlüssel! Sorgen Sie nicht, seit ich Sie bei der Gesellschaft weiß, werde ich doppelte Aufsicht halten.« 


1 Die Zusammenkunft König Friedrich Wilhelms IV mit Kaiser Nicolaus am 18. Mai 1851 in Warschau - traurigen Andenkens!


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Sie eilte davon; - Dubowski, der schon wiederholt Zeichen der Ungeduld gegeben, nahm den Schlüssel. »Diese Weiber sind alle gleich,« sagte er ärgerlich - »sie mischen

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sich viel zu viel in die Leitung der Politik, statt einfach Dienste zu leisten, zu denen sie al- lerdings vortrefflich sind. Kommen Sie, Herr Graf, wir haben schon zu viel Zeit verloren.« Er öffnete eine Thür im Hintergründe des Zimmers, ging über einen kleinen dunklen Flur und stieg etwa zehn Stufen zu einem kurzen Gang empor, der in ein Hintergebäude führte.

Die Thür dieses Ganges war verschlossen. Er öffnete sie mit dem Schlüssel, den er von dem Mädchen erhalten - im Schein einer Lampe sah der Graf, daß inwendig an Pfosten und Thür noch eine breite Krämpe angebracht war, um mit einem Holzbalken die Thür zu sperren.

Dubowski klopfte zwei Mal mit kurzem Schlag an die gegenüber liegende Zimmerthür, die alsbald geöffnet wurde.

Die Beiden traten ein.

Es war ein schlecht möblirtes, räucheriches Gemach mit einem kleinen Kabinet. Im Kamin brannte Feuer, ein kupferner Kessel zum Wasserkochen hing darüber und der scharfe Geruch von Punsch und Grogk, der mit Tabackrauch das Zimmer füllte, bewies, daß die Anwesenden bereits starken Gebrauch davon gemacht hatten. Verschiedene Kleidungsstücke hingen an den Wänden, dazwischen ein Paar Rappiere und ein Kavaleriesäbel - auf der anderen Seite ein Paar Pistolen von ausgezeichneter Arbeit, wie sie gar nicht zu der sonstigen Aermlichkeit des Zimmers paßte.

In diesem anwesend befanden sich fünf Personen, sämtlich Männer von verschiedenem Alter. Der jüngste davon war höchstens 24 Jahr, mit hagerem, eingefallenem und

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häßlichem Gesicht, aber großen funkelnden Augen, aus denen eine wilde Energie leuchte- te. Er hatte seinen Rock ausgezogen und schien im Begriff, eine neue Auflage des scharfen Getränkes zu bereiten. Zwei Andere waren ebenfalls noch junge Männer, trugen Studenten- mützen und polnische Schnürröcke und hatten ein ziemlich wüstes verlebtes Aussehen. Der Vierte war ein alter Mann von mindestens sechszig Jahren in einem Pelzrock, den er selbst bei der schwülen Temperatur des Zimmers nicht abgelegt hatte. Unter seinem langen weißen Haar zeigte sich ein tief von Kummer oder Leiden, wahrscheinlich von beiden, durchfurchtes Gesicht von ächt polnischem Schnitt. Seine gerötheten Augen schienen das Licht der Lampe, die auf dem Tisch brannte, nicht gut vertragen zu können, denn sie zwinkerten unaufhörlich.

Der Letzte der Gesellschaft war ein Mann von feinem stattlichen Ansehen. Er war modern und geschmackvoll gekleidet, in der ersten Hälfte der Dreißiger und die breite Stirn und das ruhige, feste, graue Auge zeigten von Intelligenz und Beobachtungsgabe.

»Endlich, Dubowski,« sagte der Blasse, der der Bewohner des Zimmers war und ein gewis- ses Ansehen über die Andern zu besitzen schien oder sich wenigstens anmaßte, - »wir haben Dich längst erwartet, da Du weißt was heute noch geschehen soll. Ist dies Graf Oginski?« 

»Zu dienen, Herr! ich begrüße Sie, obschon ich noch nicht die Ehre habe, Sie zu kennen!«  Der Greis war aufgestanden und sah ihm fest ins Gesicht. »Auch mich nicht, Graf?« 

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Der junge Mann starrte ihn lange an und legte die Hand an die Stirn wie um eine Erinne- rung zu sammeln und festzuhalten. »Wie ist mir denn - dieses Gesicht -« 


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»Haben Sie sobald die Bergwerke von Nertschinsk 1 vergessen?« 

»Heiliger Gott - Sie sind der unglückliche Verbannte, den man nach drei Jahren zum ersten Mal wieder aus der schrecklichen Tiefe an das Licht der Sonne brachte, um seiner sterbenden Frau das letzte Lebewohl zu sagen auf Gottes schöner Erde?!« 

»Und ich fand Sie an dem Lager meines sterbenden Weibes, Sie selbst auf dem Weg nach den Ufern des Lena und oft, Herr Graf, wenn ich später wieder schwere Erzkarren schob durch die tiefen Silberschachte, hat mir die Erinnerung an Ihr junges Gesicht die Finsterniß heller gemacht, als das spärliche Licht der Grubenlampe.« 

Der Graf war tief bewegt, als er dem unglücklichen Manne die Hand reichte. »Gott sei Dank, daß wir uns dennoch im Vaterland wiedergefunden. Aber Ihr Name, Herr! Sie wissen, Sie durften mir ihn damals nicht sagen?« 

»Sie haben Recht, Graf - ich war ja damals nichts Anderes, als die bloße Nummer Tausend- undfünfzehn! Wenn Sie meinen Namen wissen wollen, so fragen Sie das jüngere Geschlecht hier.« 

»Es ist Michael Garzynski!« sagte Dubowski mit tiefem Ernst.

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»Wie - der Dichter des >Orzel biafy?< - der unglückliche Freund Rybinski’s? - Dann erlau- ben Sie, Sänger meines Vaterlandes, daß ich die Hand küsse, die im fernen Sibirien fünfund- zwanzig Jahre lang das Silber gebrochen, mit dem Rußland die Söldner bezahlt, welche den polnischen Adler in Ketten halten!« 

Er hatte sich auf die Hand des Greises niedergebeugt und küßte sie, ehe derselbe es ver- hindern konnte.

»Es sind mehr der Patrioten, Herr Graf, die auf Ihre Bekanntschaft warten,« sagte der alte Mann, »wenn auch vielleicht keiner ein solches Recht darauf hat, wie ich. Hier -« er wies auf den blassen Wirth der Wohnung - »ist Adam Prot Asnik, zwar nur ein Student der Medizin, aber ein Riese an Energie und Begeisterung für die heilige Sache des Volkes, und das Haupt der Schwarzen Brüderschaft. Diese zwei Herren sind gleichfalls Mitglieder derselben, Stephan Lobrowski und Oskar Aweide, und dieser Herr hier -« er wies auf den ernsten, eleganten Mann - »ist der Sekretair des landwirthschaftlichen Vereins, dem der Ukas des Czaaren Einhalt gebieten will, der Erfinder der Zehner, Agathon Maikowski.« 

»Aber wo ist Chmelenski und der Pater Hilarius?« frug Dubowski.

»Der Pater ist wahrscheinlich daran, einigen russischen Damen Beichte zu hören,« sagte lachend der Student Lobrowski, »und Ignaz -« 

»Nun?« 

»Er ist bereits in Lazienki, um die Verräther zu

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zählen, die es vorgezogen haben, dem Unterdrücker zu Hofe zu laufen. Wielopolski und seine Gesellschaft mögen sich vor ihm in Acht nehmen.« 

Die Anwesenden hatten sich um den Tisch gesetzt, Asnik bot dem Grafen ein Glas des heißen und starken Punsches.

»Und nun die Frage - wie steht’s in Paris und was bringen Sie aus Petersburg? In der That, daß ein Abgesandter des Central-Comite’s seinen Weg von Paris über Petersburg nehmen wird, konnte schwerlich der russischen Polizei einfallen!« 

'Die berühmten Blei- und Silberbergwerke im östlichen Sibirien, ein gewöhnlicher Verbannungsort.


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»Zunächst - hier sind drei Briefe des Fürsten, die Sie besorgen wollen, ehe ich mich selbst den Personen vorstelle.« 

Asnik nahm sie.

»An Mikoszewski? er ist unbedeutend! An den Obersten? Gut, er ist hier, im Gefolge des Czaren! Und an den Markgrafen? Wissen Sie auch, daß man ihm mißtraut?« 

»Der Brief enthält nur allgemeine Dinge.« 

»Gut, wir dürfen jedenfalls mit ihm noch nicht brechen. Und was denkt die Central- Regierung über die Zeit des Ausbruchs?« 

»Ich soll Sie unter allen Umständen bewegen, zu warten. Weder der Fürst noch die Volks- partei halten den Augenblick für günstig, da der Kaiser alle Aufmerksamkeit auf die italie- nische Bewegung und die Flaltung der drei Mächte richten muß. Selbst der Prinz räth, erst die

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Entwickelung der europäischen Ereignisse und den unfehlbar ausbrechenden Krieg abzuwar- ten. Sie wissen, daß schon ursprünglich die Revolution auf den 1. Mai 63 bestimmt war und daß man nur Ihrem Drängen nachgiebt, wenn man in eine kürzere Frist willigt. Jetzt schon den Kampf zu beginnen, scheint uns aber unmöglich, wir müssen vielmehr die Zeit benutzen, alle Vorbereitungen zu treffen.« 

»Warten und immer warten!« rief der Student Lebrowski, »der Adel kann warten - das Volk nicht!« 

»Ich glaube nach allen Berichten, daß gerade der Adel eher bereit sein wird, als das Volk! Aber es ist nöthig, daß Beide Zusammengehen, wenn das alte Unglück Polens sich nicht wie- der erneuern soll. Ich habe den Auftrag, mich genau über die Organisation Ihrer Streitkräfte zu informiren und diese mit den nöthigen Mitteln zu unterstützen.« 

»Sie bringen Geld?« 

»Ich habe Anweisungen auf hunderttausend Gulden aus Paris bei mir und fünftausend Rubel in Gold von dem Comite in Petersburg.« 

»Geben Sie uns vorläufig das Gold - meine Wohnung ist sicher,« sagte hastig der Präsident der Schwarzen. Ein leiser Anstoß Maikowski’s unter dem Tisch mahnte jedoch den Grafen zur Vorsicht.

»Ich werde es bei Ihnen deponiren, Herr Asnik,« sagte derselbe, »sobald wir so weit sind. Zwei neue Sendungen von Waffen sind mit englischen Kohlenschiffen nach Danzig abgegan- gen - die Indossements der Kohlen müssen in diesen Tagen eintreffen. Sie mögen bestimmen, wie weit sie die Weichsel heraufgehen sollen. Unsere Freunde

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in Petersburg sind in Thätigkeit - die Nihilisten breiten sich immer weiter aus und gewinnen an Organisation. Sie sind bereit, mit uns Hand in Hand zu gehen, aber sie sind gleichfalls der Meinung, daß die Zeit noch nicht da ist!« 

»Verdammt sei dies Zögern!« 

»Gut, Herr - so sagen Sie mir, wie die Verhältnisse hier stehen und wie weit die Vorberei- tungen gediehen sind.« 

»Das wird Maikowski thun - er ist am Vertrautesten damit.« 

Lobrowski erhob sich. »Ich denke, wir werden dabei nicht nöthig sein,« sagte er, »wir müs- sen nach Lazienki. Hast Du Geld, Adami?« 


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»Niech cig djabli wezmg! 1 ich bin so abgebrannt, wie eine Kirchenmaus! Frage Maikowski, er weiß immer Rath, dafür ist er Finanzbeamter!« 

»Wenn ich Ihnen dienen kann,« sagte der Graf zuvorkommend, indem er seine mit Gold gefüllte Börse auf den Tisch legte. »Bedienen Sie sich nach Belieben - wir rechnen später ab.[«]

Lobrowski nahm ohne Weiteres zwanzig Imperials aus der Börse, ein Verfahren, dem Asnik mit finsteren neidischen Blicken zusah, und gab dann den Beutel zurück. »Kommen Sie mit uns, Pan Garczynski?« 

Der alte Verbannte schien bleiben zu wollen, aber Maikowski gab ihm einen Wink. »Gehen Sie mit, Freund [81]

und sorgen Sie, daß die jungen Leute keine Thorheit begehen!« Der Greis schüttelte dem Grafen die Hand. »Haben Sie schon eine Wohnung?« 

»Nein - indeß, ich habe genügende Papiere, ich werde in ein Hotel gehen.« 

»Diese sind überfüllt und Sie werden schwerlich dort Unterkunft finden. Wenn Sie mit einem Stübchen vorlieb nehmen wollen, das zwar nicht sehr bequem, aber sicher ist, so biete ich es Ihnen in dem Hause meiner Verwandten, der Gattin des Apothekers Muklianowicz, in der Marschallstraße an.« 

Der Graf dankte ihm herzlich mit der Erklärung, daß er, wenn irgend nöthig, von dem Anerbieten Gebrauch machen werde, und die drei Männer entfernten sich.

»Dobrze!« sagte der junge Präsident der Schwarzen, die Füße lang ausstreckend. »Jetzt sind wir unter uns! Fülle die Gläser, Dubowski, und Sie, Maikowski, legen Sie los!« 

Der Graf wandte sich zu dem Letzteren. So wenig er auch erst von dem Treiben dieser Demokratie gesehen, sie begann ihn bereits anzuekeln, und er frug sich, was aus dem großen Werke der Nationalbefreiung werden solle, wenn die Leitung desselben in den Händen lieder- licher Studenten und ähnlicher unerfahrener und zweifelhafter Personen läge. Nur die ruhige überlegte Weise, die der frühere Finanzbeamte zeigte, gab ihm einiges Vertrauen wieder.

Maikowski schien diesen Eindruck übrigens zu bemerken, denn seine Darstellung richtete sich danach. Sie war klar [82]

und umfassend und schonte keineswegs die Parteien der Nationalen.

»Sie wissen,« sagte er, »daß die polnische Erhebung schon vor dem Jahre 1858 von der Emigration und den hiesigen Vaterlandsfreunden beschlossen war. Rußland war durch den Krimkrieg erschöpft, Frankreich allmächtig - und wir durften mit Bestimmtheit auf eine In- tervention Englands und des Kaisers Napoleon rechnen. Allein wir waren gleich nach dem Kriege noch zu sehr in Rückstand und wir mußten uns, in Erwartung eines neuen, daher begnügen, von Paris, London und der Schweiz aus die öffentliche Meinung Europa’s mit Ma- nifesten und Klagen zu bearbeiten. Die Mazzinische Liga hat uns im Stich gelassen, ebenso wie Ungarn - sie sorgte egoistisch nur für die italienische Bewegung. Indeß unsere Presse hat rüstig gearbeitet und die deutsche Demokratie hat uns viel genutzt dabei. Es giebt aus Achtundvierzig noch eine Partei in Preußen, die das Königthum bitter haßt und im Augen- blick unseres Sieges uns offen die Hand reichen wird. Die Verbindung Rußlands mit Preußen


^er Teufel mag Dich holen!


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ist uns weit gefährlicher dort als die mit Oesterreich, indem über kurz oder lang die Nationa- litäten sicher zum Siege gelangen werden.

Genug - wir haben keine Zeit heute, uns in allgemeinere politische Aussichten einzulassen. Der lombardische Krieg von Neunundfünfzig kam uns über den Hals - seine rasche Beendi- gung noch mehr. Was wir dadurch aber an Chancen verloren, haben wir durch die Bewegung in Rußland selbst mehr als gewonnen. Wenn auch Bakunin noch in Sibirien schmachtet, hält doch Herzen von London

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aus die ganze Bewegung im Gange und ich glaube - wir werden binnen Kurzem von Wichti- gem hören! -« 

»Was meinen Sie?« 

»Es ist eine Vermuthung - aber auch Kaiser sind sterbliche Menschen! Die Zeichen dieser Bewegung, die Rivalität zwischen der deutschen und altmoscowitischen Richtung in Peters- burg, die selbst die Familie des Czaren spaltet, und der philantropische Gedanke des Kaiser Alexander, die Leibeigenschaft aufzuheben, hat die Aufmerksamkeit der russischen Regierung seit einem Jahre von Polen abgelenkt. Gortschakoff, der Statthalter, ist ein so ungeschickter Politiker, wie er ein ungeschickter Feldherr war. Wir haben die Zeit benutzt, so viel zuver- lässige Vaterlandsfreunde in alle Theile des Gouvernements zu bringen, als möglich. Die Ue- bertragung der Eisenbahnbauten an die französischen und englischen Gesellschaften, - der dümmste Streich, den die Regierung begehen konnte, - hat uns eine Menge Hilfsquellen ge- öffnet. Die Hälfte der Beamten mindestens an den Bahnen und Telegraphen gehört zu den Unseren. In allen Städten existiren bereits geheime Comite’s - viele russische Beamte gehören zu der Bewegungspartei und selbst unter dem Militair haben wir viele Einverständnisse!« 

»Aber das Volk - der Landmann?« 

»Das ist der kitzliche Punkt,« sagte Dubowski. »Der Bauer hat den Edelmann hassen gelernt, und bildet sich ein, mit dem Aufhören der Leibeigenschaft müßten ihm auch die Güter des Edelmannes zufallen. Er traut den russischen Verlockungen!« 

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»Aber das heißt eine Armee ohne Soldaten!« 

»Der Teufel soll ihre Mütter holen!« schrie wild auf den Tisch schlagend der Student. »Wir wollen die Kanaillen zur Freiheit zwingen, und ihnen ihre Baracken über den Köpfen anzün- den, wenn sie sich weigern!« 

»Unsere beste Hilfe darin wird die Geistlichkeit sein,« fuhr der Finanzbeamte fort. »Die Pröpste und die Klostergeistlichen müssen im ganzen Lande den Beichtstuhl benutzen, dem Volke zu sagen, daß man ihm seinen alten Glauben nehmen und es zur griechischen Kirche bekehren will. Wir hoffen, daß diese verdammte Zusammenkunft in Lazienki nicht etwa dazu führt, daß sich die Monarchen des Papstes annehmen, und deshalb muß sie auf jede Gefahr hin gesprengt werden!« 

»Wie - doch nicht durch einen Mord?« 

»Und was wäre weiter dabei, Herr Graf?« lachte höhnisch der Student. »Hängen die Russen die Patrioten, weshalb vor einem Mittel sich scheuen, durch welches schon manches Land die Freiheit gewonnen!« 

»Nicht durch Meuchelmord!« sagte fest der Graf. »Wenn Sie damit umgehen . . . « 

Dubowski drückte den Unwilligen auf den Stuhl zurück.


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»Sie irren, Herr Graf! Ich geben Ihnen mein Wort, es ist nicht die Rede davon, - es handelt sich nur darum, vielleicht durch eine Einschüchterung oder eine Demonstration den Cza- ren zu veranlassen, die Zusammenkunft abzubrechen und nach Petersburg zurückzureisen. - Aber hören Sie Herrn Maikowski weiter.« 

»Ich hoffe,« fuhr dieser fort, »daß unsere Einrichtung

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der Zehner in dem Augenblick der Entscheidung das ganze Volk, Bauer wie Bürger und Edel- mann in Waffen finden wird.« 

»Sie erwähnten den Namen schon vorhin - worin besteht die Sache?« 

»Jedes Mitglied des Comite’s hatte die Pflicht, neun Genossen zu werben, welche die glei- che Pflicht übernehmen. So wächst die Genossenschaft in’s Große. Alle Neun kennen nur ihren Zehnten, dieser wieder den seinen, - so ist die Entdeckung und die Verfolgung der Organisation sehr schwer, fast unmöglich, während die Leiter der Verbindung, also wir, die Verbreitung ihrer Ordres sehr leicht haben.« 

Der Graf war nachdenkend. »In der That, Herr Maikowski, diese Organisation ist vortreff- lich, wenigstens für die Bearbeitung des Volkes, obschon sie für rasches Handeln nicht aus- reichen wird. Es braucht einer direkteren und unbeargwohnten Verbindung.« 

»Dafür sind die Frauen da!« 

»Die Frauen?« 

»Ja! Die Gräfin Dzembinska steht an ihrer Spitze.« 

»Die Frau des Senators? - ich erinnere mich ihrer beiden Töchter, die damals noch Kinder waren - Josepha und Lodoiska. Sie sind gewiß zu schönen Jungfrauen emporgewachsen und ächte Polinnen, die ihr Leben opfern würden für das Vaterland.« 

»Wenn Sie eine alte Inclination für sie hegen sollten,« warf der Student spöttisch ein, »so kommen Sie zu spät. Der Adjutant Gortschakof’s, Fürst Ylinski, macht

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der älteren sehr den Hof und Lodoiska will in’s Kloster gehen.« 

»Ich brauche keine Absichten auf eine der beiden jungen Damen zu haben,« sagte der Graf kalt, »um ein Freund des Hauses zu sein. Das Gut des verstorbenen Senators gränzte an das unsere. Welches ist Ihr weiterer Plan, Herr?« 

»Es ist der! Die ganze Verwaltung und die Polizei Warschau’s in die Hände der National- partei zu bringen, das wird die Sache des Adels sein und Wielopolski ist begeistert für die Idee. Er hofft dadurch allein Polen seine alte Selbstständigkeit wieder zu geben - er wird uns wenigstens damit in die Hände arbeiten. Im Augenblick des Ausbruchs werden wir dann eine Menge zuverlässiger Leute in allen Behörden haben. Die russischen Kassen selbst wer- den uns die Geldmittel liefern - wir werden es in der Hand haben, in einem Augenblick den Staatsbankerott herbeizuführen, indem wir alle Depositen verschwinden lassen, während alle Börsen mit falschen Banknoten überschwemmt sind.« 

»Das ist Herzen’s Plan. Ich habe es als Soldat abgelehnt, mich damit zu befassen.« 

»Die Verbreitung durch die jüdischen Agenten hat bereits begonnen - das geheime Etablis- sement in London hat versprochen, bis Ende 1861 fünfzig Millionen Rubel falscher Scheine zu liefern - einer solchen Thatsache widersteht nicht der bestfundirte Staat, vielweniger die ruinirte Finanzlage Rußlands.« 

»Es ist ein trauriges Mittel,« erwiederte der Graf,


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»aber ich fürchte, es ist nicht von der Hand zu weisen. Ich habe Proben der Noten im Salon des Fürsten in Paris gesehen, und ich muß gestehen, sie sind täuschend. Aber sagen Sie mir Einiges von dem, was zunächst beabsichtigt wird.« 

»Die russischen Behörden haben zwar die Ausbreitung des agronomischen Vereins verbo- ten, indeß es ist Teufel, was ist das für ein Lärmen?« 

Die Thür wurde heftig aufgerissen - die falsche Mamsell des Conditorladens stürzte herein, glühend vor Aufregung - mit fliegendem Busen und Athem.

»Fort! fort! - die Polizei! - rettet ihn! durch das Fenster!« - Ohne eine Antwort abzuwarten sprang sie zurück in den Flur und warf dort die Lampe zu Boden.

Folgendes hatte sich in dem öffentlichen Laden der Conditorei begeben.

Der Ab- und Zugang der Besucher war spärlich geblieben - Wanda hatte nichts Ungewöhn- liches bemerkt, obschon sie mit größter Sorgfalt Alles beobachtete.

Es waren drei Personen anwesend, die von öfterem Besuch ihr bereits bekannt waren, als ein Fremder in gewöhnlicher bürgerlicher Kleidung eintrat, einen Becher Thee forderte, und eines der kleinen Tagesblätter, die gazeta Warszawska, zur Hand nahm.

Es war nichts Verdächtiges, nichts Ungewöhnliches an dem Mann, und dennoch wendete sich ihm sogleich die Aufmerksamkeit der jungen Polin zu, denn sie hatte bemerkt, daß er beim Eintritt einen scharfen Blick durch das Zimmer warf, und in der Nähe der Thür in dem Hinterzimmer

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seinen Platz nahm. Diese stand übrigens jetzt offen und das Zimmer war leer.

Die Beobachtung des Mädchens dauerte etwa zehn Minuten und der neue Gast war eben aufgestanden, um von der vorn befindlichen Etagere eine neue Zeitung zu nehmen, als die äu- ßere Ladenthür aufgerissen wurde, und ein zerlumpter Knabe hereinstürzte. Es war derselbe, den vor etwa einer Stunde der Commissair am Bernhardiner Platz in der Krakauer-Vorstadt geschlagen hatte und der damals so glücklich entkommen war.

Der Knabe eilte an den Verkaufstisch und flüsterte der Verkäuferin zwei Worte zu:

»Verrath! die Polizei!« 

Der Mann im Ueberrock hatte sie gehört oder gemuthmaßt, er ließ die Zeitung fallen und sprang vor, um sich vor die hintere Thür zu stellen, aber die Polin war schneller als er. Sie flog wie ein aufgescheuchter Vogel nach dem hinteren Ausgang; dennoch hätte der Mann seiner Stellung halber ihn wahrscheinlich eher erreicht, wenn sich nicht der Junge zwischen seine Füße geworfen hätte, so daß er der Länge nach über ihn hinstürzte. Rasch war er wieder auf den Beinen und eilte dem Mädchen nach, das ihm indeß den Vorsprung abgewonnen und die Thür zu dem Treppenflur hinter sich in’s Schloß geworfen hatte.

Zugleich, während er dem Mädchen rufend folgte, war die Straßenthür des Ladens aufge- stoßen worden und ein ganzer Trupp von Polizeibeamten und Gensd’armen, [ge] geführt von dem Commissar, der die erste Entdeckung auf dem Bernhardiner-Platz gemacht hatte, drang ein.

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Janko hatte sich eilig hinter den Ladentisch verkrochen, die Paar unschuldiger Gäste waren erschrocken aufgesprungen.


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Die Männer der Polizei hörten ihren Gefährten rufen, sahen ihn an der verschlossenen Thür arbeiten und eilten ihm zu Hilfe.

Ein einziger blieb in dem Laden zurück!

Es war ein Mann im ersten Mannesalter von untersetzter Statur, unbedeutendem, fadem Gesicht mit sehr hellblondem Haar.

Die Geschichte der letzten polnischen Rebellion hat ihm einen furchtbaren, mit Blut ge- tränkten Namen bewahrt.

Als er sich allein im Laden sah, während seine Gefährten von dem Kommissar angefeuert, beschäftigt waren, die Thür einzustoßen, sah er sich vorsichtig um und entdeckte den Jungen, der eben den Kopf hob, um Zusehen, ob das Feld rein. Er faßte ihn sogleich bei den Ohren und zog ihn hervor.

»Ah Du bist es, Schelm, was thust Du hier?« 

»Gnade Pan Karlowicz 1 , Sie werden doch einen armen Jungen nicht unglücklich machen!« 

»Tölpel!« sagte der Beamte der[s] Oberpolizeimeisters leise, »mach Dich aus dem Staube, denn Drosdowicz führt die Gensd’armen.« - Laut schimpfte er auf den Burschen und zerrte ihn nach der Thür, als wolle er ihn den draußen stehenden Wachen übergeben. »Schnell nach Lazienki und

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sage den Unsern, was hier geschehen!« Er schob ihn mit einem Fußtritt zur Thür hinaus.

Die Thür zur Flur war unterdeß eingebrochen, über sie hinweg stürmten die Polizeibeam- ten, waren aber anfangs in dem Dunkel zweifelhaft, wohin sie sich wenden sollten.

Ein Lichtschimmer unter der Thür hinweg, obgleich er von Wanda’s entschlossener Um- sicht beseitigt sogleich verschwand, verrieth ihnen die kleine Treppe und den Eingang des Corridors.

»Besetzt die Ausgänge! Lichter herbei - hier die Treppe hinauf« befahl der Kommissar Dros- dowicz. »Schnell! Schnell!« Er war der Erste, der die Stufen hinaufsprang und die Thür des Corridors zu öffnen versuchte.

Sie gab nach - aber sie öffnete sich nicht. —

Wir haben oben gesagt, daß die Polin, nachdem sie die Verschworenen mit zwei Worten von der Gefahr benachrichtigt, in den Corridor zurückgeeilt war.

Sie wollte die Thür von Innen verschließen - aber der Schlüssel fehlte im Schloß, Dubowski oder Asnik mußten vergessen haben, ihn wieder einzustecken. Mit Gedankenschnelle faßte sie nach der Ecke, um den schweren dort stehenden Holzriegel aufzuheben und in die Klam- mern zu legen, aber schon stürmten die Beamten die Stufen herauf, und das schwere Holz zu heben und einzuschieben hätte Minuten erfordert.

Die Polin wußte, daß in diesen Minuten die Bedrohten sich - wenigstens den Fremden retten konnten.

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Da erfolgte eine jener heroischen Thaten der Entschlossenheit und Aufopferung, wie ihrer nur ein begeistertes an ein Gefühl sich ganz hingebendes Weib fähig ist!

Ob das polnische Fräulein die That der edlen Schottin kannte, die damit ihren verfolgten König rettete - wir bezweifeln es! Aber mit gleicher Hingebung und Entschlossenheit legte sie ihren linken Arm in die Eisenklammern der Thür.

'Pan Karlowicz, genannt Pan der Weiße, der spätere Chef der Keijalisten - der Dolchmänner.


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«Aufgemacht im Namen des Kaisers!« donnerte der Kommissar. Die Thür wuchtete - die Polin biß die Zähne zusammen


Drinnen im Zimmer war Asnik schnell nach einer Schublade gesprungen, hatte ein Packet Papiere herausgerissen und warf es in die Flamme des Kamins.

»Fort - geschwind - durch das Fenster! Ihr kennt den Weg!« 

Dubowski war bereits in das Schlafzimmer gesprungen und hatte das Fenster aufgerissen, das in eine kleine dunkle Seitengasse ging.

»Gott sei Dank - der Weg ist frei - hierher, Herr Graf!« 

Maikowski drängte diesen in die Kammer, während der Student den Fuß auf die Papiere in die Gluth setzte. Jener war der Erste, der aus dem ziemlich niederen Fenster sprang - Oginski folgte ihm. Dubowski warf ihm den Mantel, den er aufgerafft, nach.

»Meine Reisetasche!« rief der Graf herauf.

Ein Schrei entsetzlichen Schmerzes gellte aus dem

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Korridor her - ein zweiter - dann warf ein Fußstoß die Thür der Stube auf —

» Przekl§cie ! - da sind sie - es ist zu spät!« Dubowski folgte den Vorangeflüchteten mit einem raschen Sprung.

Als der Commissar in die von Taback- und Punschdunst und dem Qualm verbrannten Pa- piers gefüllte Stube drang, saß der Student ganz gemüthlich, die Pfeife in der Hand, auf dem alten Ledersopha und starrte ihn an.

»Im Namen des Kaisers - ich verhafte alle Anwesenden!« 

»Langsam! langsam, mein Herr!« sagte der Pole - »was wollen Sie hier? Sie sehen, ich bin allein!« 

Der zweite Beamte, derselbe, welcher den Verdächtigen gefolgt war und die Konditorei zuerst betreten hatte, war in die Schlafkammer geeilt, kam aber sogleich wieder zurück. »Das Fenster ist geöffnet, sie sind entwischt!« rief er.

»Verdammt! aber hier riecht es nach verbranntem Papier. Aus dem Wege, Bursche!« Er stieß den Studenten, der sich erhoben und vor den Kamin gestellt, zur Seite. »Hier ist so eben Papier verbrannt worden!« Er stöberte in den Kohlen umher, aber nur einige Fetzen ohne Bedeutung noch waren zu finden. »Durchsucht das Zimmer auf das Genaueste,« befahl der Commissar, »und bringt das Frauenzimmer hierher. - Wie heißt Du?« 

»Mit welchem Recht fragen Sie mich? Ich bin nicht Ihr Scherge und verlange die Behand- lung eines gebildeten Mannes!« 

»Hoho, Bursche - Ihr Ton soll bald herab gestimmt

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sein! Ich bin der Polizeikommissar des ersten Bezirks. Ihr Name?« 

»Adam Prot Asnik, Student der Medizin.« 

»Wir werden Dir einstweilen Gelegenheit geben, Deine Studien wo anders fortzusetzen. Wer hat dies Zimmer verlassen? - hier auf dem Tisch stehen noch vier Gläser und Alles zeigt, daß vor Kurzem hier mehrere Personen waren.« 

»Kollegen, die mich besuchten.« 

»Ihre Namen?« 


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»Ich kenne sie nicht, und wenn ich sie wüßte, würde ich sie nicht nennen. Suchen Sie dieselben!« 

»Wir werden Dir den Trotz vertreiben. Da ist das Frauenzimmer!« 

Zwei Gensdarmen hatten die junge Polin herbeigeführt, ihr Gesicht war todtenbleich, aber aus dem dunklen Auge leuchtete ein ungebrochener Muth, ein gewisser freudiger Stolz, als ein Blick ihr bewies, daß kein Anderer als der hier wohnende Student verhaftet war. Sie hielt mit der rechten Hand den linken Arm; aus dem Aermel des schwarzen Seidenkleides floß Blut und tropfte nieder auf den Fußboden.

»Was ist mit der Dirne?« frug der Kommissar.

»Sie ist es, welche die Hochverräther gewarnt hat,« sagte der zweite Beamte. »Eine Kanaille von Jungen benachrichtigte sie. Es ist eines von den fanatischen Weibern, die uns so viel zu schaffen machen.« 

»Sie blutet ja, was ist geschehen? sehen Sie nach!« sagte der Kommissar menschenfreund- lich. »Sie scheinen

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nach Ihrem Aussehen nicht der gewöhnlichen Klasse dienender Frauenzimmer anzugehören. Was veranlaßte Sie, sich in die Maßregeln der Polizei gegen Hochverräther zu mischen?« 

»Herr Asnik ist kein Hochverräther!« sagte sie mit vor Schmerz zuckenden Lippen, während die Gensdarmen den Aermel ihres Kleides zurückschlugen.

»Warum warnten Sie ihn dann - warum sind Sie hier?« 

Ihre bleichen Lippen bewegten sich nur widerstrebend. Sie schien die Worte mit Gewalt heraus zu zwingen, aber sie sagte mit fester Stimme: »Adam Asnik ist mein Geliebter! Er ... « 

Der Kommissar unterbrach sie. »Barmherziger Gott - geschwind einen Arzt für die Un- glückliche!« 

Der Anblick war in der That gräßlich. Der jetzt entblößte Vorderarm schien nur noch mit den Sehnen und einem Theil des Fleisches an seiner oberen Hälfte festzuhängen, spitze Kno- chensplitter standen aus dem zerrissenen Fleisch, das Blut floß an der bewegungslosen Hand hinab.

»Hier, Herr Kommissar,« sagte einer der Gensdarmen, »unter dem Stuhl finde ich diese Reisetasche. Sie ist nicht groß, aber gefüllt und ziemlich schwer, als ob Geld darin wäre.« 

Der Student stieß einen wilden Fluch aus.

Die Augen Wanda’s begegneten den seinen - sie begriff, daß die gefundene Tasche mit dem geflüchteten Agenten des pariser Central-Comite’s in Verbindung stehen

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mußte - ein finsteres Nicken des Präsidenten der Schwarzen Brüderschaft antwortete ihrem fragenden Auge.

»O mein Gott!« - sie wollte die Hände falten - ein schrecklicher Schmerz durchzuckte bei der unwillkürlichen Bewegung ihre Nerven - sie wurde ohnmächtig! -

2. Die Diplomaten.

Das berühmte Warschauer Ballet hatte nach dem Diner im Belvedere den »Seeräuber« in dem kleinen aber brillanten Orangerietheater von Lazienki, das zur Seite des großen Wasser- spiegels liegt, gegeben. Die berühmte Ballerina Strauß hatte wenigstens die Deutschen und Russen mit ihren Pirouetten und kühnen Sprüngen entzückt, denn die Polen klatschten da


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nicht, wo jene applaudirten, und der Vorhang war nach dem Kampf der Schiffe und dem Einsturz des brennenden Türkenschlosses unter dem donnernden Bravo gefallen, in das auch die fürstlichen Herrschaften einstimmten.

Die große Thür des Theaters begann die Menge der Gäste auf den Perron zu ergießen, vor dem eine große Anzahl glänzender Equipagen harrte.

Ein feenhafter Anblick bot sich den Heraustretenden. Der ganze Park von Lazienki schien ein verkörpertes Zaubermärchen aus Tausend und Einer Nacht. Was nur die

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kühnste Phantasie in der Pracht einer orientalischen Illumination erfinden konnte, quoll im bunten Feuerglanz aus dem Dunkel des noch größtentheils belaubten Parkes dem staunen- den Auge entgegen. Hoch in den Baumgipfeln, im Laub und an den Zweigen gaukelten im bunten Farbenglanz schwebende Ballons beweglich hin und her - die steifen Taxushecken der im altfranzösischen Styl geschnittenen geradlinigen Alleen erglühten als Feuerwände, während farbige, aus Hunderten von Lampions zusammengesetzte Barocquelüstres von dem dunklen Himmelsplafond niederschwebten. Man schritt durch feurige, in den kolossalsten Dimensionen sich emporthürmende Triumphbögen, um in der Ferne Tempel in den edel- sten architektonischen Flammenumrissen, schlanke Feuerminarets, geschnörkelte, strahlen- de Chinesenthürme zu gewahren. Aus den grünen Bowlinggreenis[!] wuchsen buntblitzende Blumenbosquets auf, strebten kolossale smaragdglänzende Palmenbäume empor. Die Zauber- bilder spiegelten sich in dem stillen See wieder, auf dessen Feuerwellen weiße Schwäne in geisterhafter Lautlosigkeit dahin zogen.

Und mitten aus dem feurigen See erhob sich das weiße Marmorschloß Lazienki, jetzt die Wohnung des österreichischen Kaisers, angeglüht von dem rings auflodernden Feuerzauber. Aus den dunklen Gebüschen hervor belebten harmonische Klänge der verborgenen Musik- chöre das Zauberbild, das alle Sinne gefangen nahm.

Eine ungeheure Menschenmenge wogte, dunklen Schatten gleich, durch dies Flammen- meer; denn der ausdrückliche Befehl des Kaisers hatte trotz der beunruhigenden Vorgänge der letzten Tage und der unverkennbaren Stimmung

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der polnischen Bevölkerung die Thore des Parkes Allen, die kommen und genießen wollten, weit geöffnet. Man sah neben den dunklen und goldblitzenden Uniformen der Soldaten die Litefka und den schmuzigen Pelz des Bauern, den schwarzen Kaftan des Juden - neben der malerischen Uniform des Tscherkessen, die Sonntagstracht des deutschen Bürgers, den polni- schen Schnürrock, die schwarzseidene oder bunte, pelzverbrämte Kasaweika der Frauen und Mädchen. Der größere Theil der mittleren und unteren Klassen hatte sich durch die gehei- men Drohungen der unbekannten Agitatoren noch nicht abhalten lassen, der Schaulust zu fröhnen.

Uebrigens fehlte es keineswegs an finsteren drohenden Gesichtern, die mit Hohn oder Haß auf alle diese glänzenden Dekorationen und die fröhliche Menge sahen und im Stillen wilde Verwünschungen hinter den Wagen drein schleuderten, die jetzt die fürstlichen Gäste durch die feuerstrahlenden Alleen führten.

Die smolensker Ulanen, das Regiment des Großfürsten Thronfolger, hatten die Ehrenwache im Park, dazu ein Cordon von Infanterie und zahlreiche Gensdarmen - auch fehlte es in


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der Menge so wenig an geheimen, in bürgerliche Tracht gekleideten Polizeiagenten, wie an Mißvergnügten und Verschworenen.

Dichtgedrängte Massen von Zuschauern hatten sich vor dem Ausgang des Theaters aufge- stellt und wurden durch die Chaine der Ulanen und Gensdarmen zurückgehalten, daß freier Platz zur Vorfahrt der Wagen blieb.

Hinter und neben dem Pferde eines Unteroffiziers hatte sich eine Gruppe von Männern aufgestellt, die zusammen

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zu gehören schienen, wenigstens befanden sie sich in eifriger, meist leise oder halblaut ge- führter Unterhaltung. Ein Mann in schmuziger abgetragener Kleidung zeigte unter einem alten grauen Filzhut ein scharf markirtes Gesicht, das von einem kurzen rothen Backenbart umrahmt war. Er hatte rohe häßliche Züge, die von allen Leidenschaften tief gefurcht schie- nen. Sein Auge war rastlos und hatte etwas Tückisches, Drohendes. Er sprach mit den beiden Studenten, die vor einer Stunde die Sitzung der Schwarzen Brüderschaft verlassen hatten, ehe die Polizei einbrach. Vor ihnen stand ein jüdisches Ehepaar, der Mann mußte einer der zahlreichen Commissionäre in einem der hiesigen Hotels sein, denn er nannte mit großer Mundfertigkeit seinem Weibe und den Nächststehenden die Namen vieler Notabilitäten, wel- che das Theater verließen, seine Erläuterungen hinzufügend.

Hinter den Studenten und ihrem gemein aussehenden Gesellschafter standen der alte Ver- bannte und ein Offizier in russischer Uniform.

Gleich daneben hatte sich zum gleichen Zweck des Schauens eine andere Gruppe aufge- stellt, drei Personen, deren courmäßige Kleidung bewies, daß sie eben noch der Vorstellung beigewohnt hatten. Sie sprachen Deutsch untereinander und der Wortführer, ein behäbig und gemüthlich aussehender Herr über die Mitte der Vierziger hinaus mit ergrauendem Haar und dem rothen offenem Gesicht eines Lebemannes, das die breite Unterlippe der Habsburger neben einer gewissen Beweglichkeit zeigte, schien in den fremden Hofkreisen mindestens ebenso bewandert, wie der

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Jude in den einheimischen. Er trug an der linken Patte des Fracks eine dichtgedrängte Reihe von Orden - auch seine beiden Gefährten hatten mehrere Dekorationen.

«Schade,« sagte der Behagliche, »ich hätte der Jagd auf der bialowiczer Haide gern beige- wohnt, wenn nicht die Parforcetour gewesen wäre. Denken Sie, am 18ten siebenzehn Auer- ochsen und zwei Elens, am anderen Tage wieder drei Ihrer Urthiere, die wir in den deutschen Wäldern nicht mehr kennen!« 

»Wahrhaftig, Hofräthchen, man lernt immer neue Seiten an Ihnen bewundern! ich wußte nie, daß Sie auch ein Nimrod auf Auerochsen und Damhirsche waren, obschon ich mich erinnere, gehört zu haben, daß Sie in Ihrer Jugend allerdings ein starker Jäger auf anderes Wild gewesen sind!« 

»Diskretion! das war Achtundvierzig, vor der diplomatischen Karriere,« sagte lachend der Angegriffene. »Ich hoffe, es steht noch gut mit Ihrer Kraft, lieber Pahlen? Die Auerochsen interessiren mich nur wegen eines Artikels für die Kreuzzeitung. Sehen Sie, eben steigt Rech- berg in den Wagen. Ist das nicht Graf Thun, Ihr Gesandter in Petersburg, Baron?« 

»Ja - er kam uns mit Oberst Dopfler entgegen. Aber ich denk halter, den Artikel über die Auerochsen kann der Bericht über die Affaire im Theater Ihren Lesern ersetzen. Ich habe


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eigentlich nur munkeln davon hören, da ich dringende Kanzlei-Geschäfte noch am Abend hatte. Wie ging es doch in Wahrheit zu?« 

»Den Teufel, ich werde mich wahren! Dazu müßte

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ich so naiv sein, wie Bork’s neuer Amanuensis dort mit dem schwarzgewichsten Schnurbart! Pahlen zeigt mich sonst bei Paniutin an und dieser schickt mich nach Sibirien!« 

»Da der Kriegsgouverneur eben zu Ihrem Premier in den Wagen gestiegen ist,« sagte der Russe lächelnd, - »also die entente cordiale zwischen dem Petersburger und wiener Kabinet trotz des heutigen Antichambrirens im Schloßhof keinem Zweifel unterliegt, Sie überdies an Krakau und Galizien laboriren, wie wir an Polen, will ich Ihnen den infamen aber klug ersonnenen Streich erzählen!« 

»Bitte, lieber Kollege!« 

»Sie kennen wahrscheinlich unsere Theatersitte, daß zunächst erst das Publikum der obe- ren Galerien eingelassen wird, und dann erst das Parket. Das Haus war kaum geöffnet, als aus dem Menschenstrom, der die Galerie füllte, eine Flasche mit solcher Gewalt in’s Parket geworfen wurde, daß sie in Scherben brach.« 

»Eine neue Höllenmaschine?« 

»In der That! Denn im Augenblick verbreitete sich ein höllischer Geruch, den Niemand auszuhalten vermochte. Die Flasche war mit assa foetida gefüllt gewesen. Sie können sich denken, in welchen Aufruhr Ahes gerieth. Es war geradezu unmöglich, das Parket und die Logen zu betreten und doch konnte man jeden Augenblick die Ankunft der Höchsten Herr- schaften erwarten. Anischkoff war in Verzweiflung und ließ einen ganzen Parfümerieladen plündern und die Eau de Cologne eimerweise ausgießen, ohne daß es half!« 

»Rosenöl von Adrianopel!« bemerkte der Hofrath.

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»Ihr Herren Russen habt doch fast stets Euer Augenmerk auf die hohe Pforte gerichtet, warum vergaßt Ihr deren bestes Produkt nächst den Odalisken?« 

»Eben, weil die Sache so lächerlich, war sie so zum Aergern. Zuletzt mußte man dem Kaiser einen Wink geben, seine Gäste etwas aufzuhalten. Ahes wurde aus dem Theater gejagt und jede Thür und Fensterscheibe im ganzen Gebäude geöffnet, um den teuflischen Gestank durch Zugluft auszutreiben. So allein war es möglich, nach einer halben Stunde endlich das Theater wieder betretbar zu machen und die Sache vor den Gästen zu vertuschen, die nicht eine so feine Nase haben, wie unser Freund hier. Aber lassen Sie uns nach der großen Allee gehen. Ich habe den kleinen Kiosk am Wasser für uns zum Souper reservirt und wir sehen dort durch die Jalousieen Ahes vorbeipassiren, ohne selbst exponirt zu sein!« 

» Optime !« sagte der Hofrath. »Und wollen Sie einen Vorschlag, lieber Geheimer?« 

»Welche Schnurre haben Sie wieder im Kopf?« 

»Richtig gerathen! - Wir drei Anhängsel der hohen Diplomatie bilden eine neue heilige Alliance, indem wir unsere drei Auswärtigen vorstehen - Rußland, Oesterreich, Preußen, also Gortschakoff, Rechberg -« 

»Aber Schleinitz fehlt!« 

»Thut Nichts, wir ersetzen ihn durch Grüner! Seit er sich zu der Erklärung gegen den Re gentilhuomo aufgerafft sehe ich ihn wirklich im Harnisch statt im Schnürleib und hoffe ihn


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auch noch dem tugendsamen Junggesellenbund aus der Behrenstraße ungetreu werden zu sehen!« 

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»Wehe Jedem, der unter Ihre boshafte Zunge geräth. Halten Sie mit der Politik ein, bis wir aus dem Gedränge sind. - Kannst Du nicht aufpassen, Tölpel, oder soll ich die Wache rufen?« 

Die Drohung, von einem tüchtigen Puff begleitet, galt einem zerlumpten häßlichen Jungen, der sich mit großer Hast mitten durch die Gruppe drängte, um zu dem Mann im Filzhut und den beiden Studenten zu gelangen.

Während die drei Diplomaten ihren Weg fortsetzten, zupfte der Junge den Rothbärtigen am Rock, der mit finsterm gehässigen Blick die vornehmen Herren und Damen betrachtete, die noch immer aus dem Ansgang des Theaters strömten und ihre Equipagen bestiegen.

»Pan Chmelenski!« flüsterte der Knabe.

Der Rothbart sah sich betroffen um. »Stille, Kanaille, oder . . . « 

»Es ist Janko, der Galgenstrick,« flüsterte Lobrowski.

Der Rothe hatte sich schon wieder, um keinen Verdacht zu erregen, nach dem Theater gewandt. »Fragen Sie ihn, was er will,« sagte er leise, er selbst aber frug den Juden, der vor ihm stand: »Kennst Du die fremden Offiziere, die dort kommen, Faktor?« 

»Was werd’ ich nicht kennen so vornehme Herren?« prahlte der Ebräer. »Kannst Du doch sehen, Blümchen, die hohen Potentaten alle zusammen, die gekommen sind zu machen die Honneurs in Warschau vor unserm allergnädigsten Herrn und Kaiser, der ist ein Vater von seinem Volk, den Polen und den Herrn Russen! - Au! nehmen Sie sich in Acht, Sie treten mer auf die Hühneraugen.

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Hast Du gesehen schon Seine Majestät den Kaiser von Oesterreich, der vor’m Jahr hat geführt ä großen Krieg im Land Italien, was is weit von hier, und den zweiten König von Preußen, weil is noch immer krank der erste. Der Herr Regent is ä gar stattlicher Herr und dabei gar nich stolz, daß er gestern hat freundlich gedankt, wie ich gezogen hab’ meinen Hut auf der Straße vor ihm! Die Beiden da, der mit dem hübschen Backenbart und dem freundlichen Gesicht und der Lange mit der Adlernase in der Dragoner-Uniform vom Regiment Klein-Rußland sind doch die Brüder von dem König von Preußen und die Onkel von unserm Monarchen, den der Gott Abrahams erhalten möge zum Segen unserer Nation. - Sie treten mir schon wieder junger Herr! - Der Herr da in der Husaren-Uniform Ingermannland ist der Großherzog von Weimar - ich weiß nicht, wo es thut liegen - aber es hat eine Großfürstin geheirathet dahin, und der Andere ist ein Prinz von Hessen-Kassel, der vielleicht werden wird König von Dänemark, wenn’s die hohen Potentaten erlauben. - Siehst Du den General Jesimowitsch? ich hab’ Dir ihn gezeigt gestern im Hotel d’Angleterre, als Du gestanden hast neugierig an der Thür. Der Herr, neben dem er geht, ist der Großherzog von Mecklenburg, der gekommen ist erst seit sechs Wochen auf den Thron - wie mir gesagt hat der Kammerdiener - Gott der Gerechte, was hast Du heute für ä Glück, Blümchen, zu sehen so viele Potentaten zusammen! Das da is ä Prinz von Würtemberg, wo hin geheirathet hat die Schwester von unserem Kaiser, die ä Mal wird Königin werden vom Rheinbund, wie ich mir

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hab’ lassen erzählen. Der Prinz da is aber ä preußischer General und hat geschossen in Ruß- land viele Bären mausetodt, die jetzt ausgestopft stehen in seinem Schloß. Man muß haben


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vornehme Bekanntschaften wie ich, um zu wissen alles das! Wie könnt’ ich sonst wissen, daß heute Morgen hat stehen müssen der Premierminister von Oesterreich ohne Mantel ’ne Stun- de lang im Regen im Schloßhof von Belvedere, ehe er hat gehen dürfen wieder nach Haus. Blümchen, ich sage Dir, unser Kaiser is ä gewaltiger Herr! aber jetzt laß uns gehen, daß wir nich versäumen die Illumnation!« 

Das Geschwätz des redseligen Kommissionairs hatte dazu gedient, den Vorgang zu verber- gen, der in seiner unmittelbaren Nähe stattfand.

Der Student Lobrowski hatte sich zu dem Jungen niedergebeugt.

»Was ist geschehen, Janko?« 

»Ein Unglück, Herr! Pan Karlowicz schickt mich! Der Teufel Drosdowicz hatte die Spur des Fremden verfolgt - die Polizei hat die Konditorei in der Spital-Straße entdeckt und die Wohnung des Pan Asnik überfallen. Ich kam zu spät, um die hohen Herren zu warnen.« 

Der Student stieß einen wilden Fluch aus. »Hat man den Grafen verhaftet?« 

»Welchen Grafen, Herr? ich nahm die Beine unter die Arme und rannte was ich konnte davon, als mich Herr Karlowicz so gnädig aus der Thür geworfen. Er befahl mir blos Ihnen zu sagen, was geschehen!« 

Der Student dachte einen Augenblick nach. »Fort mit

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Dir, die Allee hinunter. Im zweiten Quergang rechts warte auf mich!« 

Der kleine Spitzbube duckte unter, zwängte sich durch die Beine des jüdischen Kommis- sionairs, indem er ihn an einer Stelle kniff, wo die Wade hätte sein sollen, riß Frau Blümchen eine Falbel vom Seidenkleid und verschwand in der Menge, die sich jetzt vom Theater weg in die Hauptgänge drängte.

Lobrowski schob seinen Arm unter den des Rothen. »Laß uns gehen, Freund! Vor Allem, hast Du die heutige Loosung der Wachen?« 

»Nein - aber Garzynski muß sie von dem Offizier erhalten, mit dem er spricht.« 

»Sage ihm das, Aweide,« wandte er sich zu dem zweiten Studenten, »und triff uns in der zweiten Seitenallee rechts. Die Polizei hat die Versammlung der Schwarzen bei Asnik in der Spital-Straße überfallen. Der neue Agent von Paris ist mit ihnen verhaftet!« 

»Höh’ und Teufel! Das sollen sie büßen. Wer hat den Streich gethan?« frug der Rothe.

»Wer anders als Drosdowicz!« 

»Er soll es bereuen, bei meinem Blut!« sagte mit funkelndem Auge der Rothbart. »Jetzt gilt es, ihnen noch heute zu beweisen, daß wir uns dadurch nicht einschüchtern lassen. Statt der Schildwach muß einer ihrer Spione fallen. Ich bemerkte vorhin Varkovicz, den Abtrünnigen!« 

»Ich sah ihn vor dem Theater!« 

»Er ist die rechte Hand von Anischkoff. Ihn treffe die Strafe!« 

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Sie verschwanden in den Gängen des Parks.

Der zweite Student hatte dem alten Verbannten aus den Silberbergwerken von Nertschinsk einige Worte zugeflüstert. Dieser hatte sich mit einem kurzen Kopfnicken begnügt und sein Gespräch mit dem Offizier fortgesetzt.

»Man hat uns zu lange geknechtet und in Unterwürfigkeit gehalten,« sagte der Letztere, »als daß die Unzufriedenheit nicht in allen Schichten endlich Platz gegriffen haben sollte. Wenn die Polen so thöricht sind, für ihre besondere Nationalität zu schwärmen - gut, so mögen


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sie es thun - wir werden ihnen Nichts in den Weg legen, da es uns hilft, unsere Zwecke zu erreichen!« 

»Aber die Liebe zur Heimath, das Nationalitätsgefühl ist doch dem Menschen angeboren!« 

»Thorheit! es ist anerzogen durch Unverstand und Spekulation, um damit jeden freieren Aufschwung zu unterdrücken! Vaterlandsliebe ist ein Unsinn; wo’s dem Menschen gut geht, ist sein Vaterland! Legitimität - Unterthanentreue? leere Phrasen - eingelernt von den Pfaffen und Bureaukraten, damit sie im Wohlleben nicht gestört werden. Wie kann eine zufällige Geburt einen anderen Menschen zu meinem Herrn machen? - Gott? er möge sich zeigen, wenn wir an ihn glauben sollen! Tugend - Ehre? es sind widersinnige Schranken, die nur die Befriedigung unserer natürlichen Fähigkeiten hindern. Wir glauben an Nichts, absolut an Nichts, und deshalb nennen wir uns die Nihilisten!« 

»Aber an Etwas muß der Mensch doch glauben, Etwas muß ihm doch heilig sein!« 

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»Gewiß! Das ist das leibliche Wohlergehen! Unser Glaube ist: gut zu leben! frei zu leben, ohne jeden Zwang! Deshalb eine allgemeine sociale Republik! unser Ich ist der wahre Gott, und was dem entgegen steht, muß fallen!« 

»Das ist entsetzlich,« sagte schaudernd der alte Mann, der in der fünfundzwanzigjährigen Nacht seines sibirischen Kerkers sich doch den Glauben an die Ideale des Lebens bewahrt hatte. »Mit solchen Grundsätzen kann Ihnen auch in dem Kampfe selbst Nichts heilig sein!« 

»Revolutionen werden nur mit Blut durchgeführt! Was ist denn für ein Unterschied, ob wir unsere Feinde auf dem Schlachtfelde oder an der Straßenecke tödten? Umgekehrt, von den tausend Soldaten, die fallen, sind neunhundert gar nicht einmal unsere wirklichen Feinde, sondern kämpfen nur gezwungen gegen uns. Oder ist Strick und Dolch eine schlechtere Waffe als Kugel und Bayonnet? - Gehen Sie doch mit Ihren lächerlichen Bedenken - ich hoffe, wenn es erst wirklich zum Kampfe kommt und es einzig die Vernichtung des Feindes gilt, werden Sie handeln wie wir!« 

Garzynski schwieg, das Herz war ihm zu voll, um zu sprechen; denn er wußte, daß die furchtbaren Grundsätze, welche der junge Russe entwickelte, auch von vielen Mitgliedern der polnischen Propaganda bereits getheilt wurden. Nur sein Herz empörte sich gegen diese Lehre, der ein Marat noch als Reaktionair gelten mußte.

»Man hat mir erzählt,« sagte er, »daß Sie selbst der Gnade des Czaaren Ihre Erziehung in dem Kadettenhause verdanken?« 

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»Bah! was schadet das? Welchen Dank bin ich ihm dafür schuldig, daß er sich einen Solda- ten erzogen hat, der bereits bei Balaclava und Inkermann als ein halber Knabe noch für ihn sich dem Tode aussetzen mußte, während das Leben doch wahrhaftig manchmal ganz hüb- sche Genüsse bietet! Wäre ich nicht in’s Kadettenhans gekommen, wär’ ich vielleicht Packträ- ger oder Spitzbube geworden und hätte eben so gelebt. Gehen Sie doch - von Dankbarkeit zu reden, ist kindisch. Nur der eigene Vortheil entscheidet und das Ich liegt im Hintergrund jeder sogenannten Wohlthat!« 

»Und der Bund der Nihilisten ist in allen Provinzen des großen Kolosses verbreitet?« 

»Wenn Sie der Unsere wären, würde Ihnen ein Wort an der Grenze von China so gut nicht Freunde, denn Freundschaft ist ein thörichter Begriff, sondern Beistand und Genossen si- chern, wie in Odessa oder Tornea. Lassen Sie die Zeit erst gekommen sein, und Sie werden


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staunen über das Netz, das im Stillen gewebt worden! Das freie republikanische Rußland wird so fix und fertig wie eine Minerva aus dem gespaltenen Haupte des thönernen Jupiters springen, nur daß eine kräftige Hand dies Haupt gespalten hat!« 

»Hüten Sie sich und Ihre Partei vor Fürstenmord,« sagte der Greis. »Er hat noch nie der Sache der Freiheit Segen gebracht. Ein schlimmerer Herr ist stets aus dem Blute erwachsen. Lassen Sie uns unsere Wege gehen, und gehen Sie die Ihren! - Ein freies Polen wird ein aufrichtiger Freund Rußlands sein gegen die Deutschen.« 

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»Ist das die Antwort, die ich Denen zu bringen habe, die mich gesendet?« 

»Für mich und meine Freunde, ja! - ich will nicht leugnen, daß Sie bei anderen Faktio- nen der großen Liga mehr Sympathieen hnden dürften, - ich stehe zu sehr am Rande des Lebens, um noch einen neuen Glauben zu lernen, der mir Alles zu nehmen droht, für das ich gekämpft und gelitten. Ein selbständiges freies Polen, ob als Republik, ob unter einem kräf- tigen Monarchen und sei es selbst ein Fürst aus fremdem Stamm, ist Alles, was ich ersehne und mit der letzten Kraft erstrebe. Ich kann nicht einmal sagen, daß ich Ihnen glücklichen Erfolg wünsche, denn an und für sich ist Ihr Kaiser ein braver und aufgeklärter Mann, der es wohl meint mit seinem Volk, wie das große Werk der Bauernemancipation beweist, mit dem er umgeht. Es sollte mir leid thun, wenn eine verbrecherische Hand sich gegen ihn erheben würde, und jedenfalls - soll es nicht die eines Polen sein!« 

Der russische Ofhzier lächelte höhnisch. »Sie wissen aus der Geschichte, daß wir weniger bedenklich sind! Gute Nacht denn für heute. Wenn man Ihnen und Ihren Freunden in der warschauer Citadelle den russischen Strick um den Hals legt, so erinnern Sie sich, daß Sie den Hanf dazu wachsen ließen, ohne ihn abzuschneiden. Wenn ich und meine Freunde Ihnen übrigens gefällig sein können, so disponiren Sie über uns.« 

»Das kann gleich geschehen, Herr! Ist das heutige Paßwort auch für den Garten beibehalten worden?« 

»Nein! Man hat es vor einer Stunde geändert.« 

[HO]

»Und es lautet?« 

»Panstwo cesarskie !« 1 nun ich denke, es soll nicht lange mehr so heißen!« 

Er reichte dem alten Dichter die Hand, die dieser mit einer gewissen Scheu berührte, und verlor sich in der Menge.


Unweit des Pavillons, den der Prinz-Regent von Preußen in dem Park von Lazienki be- wohnte, hatte der Titularrath von Pahlen in einem kleinen zwischen Lampen und Bäumen versteckten Kiosk ein treffliches Souper bereit halten lassen, den rothen Clicquot-Veuve, der nur auf die kaiserliche Familientafel kommt, in Eis. Hierhin zogen sich die drei diplomatischen Freunde, oder eigentlich Bekannte zurück. Sie waren schon oft im Gefolge ihrer Potentaten zusammen getroffen und es hatte dadurch sich eine gewisse Vertraulichkeit unter ihnen her- gestellt, die sich selbst und vielleicht am meisten auf die Besprechung und Durchhechelung der hohen Politik und ihrer Träger ausdehnte.


1 Das Kaiserreich.


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Dem ersten Appetit war bald Genüge geschehen, und als der einzige Diener, der ihnen ser- virte, die Schüssel mit den leipziger Lerchen und dem vortrefflichen drei Mal in Champagner aufgeschmorten Kohl forttragen wollte, füllte der Hofrath, der gern etwas Gutes aß, aber sehr wenig trank, nochmals seinen Teller, garnirte den Kohl mit einigen fein gehackten Trüffeln, liebäugelte mit dem Rubin des Larose und ließ sich also vernehmen:

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»Hochgelehrteste und hochgeehrteste, hochgebietende Premiers der drei Reiche jener im pariser Tractat zu Grabe getragenen und doch wie der Augenschein durch unsere Zusam- menkunft bei Lerchen, Champagner und Rothspohn, von dem einer meiner gegenwärtigen Ambassadeurs zu behaupten wagte, daß es das natürliche Getränk der Norddeutschen sei! - so nothwendigen heiligen Alliance, - wie denken Sie über Rußland?« 

»Wenn ich hoher nach Berlin komme,« sagte der Oesterreicher, »werd’ ich’s mir im Wallner- Theater ansehen. Euer Excellenz haben vielleicht das Stück selber mit Dero geistreicher Feder geschrieben?« 

»Denke nicht dran, mein Bester,« schmatzte der Hofrath, eine halbe Lerche in den Mund schiebend. »Ich beschäftige mich nicht mehr mit dem Theater, seit meine Potenzen dafür nicht mehr ausreichen. Da Sie aber der Frage ausweichen und ich Seiner Durchlaucht unserem Kollegen unmöglich ein offenes Selbstbekenntniß zumuthen kann, will ich es übernehmen, die Frage zu beantworten. Es ist etwas faul im Staate Dänemark!« 

»Sehr faul,« meinte der Oesterreicher, der das Citat wörtlich nahm. »Der deutsche Bundes- tag wird sich des Nächsten damit beschäftigen müssen, obschon die kieler Professoren und die alten Raisonneure von 49 mehr Geschrei machen, als nöthig ist!« 

»Bester Graf,« replizirte der Titularrath, »ich glaube, daß in Wien auch der Apfel manchen Wurmstich hat, zu denen außer der Reminiscenz Brück und Eynatten von diesem Frühjahr unter andern Dingen das Präsidium in Frankfurt [ 112 ]

gehört. Eine Execution des deutschen Bundes ist immer eine eben so langweilige als kitzliche Sache. Die Cigarre, die sich der Herr dort« - er wies nach einem in der Allee vorbeifahrenden Wagen - »im Bundeshotel ansteckte, beweist, daß die preußischen Junker gerade nicht sehr geduldig sind und auf Oesterreich warten werden.« 

Der Baron lorgnettirte durch das Fenster. »Ist das nicht Graf Bismarck 1 , Ihr jetziger Gesand- ter in Petersburg, der mit Budberg dort fährt?« 

»Gewiß,« sagte der Hofrath - »ich denke, von dem einen hat Preußen Viel, von dem andern sehr Wenig zu erwarten. Der General, der bei ihnen sitzt, ist Alvensleben, der Regent hält große Stücke auf ihn und ich hoffe, er bricht uns noch den Hals!« 

»Wem? Ihnen?« 

»Sie vergessen, daß ich heute das Ministerium Auerswald-Schwerin repräsentire.« 

»Warum ist eigentlich Auerswald nicht mit hier?« frug der Wiener.

»Es ist seine beste Eigenschaft, daß er eben so vermeidlich ist, wie Herr von Beust in Dres- den unvermeidlich. Er zieht die ästhetischen Thees bei der Familie Lessing den diplomati- schen Congressen vor. In der That, lieben Freunde, wir stehen nicht mehr so fest, seit die Kammern sich gar so undankbar bei der Vorlage der Armee-Reorganisation zeigen!« 


Satzfehler-Berichtigung. Seite 112 Zeile 8 von oben, ist zu lesen: Herr von Bismarck - statt: Graf Bismarck.


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»Hören Sie, Hofräthchen,« sagte der österreichische Diplomat, von Champagner und Ver- trauen erwärmt, »ich weiß hoher auch wirklich nicht, warum Ihr Herren Preußen

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gar ka Ruh’ halten könnt in Deutschland und immer wieder mit den Militairgeschichten an- fangt. Unsere Armeen sind ja ganz gut und haben 1813 und 14 die Franzosen geschlagen. Wenn die Preußen im vorigen Jahre zu uns gehalten hätten, würden wir sicher nicht die Lombardei verloren haben und der ganze Lärm wäre hoher nicht passirt.« 

»Ich glaube es selbst,« sagte trocken der Hofrath, indem er mit dem Russen einen Blick tauschte. »Doch Sie haben ja jetzt einen vortrefflichen neuen Kriegsminister!« 

»Ja - Feldmarschall-Lieutenant Graf Degenfeld-Schomburg ist vor der Abreise des Kaisers ernannt worden!« 

»Richtig! Derselbe, der unser Lehrbataillon bei Ihnen einführte und zwei Soldaten unmit- telbar nach der Schlacht von - war’s Custozza oder Magenta? - in Arrest schickte, weil ihre Mäntel, die gerollt auf dem Tornister lagen, um zwei Zoll zu breit gewickelt waren! Er ist ja wohl der Erfinder der Tornister mit den bewährten Schubfächern, die einmal ’rausgezogen, nicht wieder herein gingen?« 

»Na, hören Sie - Sie haben halt in Preußen auch noch manchen Zopf. Aber, da wir nun einmal vertraulich reden,« fuhr der Baron fort, »wie war doch eigentlich die Geschichte mit dem Bismarck und dem Thun und der Cigarre? Wir haben in Oesterreich nie was Rechtes darüber gehört.« 

»Mit Vergnügen, lieber Graf Rechberg, will ich Ihre diplomatischen Berichte vervollständi- gen. Schauen Sie, da

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fährt eben der Regent vorüber. Graf Adlerberg ist bei ihm und der Fürst von Hohenzollern. Sehen Sie da Roon, er ist eine Stütze der Armeeorganisation, ihm fehlt nur ein anderer Mi- nister des Auswärtigen, um der Welt zu zeigen, was Preußen kann. Dort Manteuffel - der Teufel weiß, ob der Mann mehr Diplomat oder Soldat. Illaire - zum Henker mit seiner Ver- wandschaft!« 

»Aber die Geschichte von Bismarcken?« 

»Richtig! Ihre Diplomaten, lieber Graf, gelten sonst für ein Muster der Höflichkeit - nur uns Preußen kehren sie manchmal die falsche Seite des Rocks zu. Graf Thun muß ein leiden- schaftlicher Liebhaber von Cigarren sein! Als er Bundestagsgesandter in Frankfurt war und Bismarck zum Beginn seiner diplomatischen Carriere unserem Gesandten am Bunde detachirt wurde, machte er natürlich dem Herrn Grafen seine Aufwartung und wurde angenommen. Als er aber in das Kabinet des Großmächtigen trat, blieb dieser, nämlich Graf Thun, an seinem Arbeitstisch ruhig sitzen, ihm den Rücken zukehrend, und arbeitete, seine Cigarre rauchend, länger als fünf Minuten weiter, ohne von dem Gruß und der Person des neuen Attaches Notiz zu nehmen. Da hört er plötzlich hinter sich ein Feuerhölzchen knistern und als er sich er- staunt und fragend umwendet, hat sich’s sein Besuch auch ganz behaglich in einem Sessel bequem gemacht, sich eine Cigarre angesteckt und dampft seinem höflichen Wirth den Rauch in die Augen. Bismarck, muß ich Ihnen sagen, ist ein ausgezeichneter Schütze und fehlt nie seinen Mann! Die Anekdote erregte unter der Diplomatie viel Gelächter!« 

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»Sie ist allerdings stark, von beiden Seiten, und erinnert an den Paletot des Fürsten Men- schikoff,« meinte der Oesterreicher nicht ohne Verlegenheit. Das Citat reizte den Russen.

»Bitte, lieber Hofrath, erzählen Sie uns noch Einiges von Ihrem famosen märkischen Junker. Wie benahm er sich Achtundvierzig?« 

[»]Oh - zwei kleine Anekdoten werden ihn charakterisiren. Eines Abends traf ich zufäl- lig mit ihm zusammen und er lud mich ein, mit ihm in eine Bierkneipe zu gehen, um ein Seidel zu trinken. Während wir da saßen und plauderten, raisonnirte am nächsten Tisch ein großbärtiger und großmäuliger Kerl fortwährend auf den König und erdreistete sich der nichtswürdigsten Redensarten. Ich sah, wie meinem Gefährten darüber immer mehr der Aer- ger in’s Blut trat, aber er wurde nicht roth davon, sondern immer blasser. Endlich, da die Suade des Kerls noch immer fortdauerte, stand er auf, nahm sein Seidelglas in die Hand und trat zu ihm. »Sie haben jetzt seit einer Viertelstunde auf Se. Majestät den König raisonnirt,«  sagte er mit der größten Kaltblütigkeit. »Wenn ich jetzt drei gezählt habe, und Sie sind nicht aus dem Lokal, so schlage ich Ihnen diesen Seidel auf dem Kopf entzwei!« Der Großbärtige fuhr auf: »Was unterstehen Sie sich, Herr? Wer sind Sie? Ich kann reden was ich will - das Volk von Berlin hat am 18. März auf den Barrikaden seine Freiheit errungen! Sie wollen hier tyrannisiren -« »Eins!« - »Ich apellire an die öffentliche Meinung!« schrie der Barrikadenheld, die Beine unterm [116]

Tisch hervorziehend - »ich fürchte mich nicht vor Ihnen, ch -« »Zwei!« - Die Hand mit dem Seidel hob sich langsam und Alles umher lauschte still dem Ausgang. »Als freier Deutscher protestire ich . . . « - »Drei!« noch ehe das Wort gesprochen, war der Großbart verschwunden und der Junker Bismarck setzte sich, ohne eine Miene verzogen zu haben, wieder an meine Seite und ließ sich ein frisches Seidel geben!« 

Die beiden Zuhörer lachten herzlich über die Anekdote. »Wir hätten in Wien halt bei der Revolution auch solche Leute brauchen können,« sagte der Baron. »Aber Sie wollten uns ja noch eine Geschieht’ erzählen.« 

»Sie spielt auch im glorreichen Barrikadenjahre und unter gleichen Umständen. Ich weiß sie von einem Freunde, der mit Bismarck in irgend einer Versammlung war. Ein Kerl ha- ranguirte auf dem Potsdamer Bahnhof den alten Wolden mit seinen Phrasen. In Potsdam angekommen, tritt der Junker auf den kleinen Revolutionär zu, der erschrocken vor der lan- gen Gestalt bis an die Wand zurückweicht, und fragt: »Wie heißen Sie?« - »Aber ich bitte, mein Herr . . . « - »Wie heißen Sie?« wiederholt Bismarck, ihm den Zeigefinger auf die Brust legend. »Ich heiße Stängel!« stottert der Geängstigte. »Nun, lieber Herr Stängel,« sagte der Lange mit warnend erhobenem Finger, »hüten Sie sich, daß ich diesen Stängel nicht pflücke!«  Darauf drehte er ebenso gelassen Stängeln den Rücken und Stängel verschwand leichenblaß so schnell er konnte.

»Eine ächt humoristische Ader,« lachte der Russe. »Wenn er die diplomatische Carriere aufgiebt und einmal [117]

bei Ihnen Minister wird - wer kann’s wissen! - können die Kammern an seinem Humor Man- ches zu verschlucken haben. Aber, meine werthen Kollegen, wir vergessen über Clicquot, Lerchen und Anekdoten unsere wichtigen Kabinetsfragen. Der Mann an der Seine spielt ei- ne zweifelhafte Rolle in der römischen Frage! Wir sind allerdings weniger bei dem Fall des


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Papstthums interessirt, mit dem wir im Begriff stehen, uns wegen Polen zu Überwerfen, aber Rußland durfte den offenbaren Bruch des Völkerrechts nicht hingehen lassen, und hat des- halb seinen Gesandten aus Turin abberufen!« 

«Und ist dies Alles, was Sie für den unglücklichen König Franz zu thun gedenken?« frug der Wiener. »Bedenken Sie halt, Durchlaucht, daß Sardinien in dem Krimkriege gegen Sie Partei genommen und der König von Neapel der Einzige war, der offen zu Ihnen stand, während Preußen Ihnen wenigstens den Rücken deckte!« 

»Es ist traurig mit den Bourbons,« meinte der Pseudofürst, »aber was ist zu thun? Ihr ei- genes Kabinet hat uns die Lehre vom Undank gegeben und wir befinden uns jetzt in bester Freundschaft mit den Tuilerien. Unser Adel kann Paris nun einmal nicht entbehren! Eine neue Triple-Alliance zwischen Frankreich, Preußen und Rußland - wobei Frankreich das linke Rheinufer erhält, Preußen sich in Deutschland schadlos macht, Rußland die Ostsee-Provinzen bis zur Weichsel bekommt, sich in Galizien arrondirt und einstweilen die Donaufürstenthü- mer nimmt . . . « 

Der Hofrath lachte hell auf, als er das verlegene Gesicht des wiener Diplomaten bei diesem Vorschlag sah, der [118]

unter der Maske der Persif[f]lage gewisse geheime Pläne und Verhandlungen berührte.

»Um Himmelswillen, halten Sie ein, Durchlaucht Gortschakoff, Sie verderben unserem Gra- fen Rechberg die Verdauung, und ich wette Zehn gegen Eins, er geht bereits mit verderblichen Rachegedanken gegen unser armes Preußen schwanger. Bedenken Sie, die ungarische Frage, das Concordat, das Anerbieten von 140 Millionen für Venetien, das Königreich Italien und die neue Reichsverfassung, ich weiß nicht, die wievielste seit zwölf Jahren, machen ihm ohnehin schon genug zu schaffen.« 

»Bah - warum nehmen Sie das Geld nicht und retten sich vor dem Staatsbankerutt?« sagte der Russe. »Gegenüber dem von Sr. Majestät dem Kaiser der Franzosen proklamirten Natio- nalitätenschwindel werden Sie über kurz oder lang doch Venetien verlieren.« 

»Es ist ebenso möglich, daß wir unser rechtmäßiges Eigenthum, die Lombardei, wieder bekommen,« meinte ärgerlich der Baron. »Es ist halter noch nicht aller Tage Abend, und was das französische Bündniß betrifft, so könnt ich Ihnen vielleicht ganz andere Dinge erzählen, und die Herren Preußen brauchen sich nicht so sicher zu fühlen. Oesterreich hat halt a zähes Leben und mehr Freund’ in Deutschland, als Berlin.« 

»Zum Henker,« meinte der Hofrath, »wir gerathen da von der auswärtigen Politik auf die innere und das ist eine kitzliche Frage. Ein jeder von uns hat seine schwachen Seiten und deshalb hätten wir hübsch zusammen bleiben [119]

sollen, um sie zu verdecken. Aber sehen Sie, warum laufen die Leute alle nach jener Allee? es muß etwas passirt sein!« 

»Irgend ein Betrunkener - wir wollen Wassili fragen,« sagte der Russe gleichgültig und schellte.

Der Diener erschien sofort.

»Erkundige Dich, Wassilowitsch, was da drüben in der Allee passirt, daß das Volk dahin läuft!« 


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Der gehorsame Diener legte die Hand auf die Brust und zwinkerte vertraulich mit den Augen.

»Es ist Nichts, Väterchen, Du brauchst Dich nicht zu beunruhigen. Ich habe es schon ge- hört!« 

»Nun?« 

»Oh - man hat nur einen Polizeimann im Gebüsch erstochen gefunden. Sie haben dem Burschen die Zunge abgeschnitten.« 

Der Titularrath biß sich auf die Lippen, denn er wußte sehr wohl, daß der Preuße vollkom- men fertig Russisch sprach und die gemüthliche Meldung daher verstanden haben mußte. In der That hatte dieser sich alsbald erhoben und der Wiener war auf einen Wink seinem Beispiel gefolgt.

»Es ist Zeit, daß wir gehen, Durchlaucht,« sagte mit einem schwachen Versuch, den bishe- rigen Scherz beizubehalten, der Berliner. »In der That - obschon wir im October sind - ist die warschauer Luft etwas schwül und vulkanisch. Ich ziehe die berliner Temperatur vor. Haben Sie Dank für die treffliche Bewirthung - und Sie, Baron, man hat Ihnen doch an der Gränze Ihren Revolver nicht confiscirt?« 

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»Gott bewahre - die Herren Steuerbeamten werden doch einen kaiserlichen Extrazug re- spektiren!« 

»Wer weiß! - Aber lassen Sie uns gehen, ehe die Lampen verlöschen. Es ist Mitternacht und ich liebe die Dunkelheit nicht, nicht einmal in Lazienki!« 

3. Hohe Politik.

Ein hübsches, zierlich ausgestattetes, ziemlich geräumiges Kabinet im Belvedere war durch das Feuer im Marmor-Kamin erwärmt.

Mit dem Rücken gegen eine der Karyatiden desselben stand ein Mann im Uniformsüber- rock. Er konnte im Anfang der Vierziger stehen und war von hoher Gestalt, deren Majestät durch den ernsten, gebietenden Ausdruck des Gesichtes mit den klaren, großen Augen noch erhöht wurde.

An seine Füße preßte sich in schmeichelnder Bewegung ein großer Hund, dessen Kopf von Zeit zu Zeit die Hand des hohen Herrn freundlich berührte.

An einem mit Papieren und Portefeuilles bedeckten Arbeitstisch in der Mitte saß ein Herr von mittlerer Größe, zierlichem Wuchs und feinem Gesichtsschnitt, beschäftigt, Notizen zu machen, oder aus den vor ihm liegenden Papieren dem Herrn am Kamin Vortrag zu halten. Er trug [ 121 ]

eine reich mit Gold bedeckte Gala-Uniform und auf dieser die Großkordons des Alexander Newsky-, des Franz Joseph- und des Schwarzen Adler-Ordens.

In steifer militairischer Haltung stand an der Thür ein Offizier in der bestaubten und offen- bar von einer langen Reise mitgenommenen Uniform des russischen Feldjäger-Corps.

»Wann hast Du Fort Pischpek 1 verlassen? frug der hohe Herr am Kamin den Offizier.

»Am 17. September!« 

1 Eine Gränzveste der Khokanzen.


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»Die Nachrichten von der kirgisischen Grenze brauchen also noch immer vier Wochen, Fürst, ehe sie zu uns gelangen, denn am löten erhielten wir das erste Telegramm des Kriegs- ministers in Grodno. Das muß anders werden, der Bau der Telegraphenlinien nach dem Kau- kasus muß beschleunigt werden, Fürst. Wiederhole mir das Resultat, Lieutenant!« 

»Ergebung auf Gnade und Ungnade nach fünftägiger Belagerung; 62 7 Gefangene, 3 Fah- nen, 5 kupferne und 11 kleine Geschütze von Kanonenmetall.« 

»Was trägst Du da in der Hand?« 

»Das Beil Atabek-Datchi’s.« Er legte es zu den Füßen des Herrn.

»Und der khokanzische Dieb? was ist aus ihm geworden?« 

»Ich spaltete ihm das Haupt, Väterchen, als ich ihm das Beil abnahm auf seiner Flucht.« 

[ 122 ]

»Steh auf, Kapitain, ich bin mit Dir zufrieden! - Lege die Waffe dorthin und geh!« 

Der Offizier salutirte und verließ das Zimmer. »Notire ihn,« sagte der Herr. »Hat der Tele- graph noch keine Nachricht von meiner Mutter gebracht?« 

»Nein, Sire.« 

»So fahre fort in Deinem Vortrag. Doch sorge, daß wir morgen nach Skierniwice alle Stun- den einen Courier mit den Depeschen erhalten. - Zunächst die Berichte aus Paris.« 

»Das Handschreiben Euerer Majestät, das der Moniteur im Auszug veröffentlicht, hat große Sensation gemacht. Man glaubt ein Bündniß zwischen Frankreich und Rußland damit ge- wiß.« 

»Und was glaubst Du, Fürst Alexandrowitsch?« 

»Ich meine, Sire,« sagte der Minister mit feinem Lächeln, »daß die vier Pferde von der Orloff-Race, welche Schuwaloff mit Euer Majestät Handschreiben nach Paris gebracht hat, ganz vorzügliche Thiere waren.« 

Es folgte eine kurze Pause, der hohe Herr am Kamin klopfte den Hund auf den Kopf.

»Wie lauten die Nachrichten über die Truppen-Zusammenziehungen?« 

»Trotz aller Ableugnungen der offiziellen Blätter finden bedeutende Concentrirungen um Lyon statt, und es sind in Toulon neuerdings 7000 Mann für Rom und Civitavecchia einge- schifft worden.« 

»Also man glaubt an den Krieg?« 

»Man erwartet die Kriegserklärung Oesterreich’s an [123]

Italien als eine Folge der warschauer Conferenz. Frankreich ist mit Herrn Moustier sehr gut bedient in Wien, Sire. Ich zweifle keinen Augenblick, daß man in den Tuilerien das Programm kennt, das Graf Rechberg heute Morgen vorlegte, oder vielmehr vorlegen wollte, da Euer Majestät nicht geruht haben, ihn anzunehmen.« 

»Hast Du so rasch Sebastopol vergessen, Fürst Alexandrowitsch? - Wiederhole die spezielle Formulirung des Programm’s.« 

»Neutralität für den Fall eines neuen Kampfes zwischen Oesterreich und Sardinien; Neutra- lität von allen Seiten; Anerkennung des Prinzips der Nichtintervention auch für Oesterreich.« 

»Dazu kann sich der gegenwärtige Kaiser der Franzosen unmöglich verstehen - die Würfel sind geworfen, und er kann Sardinien noch nicht im Stich lassen.« 


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Der Minister hatte aus einem Portefeuille ein zusammengefaltetes Blatt Papier genommen und sich erhoben. Er trat mit tiefer Ehrerbietung einen Schritt vor.

»Euer Majestät werden Sich erinnern, daß der Kaiser Napoleon im Mai dieses Jahres durch uns dem Prinzregenten von Preußen den Vorschlag machte, er möge das linke Rheinufer an Frankreich abtreten und sich dafür nach Belieben in Deutschland entschädigen, und daß die Antwort lautete: Nicht einen Fußbreit deutscher Erde.« 

»Es war eine Königliche Antwort! - Weiter - Du hast Etwas im Hinterhalt, Fürst!« 

»Hier ist eine genaue Notiz aus dem wiener geheimen Archiv über die zweite Unterredung des Kaiser Franz

[124]

Joseph mit dem Kaiser Napoleon in Villa-Franca. Der Deputirte Kienlake hatte am 12. Juli im englischen Parlamente behauptet, daß der Kaiser Napoleon darin dem Kaiser von Oesterreich die Rückerstattung der Lombardei angeboten unter der Bedingung, daß sich Oesterreich bei seinen am Rhein zu unternehmenden Operationen ruhig verhalte. Die Nachricht war wichtig genug, um ihr auf den Grund zu gehen. Diese Abschrift kostet mich 2000 Gulden.« 

»Und ihr Inhalt?« 

»Er bestätigt die Angabe Kienlake’s. Kaiser Franz Joseph ist ein deutscher Fürst<, indeß —

— « 

»Sprich!« 

»Indeß die neuen Patente vom 20sten sprechen nicht sehr für diese Tendenz und ich habe hier die Beweise in Händen, daß sich im Stillen eine Coalition gegen Preußen vorbereitet, welche der vom Jahre 1765 nicht viel nachgiebt.« 

»Rede deutlicher, Fürst!« 

»Gerade heraus, man fürchtet den jetzigen Regenten. Das baldige Hinscheiden des unglück- lichen Königs Friedrich Wilhelm IV ist sicher. Der Regent ist nicht bloß ein geborener Soldat, er bekundet jetzt auch Eigenschaften, die Preußen eine bedeutende Rolle versprechen, sobald er sich erst aus den Fesseln frei gemacht, die ihn gegenwärtig binden, und die rechten Leute gefunden hat. Die neue Heeresorganisation ist eine That, und er setzt sie durch. Man erkennt in Wien, daß der Einfluß der weiblichen Diplomatie ein Ende hat und fürchtet das. Ich glaube selbst, daß der Regent sich mit dem Bewußtsein einer großen,

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deutschen Aufgabe trägt. Zu dem Ende will man bei Zeiten die Entwickelung Preußens be- schneiden.« 

»Und wie?« 

»Durch die Stärkung des Partikularismus, der allein den fremden Mächten, auch uns, bis- her den großen Einfluß auf Deutschland gab. Man wird jede Gelegenheit suchen, Preußen zu isoliren und Sachsen und Hannover zu stärken. An den Welfen hat Preußen einen star- ren Feind. Holstein läßt sich schwerlich für Dänemark erhalten, man wird dort ein neues, besonderes Fürstenthum errichten, das Preußen an einer maritimen Entwickelung hindert. Zunächst wird Oesterreich den jetzigen Dualismus - so beschränkt er ist - beseitigen und seine Kaiserstellung in Deutschland wiederfordern; das wird zu einem offenen Bruch führen, aus dem wahrscheinlich ein interner Krieg hervorgeht. Hierauf zielt der Antrag Oesterreichs auf unbedingte Nichtintervention. Rußland und Frankreich sollen sich die Hände binden, natürlich nicht ohne Entschädigung. Das Wort in Villa-Franca ist ein kaiserliches Wort, aber


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nur ein persönliches. Das wiener Kabinet denkt und handelt anders und die österreichische Politik hat nie angestanden, wenn es nöthig oder vortheilhaft schien, eine Provinz zu opfern, was bei der künstlichen Zusammensetzung dieses Staates nicht so schwer wiegt, als bei je- dem anderen. Frankreich wird also das linke Rheinufer nehmen und wir werden Posen oder Preußen erhalten.« 

Der hohe Herr am Kamin kreuzte die Arme übereinander und blickte lange vor sich hin. [ 126 ]

»Und was denkst und räthst Du, Fürst Alexandro witsch?« 

Der Staatsmann an dem Tisch stützte die Hand mit dem Papier auf diesen und schien einen Augenblick die beste Form zu überlegen.

»Sire - die nächste Zukunft beruht in drei großen Strömungen oder Kämpfen. Die erste ist der Kampf der Revolution gegen die Throne, ich möchte ihn den republikanischen nen- nen; die zweite das Ringen der Nationalitäten nach Absonderung und Selbstständigkeit, - es droht eine unendliche Zersplitterung; die dritte, eine sociale Reform, der Kampf der Arbeit gegen das Kapital, oder vielmehr der Nichtbesitzenden gegen die Reichen. In welchem dieser Kämpfe wollen Euer Majestät Partei nehmen?« 

»Ich denke, das ist fraglos. Zunächst in dem Kampfe gegen die Revolution. Das beweist auch unsere Erklärung in der italienischen Frage.« 

»Dann, Sire, muß Rußland eine starke und feste Entwickelung Preußens begünstigen. In dem Kampf gegen die Revolution, gegen die republikanischen Tendenzen, deren Kläglichkeit in Amerika und der Schweiz genug zu Tage hegt, wird weder Oesterreich noch Frankreich ein fester und sicherer Bundesgenosse in der Zukunft sein. Frankreich ist der Heerd der Revolu- tion, Oesterreich ihr durch die Zugeständnisse an Ungarn verfallen. Die natürlichen Bundes- genossen Rußlands sind Preußen und Nord-Amerika, das eine für unsere innere, das andere für unsere äußere Entwickelung.« 

[ 127 ]

»Mit der Vergrößerung Preußens opfern wir unsere maritime Herrschaft in der Ostsee.« 

»Sie ist nur von halber Bedeutung für uns. Rußlands Macht und Zukunft liegt am Schwar- zen Meer und deshalb muß der pariser Traktat bei erster Gelegenheit beseitigt werden. Also jetzt keinen Krieg mit Frankreich. An der Idee, auch über das mittlere und westliche Europa gebieten zu wollen, scheiterte Ihr großer Vater, Majestät, für den nöthigen Einfluß sorgen die Familienverbindungen. Das Testament Peters des Großen hat seine tiefe Bedeutung, von der man sich nie ungestraft entfernt.« 

Der hohe Herr dachte wieder einige Augenblicke nach. »So ist mit einem Wort Deine Mei- nung, Fürst?« 

»Die Politik der freien Hand. Keine Verpflichtung an Oesterreich - oder an sonst Jemand. Das giebt Rußland Zeit, seine innere Entwickelung zu betreiben und das große Werk Eurer Majestät, die Aufhebung der Leibeigenschaft in seinen Folgen abzuwarten. Rußland muß sich concentriren, um im Augenblick, wo es gilt, bereit zu sein. Dazu aber — « 

Der Staatsmann zögerte.

»Sprich!« 

»Dazu muß es auch ein ganzes Rußland sein!« 

»Ich verstehe Dich - es ist das ewige Andrängen, das mir schon so manche bittere Stunde gemacht!« 


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»Rußland muß russisch sein, nicht zum Dritttheil deutsch oder polnisch. Eine Kirche, ei- ne Sprache, eine Regierungsform, wie einen Herrn. Die deutschen Interessen und Rechte in Rußland müssen fallen, wenn wir die [ 128 ]

deutschen Rechte in Deutschland anerkennen sollen. Es mag Euerer Majestät schmerzlich sein, sich von alten Neigungen loszusagen, aber - es muß sein, wenn Sie Rußland wahrhaft groß machen wollen.« 

»Ich stamme aus deutschem Blut, meine Mutter . . . « 

»Euer Majestät sind ein Romanoff, ein geborner Sohn Rußlands. Ihro Majestät, die Kaiserin Mutter -« 

Ein leises Geräusch an der Thür unterbrach seine Worte.

Der hohe Herr berührte eine Glocke, das Zeichen der Erlaubniß zum Eintritt; der Fürst war zur Thür getreten.

In der halbgeöffneten erschien der diensthabende Flügel-Adjutant, ein blaues Couvert in der Hand.

»Ah - gewiß Nachrichten von Petersburg! gieb - schnell!« 

Der hohe Herr nahm die Depesche aus der Hand des Fürsten, riß selbst das Couvert auf und las das Telegramm.

Er warf es ungeduldig auf den Tisch.

»Noch keine Besserung - die Ausdrücke sind wieder so unbestimmt. Die Kaiserin bezieht sich auf Briefe, die unterwegs sind,« sagte er ungeduldig. - »Lassen Sie uns fortfahren. Noch eine Meldung?« 

»Der Oberpolizeimeister Anitschkoff bittet um Audienz.« 

»Eben recht. Er soll warten!« 

Der Adjutant trat ab.

»Wir sprachen von der Coalition gegen Preußen: Theilen Sie mir Näheres mit, Fürst!« 

»Euer Majestät erinnern sich, daß der König von Hannover auf der Rückreise von Baden- Baden nach der [ 129 ]

Zusammenkunft mit dem Kaiser Louis Napoleon einen Besuch bei dem Kurfürsten von Hessen abstattete. Die Opposition des Bundes in der hessischen Verfassungsfrage gegen die preußi- schen Forderungen und die Vorschläge der Würzburger Militair-Commission sind die ersten Schachzüge der Kleinstaaten, die Oesterreich im Stillen vorbereitet hat. Die Ernennung des Fürsten Metternich, eines notorischen Feindes Preußens, zum Gesandten in Paris ist ein wei- teres Zeichen.« 

Ein leichtes Lächeln flog über das ernste Gesicht des Herrn. »Du vergißt, Alexandrowitsch, daß der gegenwärtige Vertreter Preußens in Petersburg eben auch kein großer Freund Oe- sterreichs ist. Das gliche sich also aus.« 

»Der eifrigste Gegner Preußens sitzt im Herzen Deutschlands. Der Minister von Beust in Dresden. Die Berichte des Herrn von Seebach in dieser Beziehung sind zuverlässig. Herr von Beust ist die Seele der Coalition.« 

Die Stirn des hohen Herrn faltete sich streng zusammen. »Paniutin behauptet, daß die polnische Propaganda in Dresden einen ihrer Heerde etablirt habe.« 


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»Unsere Nachrichten aus Paris deuten darauf hin. Näheres ist noch nicht bekannt. Ich darf Euer Majestät nicht verschweigen, daß in Petersburg selbst und namentlich in Moskau vielfa- che Zeichen geheimer Umtriebe bemerkt worden, die mit der polnischen Agitation in Verbin- dung zu stehen scheinen. Wir müssen über kurz oder lang auf einen Aufstand in Polen und Litthauen gefaßt sein.« 

»Nun, bei Gott! Sie sollen mich bereit finden. - Ich will noch einen Versuch machen mit Wielopolski, -

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aber, schlägt dieser fehl, so ist die Zeit der Nachsicht zu Ende! Um es kurz zu machen, Fürst Alexandrowitsch, denn ich will noch Anitschkoff sprechen und fühle mich angegriffen - wel- che Antwort wirst Du dem Grafen Rechberg ertheilen?« 

»Mit Euer Majestät Erlaubniß eine ausweichende. Die Abberufung unseres Gesandten aus Turin bekundet, wie Euer Majestät vom Standpunkt des Völkerrechtes und der Legitimität aus über die Ereignisse in Italien denken. Eine weitere Einmischung liegt nicht in unserem Interesse. In Betreff einer Kriegserklärung Oesterreichs an Italien, wozu die Truppenmassen am Po bei Ostiglia und Borgeforte bereit stehen und General Benedek gestern von Pesth abgereist ist, behalten wir uns freie Hand.« 

»Wohl, es sei! Und Preußen?« 

»Ein Wink über die Coalition wird genügen, damit es dieselbe Antwort giebt.« 

»Aber erst nach der Rückkehr von Skierniwice. Gute Nacht denn, Alexandrowitsch. Mögest Du mit weniger Sorgen schlafen, als ich!« 

Er reichte ihm die Hand, auf welche der Fürst sich ehrerbietig niederbeugte. Dann verließ dieser das Zimmer.

Der hohe Herr blieb noch einige Augenblicke in tiefem Sinnen stehen. Dann setzte er sich an den Platz, den der Minister verlassen, öffnete ein verschlossenes Fach des Tisches und zog einige Papiere heraus, die er überflog.

Ein Zug tiefen Unwillens und tiefen Grams überflog das edle majestätische Gesicht, als er das eine der Papiere zur Seite legte.

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»Guter Gott,« murmelte er tiefbewegt - »wie soll das enden! - Die ganze Nacht auch hier - siebzehn Jahre! er hält es nicht aus! ich muß die Umgebung nochmals ändern - oder - sollte wirklich nicht der Leichtsinn der Jugend, sondern ein geheimer Plan zu Grunde liegen, gegen den selbst meine Sorge und Macht vergeblich ankämpft!? - Es wäre teuflisch! - Und dennoch - das Beispiel des unglücklichen Herzogs von Reichsstadt . . . und Alexander ist schon jetzt ein ausgesprochener Anhänger der altrussischen Partei . . . « 

Er drückte die Feder der Glocke.

Der Adjutant vom Dienst erschien augenblicklich in der Thür.

»Der Ober- Polizeimeister!« 

Der Offizier winkte rückwärts; der Generalmajor Anitschkoff trat ein.

Die Thür schloß sich hinter ihm wieder; der hohe Beamte verbeugte sich fast bis zur Erde vor seinem Herrn, der ihn mit strengem Blick betrachtete.

»Ich bin mit Dir unzufrieden, Paul Anitschkoff. - Ich befahl Dir, die Uebelthäter zu ermit- teln, welche am Montag den Unfug in dem Theater verübt haben, - und habe vergeblich Deinen Rapport erwartet. Bringst Du die Namen?« 


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»Sire - es war unmöglich bisher,« stammelte der Bestürzte. »Die ganze Polizei Warschau’s ist seit drei Tagen auf den Beinen, danach zu forschen, und dennoch wurde das Geheimniß streng bewahrt.« 

»Ich werde Dir einen Nachfolger geben müssen, Paul

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Anitschkoff,« sagte der Herr. »Ich habe viele und betrübende Dinge aus Warschau gehört und doch möchte ich gern dieser Stadt und ganz Polen ein gnädiger und gerechter Herr sein.« 

»Es ist die Verführung von Außen, Herr, welche die Gemüther fortwährend aufreizt. Ich habe neue Beweise.« 

»Ich glaube es, - denn mein Wille ist, dem Lande Gutes zu thun; - aber sie müssen sich fü- gen in die Verhältnisse. Ich habe Eisenbahnen und Straßen gebaut und die Industrie gestärkt. Die Leibeigenschaft ist in Polen früher aufgehoben, als in meinem ganzen andern Reich. Ich bin selbst bis auf Aeußerste nachsichtig gewesen gegen ihren Clerus, aber man lohnt es mir schlecht. Nach Allem, was ich in den wenigen Tagen meines Aufenthalts selbst hier beobach- tet, muß ich fürchten, daß Ihr mir Vieles verbergt über den wahren Zustand des Landes und daß auch manches Ungehörige vorgekommen ist. Andernfalls wäre mir dieser Haß unerklär- lich, da wir im Grunde doch von einem Stamme sind, und zum Beispiel in der polnischen Provinz meines Oheims die Regierung nicht unbeliebt, der Monarch sogar durchgängig ge- liebt ist, wenn es auch dort Schwärmer genug giebt, die für eine Wiederherstellung Polens agitiren. Dennoch habe ich mich entschlossen, noch einen Versuch des Entgegenkommens zu machen, der meine Bereitwilligkeit zeigen soll, der polnischen Nationalität ihr Leben zu bewahren. Ich hoffe, daß der Mann, den ich dazu ausgesucht, und der das Vertrauen des polnischen Adels und Volkes zu genießen scheint, seine Aufgabe zu

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lösen im Stande ist. Auch Gortschakoff räth dazu. Ehe ich mich entschließe, muß ich aber volle Wahrheit über die Stimmung und die Vorgänge im Lande haben und die verlange ich von Dir und Paniutin. Wie denkst Du über den Marquis Wielopolski?« 

Der Ober-Polizeimeister war kein besonderer Freund des Markgrafen und der national- liberalen Richtung - wenn man diesen Ausdruck hier anwenden darf - die er vertrat.

»Majestät,« sagte er - »der Marquis ist ein vortrefflicher Mann und ein Ehrenmann. Er hebt das Land seiner Väter, aber ich glaube auch, daß er Euer Majestät aufrichtig ergeben ist. Nur . . . « 

»Sprich!« 

»Nur glaube ich ihn nicht energisch genug, um die Umsturzpartei im Zaum zu halten. Mit dem besten Willen könnte er Viel verderben, was mit Blut und Eisen nach ihm wieder aufgebaut werden müßte.« 

Die Worte schienen den hohen Herrn betroffen zu machen. »Ich will die Sache nochmals überlegen,« sagte er nach einer Pause, »obschon Vieles für den Versuch und die Person spricht. Jedenfalls ist er ein unbedingter Gegner der Fanatiker und des ehrgeizigen Thoren Miroslaw- ski. Doch Du bist nicht ohne Ursach heute noch gekommen, Generalmajor. Hast Du eine Meldung?« 

»Ja, Majestät. Die Polizei hat diesen Abend einen sehr wichtigen Fang gemacht.« 

»So rapportire.« 


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»Der Polizei-Kommissar Drosdowicz, einer meiner thätigsten und aufmerksamsten Beam- ten, begegnete diesen

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Abend verkleidet am Bernhardiner Kloster zwei Personen, die ihm verdächtig wurden. Er ließ sie beobachten, während er selbst die Spur der Verbreiter jener aufrührerischen und schändli- chen Flugblätter verfolgte, mit denen seit vier Tagen Warschau im Geheimen überschwemmt wird, und die zu Demonstrationen bei Gelegenheit der Anwesenheit Eurer Majestät und der fremden Monarchen auffordern. Es wurde dabei ermittelt, daß die kleinen Straßenhausirer die Schandblätter verbreiten, ohne daß es jedoch gelungen ist, einen der Verbrecher auf der That zu ergreifen.« 

Der hohe Eierr zuckte ungeduldig die Achseln.

»Der Agent des Drosdowicz verfolgte die Spur der Fremden bis in eine Konditorei in der Spital- Straße. Drosdowicz hielt eine Eiaussuchung, bei der sich die Beweise fanden, daß in der Wohnung eines Studenten der Medizin Adam Prot Asnik eine Versammlung von Ver- dächtigen - wahrscheinlich sämtlich Mitglieder einer geheimen revolutionairen Verbindung - stattgehabt hatte. Die noch unbekannten Personen waren jedoch entkommen und nur der Inhaber der Wohnung konnte verhaftet werden nebst einem Frauenzimmer, das als Mamsell in der Konditorei fungirte, aber offenbar unter falschem Namen, und das die Entflohenen gewarnt hat.« 

»Hat man Papiere gefunden?« 

»Der Student Prot Asnik hatte Zeit, die meisten zu entfernen. Aber man hat eine Anzahl der Flugblätter faisirt.« 

»Und wegen dieser Lappalie störst Du mich?« 

»Einer der Entflohenen, wahrscheinlich derselbe, den

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Drosdowicz in den Straßen verfolgte, hat nicht mehr die Zeit gehabt, die Reisetasche, die er mitgebracht, mit sich fort zu nehmen. Der Inhalt dieser Tasche ist von Wichtigkeit. Er ergiebt zwar Nichts über den Namen des Besitzers, aber die unzweifelhaften Beweise, daß er ein Abgesandter des revolutionairen polnischen Central-Comite’s in Paris ist und mit den hiesigen Fanatikern unterhandeln soll. In der Tasche befinden sich außerdem fünftausend Rubel in Imperials. Das Wichtigste jedoch ist -« 

Der Ober-Polizeimeister zog ein Folioheft von etwa zehn- bis zwölf Bogen aus seinem Por- tefeuille.

»Nun?« 

»Es ist das so lange von unseren Agenten im Ausland vergeblich erstrebte geheime Verzeich- niß der Mitglieder des polnischen Central-Comite’s in Paris und aller derjenigen Emigranten in Amerika, Belgien, Dänemark, Frankreich, der Schweiz, Baiern, England, der Türkei, Ru- mänien, Italien und Schweden, welche das revolutionaire Central-Comite in Paris als leitende Behörde durch Eid und Schrift anerkannt haben und somit an der Verschwörung gegen die rechtmäßige Regierung betheiligt sind!« 

»Wahrhaftig! Das wird Kisseleff in Paris viel Geld sparen!« sagte lächelnd der hohe Herr.

»Leider beschränkt sich die gefundene Liste mit wenigen Ausnahmen auf die bezeichneten Personen. Die Abtheilung III., die Mitglieder der Propaganda in Preußen, Rußland, Oester- reich, die offenbar zu dem Heft gehörte, war nicht dabei.« 


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Der hohe Herr nickte, wie erleichtert von einem Druck.

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»Gott und den Heiligen sei Dank!« sagte er. »Das erspart uns viele Verhaftungen. Die irre geleiteten Menschen werden zu besserer Einsicht kommen!« 

Der Ober-Polizeimeister wagte keinen Widerspruch, obschon dieser ziemlich deutlich auf seinem Gesicht zu lesen stand.

»Befehlen Euer Majestät die Liste zu sehen?« 

»Nein - beschränke Dich darauf, mir Zahlen anzugeben und auf die Namen des Central- Comite’s.« 

»Dasselbe besteht aus 43 Personen, die von sämtlichen Mitgliedern der Propaganda ge- wählt sind. Die Namen sind: Valerian Wröblewski, gewählt mit 1011 Stimmen, Kasimierz Zulinski, gewählt mit 962 Stimmen, also anscheinend Diejenigen, auf welche man das mei- ste Vertrauen setzt. Ferner Alexander Biernawski, Stanislaw Jarmund, Boleslaw Swietorzecki, Victor Heltman, Vincenz Mazurkiewicz, Edmund Korabkwicz, Jan Dzialynski, Siegmund Mit- kowski, Edmund Rözycki, Karl Ruprecht, Eduard Siwinski, Sylvester Staniewicz, Anton Skol- nicki, Joseph Janowski, Anton Zabicki, Titus Zienkowicz, Valerian Tomczynski, Ludwig Wo- lowski, Alexander Guttry, Joseph Janowski, Edmund Chojecki, Vincenz Kaminski, Franz Do- browolski, Hieronimus Ruszczewski, Nepomuk Janowski, Alexandrowicz, Agathon Giller, Mi- kotai Akielewicz, Leonard Chodzko, Severin Elzanowski, Ludwig Mieroslawski . . . « 

»Wieviel Stimmen dieser?« 

»Nur einundzwanzig!« 

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Der hohe Herr lächelte. »Das gewöhnliche Schicksal der Volkstribunen! - Fahre fort!« 

»Heidenreich Kruk, Alex Krukowiecki, Heinrich Bogucki, Bohdan Zaleski, Adolph Pienkow- ski, Zbyszewski (Seemann), Jankowski, Anton Jezioranski, Wladimir Mickiewicz, Alexander Morawski, - der Letzte mit nur zehn Stimmen.« 

»Die Zahlen!« 

»Die Zahl der Verschworenen beträgt 1475. Davon halten sich gegenwärtig in Amerika 4, in Belgien 25, in Dänemark 1, in Frankreich 934 - davon allein in Paris 469, - in der Schweiz 108, in Baiern, namentlich München 91, in England 89, in der Türkei 90, in Rumänien 49, in Italien 74, in Schweden 10 auf.« 

»Es ist gut, Paul Anitschkoff,« sagte mit tiefer Stimme der Herr. »Du hast Deine Pflicht gethan, zu sprechen - ich die meine, zu hören. Aber mein Recht ist, zu vergessen! Der Fang, den Du gethan, wird sie vorsichtig machen und die Verführer hoffentlich aus Warschau ver- scheuchen! - Die fünftausend Rubel sollen den Armen von Warschau gegeben werden, damit sie für die Genesung meiner Mutter beten. - Geh mit Gott, Paulowitsch, ich bin Dein gnädiger Kaiser!« 

Der Ober-Polizeimeister entfernte sich.

Der Gebieter über 75 Millionen Menschen und Viermalhunderttausend Quadratmeilen war allein. Er stützte die Hand auf den Tisch und schaute vor sich hin.

Der Hund rieb sich an seinem Fuß und blickte zu ihm auf.

[138]

Der Mächtige, Gewaltige legte die Hand auf den Kopf des Thieres.

»Ja, Du bist dankbar und treu und gehorsam! Warum sind nicht die Menschen, wie Du!« 


— 63 —


Es klopfte an der Thür, dann wurde sie geöffnet, ohne das Zeichen der Erlaubniß abzuwar- ten.

Auf der Schwelle stand der Ober-Polizeimeister, sehr blaß, er hielt in seiner Hand einen Gegenstand, ein kleines Päckchen, über das er sein Taschentuch gedeckt hatte. Der Adjutant vom Dienst stand hinter ihm, sichtlich eben so erregt.

»Was soll das? warum trittst Du ungerufen ein?« 

»Sire - ein Unglück!« 

»Was ist geschehen? was bedeutet das?« 

Der Ober-Polizeimeister antwortete nicht - er überreichte schweigend seinem Gebieter ein halbzerknittertes Papier.

»Was soll das?« - Der Herr trat zu der Astrallampe und las den mit Bleistift geschriebenen Zettel.

»Revange für den Ueberfall in der Spitalstraße. Sie verräth keinen Polen mehr!

Die schwarzen Rächer.« 

Das drohende majestätische Auge frug den Beamten.

»Ein feiger Mord, Sire! ein Polizeibeamter, ein geborener Pole, ist an einer abgelegenen Stelle des Parks erdolcht und es ist ihm die Zunge abgeschnitten worden. Der Mörder hat die Frechheit gehabt, den schändlichen Beweis seiner That an dem Eingang des Belvedere in diesem Packet an meine Adresse abzugeben.« 

Die dunkle Röthe gerechten Zornes überflog das Gesicht

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des Herrschers, das große majestätische Auge flammte in strengem Befehl.

»Oberst Baratinski!« 

»Sire!« 

»Lassen Sie die Wachen an allen Eingängen des Parks verdoppeln - Niemand . . . « 

Mit schweren klirrenden Schritten kam es durch das äußere Vorzimmer, wo Offiziere und Diener eilig Platz machten - unter der Thür des Salons erschien ein Mann im Militairmantel, auf dem braunen Gesicht die Zeichen schwerer Erschöpfung, das Haupt mit der Feldmütze bedeckt.

»Wo ist der Adjutant vom Dienst?« frug der Ankommende heiser, »ich muß unverzüglich Seine Majestät sprechen.« 

»Hier bin ich selbst - Bei der Mutter Gottes von Kasan - das ist Galitzin! Du kommst von Petersburg? - Du bringst Depeschen von der Kaiserin - meine Mutter -« 

»Sire,« sagte der Fürst - »ich wünschte, ich könnte Euer Majestät bessere Nachrichten brin- gen! Dieser Brief berichtet ausführlich.« 

Der Kaiser riß ihn dem Ueberbringer aus der Hand und eilte in sein Kabinet, dessen Thür er hinter sich schloß.

»Welche Nachrichten bringen Sie, Fürst?« frug besorgt der Flügel-Adjutant.

»Es steht hoffnungslos mit der Kaiserin - die Aerzte haben sie aufgegeben!« 

»So bald also folgt sie ihm! - es wird den Herrn furchtbar angreifen, er liebt sie sehr.« -

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Eine tiefe und lange Pause, während deren man nur das Flüstern der Anwesenden hörte, wurde durch den Eintritt des Fürsten Gortschakoff und anderer Würdenträger unterbrochen, die auf die rasch sich verbreitende Nachricht herbeieilten.


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Niemand jedoch wagte, sich der Thür des Kabinets zu nahen.

Erst nach einer halben Stunde erklang das Glockenzeichen, das den Adjutanten rief.

Während die Thür geöffnet wurde, sah man den Herrscher, der über so viele Millionen Leben gebot und doch nicht die Macht hatte, gegen den Willen der Vorsehung ein einziges zu erhalten, mit gebeugtem Haupt vor dem Tisch sitzen.

Nach fünf Minuten kam der Oberst zurück und wandte sich zu dem Fürsten.

»Die Jagden in Skierniwice werden abbestellt. Wir reisen morgen Mittag nach Petersburg zurück. Der Kaiser will Sie sprechen, Fürst! Ich muß sogleich zum Regenten.« 

Der Minister folgte eilig dem Befehl.

Auf dem Judenkirchhof in Prag.

Es ist ein merkwürdiges Gewirr von krummen, winkligen und engen Gassen, das in der Nähe des alten Prager Ringes, der so manche blutige und wichtige Episode der böhmischen und deutschen Geschichte gesehen hat, die sogenannte Judenstadt von Prag bildet.

In diese schmuzigen engen Gassen, die meist keinen Namen führen und deren Labyrinth nur den Bewohnern selbst genau bekannt ist, münden nicht Thüren und Hausfluren, sondern finstere Höhlen, die niemals das Tageslicht erhellt - schwarze Schlünde, die ein Geschlecht von schachernden, feilschenden, zeternden Männern, Frauen und Kindern ausspeien, das in den verkommenen schmuzigen Räumen lebt, zusammenscharrt und stirbt, und während des Tages mit dem seltsamsten Kram die engen Gassen füllt, wenn es nicht in der Stadt der Christen umherstreift, um dort seinen Handel und Wucher zu treiben. Prag ist die einzige Stadt in Deutschland, wo das Judenthum in Sitten und Wohnung noch ganz abgeschlossen von der [142]

Nation lebt, deren Namen es als allgemeine Firma angenommen hat, um die Vortheile der staatlichen Gesellschaft zu genießen, oder vielmehr um diese staatliche Gesellschaft dem eigenen Vortheil dienstbar zu machen.

Was der Tändelmarkt in Wien, der Temple in Paris, das ist zugleich die Judenstadt in Prag. Unter diesem Bänder-, Lumpen-, Eisen- und Lederkram werden täglich Geschäfte von vielen Tausenden gemacht!

Wenn man eine Strecke durch diesen stinkenden, schmuzigen und unheimlichen Markt vorgedrungen ist, stößt man plötzlich auf eine alte hohe verwitterte Mauer, die einen Platz von etwa 1 bis 2 Morgen Größe umgiebt. Hollunderbüsche und andere wilde Strauchbäume ragen über diese Mauer, welche in ihrer ganzen Ausdehnung von den alten Häusern der Judenstadt umgeben ist, die jeden Augenblick in Gefahr scheinen, über ihr zusammen zu brechen. Der seltsame Mauerring hat von Außen ein unheimliches, verworrenes, zerwittertes Aussehen.

Es ist die Stätte der Todten - der berühmte Judenkirchhof von Prag!

Nicht die melancholische Ruhe unter den alten Ulmen und Tannen der christlichen Fried- höfe - nicht der milde Schatten, welcher über dem Cypressenwald türkischer Friedhöfe liegt und sie zum Versammlungsort der Müßigen zu machen pflegt, - nicht die bäum- und busch- lose Oede der neuern katholischen Kirchhöfe des Westens mit der Alles gleichmachenden und deshalb so herzverletzend auch gleichförmigen Rasendecke! ist der Charakter dieser Ruhe- stätte, - ein anderer Geist, der Geist des Volkes, dessen Gebeine


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hier nach der langen rastlosen Wanderung eine Stätte gefunden, seine ganze furchtbare Ge- schichte voll Leiden, Kämpfen, Widerstand und Unüberwindlichkeit ist in ihm ausgeprägt. Es ist, als würden sich jeden Augenblick diese zehnfach übereinander gehäuften, verworre- nen, mit Gestrüpp bedeckten Gräber aufthun, diese von einem Jahrtausend zerbröckelten Steine zerspringen, um den ruhelosen Wanderer, den Quersack auf dem Rücken, den Stab in der Hand, wieder hinaus zu senden unter die lebende Geschlechter, sie zu betrügen und zu knechten und das neue Kanaan zu suchen: - die Herrschaft!

Der Judenkirchhof in Prag ist der älteste, den man kennt; seit hundert Jahren hat das Gesetz des Staates ihn geschlossen, - für die Gegenwart, für die Fremden ist er eine der historischen Merkwürdigkeiten Prag’s - für die gläubigen Juden ein Heiligthum.

Ein Pförtner mit geschwätziger Zunge und rothen Augen, der an der Außenseite der Mauer wohnt, öffnet dem neugierigen Fremden die sonst stets verschlossene Pforte und führt ihn in diese Wüstenei des Todes, die den Eindruck der äußeren Umgebung noch erhöht. Nur ein schmaler Gang ist übrig zwischen den dichtgedrängten Reihen der Gräber und bemoosten Grabsteine, Dornengebüsch und Ginster liegt über allen - selbst das Gras, das dazwischen aufgesproßt, scheint verwelkt aus der Erde gekommen.

Während man vorwärts schreitet, erzählt der Wächter der Todten die Historie des Todes - von dem Rabbi Ben Manasse, dem großen Besieger des Todes, vom Rabbi Löw, dem gelehr- testen Rabbiner des 17. Jahrhunderts.

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- von Schimeon dem Gerechten und der polnischen Fürstin Anna Schmieles. Dann führt er den Wanderer zu dem Grabstein von Anna Kohn und zeigt ihm die geheimnißvolle Zahl 606, die beweisen soll, daß Israel seine Todten hier schon seit zwölfhundert Jahren begrub, in der sagenhaften Zeit der Libussa und ihrer Mägde auf dem Wisherad, lange vorher, ehe das Kreuz auch hierher die vom Zorn Jehova’s in alle Winde Zerstreueten verfolgte.

Ohne jener Jahreszahl Glauben zu schenken, darf man doch der Meinung der ganzen Ju- denschaft zustimmen, daß hier eine der ältesten - die Juden sagen: die älteste - israelitischen Niederlassungen und Gemeinden in Europa bestand. -

Schweigend aber geht der jüdische Führer mit dem neugierigen Fremden an einer Stelle vorüber, wo unter einem uralten Fliederbaum in Mitten der umgesunkenen Steine ein selt- samer Haufen von Feldsteinen sich erhebt, und wenn ihn der Wanderer fragt, giebt er eine ausweichende Antwort.


Beth-Chajim - das Haus des Lebens! heißt der Friedhof! - Ja, wohl ist diese Ruhestätte der Todten das Haus des Lebens! Denn von hier aus geht der geheimnißvolle, gewaltige Impuls, der die Vertriebenen zu den Herren der Erde macht, die Verachteten zu den Tyrannen der Völker, der den Kindern des Goldenen Kalbes die Verheißungen erfüllen soll, die einst im flammenden Dornbusch dem Volke Gottes gegeben wurden!


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Selbst das düstere Aussehen der Judenstadt hatte einen gewissen festlichen Anstrich ange- legt, der fliegende Kram war von den Ecksteinen und Thürpfosten verschwunden, die alten


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zahnlosen Frauen, die Burschen mit den spitzen, scharfen Gesichtern und den listig funkeln- den Augen, die Mädchen mit der üppigen Busen- und Hüftenfülle, welche die Vermehrung des Volkes so sehr erleichtert, schossen in Festtagsgewändern von Höhle zu Höhle, - Laub- zweige waren an den Häusern und den zerbrochenen Fensterscheiben aufgesteckt - auf der uralten Steinbank saßen Männer in eifrigem Gespräch, an den Durchgängen plauderte das jüngere Volk. Dazwischen wandelten Männer und Frauen im besten Sabbathstaat, das Ge- betbuch in der Hand, zur Synagoge, und arme Christenweiber, denen die Noth den Dienst aufgezwungen, kamen mit Schüsseln und Flaschen, um die Vorbereitungen zu dem Mahl zu treffen.

Es war das Laubhüttenfest, der letzte Tag, der Tag der Versammlung, und das Dunkel des Abends lag bereits auf den engen Gassen, während draußen die Christenstadt eben noch in den lichten Strahlen der scheidenden Sonne erglüht war.

Zwei Männer, der eine älter, in schwarzem seidenem Talar und den langen hängenden Locken an den Schläfen, die den polnischen Juden kennzeichnen, der andere, von mittleren Jahren in moderner Tracht, an der - wenn er zufällig an einem seltenen Lichtschein vor- überging, - die Diamantknöpfe des Brusthemdes und die dicke goldene Kette auf der Weste glänzten, schritten, ohne sich um das Treiben umher zu kümmern, durch die engen Straßen.

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Der Jüngere schien der Führer zu sein, und als er seinen Begleiter bis an das Häuschen gebracht, in dem der Pförtner des Kirchhofes wohnt, klopfte er an den bereits verschlosse- nen Laden, aus dessen Spalten heiterer Kerzenschimmer das festliche Treiben im Innern ver- kündete, denn der Sommer war gut gewesen und hatte reichliche Trinkgelder der Fremden gebracht.

Alsbald erschien in der Hausthür das schmale Gesicht des Pförtners und lugte mit geblen- deten Augen heraus in das Abenddunkel.

»Levi Aaron, bist Du’s? wo thust Du bleiben so lange? Sind doch die Nachbarn alle schon beisammen und der Kuchen und der koschere Wein stehen auf dem Tisch.« 

»Es ist nicht der Aaron,« sagte der Klopfer. »Komm heraus, Joel, es hat Jemand mit Dir zu reden!« 

Die blöden Augen des Pförtners hatten sich an das Dunkel gewöhnt. »Gott der Gerechte,«  sagte er erstaunt aus der Thür huschend, »es ist einer der Aeltesten! hochverehrter Herr, was haben Sie zu befehlen?« 

»Ich Nichts, aber der Rabbi hier wünscht, da er morgen in aller Frühe mit der Eisenbahn abreist, noch ein kurzes Gebet auf dem Kirchhof zu verrichten.« 

»Auf dem Kirchhof? heute Abend? Sie wissen doch selbst, hochgeehrter Herr Bankier, daß es ist mir verboten, nach Sonnenuntergang zu öffnen, und es ist doch heute dazu der heilige Sabbath.« 

»Vorerst brauchst Du nicht zu schreien meinen Stand hinaus in die Nacht,« sagte unwillig der Bankier, »daß jeder Trödeljud’ weiß, daß der Bankier Rosenberg gewesen

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ist bei Dir. Was die Erlaubniß zum Oeffnen betrifft, so bin ich Aeltester und gebe sie. Ich werde warten hier bis das Gebet ist zu Ende.« 

»Wollen Sie nicht die Gnade haben einzutreten unter mein schlechtes Dach?« 

»Nein! eile Dich und hole den Schlüssel!« 


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»Er hängt hier hinter der Thür.« 

»Desto besser, dann braucht die Gesellschaft da drinnen nicht zu wissen, was wir gethan. Such’ einen Vorwand, damit das neugierige Volk mir nicht kommt auf den Hals!« 

Der Pförtner verschwand in das Innere, kehrte aber bald mit einem Schlüsselbund zurück und schloß das Pförtchen neben dem Thorweg auf. Er hatte eine Laterne mitgenommen und wollte sie anzünden.

»Laß sein!« sprach die tiefe Stimme des Rabbi. »Ich brauche kein Licht. Schließ die Thür von Innen!« 

»Aber Herr von Rosenberg . . . « 

»Schließe, sage ich Dir!« 

Der Pförtner gehorchte nicht ohne eine Regung des Mißtrauens.

»Jetzt führe mich zu dem Grabe des heiligen Rabbi Simeon ben Jehuda.« 

»Faßt mein Gewand, hochwürdiger Herr,« sagte der Kirchhofwächter, »es ist dunkel und Ihr möchtet über die alten Gräber stolpern.« 

»Ich sehe bei Nacht besser wie bei Tage, mein Sohn!« antwortete die tiefe Stimme des polnischen Schriftgelehrten.

»Gut denn! hier ist das Grab!« 

Der alte Mann küßte ehrerbietig den Steinhaufen, zu

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dem ihn der Pförtner geführt. Dann schlang er die Gebetriemen um seine Stirn und beugte sein Haupt.

Der Wächter hörte ihn ein langes Gebet in hebräischer Sprache murmeln, - aber sie war mit so vielen uralten Worten vermischt, oder ein ihm so gänzlich unbekannter Dialekt, daß er nur wenige Ausdrücke verstand, obschon er in früheren Jahren lange Zeit Vorbeter einer böhmischen Gemeinde gewesen war.

Erst nach einer geraumen Zeit und nachdem der Pförtner wiederholt Zeichen einer wach- senden Ungeduld gegeben, beendete der Fremde sein Gebet und wandte sich darauf zu dem Wächter des Friedhofs.

»Wie lange versiehst Du schon Dein Amt?« 

»Zehn Jahre!« 

»Und wie lange war Dein Vorgänger darin?« 

»F ünfunddreißig ! « 

»Fünfundvierzig Jahre - sie können es nicht wissen!« murmelte der Alte. »Höre!« 

»Was wünschen Sie?« 

»Als Du das Amt von Deinem Vorgänger übernahmst, hast Du von ihm eine Ueberlieferung, einen Befehl erhalten?« 

»Ich?« 

»Ja, Du! denn es ist, seit der erste Todte in diesem Boden seine letzte Ruhestätte gefunden, also gewesen.« 

»Nun - und wenn es ist wahr, was habt Ihr darnach zu fragen? es ist das erste Mal, daß es mir geschehen in meinem Amt.« 

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»Weil es nur alle hundert Jahre geschieht und des Menschen Leben nur selten dies Ziel erreicht.« 


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»Ich sehe, Ihr wißt davon, Rabbi,« sagte ängstlich der Pförtner. »Aber wenn ich Euch gehor- chen soll, müßt Ihr mir geben das Wort, das mir ist überliefert worden von meinem Vorgänger mit einem heiligen Eid, den ich habe leisten müssen auf die Thora.« 

Der polnische Rabbi beugte sich zu ihm und flüsterte ihm langsam ein siebensylbiges Wort zu.

Demüthig neigte sich der Pförtner. »Ihr seid der Herr, Rabbi,« sagte er, »es wird geschehen Alles, wie Ihr befehlt.« 

»Du wirst die Freunde, die das Fest in Deinem Hause begehen, fortschicken, bevor die Uhr der Christen, die sie gemacht zum Hohn unserem Volk auf dem Thurm am Markt, die eilfte Stunde schlägt.« 

»Es wird gescheh’n, Rabbi, wie Du sagst.« 

»Wenn der Hammer der Glocke thut den ersten Schlag, wirst Du aufschließen die Pforte dieses Gartens Adonai’s, und wenn verklungen der letzte Schlag, wirst Du verschwinden in Dein Haus und schließen Thüren und Fenster und suchen Dein Lager, daß Du bist mit all den Deinen wie ein Leichnam, der weder hört noch sieht.« 

»Ich werde weder sehen noch hören!« 

»Der Engel des Todes wird Deine Seele aufhalten in Deinem Körper und sie wandern lassen zwischen den Gräbern bis zum Ende der Zeit, wenn Du nicht gehorchst streng dem Befehl!«  drohte der Greis. »Jetzt komm und gedenke, daß Du bist in Deinem Amt ein Diener der

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großen Synagoge von Jerusalem. Ich brauche Dir nicht zu empfehlen Schweigen auch gegen den Mann der irdischen Eitelkeit, der mich gebracht hierher.« 

Sie gingen Beide zurück nach der Pforte, an welcher der Bankier noch immer Wache hielt.

»Nun,« sagte dieser, - »Sie haben gehabt Ihren Willen, Rabbi, und Sie können berichten meinem Geschäftsfreund in Warschau, daß Rosenberg und Sohn stets sind bereit zu erweisen jede Gefälligkeit an einen Gastfreund, der ihnen empfohlen ist von so guter Hand. Wollen wir gehen nach Hause, wo meine Frau wartet mit dem Mahl?« 

»Wir wollen gehen, Sohn,« sprach der Rabbi - »aber mich entschuldige von dem eitlen Prunk. Ich werde zubringen die Nacht im Gebet!« 

Der Bankier zuckte die Achseln und reichte dem Pförtner ein Geldstück. »Joel,« sagte er leise, »es ist nicht nöthig, daß die anderen Aeltesten der Gemeinde erfahren von der Ueber- tretung der Vorschrift.« 

Der Pförtner nickte und die Beiden verschwanden wieder in den finsteren Gassen, die allmälig leerer geworden, während aus den Häusern munteres Geschwätz und die Töne fest- lichen Mahles erklangen.

Wie elend, wie schmuzig und dunkel diese Höhlen auch von Außen geschienen, nicht we- nige der in den hintersten Räumen befindlichen Stuben prangten jetzt im Licht zahlreicher Wachskerzen, das sich in hohen Spiegeln und auf den kostbaren brüsseler Teppichen des Fuß- bodens fing oder von dem reichen Silbergeschirr blitzte, das schwer in Kannen, Schüsseln und Bechern die Tische belastete, an denen

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Frauen und Mädchen saßen, die am Tage vielleicht den Bändelkram unten an der stinkenden Gasse gehalten hatten und jetzt mit goldenen Ketten und Armbändern behängen in schweren


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seidenen Kleidern rauschten, während aus dem dunklen Haar und von dem hochgewölbten Busen das Feuer der Diamanten und Rubine flammte.


Wer kennt nicht die prächtige Prager Brücke, die von der Altstadt hinüber nach dem Hrad- schin führt, oder hat nicht wenigstens davon gehört?

Auf sechzehn Doppelbogen spannt sich die Brücke mehr als 150 Fuß lang über die in der Tiefe rauschende Moldau, die Altstadt mit der Kleinseite und dem Hradschin verbindend.

Kaiser Karl IV, dem die alte Böhmenstadt ihren Glanz verdankt, legte am 9. Juli 1358 den Grundstein, doch erst nach 150 Jahren unter Wratislaw II. wurde sie ganz vollendet.

Welche Geschicke, welchen Glanz, welche Ströme von Blut hat das mächtige Bauwerk gesehen, das 500 Jahre fast unversehrt der Zeit, den Stürmen, den Wogen und den Kugeln getrotzt hat.

Von jenen Bogen ließ der unheilige Wenzel den heiligen Nepomuk in die Fluth stürzen, weil er ihm die kleinen Sünden der böhmischen Königin nicht verrathen wollte; die steinerne Gasse entlang tobte der wilde König mit Stöcker und Rüden, - dort zog Huß zum Hradschin mit seinen Studenten - der eitle Sigismund im lustigen

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Geprang, der am Scheiterhaufen von Kostnitz ihm so schmählich sein Kaiserwort brechen sollte! - Der wilde Ziska schwang die Keule, - Georg Podiebrad zog zur Krönung über die mächtigen Bogen, Ludwig der Jagellone zu seinem Tod in der Mohacser Schlacht! - Maximi- lian II., der letzte Ritter, schaute stolz auf sein schönes Prag, und der allzuschwache Rudolph, der Kaiser der Weiber, Gaukler und Sterndeuter, schleuderte vom Hradschin herab über sie hin seinen Fluch auf die undankbare Stadt, die seinem Bruder Matthias Corvinus die gestoh- lene Krone gab. Aus jenen Fenstern sahen die schon altersgrauen Quadern am 23. Mai 1618 von den böhmischen Ständen die kaiserlichen Räthe Martinitz und Slawata werfen und damit den blutigen Religionskrieg beginnen, mit dem Oesterreich dreißig Jahre lang Deutschland verwüstete! Wie oft schritt über diese Bogen das Roß des stolzen Friedländers, wie don- nerten vergeblich Wochen lang darüber hin die Schwedenkugeln gegen den Brückenthurm der Altstadt, den die Studenten und Bürger vertheidigten und auf dessen Eckthürmen zehn Jahre lang die Köpfe der Getreuen steckten, die auf dem Schaffet des großen Ringes ihren Glaubensmuth und ihre Treue für den Winterkönig und die Niederlage am Weißen Berge (8. November 1620) büßten.

Und wieder zog über die Brücke ein Kaiserzug des baierschen Albert, der - von dem Erb- feind deutscher Lande, dem Franzosen, im Successionskrieg nach Prag geführt, - sich als Karl VII. dort krönen ließ. Dann kamen die Preußen zum ersten Mal (1744) und dreizehn

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Jahr später spieen die Kanonen des großen Friedrich 90,000 Kugeln gegen die Stadt. -

Aber auch die neueste Zeit hat noch die Brücke mit Blut getränkt, in der Pfingstwoche des Jahres Achtundvierzig, als die wilde Empörung ihre Barrikaden am Brückenthurm der Alt- stadt baute, und die Kanonen des Fürsten Windischgräh herüber donnerten nach der Altstadt und den Tod der Fürstin rächten!

Wenige Brücken haben wohl eine solche Erinnerung!


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Der Menschenstrom, welcher stets diese eben so interessante als schöne Stelle des Böhmer Landes belebt, füllte auch an diesem Abend die breiten Granittrottoirs und die Aussprünge der Bogen mit ihren Bänken und Steinbildern - hin- und herwogend, eine unendliche bunte schillernde Schlange, Bürger, Soldaten, Fremde, Landleute, Geistliche und Arbeiter, die von einer Seite des Flusses zur anderen zogen, oder zur Erholung an dem schönen Abend zu dem prächtigen Garten der Moldau-Insel wanderten.

Von den Thürmen der Stadt schlugen die Glocken 10 Uhr; in dem Halbrondeel, in welchem die Statue des heiligen Nepomuk steht, an derselben Stelle, von welcher König Wenzel, - wahrscheinlich weil Offenbach damals noch nicht sein bekanntes Couplet der schönen Helena für die Ehemänner geschrieben hatte, - den verschwiegenen Beichtvater in die Fluthen der Moldau stürzen ließ und so aus einem sehr eigensinnigen Pfaffen einen christlichen Märtyrer machte, - saß auf der Steinbank ein Mann

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von großer schlanker Gestalt, dem das ernste bleiche Aussehen mit der kahl werdenden Stirn, die Folge der vielen am Studirtisch durchwachten Nächte, offenbar mehr Jahre gab, als er wirklich zählte. Das große hellblaue Auge mit dem etwas starren Blick schaute aufmerksam auf die vorüberziehende Menschenmenge, als suche es unter den Hunderten eine bestimmte Figur und könne sie immer noch nicht finden.

Das Gesicht des Wartenden zeigte zwar den germanischen Typus mit seiner physischen Kraft, aber diese Kraft gleichsam vergeistigt durch große Fähigkeiten und Willensanstren- gung der Seele. Die Eigenschaften des Geistes und die Gewohnheiten des Lebens üben sicher großen Einfluß auf das äußere Aussehen, und können sie dessen ursprünglichen Typus nicht umgestalten, prägen sie ihm doch ihre Spuren auf.

Jeder Physiognom, der den Harrenden auf der prager Moldau-Brücke gesehen, würde so- fort erkannt haben, daß dieser Mann ein hohes geistiges Leben führte und seine Jugendkraft ernsten und schweren Studien gewidmet hatte.

Die Glocken hatten eben die zehnte Stunde geschlagen, als von dem Hradschin her kom- mend ein Mann in einen leichten Sommermantel gehüllt in die Halbrotunde trat und auf den Harrenden zu ging, der sich rasch erhob.

»Willkommen, Herr, ich sehe, Sie haben meinen Brief erhalten und Neugier oder der Durst des Wissens ist wirklich so groß gewesen, Sie die Reise machen zu lassen.« 

Er streckte ihm die Hand entgegen, die der Andere mit seinen beiden herzlich faßte und schüttelte.

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»Signor Lasali, wie freue ich mich, Sie gesund und kräftig wiederzusehen!« 

»Cospetto! nach dem Abenteuer in den römischen Katakomben, wo Sie mir das Leben ret- teten! Sie sehen, die fünf Tage des Hungerns und Durstens haben keine Nachwirkung hin- terlassen, als daß mein Appetit nach Ortolanen und Champagner höchstens desto raffinirter geworden. Aber Sie sehen auch, daß Larochefoucauld’s und Macchiavelli’s Maximen von der Dankbarkeit der Menschen nicht immer ganz zuverlässig sind, lieber Doctor, und daß es wirk- lich in der letzten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts noch Personen giebt, die sich ihrer Schuld der Dankbarkeit erinnern, und ihre Wechsel einlösen, ohne durch das Handelsgericht dazu gezwungen zu sein.« 


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»Glauben Sie mir, Signor,« sagte der Gelehrte, »weniger die Aussicht auf die Lösung Ihres Versprechens und damit die Erfüllung eines meiner eifrigsten Wünsche, als die Thatsache, nach drei Jahren wieder Etwas von Ihnen zu hören, war es, was mich erfreute und mich trieb, Ihren kurzen Zeilen sofort zu folgen und die Reise von Berlin hierher nach Prag zu machen.« 

»Ich komme zu diesem Zweck direkt von Mailand. Mein Brief war allerdings sehr kurz. Haben Sie ihn bei sich?« 

»Ja; ich weiß die Zeilen auswendig, so oft habe ich sie gelesen. Sie lauten: Mein Lebens- retter! ich habe Ihnen einst gelobt, Ihnen den wahren Schlüssel der Kabalah zu verschaffen, wenn ich Gelegenheit dazu fände; ich halte zwar sonst nicht viel von geschwornen Eiden, aber ich bin

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bereit, diesen zu halten, wenn Sie mich am 8. Oktober Abends 10 Uhr unter der Nepomuk- Statue auf der alten Moldaubrücke zu Prag treffen wollen. Darunter Ihr Name.« 

»Richtig, so war es. Bestehen Sie noch immer auf Ihrem Wunsch?« 

»Mehr als je! Sie werden der Wissenschaft einen unbezahlbaren Dienst leisten!« 

»Der Wissenschaft?« sagte spöttisch der Fremde. »Die sollte mich sicher nicht dazu veran- lassen, wenn es nicht meine eigene Neugier thäte. Hören Sie, Doktor, beugen Sie sich etwas über die Brüstung, denn was wir zu verhandeln haben, dürfen kaum die Wellen der Moldau hören, wenn wir uns nicht Beide einem sichern Tode aussetzen wollen.« 

Der junge Gelehrte sah seinen Gefährten etwas erstaunt an, befolgte aber seinen Wunsch. Es ist Zeit, daß wir etwas über die Persönlichkeit dieses Mannes sagen.

Er mochte von gleichem Alter wie der junge Gelehrte sein, obschon der eigenthümliche Teint seines Gesichts jede Schätzung schwer machte. Die Farbe seiner Haut glich dem matten Ton einer Wachskerze, keine Spur von Farbe, von gesunder Röthe lag auf seinem Gesicht. Selbst die aufgeworfenen, von Genußsucht zeugenden Lippen schienen blutleer und ließen, geöffnet, eine Reihe von festen großen Zähnen sehen, die dem Gebiß eines Wolfes glichen. Kinn und Nase waren stark entwickelt, die letztere schmal und kühn vorspringend, durch ihre eigenthümliche Krümmung

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den jüdischen Ursprung verrathend, die Stirn hoch und breit, überhaupt der ganze Oberkopf stark und voll, wie das dichte hellbraune Kraushaar zeigte, das der Negerwolle ähnlich war. Um den Mund und die weiten Nasenflügel lag ein hochmüthiges Lächeln, das oft zum Aus- druck des Hohns und der Grausamkeit wurde; die mehr runden als ovalen grüngrauen und sehr hellen Augen hatten etwas Geierartiges.

»Hören Sie mich an, Doktor Faust,« sagte er, als sie Beide über die Brüstung lehnten und hinunter in den Strom schauten, auf dem der Schein der schmalen Mondsichel zitterte. »Als ich Ihnen vor drei Jahren in Rom gelobte, Sie mit den Geheimnissen der Kabalah bekannt zu machen, geschah es mehr um zu prahlen mit einer Macht und Fähigkeit, die ich damals in der That nicht besaß; denn wenn ich auch nicht aus Wissensdurst, sondern aus Neugier und Lau- ne vielfache Studien über die geheimen Traditionen und Wissenschaften meines Volkes aus alter Zeit getrieben hatte, wußte ich doch recht gut, daß ich meinen Fuß kaum in den Vorhof jener Geheimnisse gesetzt hatte, die ich noch jetzt für nichts Anderes als die Sophismen und Spekulationen exaltirter Geister glaube, mit deren Nimbus man Dummköpfe in Schranken


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und Gehorsam hielt. Einige zufällige Entdeckungen, die ich seitdem gemacht, haben mich auf andere Gedanken gebracht und meine Neugierde erregt. Sie wissen trotz der kurzen Zeit unsers Umgangs, daß ich nicht der Mann bin, einen einmal gefaßten Gedanken, eine Spur, die ich gefunden, so leicht wieder aufzugeben. Was auch mein Zweck bei

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dieser Befriedigung meiner Neugier sein mag, welches auch der wahre Grund ist, der mich bewogen, Sie zum Mitwisser zu wählen - kümmern Sie sich nicht darum. Genug, die Gele- genheit, unsern beiderseitigen Wunsch erfüllen zu können, ist da, und es handelt sich nur darum, ob Sie die Bedingungen, die ich für die Theilnahme der Erforschung zu stellen habe, erfüllen wollen?« 

»Wenn sie nicht gegen Ehre und Gewissen sind, jede.« 

»Cospetto! Darüber ist Jeder selbst der beste Richter, Signor Dottore! Aber Sie haben in dieser Beziehung Nichts zu riskiren, wohl aber in anderer, das heißt: Ihr Leben. Fühlen Sie sich entschlossen genug, einer ernsten Gefahr Trotz zu bieten?« 

»Im Dienst der Erkenntniß, jeder!« 

»Bene! denn ich muß Ihnen sagen, ich führe Sie an einen Ort, wo wir Beide, wenn man uns entdeckte, eher in Stücke zerrissen würden, als daß man uns lebendig entkommen ließe, ja wo die bloße Ahnung, daß wir unberufene Mitwisser des Geheimnisses seien, uns eine Meute auf den Hals bringen könnte, die uns über kurz oder lang zu Tode hetzte.« 

»Sie machen mich immer begieriger, Signor Lasali.« 

»Das war das Eine, was ich Ihnen sagen mußte. Das Zweite ist - Sie wissen, daß ich selbst dem Volke angehöre, das über die Erde zerstreut ist.« 

»Sie haben mir gesagt, daß sie als Jude geboren sind.« 

»Deshalb - obschon man mich mit allen albernen Ceremonien und Verfluchungen, wie sie die Gesetzbücher

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vorschreiben, ausgestoßen und in Bann gethan hat, weil ich es meinen Zwecken förderlicher hielt, ein Bischen christliches Taufwasser mir über den Kopf gießen zu lassen, - habe ich doch noch ein gewisses faible für meinen Ursprung, und die Bedingung, die ich Ihnen stelle, ist Ihr Ehrenwort, daß Sie über Alles, was wir sehen und hören werden, das strengste Schweigen beobachten müssen, bis ich Ihnen selbst Ihr Wort zurückgebe.« 

»Bei meiner Ehre!« 

»Abgemacht. Ich weiß, Sie verstehen das Chaldäische?« 

»Ich habe es mir bei meinen Studien der alten Schriften vollkommen zu eigen gemacht.« 

»Sie wissen, daß auch ich es verstehe, wenn auch nicht so fertig wie Sie. Wahrscheinlich werden wir diese Kenntniß brauchen. - Erinnern Sie sich aus Ihren Forschungen über die Kabalah, daß auf eine Zusammenkunft der Häupter oder Auserwählten in den mystischen Schriften hingedeutet wird, eine Zusammenkunft, die sich von Zeit zu Zeit wiederholt?« 

»Ja - in der Jezirah ist mit bestimmten Worten davon die Rede, und wenn ich diese recht ausgelegt, findet alle hundert Jahre eine solche Zusammenkunft statt.« 

»So ist es. Die letzte wurde im Jahr 1760 gehalten und Sie werden sich erinnern, daß bald darauf eine große Bewegung im Judenthum folgte. Wir schreiben gegenwärtig das 1787ste Jahr der Zerstörung Jerusalems, und es ist, ich weiß nicht in Folge welcher Zahlenconstella- tion, das bestimmte Jahr der Zusammenkunft des kabbalistischen Sanheddrin.« 


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«Woher wissen Sie das, Freund?« 

»Das kann Ihnen gleich sein, thun Sie darüber keine Fragen an mich. Genug, es ist so, und noch mehr, der heutige Abend ist der der Zusammenkunft und diese Stadt der Ort. Ich beabsichtige auf jede Gefahr hin, dieser Zusammenkunft beizuwohnen und bin bereit, Sie mit mir zu nehmen.« 

»Aber wird dies nicht ein unehrliches Belauschen, ein widerrechtliches Eindringen in die Geheimnisse Anderer sein?« 

»Per Bacco! wie wir Italiener sagen, wenn Sie solche Scrupel haben, dann geben Sie über- haupt die Erfüllung Ihres so lang gehegten Wunsches daran. Oder glauben Sie, daß jene Männer, welche das Geheimniß der Kabalah bewahren, es Ihnen auf dem Präsentirteller ent- gegen bringen werden? Was mich anbetrifft, ich will es kennen lernen auf jede Gefahr hin!« 

Der Gelehrte dachte einige Augenblicke nach, dann sagte er entschlossen: »Ich werde Sie begleiten, entstehe daraus, was da wolle!« 

»Gut - so sind wir einig. Lassen Sie uns gehen, denn wir haben keinen Augenblick zu verlieren. Es ist gut, daß Sie dunkle Kleider tragen, wie ich. Liier nehmen Sie diesen kurzen fünfläufigen Revolver und fassen Sie, wie ich, von vorn herein den Entschluß, im Fall der Entdeckung lieber jedes andere Leben zu opfern, als das unsre. Kommen Sie.« 

Die beiden Männer verließen die Brücke und nahmen ihren Weg nach der Altstadt. Der Italiener schien mit

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allen Winkeln und Gäßchen vollkommen vertraut oder sich nach vorher gemerkten Kenn- zeichen zu richten; denn ohne sich ein einziges Mal zu irren, bog er bald nach der Seite der Judenstadt ein. Unter einem dunklen Thorweg blieb er stehen, zog aus der Tasche zwei falsche, leicht mit einem Gummizug zu befestigende dunkle Bärte und reichte seinem Gefähr- ten den einen. Als sie sich auf diese Weise mehr den Bewohnern des unheimlichen Stadttheils ähnlich gemacht, vertieften sie sich ohne Zögern in diese engen und schmuzigen Gäßchen.

Der Italiener wandte sich in der Nähe des Kirchhofes zur Linken, schlüpfte durch einen finstern Durchgang und gelangte mit seinem Gefährten an die nördliche Mauer des Friedho- fes, an welche die Häuser dieser Seite mit ihren engen, verpesteten Höfen stoßen. Er mußte bereits am Tage hier sich die passende Stelle ausgesucht haben, denn bald fand er in einem dunklen, von keinem Lichtstrahl erhellten Winkel einen Haufen Schutt und Steine auf, der bis zur halben Höhe der Mauer reichte, befestigte an einem Balken einen mit Knoten versehe- nen Strick, dessen anderes Ende er über die Mauer warf, und, nachdem er seinem Gefährten noch einmal die ernste Mahnung des Schweigens und der Vorsicht zugeflüstert, stieg er auf die Mauer, über deren mit Glasscherben geschützte Krone er vorsichtig seinen Mantel warf, und ließ sich auf der andern Seite auf das wirre Gestrüpp der Gräber niedergleiten.

Mit gleicher Stille und Vorsicht, ohne verschiedener Verletzungen an den scharfen Glas- kanten zu achten, folgte ihm der Gelehrte. Dann orientirte sich Lasali an den am

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Nachthimmel sich abzeichnenden Giebeln der Häuser über die Stelle, an welcher sie über- gestiegen waren, und deutete seinem Gefährten an, ihm auf Händen und Füßen über die eingesunkenen Gräber und Grabsteine kriechend mehr nach der Mitte des Kirchhofs zu fol- gen.


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Eben schlug die Uhr des Rathsthurmes die eilfte Stunde, und mit dem ersten Schlag hörten Beide den Schlüssel in der Pforte knirschen.

Eine tiefe Stille folgte diesem Ton, der bewies, daß der Kirchhof geöffnet worden. So ange- strengt sie auch lauschten, sie hörten Niemanden eintreten.

Die Beiden befanden sich jetzt dicht neben einander auf den Boden gekauert in der Ver- tiefung zwischen zwei Grabsteinen, die eine Dornenhecke überwucherte, in der Nähe des Steinhagels, welcher das Grab des Rabbi Simeon Ben Jehuda bildet. In den Judenhäusern um den Friedhof begannen die Lichter zu erlöschen, alle Töne des Festes zu verstummen.

Ein noch unheimlicheres Schweigen verbreitete sich über den unheimlichen Ort.

So hörten die Lauscher deutlich und klar von den Thürmen der Stadt die beiden ersten Viertel schlagen.

Plötzlich preßte der Italiener den Arm des Gelehrten.

»Still - sie kommen! Keinen Laut, was Sie auch hören und sehen mögen!« 

Die Pforte des Einganges knarrte leise - dann rauschte es an den Hecken und Steinen her wie lange schleppende Gewänder - eine weiße unbestimmte Gestalt glitt lautlos einem Schatten gleich in den Gängen hin.

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Sie kauerte nieder an dem Steinhaufen, berührte drei Mal mit der Stirn die Steine und begann leise ein Gebet zu murmeln.

Der Deutsche verstand, daß die Worte Chaldäisch waren, aber er hatte nicht Zeit, darüber nachzudenken. Durch den Gang von der Pforte her humpelte, hustete, ächzte es - fast gekro- chen kam eine alte gekrümmte Figur an den noch älteren Gräbern daher getastet und ließ sich nieder zur Seite der ersten und stimmte ein in deren gemurmeltes Gebet.

Und wieder klang es mit festen kräftigen Schritten und kam heran auf dem Weg, eine hohe stattliche Gestalt in dem weißen fliegenden Taleth, dem Gebetmantel, und kauerte nieder wie unwillig über den Zwang.

Dreizehn Mal wiederholte sich der Weg, dreizehn geisterhafte Gestalten waren gekommen - der Doctor hatte sie gezählt, aber er wußte kaum, waren es Lebende oder Todte. Ein kal- ter Schauer fröstelte über seinen Rücken - ein tiefes Grauen machte sein Herz erbeben - unwillkürlich erinnerte er sich jener schaurig erhabenen Tradition von dem Versöhnungsfest am zehnten Tage des Monates Tischri in der Synagoge zu Posen, wo schon beim Gebet Kol- Nidre die Versammlung wuchs und wuchs und Gestalt sich an Gestalt drängte, verhüllt in die Gebetmäntel, Hunderte und Hunderte, weit über die Gemeinde hinaus, bis der entsetzte Rabbi die Hände hob zur Beschwörung und forderte: Wer da hat Fleisch auf seinen Wangen, der thue ab den Taleth! Und als Hunderte verhüllt blieben und man den Mantel von ihren Häuptern zog, schaute man die Schädel

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der Todten, die gekommen waren aus ihren Gräbern das Fest zu feiern mit der Gemeinde.

Wie dort, glaubte er jetzt die weißen Talethim fallen und Schädel an Schädel grinsen zu sehen, als der letzte Schlag der Mitternachtsstunde vom Thurm her durch die Nacht zitterte und mit dem Verhallen des Tons ein scharfer metallener Klang sich hören ließ und ein ge- spenstiger blauer Lichtschein aufflackerte, gleichsam aus dem Steinhaufen, dem Grabe des alten Kabahlisten, dringend, und die dreizehn weißen verhüllten Gestalten umdämmerte, die um das Grab her kauerten.


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»Seid gegrüßt, Ihr Rosche-Bathe-Aboth 1 der zwölf Schebatim 2 Israels,« sagte eine tiefe Stimme.

»Sei gegrüßt, Du Sohn des Verfluchten!« 

»Hundert Jahre sind vergangen. Woher kommen die Nesiims ?« 3

»Wo der Wind her weht, wo das Volk Adonai’s zerstreut ist über die Länder, deren Herr- schaft der Aeltervater ihnen verheißen!« 

»Seid Ihr gerüstet, zu erfüllen die Verheißung in den hundert Jahren, die kommen?« 

»Wir sind es!« 

»So gebt die Antwort Derer, die Ihr vertretet. Schebet 4 Juda?« 

» Amsterdam !« antwortete eine kräftige feste Stimme.

»Schebet Benjamin?« 

»Toledo!« klang es hohl.

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»Schebet Levi?« 

»Worms!« 

»Schebet Manasse?« 

»Buda-Pesth!« 

»Schebet Gad?« 

»Krakau!« 

»Schebet Simeon!« 

»Rom!« 

»Schebet Sebulon?« 

»Lissabon!« 

»Schebet Rüben?« 

»Paris!« 

»Schebet Dan?« 

» Constantinopel !« 

»Schebet Asser?« 

»London!« 

»Schebet Isaschar?« 

Die hinter dem Gestrüpp konnten den Namen nicht verstehen, den die heisere schwache Stimme des Gerufenen murmelte.

»Schebet Naphtali?« 

»Prag!« 

»Und ich, der Repräsentant der Verstoßenen und Wandernden,« sagte der Frager mit tiefer Stimme, »der umherzieht durch die Welt, Euch zu sammeln zum Werke der Vergeltung und der Verheißung, die gegeben ward dem Saamen Abraham’s und die ihm genommen ist durch die Söhne, des Gekreuzigten! Wer da ist vom Hause Aaron’s 5

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1 Stammeshäupter.

9

Stamme.

3 Stammfürsten.

4 Stamm.

5 Stamm Levi.


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der stehe auf und prüfe die Häupter und sammle den Rath!« 

Der Mann, der zuerst gekommen, erhob sich und setzte sich an den Steinhaufen. Einer nach dem Anderen trat zu ihm und flüsterte ihm das siebensylbige Wort zu, das am Abend dem Wächter des Kirchhofes genannt worden, und jedes Mal nickte er Zustimmung.

Dann nahmen Alle wieder ihre Plätze ein.

»Brüder,« sagte der Levit, »unsre Väter haben den Bund gemacht, der die Eingeweihten der Schebatim führt alle hundert Jahre zu dem Grabe des großen Meisters der Kabahla, so ist die Lehre, welche den Erwählten die Macht auf Erden verleiht, die Herrschaft über alle Geschlechter aus dem Saamen Ismaels. Achtzehnhundert Jahre führt das Volk Israels den Kampf um die Herrschaft, die Abraham versprochen worden und die das Kreuz uns entrissen. Unter den Sohlen unserer Feinde, unter Druck und Tod und Bedrängniß jeder Art hat Israel niemals diesen Kampf aufgegeben, und weil das Volk Abraham’s zerstreut worden über die ganze Erde, wird die ganze Erde auch ihm gehören! Die weisen Männer unseres Volkes leiten den Kampf seit Jahrhunderten, und Schritt um Schritt erhebt sich das Volk Israels von seinem Sturz, und gewaltig ist die Macht geworden, die es offen und geheim ausübt bereits über die Throne und Völker; denn unser ist der Gott der Erde, den Aaron uns tröstend gemacht in der Wüste, das goldene Kalb, vor dem sich beugen die Abtrünnigen!« 

»Wir hören!« murmelte es im Kreise.

»Wenn alles Gold der Erde unser ist, ist alle Macht

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unser. Dann ist die Verheißung, die Abraham gegeben ward, erfüllt. Das Gold ist das neue Jerusalem - es ist die Herrschaft der Welt. Es ist Macht, es ist Vergeltung, es ist Genuß - also Alles, was die Menschen fürchten und wünschen. Das ist das Geheimniß der Kabahla, der Lehre von dem Geist, der die Welt regiert, von der Zukunft! - Achtzehn Jahrhunderte haben unseren Feinden gehört - das neue Jahrhundert gehört Israel. Zum fünften Mal versammeln sich in dem tausendjährigen Kampf, zu dem wir uns endlich ermannt, die Wissenden des geheimen Bundes an dieser Stätte, Rath zu pflegen über die besten Mittel, welche die Zeit und die Sünden unserer Feinde bieten, und jedes Mal hat der neue Sanhedrin seit fünfhun- dert Jahren fortschreitende Siege Israels zu verkünden gehabt. Doch noch kein Jahrhundert erfreute sich solcher Erfolge, wie dieses. Darum dürfen wir glauben, daß die Zeit nahe ist, nach der wir streben, und dürfen sagen: unser ist die Zukunft !« 

»Wenn nicht eine Judenhetze dazwischen kommt!« sagte mit bitterem Hohn der Stammlo- se, der den advocatus diavoli des Kollegiums der Heiligsprechung bei dieser Versammlung zu vertreten schien.

»Die dunklen Zeiten dieser Gefahr sind vorüber. Die Fortschritte der sogenannten Cultur der christlichen Völker sind der beste Schutz unseres Strebens. Bevor wir den Rath der ein- zelnen Stimmen hören, wollen wir die Mittel der materiellen Macht unseres Volkes in der Gegenwart prüfen, das haare Kapital, über das Israel zu verfügen hat. So nennt denn die reichsten aus unserem

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Volk auf den sieben Weltmärkten Europa’s und wie hoch man sie schätzt! Beginnt denn mit Paris!« 

»Fould und Co.,« berichtete die Stimme des Seken, »20 Millionen Franken; A. I. Stern und Co. 30 Millionen; G. L. Halphen u. Co. 20 Millionen; Anton Schnapper 15 Millionen; Samuel


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von Haber 7 Millionen; H. I. Reinach 7 Millionen; I. E. Kann u. Co. 5 Millionen; Bischoffsheim Goldschmidt u. Co. 15. Millionen, M. Cahen D’Anvers 5 Millionen. Zusammen 124 Millionen Franken. Dazu kommen die kleineren Häuser mit etwa 80 Millionen, so daß das Kapital in den Händen Israels zu Paris mehr als 200 Millionen Franken beträgt.« 

»Das ist der siebenundvierzigste Theil der Staatsschuld von Frankreich,« sagte der Wan- dernde. »Pereire und Mires, die zu den Unseren gehören, sind auf 30 Millionen zu schätzen.« 

»Weiter! der Bericht von London?« 

»Moses Montefiore 2 Millionen Pfund; Moses und Sohn, Bischoffsheim u. Goldschmidt und Gebrüder Stern jeder 1 Million; R. Raphael u. Sohn 800,000; Louis Cohen u. Sohn, Samuel Montague, jeder 500,000 Pfund, zusammen 6,800,000. Die kleineren Häuser der City über 4 Millionen - zusammen 11 Millionen Pfund oder 260 Millionen Franks in London.« 

»Ich bemerke, daß der Seken die Häuser Rothschild ausläßt, die Fürsten der Börse!« 

»Sie müssen besonders genannt werden,« erklärte der Levit. »Der Bericht von Wien.« 

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»Moritz Königswarter 14 Millionen Gulden,« berichtete die dritte Stimme; »Herman To- descos S. 15 Millionen; M. L. Biedermann u. Co., Max Springer, Ephrussi u. Co. und Eduard Wiener, jeder anderthalb Millionen; Ludw. Ladenburg 2, Fr. Schey 2\, Leop. Epstein 3 Millio- nen. Zusammen 46| Millionen, die kleineren Häuser 14 Millionen, zusammen 61 Millionen Gulden oder 152 Millionen Franken in Wien.« 

»Die österreichischen Anlehen sind billig! 2268 Millionen Gulden Staatsschulden. Beim Bankerott muß sich das Vermögen der Unseren verdoppeln!« 

»Berlin!« 

»S. Bleichröder, Mendelssohn u. Co., H. C. Plaut und S. Herz, jeder 1 Million Thaler; N. Reichenheim u. S. und Liebermann u. Co., jeder 2 Millionen; Hermann Gerson und M. E. Levy, jeder 1^ Million; Joel Meyer 1-j-, Moritz Güterbock |, Louis Rieß u. Co. | Million; zusammen 13 1 Million Thaler. Die kleineren Häuser 10 Millionen - zusammen etwa 24 Millionen Thaler oder 90 Millionen Franken.« 

»Also der zwölfte Theil der Staatsschuld in unserer Hand. Dennoch ist die Summe gering - das Verhältniß muß ein anderes werden.« 

»Der Bericht von Hamburg!« 

»H. B. Oppenheimer 4; I. G. Oppenheimer, Gebrüder Jaffe, Pintus Nathan Sohn, jeder 2 Millionen Mark; Behrens Söhne l|; Ferdin. Jacobson, Samuel Levy Söhne, L. R. Veit u. Co., A. Alexander, Lieben Königswarter, M. M. Warburg, Consul H. Jonas u. Co., Julius

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Leser, Martin M. Fränkel: je eine; Mendelsohn Bartholdy 3 Millionen Mark; in Altona Amsel Jacob Ree 1; Hesse Newmann 1, W. S. Warburg 2 Millionen, zusammen 2 7\ Million; mit den anderen Häusern etwa an 40 Millionen Mark oder 75 Millionen Franken. Aber der Reichthum der christlichen Häuser ist leider noch größer! Unsere Leute können in der starren Reichsstadt noch immer nicht aufkommen!« 

» Frankfurt a. M.!« 

»B. H. Goldschmidt 7 Millionen Gulden; Marcus Königswarter, Jacob S. H. Stern und Gebrü- der Sulzbach, je 2; Lazarus Speyer Ellissen l|; Ed. Moses Kann u. C. 1 Million. Die Kleineren


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mit den Lotterie-Collecteuren etwa 8 Millionen. Hierzu die Fürsten des Kapitals, die ver- bundenen Häuser Rothschild in London, Paris, Frankfurt und Wien mit mindestens hundert Millionen - das sind zusammen 123 Millionen Gulden oder 260 Millionen Franken.« 

»Das Haus E. M. Günzburg in Petersburg wird mit 2 Millionen Rubel taxirt; unsere Häuser in Rom und Neapel mit 20 Millionen Livres; in Amsterdam: Holländer u. Lehven, Lippmann Rosenthal u. Co., Becher u. Fould, Werthheim u. Gompertz mit 40 Millionen Gulden. Rechnen wir zusammen, so beträgt das erweisliche Vermögen Israels bloß in zehn Hauptstädten 1165 Millionen Franken. Hierzu die Städte zweiten Ranges! Brüder, wir dürfen annehmen, daß - ohne das Volk zu rechnen - die großen Kapitalträger Israels heute schon über ein Kapital von zweitausend Millionen Franken in Europa disponiren!« 

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Ein beifälliges Gemurmel der Zwölf bildete die Antwort.

»Das macht auf 3| Millionen Juden in Europa 600 Franken auf den Kopf,« bemerkte der Vertreter der Stammlosen. »Aber den 3| Millionen mit ihrem Geld stehen 265 Millionen Feinde entgegen in Europa, oder 500 Millionen Fäuste!« 

»Der Kopf wird die Faust besiegen, wie er sie bisher besiegt hat. Die Arbeit ist der Knecht der Spekulation, die Gewalt der Diener des Verstandes. Wer will es leugnen, daß die Schlauheit die Gabe unseres Volkes ist?« 

»Es ist eitel und habsüchtig, hochmüthig und genußsüchtig!« 

»Wo das Licht ist, sind auch Schatten. Nicht umsonst hat Adonai, der Herr, seinem aus- erwählten Volke die Zähigkeit der Schlange, die List des Fuchses, den Blick des Falken, das Gedächtniß des Hundes, die Emsigkeit der Ameise und die treue Gemeinschaft des Bibers gegeben. Wir waren in der Gefangenschaft an den Wässern von Babylon und sind mäch- tig geworden! Man hat unsern Tempel zerstört und wir haben tausend aufgebaut! Man hat uns geknechtet achtzehnhundert Jahr im Staube, und unser Haupt ist gewachsen über die Nationen und wir werden sie wieder knechten, so lange die Welt steht!« 

»Die Zahl Derer, die zur Taufe gehen, mehrt sich!« sprach zäh der Zweifler.

»Thor!« sagte der Levit. »Hat Dich Deine Wanderschaft durch die Länder der Erde noch nicht gelehrt, daß das Wasser nicht abwäscht den Geist, sondern nur das

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Fleisch? Laßt ihre Bekehrungsgesellschaften thöricht ihr Geld verschwenden! hat nicht erst die hochmüthige Times noch jüngst berechnet, daß der englischen Mission jede bekehrte Judenseele auf 250,000 Franken zu stehen kommt? Und haben wir nicht selbst am Versöh- nungstage gebetet für die Abtrünnigen? Denn wahrlich, ich sage Dir, nicht der Jude wird Christ, sondern der Christ Jude auf Generationen hinaus durch die Vermischung des Flei- sches. Die Getauften sind die Stufen, auf denen wir die Wege, so noch verschlossen unserem Volk, erklimmen; denn ein Jeglicher hält zu uns und nicht zu Denen, die nicht sind seines Leibes und Geistes trotz der Taufe; es müßte denn sein, daß Israel selbst sie als Aussätzige verstoßen!« 

Die Zwölf des Kreises murmelten eine Verwünschung: der Doktor fühlte, wie die Hand des Italieners sich krampfhaft und fest um seinen Arm preßte.

»Schweige und höre!« 

»Brüder,« sagte die Stimme des Leviten, »es ist Zeit, daß wir nach der Satzung unseres Stifters, ein Jeder nach den Erfahrungen der hundert Jahre, die Wege sagen, auf welche


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Israel zu leiten ist, damit es zu seinem Ziel komme. Wir, die Wissenden, sind die Führer, welche die Menge, die blind ist, leiten. Wir sind die Baumeister, welche die todten Steine des Thurmes zusammensetzen, daß er aufrage in den Himmel.« 

»Der Thurm von Babylon ward zerschmettert von der Hand Dessen, den ich nicht nennen darf,« sagte der Stammlose.

»Unser Bau steht auf dem Grund der Verheißung,

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die Abraham ward. Beginne denn Dein Wort, Stamm Rüben! Wie gewinnt Israel die Macht und die Herrschaft über alle Völker der Erde, die ihm gebührt?« 

Eine helle, scharfe Stimme, die etwas Schneidendes hatte, sprach Folgendes:

»Alle Fürsten und Länder Europa’s sind heute verschuldet. Die Börse regelt diese Schul- den. Solche Geschäfte macht man aber nur mit mobilem Kapital, deshalb muß alles mobile Kapital in den Händen Israels sein. Ein guter Anfang dazu ist, wie wir eben gehört, schon ge- macht. Indem wir die Börse beherrschen, beherrschen wir das Vermögen der Staaten. Deshalb muß man den Regierungen das Schuldenmachen erleichtern, um immer mehr die Staaten in unsere Hand zu bekommen. Womöglich muß das Kapital sich dafür Institute des Staates: Eisenbahnen, Einkünfte, Bergwerke, Gerechtsame, Domainen verpfänden lassen. - Weiter ist die Börse das Mittel, das Vermögen und die Ersparnisse der kleinen Leute in die Hände der Kapitalisten zu bringen, indem man jene zum Börsenspiel verleitet. Die Zeitkäufe in Papieren sind eine glückliche Erfindung unseres Volkes, und wenn auch die Börsenleute sich betrügen unter einander, wird doch zuletzt immer zahlen die Zeche der Unzünftige.« 

Die Stimme - die man gewiß oft an der großen Börse von Paris hörte - schwieg. »Sind die Sekenim mit der Meinung unseres Bruders einverstanden?« frug der Levit.

Ein beifälliges Gemurmel war die Antwort.

»Der Stamm Simeon hat das Wort!« 

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Eine ernste, tiefe Stimme, deren Klang und Worte von tiefem Nachdenken zeugten, drang zu den Ohren der Lauscher.

»Der Grundbesitz wird immer das eiserne und unverwüstliche Vermögen jedes Landes blei- ben. Er verleiht an und für sich Macht, Ansehen und Einfluß. Der Grundbesitz muß also in die Hand Israels übergehen. Das ist leicht, wenn wir das mobile Kapital beherrschen. Das erste Streben Israels muß daher sein, die jetzigen Eigenthümer aus dem Grundbesitz zu ver- drängen. Vor Allem uns gefährlich ist der große Grundbesitz. Man muß daher das Schulden- machen des jungen Adels in den großen Städten erleichtern. Durch die Furcht vor Skandal ruiniren wir die aristokratischen Vermögen und schwächen die Bedeutung der Aristokratie. Der Grundbesitz muß mobilisirt werden, indem man ihn zur coulanten Waare macht. Je mehr wir auf die möglichste Theilung des Grundbesitzes wirken, desto leichter und billiger bekom- men wir ihn in die Hände. Zu dem Zweck muß auf längere Zeit das Kapital den Hypotheken entzogen und deren Unsicherheit verbreitet werden. Unter dem Vorgeben, die ärmeren Klas- sen und die Arbeit erleichtern zu wollen, müssen in Staat und Kommunen die Steuern und Lasten allein auf den Grundbesitz gelegt werden. Ist der Grund und Boden in unseren Hän- den, so muß die Mühe der christlichen Pächter und Arbeiter ihn zehnfachen Zins für uns bringen lassen.« 


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Der Stammlose lachte spöttisch. »Der Rath ist gut, aber nicht neu. Fragt in Paris und Wien nach, wer

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bereits die Eigenthümer der Häuser sind! Das Damno, meine Erfindung, ist ein vortreffliches Mittel, die Besitzer zu ruiniren!« 

Wiederum folgte das beifällige Gemurmel der Versammlung.

»Stamm Juda, die Reihe ist an Dir!« 

Die Stimme, die sich erhob, hatte einen überredenden angreifenden Ton, der nach Ellen und Thalern klang.

»Der Handwerkerstand, jene Israel im Wege stehende Kraft des Bürgerthums, wie der Grundbesitz die Kraft des Adels ist, muß ruinirt werden. Der Handwerker darf nichts Ande- res als Arbeiter sein. Das beste Mittel dazu ist die unbedingte Gewerbefreiheit. Der Fabrikant trete an die Stelle des Meisters. Da er nicht selbst zu arbeiten, sondern nur zu spekuliren braucht, können sich die Kinder Israels in dieser Weise allen Zweigen der Arbeit zuwenden. Ihr Kapital und ihre Gewandtheit ersetzen die Befähigung. Mit der Verwandlung der Hand- werker in unsere Fabrikarbeiter beherrschen wir zugleich die Massen zu politischen Zwecken. Wer diesem System widersteht, muß durch die Conkurrenz vernichtet werden! Das Publikum ist eine gedankenlose und undankbare Masse, es wird den Handwerker in diesem Kampf im Stich lassen, wenn es beim Fabrikanten die Waare etwas billiger bekommen kann.« 

Eine rasche Beistimmung des neuen Sanhedrin bewies, daß die Wahrheiten dieses Rathes längst begriffen und befolgt waren.

»Die Reihe ist an mir,« sagte der Levit. »Ich rede im Namen des Stammes Aaron.

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»Der natürliche Gegner Israels ist die christliche Kirche. Deshalb gilt es, sie zu untergraben. Ihre Spaltungen erleichtern dies. Wir müssen in ihr die Freigeisterei befördern, den Zweifel, den Unglauben, den Streit. Deshalb steten Krieg in der Presse gegen das christliche Prie- sterthum und Verdächtigung und Verspottung desselben. Ein Hauptpfeiler der Kirche ist die Schule. Auf die Erziehung der christlichen Jugend müssen wir also Einfluß gewinnen. Des- halb zunächst Trennung der Schule von der Kirche. Unter der Firma des Fortschritts und der Gleichberechtigung aller Religionen: Verwandlung der christlichen Schulen in confessionslo- se. Dann können Israeliten Lehrer an allen Schulen werden, die christliche Erziehung wird auf das Haus beschränkt, und da die Masse keine Zeit dazu hat, die Religiosität der höheren Stände erschüttert ist, wird sie bald ganz aufhören. Agitation für die Aufhebung des eigenen Besitzes der Kirchen und Schulen, Uebergang des Kirchen- und Schulvermögens in den Besitz des Staates, also früher oder später in die Hand Israels!« 

Das zustimmende Gemurmel begleitete die Worte des Redners, keine Stimme erhob sich dagegen. Dann fuhr dieser fort:

»Der Seken des Stammes Isaschar hat das Wort.« 

Es war die zitternde Stimme eines Greises, die also sprach:

»Mögen die Brüder wirken für Aufhebung der bewaffneten Macht. Der rauhe Waffendienst ist nicht für die Kinder Israels, nicht Jeder ist ein Gideon! Die Armeen sind die Stütze der Throne und die Schulen eines engherzigen

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Patriotismus. Nicht das Schwert, sondern der Geist und das Geld müssen regieren. Deshalb bei jeder Gelegenheit Herabsetzung und Verdächtigung des Militairstandes im Volk, Erregung von Zwiespalt zwischen Beiden. Söldner genügen, um die Polizei zu üben, und die Besitzen- den gegen die Nichtbesitzenden zu schützen.« 

»Der Löwe Juda’s hat seine Stimme erschallen lassen,« sagte der Wandernde höhnisch. »Da- vid überwand den Goleath. Die Völker werden künftig leben im Schlafrock, statt im Schirjon 1 des Kriegers! Eine Ohrfeige an der Börse wird sein, wie eine geschlagene Schlacht!« 

Ein Sturm gegen den frechen Spott schien sich im Kreise erheben zu wollen, aber ein Wort des Aeltesten beruhigte sie.

»Er ist der Sohn Belials! Er mag reden, aber er wird thun, was der Rath der Schebatim beschlossen.

Der Stamm Sebulon möge sprechen.« 

Eine dumpf wie das Gewitter in der Ferne grollende Stimme sprach Folgendes:

»Unser Volk ist im Grunde ein conservatives, an dem Alten, Festen hängend. Aber unser Vortheil erfordert jetzt den eifrigen Anschluß, das heißt die Leitung der Bewegungen, wel- che die Welt durchzittern. Es ist unleugbar, daß ein Drang der Reform durch unsere Zeit geht, aber der ursprüngliche Gedanke derselben ist die Reform des Materiellen, das heißt des materiellen Zustandes der bedürfenden Klassen. Zu einer solchen müßten aber die habenden

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Klassen Opfer bringen, zunächst das Kapital. Das Kapital ist aber in den Händen Israels. Deshalb war es seine Aufgabe, an der Bewegung äußeren Theil zu nehmen, um sie von dem Gebiet der socialen Reformen hinüber zu leiten auf das Feld der politischen. Die Volksmasse als solche ist stets blind und dumm und läßt sich leiten von den Schreiern. Wer aber schreit so laut und so klug wie Israel? Deshalb waren unsere Leute voran auf der Tribüne, voran in den Zeitungen und in den Vereinen der Christen! Je mehr Vereine und Versammlungen, desto mehr Unzufriedenheit und Unlust zur Arbeit. Daraus folgt nothwendig die Verarmung des Volks, also seine Knechtschaft unter Denen, welche haben das Geld, und zugleich das Wachsen unseres Reichthums. Außerdem bringt uns jede Bewegung Geld, denn sie ruinirt den kleinen Mann und mehrt die Schulden. Die Unsicherheit der Throne läßt wachsen unsere Macht und unsern Einfluß. Deshalb Erhaltung fortwährender Unruhe! Jede Revolution zinst unserm Kapital und bringt uns vorwärts zum Ziel!« 

Ein längeres Schweigen folgte diesen schrecklichen Sätzen, gleich als dächte jedes Mitglied des geheimnißvollen Sanhedrin über ihre furchtbare Tragweite nach.

Der Sohn Belials ließ nochmals ein heiseres Lachen hören. »Fürchtet Ihr Euch vor Blut? Es ist nicht das Eure!« 

Dann begann der Eine seine Zustimmung zu murmeln und die Andern folgten nach.

»Sohn des Stammes Dan, die Reihe ist an Dir!« 

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Die Antwort trug selbst in der Stimme das Gepräge des niedern jüdischen Typus.

»Aller Handel, wobei ist Spekulation und Verdienste muß sein in unserer Hand. Er ist unser angebornes Recht. Wir müssen vor Allem haben den Handel mit Spiritus, mit Oel, mit der Wolle und mit dem Getraide. Dann haben wir in der Hand den Ackerbau und das Land. Wir können machen überall das tägliche Brod, und wenn entsteht Unzufriedenheit und Noth,

1 Panzer.


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läßt sich leicht schieben die Schuld und das Geschrei von uns auf die Regierungen. Der kleine Kram, wobei ist viele Müh und zu verdienen wenig, mag bleiben in den Händen der Christen. Sie mögen sich schinden und quälen, wie das auserwählte Volk sich gequält hat viel hundert Jahre.« 

Die Rede bedurfte kaum der Zustimmung. Der Levit rief den Nächsten auf: »Stamm Naph- thali!« 

Die Worte, die folgten, klangen scharf und bewußt.

»Alle Staatsämter müssen uns offen stehen! Ist das Prinzip erst durchgesetzt, wird Schlau- heit und Zähigkeit dem jüdischen Bewerber bald diejenigen schaffen, die wirklich von Einfluß sind; denn es handelt sich nur um solche Aemter, die äußerliche Ehre, Macht undVortheil bringen. Die, welche Arbeit und Kenntnisse fordern, mögen die Christen behalten. Darum verschmäht der Israelit die Subalternstellen. Die Justiz ist für uns von erster Wichtigkeit, die Advocatur ein großer Schritt vorwärts. Sie paßt zu dem Geiste der Schlauheit und Zähigkeit unsers Volkes und gewährt uns Einsicht und Macht über die Verhältnisse unserer natürlichen Gegner. Warum soll nicht ein Jude [ 180 ]

auch werden können bei der Parität Cultusminister, da die Juden doch schon gewesen sind Finanzminister in mehr als einem Staat?« 

»Denkt an den Galgen Hamans! an das Schicksal von Süß und Lippold!« sagte die warnende Stimme.

»Was krächzt der Rabe von den vergangenen Zeiten, so hinter uns hegen und sind über- wunden! Ist nicht einer von unserm Volk ein großer Minister in Frankreich und geehrt vom Kaiser selbst?!« 

Der Ton befriedigten Stolzes lag in der Zustimmung, die dem Redner wurde, der also fort- fuhr:

»Unsere Männer müssen kommen unter die Gesetzgeber des Staates. Die Ausnahme- Gesetze der Gojim für die Kinder Israels müssen abgeschafft werden überall, während wir bewahren die Satzungen unserer Väter. Wir brauchen keine Gesetze mehr zu unserem Schutz, jetzt müssen wir sorgen für Gesetze, die uns gewähren Nutzen! Ein mildes Bankeruttgesetz, was sein soll im Interesse der Humanität, ist wie ein Goldbergwerk in unserer Hand. Vor Al- lem müssen wir sorgen, daß die Wuchergesetze fallen in allett Ländern, mit dem Geschrei, daß dadurch das Geld billiger werden wird. Das Geld ist eine Waare wie jede andere, und das Gesetz selbst muß uns geben das Recht, zu steigern seinen Preis, wie unser Vortheil es heischt.

»Es spreche der Bote vom Stamme Benjamin .« 

»Was soll ich sagen noch zu dem Rath so weiser Männer? Israel soll haben auch Ruhm und Ehre, deshalb muß es sich drängen an die Spitze aller Vereine, wo ist Ehre und keine Gefahr und sich werfen auf jene Zweige [ 181 ]

der Wissenschaft und Kunst, welche sie dem Charakter unseres Volkes am Leichtesten ver- schaffen. Wir können große Schauspieler und große Philosophen und große Komponisten werden, denn bei allen Dreien findet die Spekulation ihr Feld. In der Kunst werden sorgen unsere Leute für den Beifall und uns Weihrauch streuen. In der Wissenschaft ist es die Medizin


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und die Philosophie, die wir festhalten wollen. Sie gewähren der Theorie und der Spekulati- on den meisten Raum. Der Arzt dringt in die Geheimnisse der Familien und hat das Leben in seiner Hand.« 

«Stamm Asser, die Reihe ist an Dir!« 

«Wir müssen verlangen freie Ehe zwischen Juden und Christen. Israel kann dabei nur pro- fitiren, wenn es auch verunreinigt sein Blut. Unsere Söhne und Töchter mögen heirathen in die vornehmen und mächtigen Familien der Christen. Wir geben das Geld und erhalten dafür den Einfluß. Die christliche Verwandtschaft hat keine Einwirkung auf uns, aber wir werden sie üben auf jene. Das ist das Eine. - Das Andere ist, daß wir ehren das jüdische Weib und üben verbotenes Gelüst lieber an den Weibern unserer Feinde. Wir haben das Geld, und für Geld ist feil auch die Tugend. Ein Jude soll nie machen eine Tochter seines Volkes zur Chonte; wenn er will freveln gegen das sechste Gebot, sind der Christenmädchen genug dazu da.« 

»Wozu würden denn die hübschen Dirnen der Gojim in den Magazinen beschäftigt?« warf höhnisch der Repräsentant des bösen Prinzips ein. »Die sich nicht fügen will unserer Lust, erhält keine Arbeit, also kein Brod! Wir [ 182 ]

müssen unsern jungen Männern auch ein Vergnügen gönnen. Geht hin in die großen Städte, und Ihr werdet sehen, daß sie wahrlich dazu Eure Weisheit nicht erst abgewartet haben. Der Arbeiter mag mit unseren abgelegten Kleidern zufrieden sein! - Macht aus der Ehe der Christen statt des Sakraments einen Contrakt, und ihre Weiber und Töchter werden noch williger sein in unserer Hand!« 

Der furchtbare Cynismus dieser Worte, der einen so wunden Fleck berührte, verfehlte sei- nen Eindruck nicht bei den strengen Ansichten der alten Lehre über die Reinheit der Sitten.

»Wie spricht das Gesetz?« frug eine Stimme unter den Zwölfen.

»Auf dem Ehebruch mit einem Weibe unseres Volkes der Tod; die Schwächung einer Jung- frau kann mit Geldstrafe gesühnt werden, wenn sie nicht ist eine verlobte Braut. Dann der Tod! Die fleischlichen Vergehen mit einer Sklavin beurtheilt das Gesetz milde - ihr Leib gehört ihrem Herrn!« 

»Sollen die Gojim besser sein als unsere Sklaven?« 

Der Erklärung folgte das Murmeln der Zustimmung.

»Der Stamm Manasse möge sprechen.« 

Der letzte der Redner erhob bedeutsam seine Hand und bewegte sie langsam hin und her, während er sprach, gleichsam als wolle er damit den Eindruck seiner Worte verstärken. Seine Stimme war schnarrend und unangenehm und voll Anmaßung und Dreistigkeit. Aber er sprach sicher und gewandt.

»Wenn das Gold die erste Macht der Welt ist, so ist [ 183 ]

die Presse die zweite. Was sind alle die Meinungen und Rathschläge, die hier gegeben wor- den, ohne ihren Beistand! Nur wenn wir haben die Presse in unserer Hand, werden wir kom- men zum Ziel. Unsere Leute müssen regieren die Tagespresse. Wir sind gewandt und schlau und besitzen Geld, das wir unsern Zwecken dienstbar zu machen verstehn. Wir müssen ha- ben die großen politischen Zeitungen, welche machen die öffentliche Meinung, die Kritik, die Straßenliteratur, die Telegramme und die Bühne. Wir werden daraus verdrängen Schritt um Schritt die Christen, dann können wir diktiren der Welt, was sie glauben, was sie hochhalten


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und was sie verdammen soll. Wir werden ertönen lassen in hundert Formen den Wehschrei Israels und die Klage über die Unterdrückung, die auf uns laste! Dann - während jeder Einzel- ne ist gegen uns - wird die Masse in ihrer Thorheit sein immer für uns! Mit der Presse in unserer Hand können wir verkehren Recht in Unrecht, Schmach in Ehre. Wir können erschüttern die Throne und trennen die Familie. Wir können untergraben den Glauben an Alles, was unsere Feinde bisher hoch gehalten. Wir können ruiniren den Credit und erregen die Leidenschaften. Wir können machen Krieg und Frieden, und geben Ruhm oder Schmach. Wir können erheben das Talent oder es niederhetzen und verfolgen und zu Tode schweigen. Wer die Presse hat, hat das Ohr des Volks. Wenn Israel hat das Gold und die Presse, wird es fragen können: an welchem Tage wollen wir aufsehen, die Ataroch 1 , die uns gebührt, besteigen den Chisse 2 der

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Verheißung und schwingen den Schebet 3 der Macht über die Völker der Erde!« 

Ein fast ungestümer Beifall folgte den Worten und einige Minuten lang konnten die tief ergriffenen Lauscher nur wenig verstehen von dem, was gesprochen ward. Dann aber erhob sich wieder die Stimme des Leviten und gebot Schweigen.

»Die Rosche-Bathe-Aboth der zwölf Schebatim haben gesprochen weise und schwere Wor- te. Sie werden sein die Pfeiler der kommenden Zeit, wenn der Sohn des >Rastlosen< sie schreibt in sein Gedächtniß und ihren Saamen verbreitet unter dem Volk Israels, damit er aufgehe vom Morgen bis zum Abend und vom Mittag bis zur Mitternacht als gewaltiger Baum. Sie sollen sein das Chereb 4 , mit dem Israel schlägt seine Feinde! Der Saamen Jakob’s muß zusammen halten im Glück, im Reichthum und in der Macht, wie er zusammen gehalten hat im Unglück und in der Gefahr. Jeder muß helfen dem Andern. Wo Einer hinein gesetzt einen Fuß, muß er nachziehn den zweiten, das ist: seinen Bruder! - So Einer gehabt hat Un- glück, müssen die Andern ihm helfen auf! So Einer gekommen ist in Streit mit dem Gesetz der Welt, müssen die Brüder ihm helfen durch, wenn er nur in Frieden lebt mit dem Gesetz unsers Volks. Wer gesessen hat auch zehn Jahr im Zuchthaus, kann immer noch werden ein reicher Mann, vor dem sich beugen müssen die Fürsten und Grafen der Gojim, so ihn nur nicht verlassen unsere Leut. Wenn

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Jeder ist gegen uns, werden sein Alle für uns. Die Hand des Herrn hat uns geführt nach vierzig Jahren aus der Wüste zur Herrschaft im Lande Canaan, und sie wird uns führen nach fünfundvierzig Mal vierzig Jahren aus unserer Wanderung im Elend zur Herrschaft über die Länder, so fünfundvierzig Mal größer sind als Canaan! Wenn Israel folgt dem Rath, den beschlossen hat der Sanhedrin der Kabala, werden unsre Enkel, wenn sie kommen in hundert Jahren an diesen Platz zum Grab des Stifters unsers Bundes, ihm verkünden können, daß sie sind die wirklichen Fürsten der Welt und dem Volk Israels erfüllt ist die Verheißung, so ihm versprochen hat die Herrschaft über alle andern Völker als seinen Knechten! Erneuert Euern Schwur, Ihr Söhne des goldenen Kalbes und ziehet hin in alle Winde!« 


^ie Krone. 2 Der Thron. 3 Das Zepter. 4 Schwert.


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Und stärker leuchtete das bläuliche Licht von dem Grabe des Rabbi her, um das jetzt die Dreizehn unter singendem Gemurmel zogen, indem Jeder von ihnen einen neuen Stein, den er unter seinen Gewändern hervorzog, zu dem Steinhaufen warf.

Den Doktor bedünkte es, als glänze auf der Spitze des Grabes eine goldene unförmliche Thiergestalt im geisterhaft blauen Schein - dann plötzlich mit demselben scharfen Metall- klang, mit welchem das Licht erschienen war, verschwand es, und tiefes einförmiges Dunkel bedeckte den unheimlichen Kirchhof.

Zwischen den Gräbern hindurch huschten einzelne weiße Gestalten - leise knarrte die Pforte — das war nicht der Nachtwind, der sie bewegte in den rostigen Angeln!

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Von den Thürmen der Stadt verkündeten die Uhren die erste Tagesstunde.

Noch immer lag der Gelehrte regungslos in seinem Versteck - keine Bewegung wagte er zu machen - so furchtbar, überwältigend war der Eindruck dessen, was er gehört.

Endlich zeigte ein Geräusch an seiner Seite, daß sein Gefährte neben ihm sich erhoben, und mit einem tiefen schweren Athemzug versuchte er, dasselbe zu thun.

Er richtete sich - auf einen Arm sich stützend, - halb empor, als der unerwartete Anblick, der sich ihm bot, sein Blut erstarren machte und jede Fiber in ihm lahmte.

Halb auf dem nächsten versunkenen Grabstein knieend, über sich hingebeugt, sah er den Italiener die rechte Faust erheben, wie zum mörderischen Stoß, und in dieser Faust blitzte im Sternenlicht der scharfe Stahl eines Stilets.

Die sonst so kalten hochmüthig-spöttischen Züge des Gesichts hatten einen wahrhaft teuf- lischen Ausdruck angenommen - die Augen schienen ein grünliches Feuer auszustrahlen, wie das Auge der Katze in der Nacht, oder des Tigers beim Sprung auf seine hilflose Beute.

»Lasali - Freund! - was wollen Sie thun? wollen Sie mich ermorden?« 

Im Sternenlicht funkelte der Dolch, glühten die Augen - dann, wie von einem plötzlichen Gedanken ergriffen, ließ der Furchtbare den Arm sinken, erhob sich und trat zurück.

»Nein -« sagte er düster - »jene Gedanken sind nicht mein Werk, und ich bin zu stolz dazu, eine zweite [ 187 ]

Rolle zu spielen und Nichts zu sein, als ihr Helfershelfer! Es wird ein höherer Ruhm sein, sie zu bekämpfen. - Stehen Sie auf, Mann - Sie haben Nichts mehr zu fürchten!« 

Der Gelehrte erhob sich, - erst als er wieder auf seinen Füßen stand, Mann gegen Mann, und den Revolver faßte, den Jener ihm selbst gegeben, fühlte er wieder einige Ruhe und Sicherheit.

»Was wollten Sie thun, Lasali - warum hoben Sie den Dolch gegen mich, den Sie hierher geführt?« 

»Weil ich Sie ermorden wollte, Doktor!« sagte kalt der Italiener. »Einen Moment noch, und Sie waren stumm, wie die Steine dieser Gräber, und das Geheimniß gehörte mir allein! - Oder glauben Sie, daß das Blut Juda’s in meinen Adern sich nicht empört hätte bei dem Gedanken, daß ein Unberufener, ein Christ, wußte um das große gewaltige Werk, Israel auf den Thron aller Völker zu setzen? Wahrlich, wäre ich Einer jener Dreizehn, Sie wären gestorben von meiner Hand, und hätten Sie zehnfach mein Leben gerettet; denn der Gedanke dieser Herr- schaft ist groß und erhaben. Aber er ist nicht mein Werk und sie haben einen Andern gewählt zu seiner Verbreitung und Ausführung - deshalb muß er bekämpft werden, und ich nehme


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den Kampf auf gegen ihren Götzen der Macht, das goldene Kalb, und will es in Trümmer schlagen wie Moses that in der Wüste mit seinem Bild!« 

»Es ist erschütternd, was wir gehört, die ganze bürgerliche Gesellschaft gefährdend,« sagte der Gelehrte.

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»Nehmen Sie meine Hand, ich will Ihr Gefährte sein im Kampf gegen diese Macht des Gol- des!« 

Der Italiener schüttelte, die Hand des Gefährten zurückweisend, das Haupt. »Nein,« sprach er fest, »was ich thue, will ich allein thun und mein sei die Ehre. Noch giebt es eine Macht, die gesammelt und richtig verwendet, eben so gewaltig ist, wie das Gold. Es ist die Armuth, die Arbeit! Sie will ich aufrufen und führen zum Kampf. Stolzes Israel, wahre Dich! denn Dir gegenüber stelle ich die sociale Demokratie !« 

»Und ich,« sagte begeistert der Gelehrte, »ich will alles Edle und Höhere, die Wissenschaft, das Ideal, den Glauben, mit Schrift und Wort in den Kampf führen gegen diesen Materialis- mus des Geldes.« 

Sein Gefährte lächelte hohnvoll. »Ihre Ideale werden daran zerschellen, wie der Thon ge- gen das Metall. Nur die rohe Kraft der Fäuste und die Bataillone des Hungers sind die Kämp- fer, welche das goldene Kalb besiegen können! - Unsere Wege scheiden sich hier - gehen Sie den Ihren, ich den meinen! Mein Wort ist gelöst, - aber erinnern Sie sich des Ihren, Ihres Schwurs: Schweigen zu bewahren über Alles, was Sie hier gesehen und gehört!« 

»Ich werde mein Wort halten, das Geheimniß der Kabala hindert mich nicht, die sichtbaren Erscheinungen ihres Strebens zu bekämpfen!« 

»So kommen Sie - wir können unsern Rückzug vom Grabe des sehr ehrwürdigen und klugen Rabbi Simeon antreten und haben keine Entdeckung mehr zu befürchten. [«]

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Er sollte sich doch irren!

Die Beiden hatten die Stelle erreicht, an der sie über die Mauer gestiegen waren und der Italiener schwang sich eben hinüber, als vom Eingänge des Kirchhofs her eine laute Stimme zeterte: »Ganowim! Ganowim ! 1 Grabesschänder! halt auf! halt auf!« 

Es hatte sich ganz einfach Folgendes ereignet.

Die seiner Nation eigenthümliche Neugier hatte den Wächter des Kirchhofs nicht schla- fen lassen, und wenn er auch nach dem strengen Gebot, das ihm geworden und zu dessen Innehaltung sein Eid ihn verpflichtete, nicht gewagt, draußen zu lauschen, war er doch, - nachdem er unter einem Vorwand die Gäste des Nachtmahls fort und seine Familie zu Bette geschickt hatte, in seinen Kleidern im dunklen Zimmer geblieben und hatte durch die Spalten des Ladens gelugt.

Er sah die weißen Gestalten vorüberschleichen und in der geöffneten Pforte des Kirch- hofs verschwinden und harrte geduldig aus, bis die Glocke ein Uhr schlug. Dann kamen die Geheimnißvollen wieder, einzeln, und wandten sich rechts und links, ohne mit einander ein Wort zu wechseln - dreizehn - er hatte sie gezählt und fuhr jetzt eilig von der Spalte im Laden zurück, als er den Letzten gerade auf das Fenster zukommen sah.

Es klopfte an dem Laden und eine heisere Stimme sagte, gleich als hätte sie gewußt, daß er wach geblieben: »Schließe das Haus des Lebens, Wächter Derer, so der Auferstehung

1 Diebe!


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harren! - und Dein Mund sei verschlossen mit dem Siegel Salomon’s hundert Jahre lang!« 

Die Gestalt huschte davon, aber der Wächter des Friedhofs wagte noch längere Zeit nicht, das Haus zu verlassen, bis er sich endlich überzeugt hatte, daß - was die Geheimnisvollen auch getrieben haben mochten - Alles vorüber sei. Dann erst machte er sich auf, verließ das Haus und schlich nach der offenen Pforte des Kirchhofs.

Er konnte es sich nicht versagen, einen Blick in den Friedhof hinein zu thun, obschon das Grauen seine Glieder frösteln machte, und trat leise hinein in den Raum.

Da war es ihm gewesen, als hörte er sprechen. Im ersten Augenblick wollte er sich zurück- ziehen - aber die Neugier, vielleicht auch der Pflichteifer trieben ihn vorwärts.

Jetzt sah er in dem ungewissen, aber doch genügenden Licht der Sterne zwei Männer an der gegenüberliegenden Mauer stehn, im Vegriff, diese zu übersteigen. Dreizehn hatte er den Kirchhof betreten, dreizehn ihn verlassen sehen. Es konnten demnach nur Personen sein, welche nicht zu Jenen gehörten - Grabesschänder - Einbrecher - Diebe - Sofort auch erscholl sein heller Ruf: »Ganowim! Ganowim!« —

»Fort! wir sind verrathen! retten Sie sich, so gut es geht!« flüsterte der Italiener seinem Ge- fährten zu, indem er nach Außen hin von der Mauer sprang und rücksichtslos seinen Mantel mit fortriß. »Ich links, Sie rechts! - Schweigen bis zum Tod!« 

Mit einer verzweifelten Anstrengung, während hinter

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ihm der Pförtner zeterte, war der Gelehrte auf die Höhe der Mauer gelangt. Aus zwanzig Wunden bluteten Hände und Knie - zum Glück hatte das vorige Uebersteigen an dieser Stelle schon die meisten Scherben abgebrochen, sonst wäre es ihm schwerlich möglich gewesen, die gefährliche Passage zu überwinden. Ohne einen Moment zu zögern, warf er sich von der Mauer nieder auf den Schutthaufen, denn schon begann trotz der späten Stunde das Geschrei des Pförtners die Nachbarhäuser zu allarmiren und einzelne seltsam verhüllte Köpfe fuhren aus den Fenstern und stimmten ein in das Gezeter, als sie die fliehenden Gestalten sahen.

Der Doktor hatte gehört, wie sein Gefährte nach links rannte, und er eilte in der entge- gengesetzten Richtung davon, ohne zu wissen, ob er hier einen Ausgang aus dem Labyrinth dieser schmalen Gassen finden und wohin dieser führen würde. Immer lauter wurde es hinter ihm, wie er an der Mauer fort rannte; - er dachte an den Revolver, den er bei sich trug, und daß er theuer seine Freiheit oder sein Leben verkaufen könne, - aber mit einem lebendigen Gefühl des Widerwillens, Unschuldige für sein Abenteuer vielleicht in der Erregung des Au- genblicks leiden zu lassen, warf er ihn von sich. Gleich darauf hörte er vor sich den Ruf eines Wächterhorns und das Rasseln des Spießes auf dem Pflaster.

In diesem Moment in ein finstres Quergäßchen einbiegend, sah er vor sich eine noch dunk- ler gähnende Oeffnung, die offene Flur eines der alten überhängenden Häuser.

Gedrängt von der Gefahr, ohne sich zu bedenken, sprang

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er in den dunklen Flur, suchte mit der Hand die Thür, zog sie zu und drückte sie in’s Schloß.

Hochaufathmend blieb er lauschend stehn und hörte bald darauf mehre Menschen an der Thür vorüber laufen und andere sprechend auf und nieder gehn.

Er war gefangen an dem Ort, an dem er Sicherheit gesucht.


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Nach weniger Ueberlegung begriff er sehr wohl, daß er an der Stelle, wo er sich befand, nicht bleiben konnte. Das Offenstehen der Thür bewies, daß noch Bewohner des Hauses au- ßerhalb desselben waren. Sie konnten jeden Augenblick zurückkehren und mußten ihn dann ohne Zweifel entdecken. Er mußte also ein Versteck aufsuchen, in dem er diese Rückkehr und eine Gelegenheit, unbemerkt zu entkommen, abwarten konnte, was im Augenblick unmög- lich war, da er trotz alles Tastens den Verschluß der Thür von Innen nicht finden konnte.

Mit den Händen und Füßen sich weiter fühlend tappte er vorsichtig vorwärts in dem stock- dunklen Gange an den Wänden hin, die schmuzig und feucht wie die einer Höhle waren. Nach etwa zehn Schritten fühlte er eine Oeffnung der Wand, einen Strick statt des Geländers an dieser, und die ausgetretenen Stufen einer Treppe.

Diese stieg er hinan, indem er sie sorgsam zählte, um bei einem Rückzug die Höhe zu kennen.

Es waren achtzehn Stufen. Als er oben war und an der Wand in dem tiefen Dunkel sich weiterhalf, erschien ihm plötzlich ein schwacher Lichtstrahl, der am Fußboden durch die Spalte einer Thür zu leuchten schien.

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Seine Verlegenheit stieg jetzt noch höher, er wußte in der That nicht, was er thun sollte. Endlich entschloß er sich, auf die Gefahr hin, entdeckt zu werden und Leute zu finden, die ihn mitleidslos den Verfolgern überlieferten, weiter zu gehen.

Nach einigen Schritten war er an der Thür, unter der hervor der Lichtschein drang.

Er legte das Ohr an dieselbe - kein Laut ließ sich hören. Entschlossen legte er endlich die Hand auf den Drücker und die Thür öffnete sich ohne das geringste Geräusch.

Er sah sich in einer Art von Vorgemach, schmuzig, schlecht und mit Gerümpel gefüllt; aber aus einer halb geöffneten Thür, der gegenüber, durch welche er eingetreten, drang ein heller Lichtschein. Ein weiterer Blick zeigte ihm, daß diese Thür eine Art beweglichen Schrank bildete, der sie beim gewöhnlichen Verschluß bedecken mußte.

Mit dem Licht drangen ein köstlicher Wohlgeruch, wie er gar nicht in diese schmuzige übeldunstende Umgebung zu gehören schien, und eine würzige behagliche Wärme in das Vorgemach.

Leise schlich er näher - ein schwerer Vorhang von kostbarem Gobelin verhing halb zurück- geschlagen auf der innern Seite die Thür. Durch die Oeffnung schaute er in ein anstoßendes ziemlich geräumiges Gemach.

Was er sah, war wie ein Traum aus Tausend und Einer Nacht, ein orientalisches Feenmähr- chen!

Und auch an der Fee selbst fehlte es nicht in diesem Traum, denn auf einem breiten Divan von meergrüner persischer Seide lag

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Don Juan!

Die Bucht von Biarritz in dem großen biskayischen Busen ist einer der schönsten Punkte der europäischen Küsten.

Der Reisende, der von Bayonne kommt, hat auf der Eisenbahnstation zwar die blaue Wand der Pyrenäen vor sich, aber noch keinen Blick auf das ihm so nahe Meer, da das Ufer hoch und bergig ist. Erst wenn der Wagen oder der Fuß dessen Höhe erreicht, öffnet sich das


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prächtige Panorama des gewaltigen atlantischen Oceans, eingedämmt zwischen Frankreich und Spanien, dem Auge und läßt den trunkenen Blick von den herrlichen Farbendinten des Meeres, das seine schäumenden Wogenkämme an den gleich verlorenen Posten in die Fluth hinausgeschobenen Gesteinen bricht, auf die langen Linien der weißen hoch und steil über die gewaltige Wassermasse emporragenden Felsen schweifen.

Dort, am rechten Flügel des Panorama’s, erhebt sich auf hohem Vorsprung der prächtige Leuchtthurm, an dem vorbei der Blick weit hinaus die Küsten der Landes verfolgt, bis er sich in die Unendlichkeit der Wasserfläche verliert,

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welche Gott im Westen Frankreichs gesetzt und die der Ehrgeiz seiner Bewohner noch nie- mals ungestraft überschritten hat. Gedeckt von der zurückweichenden hohen Uferwand liegt zu den Füßen dieses Leuchtthurmes gleich einer Oase in dieser Umgebung von Fels und Wel- len mit ihren offenen Gärten die Villa Eugenie, das Geschenk des zweiten Kaisers aus der Familie Bonaparte an die schöne Spanierin.

Wie sich Frankreich und Spanien an dem Golf von Biscaya die Fland reichen, so verkörpert in Marmor und Gold diese Villa das Bündniß dieser beiden Erlauchten Personen.

Nach kurzem, gleichsam den Abstand zwischen dem kaiserlichen Cercle und der übrigen Welt repräsentirenden Zwischenraum der Sanddüne und des Erdreichs schließt sich an die- se Gärten der den Badegästen und den Bewohnern des kleinen Ortes gehörende Raum der Küste; in der Tiefe der von der Fluth bedeckte Sandstrich mit den einfachen Badehallen, auf der von dunklem Grün bekleideten hohen Uferwand das prächtige Flötel Gardere und das große Gebäude des Casino’s oder Gesellschaftshauses, und über diesen wieder an den Ber- glehnen emporsteigend die Kirche mit ihrem weißen Thurm und die Reihen der meist schon im spanischen Styl gebauten Häuser. Vorspringende Felsgruppen, in deren durchbrochenen Höhlungen die Wogen heulen, und auf deren äußerste Spitze fromme Hände eine Kapelle gebaut, schließen links diesen ersten Abschnitt des majestätischen Panorama’s - gleichsam die französische Seite desselben.

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Von noch erhabenerer, gewaltigerer Wirkung ist die spanische.

Wenn man auf dem schmalen Gang an der Bergwand entlang durch das natürliche Fel- senthor gekommen, das zu der Klippe der heiligen Jungfrau führt, gelangt man auf die kahle Höhe, auf welcher der Telegraph und das Observatorium der Douaniers stehen.

Schäumend bricht sich an der langgedehnten Felsenmauer der breite Wogenschwall des Ocean’s und der Donner des brandenden Meeres, das Heulen des Windes verschlingt den Ton der menschlichen Stimme.

Lang am südlichen Horizont dehnt sich hinaus in das Weltmeer die blaue Bergküste von Biscaya und Aragonien, bis sie am Cap Ortegal endet. Die weißen Mauern von Fuentarrabia und der Seeveste San Sebastian leuchten jenseits der Bidassoa vom Strande herüber.

Ja, dort ist das Land des Cid, - hinter jenen Bergen liegt die ganze Poesie der Namen Valencia, Granada, Catalonien, Andalusien, Kastilien —

Dort sanken im Löwenhof der Alhambra die Häupter edler Abencerragen - von dort zog der Entdecker einer neuen Welt - von dorther donnerten die Kanonen von Talavera und er- schütterten zuerst den Thron des gewaltigen Schlachtenkaisers - dort gießt der Mond seinen Silberschein über die gewaltigen Trümmer des Generalife und trauert das Eskurial, daß seine


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Blitze erloschen sind! Dort schwingt noch immer der kühne Espada die todbringende Waffe unter dem rothen Mantel und lockt die Kastagnette in zierlichen Fingern zum wollüstigen Fandango.

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Spanien - Land der Poesie und der Bettler, gewaltiger Geschichte und ranziger Olla Potri- da, der Schönheit, der Liebe, der Serenaden und der Revolutionen! Land der Orangen und der Günstlinge, der Militairemeuten, des blauen Blutes und des blauen Himmels, Heimath Pepita’s, Pansa’s und Don Juan’s - ich grüße dich!


Die Wachen an den Zugängen der Villa Eugenie und die Anwesenheit einer großen Anzahl neuer Gesichter unter den Badegästen zeigten, daß der kaiserliche Hof zugegen war.

In der That hatten der Kaiser und die Kaiserin nach der Huldigung in Nizza und Savoyen, nach dem Besuch der alten Wiege der Napoleoniden, Corsica’s, und der Rückkehr von Algier noch einen kurzen Aufenthalt in Biarritz beschlossen und waren zwei Tage vorher angekom- men.

Man nimmt die Bäder auch hier des Morgens und benutzt den Nachmittag und Abend zu den Promenaden. Am Morgen hatten die spanischen Gräfinnen, die berühmtesten Schön- heiten der vollgültigen und der halbgültigen Welt von Paris in dem berühmten Debardeur- Kostüm mit den Wellen des Ocean’s kokettirt; - die Zeit der großen Toilette zur Promenade war da, und mit der koketten Mantille der schwarzäugigen Schönen von jenseits der Pyrenä- en wetteiferte die kostbare Toilette aus dem Atelier der ersten Modisten der rue Richelieu.

Langsam am Strande entlang kam von der kaiserlichen Villa her eine vornehme Gesell- schaft, der Alles schon von Weitem ehrerbietig Platz machte.

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Eine Dame, einen etwa vierjährigen in das hübsche spanische Kostüm der Pyrenäenbäder gekleideten Knaben an der Hand ging voran, mit dem Spazierstock im Vorübergehen zuwei- len Figuren in den Sand malend, während sie von Zeit zu Zeit den fein und schön gestalteten Kopf erhob, um einen Herrn anzuhören, der einen halben Schritt zurück an ihrer Seite ging und dessen schwarze talarartige Kleidung mit dem Kreuz auf der Brust den hohen Rang eines päpstlichen Hausprälaten anzeigte.

In der Entfernung von etwa fünfzehn Schritt, so daß sie das Gespräch der beiden vor- angehenden Personen nicht vernehmen konnten, folgte eine ganze Gesellschaft von elegant gekleideten Damen und Cavalieren in leichtem Geplauder.

Die Blicke des am Ufer stillstehenden Publikums richteten sich von der ersten Dame und dem Geistlichen jedoch nicht auf diese Gesellschaft, sondern sofort auf einen Mann, der in ziemlicher Entfernung mit seiner aus einigen Offizieren und Herren in Civil bestehenden Begleitung folgte.

Es war unmöglich, diese mittelgroße, etwas schwerfällige Gestalt mit dem ehernen oder apathischen Gesicht, dem leicht schleppenden Gange und dem gesenkten Auge zu verken- nen. Die Witzblätter Europa’s haben ihre karrikirte Maske seit Jahren zur stehenden Figur genommen, und die Kabinete des ganzen Erdballes lauschen auf ihre Neujahrsreden.


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Zur Linken des Kaisers ging ein Herr im Frack mit dem Großkreuz der Ehrenlegion und einem Stern auf der Brust dekorirt, der in der Hand oder unterm Arm ein kleines Portefeuille von grünem Saffian trug, aus dem er

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von Zeit zu Zeit ein Notizblatt nahm, um mit einem Blick darauf seine Rede zu vervollstän- digen. An der anderen Seite schritt ein Offizier in Uniform mit den Abzeichen des Marschall- ranges. Wie bei der ersten Gruppe folgten in ehrerbietiger Entfernung die militairischen und Hofkavaliere und diesen einige Lakaien.

Man konnte bemerken, daß bei der Annäherung der Gesellschaft jene Personen im Publi- kum, deren Anwesenheit wir schon früher bemerkt haben, gleichsam eine Art Spalier oder wandernde Chaine bildeten und die größte Aufmerksamkeit auf ihre Umgebung richteten.

»Betrachten Sie die Angelegenheit in Syrien als abgeschlossen,« sagte der Herr, welcher den Anderen voran ging. »Die 3,500 Christen, die man im Libanon und Damaskus im Mai und Juni niedergemetzelt, werden dadurch nicht wieder lebendig, daß Herr Fuad Pascha seinen Kollegen Achmed in Damaskus und hundert oder zweihundert der Henker hat füsili- ren oder aufhängen lassen; aber die Hinrichtung en gros entzieht uns den Vorwand, unsere Truppen in Syrien zu lassen. Ohnedies ist der Marschall hier nicht sehr einverstanden mit dieser Verzettelung der Armee. Bedenken Sie selbst: die Armee von Algerien, 4000 in China, 6000 Mann in Syrien, 20,000 unserer besten Truppen in Rom, das ist bedeutender Abgang für die Pläne des Herrn Marschalls am Rhein, wenn Oesterreich in Folge der unangenehmen Verständigung mit Rußland auf’s Neue den Krieg an Italien erklärt, selbst wenn wir diese ungeduldigen Thoren sich selbst überlassen.« 

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Die Worte in Betreff der angeblichen Pläne des Kriegsministers waren mit einer gewissen Ironie gesprochen.

»Sire,« sagte dieser denn auch sogleich, »die neue Anregung einer Erwerbung der Rhein- gränze geht nicht von mir aus!« 

»Oh ich weiß! haben Sie keine Besorgnisse - wir können sie nöthigen Falls auf die Bourbons zurückführen. Ist es nicht so, Thouvenel?« 

»Euer Majestät wissen sehr wohl, daß schon auf dem Wiener Congreß 1815 die Rede davon war, als Hardenberg die Bildung eines katholischen Staates am Rhein mit dem König von Sachsen an der Spitze vorschlug.« 

»Ja, und Talleyrand contrecarrirte es glücklich! Aber ich rede von später.« 

»Es war im Jahr 1829, als der Herzog von Mortenart, unser Gesandter in Petersburg, im Auftrag König Karls X. dem russischen Kabinet fast dieselben Vorschläge machte, die Euer Majestät in dem Memoire von 1853 aufstellen ließen und deren Zurückweisung die Ursach’ des orientalischen Krieges und der Zerstörung von Sebastapol war.« 

»Immer dieses Rußland - es treibt die perfideste Politik von ganz Europa und weiß sich stets wie ein Aal der Hand zu entwinden, wenn man es zu fassen glaubt.« 

»Sire,« sagte der Minister, »Sie werden sich erinnern, daß ich davon abrieth, daß Sie gerade durch das russische Kabinet im Mai dem Prinz-Regenten von Preußen den Vorschlag machen ließen, das linke Rheinufer an Frankreich [ 201 ]

abzutreten und sich dafür nach Belieben in Deutschland zu arrondiren!« 


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Der Kaiser drehte sich um und sah ihn scharf an. «Und glauben Sie wirklich, daß ein so energischer Charakter wie der Prinz-Regent, das Letztere nicht thun wird über kurz oder lang, aber dann ohne daß Frankreich Nutzen davon hat, und auf Kosten Oesterreichs, das dann bereuen wird, meinen Vorschlag in Villafranka nicht angenommen zu haben.« 

«Sire,« sagte der Minister, «die Deutschen sind ein eigenthümliches Volk und die Preußen die Zähesten von allen. Es wäre gegen meine Pflicht, wenn ich Ihnen sagen wollte, daß trotz aller inneren politischen Zerwürfnisse und Streitigkeiten, von denen in diesem Augenblick Deutschland erfüllt ist, im Volk selbst die geringste Sympathie für Frankreich herrscht. Selbst nicht am Rhein. Ein Versuch, jetzt die Rheingränze zu erzwingen, würde alle Parteien sofort vereinigen. Das Einzige, auf was unsere Politik rechnen kann, ist die dynastische Eifersucht der deutschen Fürsten, nicht bloß die zwischen den beiden Großmächtigen, sondern die der kleineren Staaten auf Preußen.« 

»Es herrschte eine sehr große Liebe und Einigkeit auf dem Fürstenkongreß in Baden- Baden,« meinte spöttisch der Kaiser.« 

»Ich verstehe Euer Majestät vollkommen! Aber ich glaube, daß die Antwort, welche der König von Hannover der deutschen Presse gab, indem er seinen Minister von Borries in den Grafenstand erhob, als dieser für seine Aeußerung in der hannoverschen Kammer: man müsse [ 202 ]

gegen eine preußische Centralgewalt lieber das Ausland - also Frankreich - zu Hilfe rufen, hart angegriffen wurde - von der deutschen Nation jenem Fürsten einst schwer angerechnet werden wird!« 

»Aber Preußen hat keinerlei Freunde in Deutschland!« 

»Es wird sie haben, sobald es eine nationale Sache gilt! Euer Majestät dürfen nicht glauben, daß ich irgendwie einem Wunsche widerstreben sollte, den ganz Frankreich auf das Sehnlich- ste hegt, und für den die Armee, - ich berufe mich auf den Herrn Marschall - sich mit noch größerer Begeisterung schlagen würde, als bei Magenta und Solferino geschah. Aber ich halte nur den Augenblick nicht für den geeigneten.« 

»Resümiren Sie Ihre Gründe!« 

»Ew. Majestät wollen mir erlauben, lieber Thatsachen zu resümiren.« 

»Sprechen Sie!« 

»Durch die Indiskretion im englischen Parlament ist es bekannt geworden, daß Euer Maje- stät Vorschlag zuerst Oesterreich gemacht wurde. Rußland selbst verdanken wir das Bekannt- werden des spätem an Preußen. Sofort ist die liberale Partei in Deutschland, der sogenannte Nationalverein am 6. Mai in Heidelberg zu einer Erklärung zusammengetreten. Diese hat man am 5. September wiederholt. Dasselbe sahen wir in der Rede des Staatsraths Carteret beim Genfer Schützenfest am 10. Juni und in den vlämischen Versammlungen in Brüssel. Um es offen zu sagen - die russische Indiskretion hat überall Mißtrauen erregt. Daher die Zusammenkunft der deutschen Fürsten in Baden, des [203]

Prinz [-] Regenten und des Königs von Bayern mit dem Kaiser von Oesterreich in Teplitz und Salzburg - die demonstrativen Toaste auf die Einigkeit Deutschlands und der deutschen Groß- mächte, - die Bildung der freiwilligen Corps in England und die Revuen derselben in London und Edinburgh, Demonstrationen der Politik Palmerston, die jeder Machterweiterung Frank- reichs widerstrebt, die schon die Annection von Nizza und Savoien sehr übel vermerkt und


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bei den Vorgängen in Italien offenbar die Hand im Spiel hat. Endlich als Antwort auf unse- re Brochüre 1 die offene Annäherung Rußlands an Oesterreich durch die Demonstration am Geburtstag des Kaisers Franz Joseph und die neue Einladung zu der Zusammenkunft in War- schau, deren Zweck weniger die Berathung über die Stellung der alten Alliance von 1813 zu Italien als gegen Frankreich ist!« 

«Und das Resultat von dem Allen?« 

»Ist - daß Frankreich in diesem Augenblick isolirt steht und es nicht rathsam ist, ohne Bundesgenossen auf unsere alten Rechte zu bestehen.« 

»Marschall Randon!« 

»Sire!« 

»Sagen Sie diesem Herrn, über welche Armee Frankreich gebietet außer den Occupations- truppen!« 

»Der Herr Minister weiß, daß wir die Garden unter Graf St. Jean d’Angely, das Corps von Paris, die Corps Lille des Herzogs von Magenta, Nancy des Marschall

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Canrobert, Lyon des Grafen Castellane, Tours des Marschall d’Hilliers, Toulouse des Marschall Niel, das ist eine Macht von 600,000 Mann auf Kriegsfuß und 10,000 Mann Seetruppen haben.« 

»Sie hören, Thouvenel. Heute haben wir 600,000 Mann. Geben wir dem Prinz [-] Regenten von Preußen Zeit, so wird er in fünf Jahren eine gleiche Armee haben wie wir, und am Besten bewaffnet und organisirt in Europa. Ich kenne diesen Mann und weiß, was er leisten wird, wenn man ihn gewähren läßt!« 

»Dennoch, Sire, es ist unmöglich. Bedenken Sie die Opfer des vorjährigen Feldzugs!« 

»Sie sind ein geheimer Freund der Preußen! Aber ich sage Ihnen, Frankreich muß die Rheingränze von Basel bis zum Ausfluß in das Meer haben, wenn es sicher sein und seine Machtstellung in Europa behaupten will. Doch da kömmt Mocquart sehr eilig uns nach. Sehen Sie, was er bringt, Marschall!« 

Die wenigen Augenblicke, die sie allein waren, benutzte der Minister. Er trat einen Schritt näher.

»Sire,« sagte er mit tiefem Ernst, »bedenken Sie wohl, ehe Sie einen Entschluß fassen! Sehen Sie auf den Knaben dort?« 

»Meinen Sohn?« 

»Ja, Sire! - Nicht Frankreich steht auf dem Spiel, sondern die Dynastie der Napoleoniden. Um Ihrem Sohn den Thron zu wahren, giebt es ein einziges Mittel.« 

»Welches?« 

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»Ein festes und aufrichtiges Bündniß mit Preußen! - Aber der Herr Marschall kommt zu- rück.« 

Von Mocquart, dem Kabinetschef des Kaisers, begleitet, trat der Kriegsminister wieder an seinen Platz. Der Vertraute und Liebling Louis Napoleons, der damals eben seine berüchtigte Komödie veröffentlicht hatte, hielt mehre Papiere in der Hand.

»Depeschen?« 

1 »La Syrie et Vallience Russe,« Ende Juli in Paris erschienen und die erwähnten Vorschläge an Preußen offen proklamirend.


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»Ja, Sire - von Wichtigkeit! Der Telegraph hat sie eben hinter einander gebracht!« 

»Nun?« 

»Unsere Expedition in China hat die Taku-Forts an der Mündung des Peihoflusses mit den Engländern genommen und geht auf Peking! Das in den Forts gefundene Artillerie-Material ist offenbar russichen Ursprungs.« 

»Die Gesellschaft der Engländer ist eine schlechte Beigabe zu der Siegesnachricht. Man muß die Leistungen der französischen Truppen im Moniteur besonders hervorheben! - Wei- ter!« 

»Fürst Milosch Obrenowitsch ist in Belgrad gestorben. Sein Sohn Michael hat die Regierung übernommen.« 

»Wie heißt doch der Gegenkandidat?« 

»Kara Georgewitsch! Er ist auf die Nachricht sofort gestern von Paris abgereist!« 

»Man muß seine Agitation im Stillen unterstützen, damit Rußland in den Donaufürstent- hümern Beschäftigung hat. Aber ich sehe, Sie zögern mit dem Wichtigsten. Was ist’s?« 

»Sire - Ancona hat sich heute Morgen ergeben.

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General Lamoriciere und die ganze Besatzung sind Kriegsgefangene.« 

Der Kaiser biß die Lippen zusammen und blieb stehen, sagte aber längere Zeit kein Wort. Auch seine drei Begleiter schwiegen.

»Dieser - Cialdini hat mehr Glück als Genie! Ein französischer Offizier von Ruf - es ist fatal, daß der General sich nicht länger gehalten hat.« 

»Sire,« sprach der Marschall finster, »Frankreich hätte sich eher daran erinnern sollen, daß der Graf Lamoriciere ein französischer General war!« 

Der Kaiser antwortete nicht auf die herbe Bemerkung. Dann frug er hastig: »Weiß bereits Jemand von der Nachricht?« 

»Sire - ich kenne meine Pflicht!« 

»Dann schweigen Sie - ich muß die Nachricht selbst der Kaiserin mittheilen zur rechten Zeit. - Herr Marschall, kehren Sie sogleich nach der Villa zurück und senden Sie durch den Telegraphen an Castellane den Befehl, zwei Regimenter der Division Marseille nach Civita- vecchia einschiffen zu lassen. Graf Goyon wird noch diesen Abend Instruktionen erhalten. - Aber - heiliger Gott - was geschieht dort -« 

Der Kaiser, bereits oben auf der Höhe des alten Bades stehend, hatte einen Blick auf die voran gegangene Gesellschaft geworfen und eilte jetzt mit der Kraft eines jungen Mannes den hinabführenden Stufen zu.


Die Gesellschaft der Damen hatte das alte Römerbad,

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den Lieblingssitz der Kaiserin, erreicht, an dem sie oft stundenlang zubringt.

Jedermann in Biarritz weiß, daß dies der Fall, und zur Zeit der Spaziergänge des kaiserli- chen Hofes ist dieser Ort daher selbstverständlich eine Art reservirter Platz, von dem sich die andere Gesellschaft zurückzieht, sich begnügend, von der Höhe der Ufergänge auf das klei- ne Amphitheater, welches die Stelle bildet, hinabzuschauen und jede Miene, jede Bewegung dieses exclusiven Kreises zu belauschen.


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Um so größeres Erstaunen erregte es daher, als man bemerkte, daß einer der hervorragend- sten Plätze dieses Halbkreises bereits von einer Person eingenommen war, die sich weder um die einige Plaids und Tücher ausbreitenden und sehr hochmüthige und verdrießliche Blicke auf den Eindringling werfenden Lakaien, noch um die nahende Gesellschaft zu kümmern schien.

Der Fremde hatte seinen Sitz auf der Spitze einer vorspringenden Klippe eingenommen, in deren Höhlung sich die Wellen schäumend und zischend brechen, nahe dem Lieblingssitz der Kaiserin und diesem gewissermaßen die Aussicht unterbrechend. Der Platz des Fremden war nicht ohne Gefahr zu gewinnen, da ein schwindelfreies Auge und ein sicherer Fuß dazu gehörte, ihn auf der schmalen Steinkante zu erreichen, und das war wohl auch der Grund, welcher die Bedienten verhinderte, ihn von der gewählten Stelle zu entfernen. Einen Anruf wagten sie nicht, da ihnen jede Beleidigung oder selbst Beschränkung des Publikum’s auf das Strengste untersagt ist.

Wir haben bereits erwähnt, daß der Fremde von ihren [ 208 ]

Vorbereitungen, wie überhaupt von andern Personen wenig Notiz nahm, sondern nur mit seinen eigenen Gedanken und Träumereien beschäftigt schien. Er war ein Mann, dessen Aeu- ßeres wohl geeignet war, Aufmerksamkeit zu erregen und vom ersten Blick an das Interesse zu fesseln.

Er trug, wenigstens zum Theil, die schon vorhin erwähnte elegante und kleidsame spani- sche Tracht, deren sich die Stutzer von diesseits und jenseits der Pyrenäen in diesen Bädern bedienen, das heißt zierliche bis an die Knie reichende und anschließende Stiefeln von feinem glänzendem Leder mit hohen Absätzen, weite über das Knie in Falten fallende Beinkleider von feinem schwarzen Tuch und einen gleichen, der altdeutschen Kleidung der Maler ähnlichen Rock.

Hiermit endete aber die Gleichheit der Tracht, und es trat eine gewisse Romantik hinzu, die auf einen Seemann schließen ließ.

Statt des weißen zierlich gefalteten Hemdes ließ nämlich der auf der Brust weit zurückge- schlagene Rock ein solches von der feinsten rothen Wolle, zierlich selbst an dem kurz über- schlagenen Kragen mit Goldfäden ausgenäht, sehen, das den kräftigen muskulösen Hals bloß ließ und an diesem nur als Knopf von einer jener großen dunklen Perlen zusammengehal- ten wurde, welche die Taucher von Espiritu Santo am Eingang des Golfs von Kalifornien, zuweilen mit den gierigen Zähnen der Tintorera kämpfend, aus den Tiefen des Meeres her- vorholen. Statt des zu jener Tracht gehörenden schwarzen und weiten Barrets saß auf den dunklen krausen Haaren des Fremden ein rother griechischer Fez, wie ihn die Seeleute des ägeischen Meeres tragen,

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mit langer goldener Troddel, die bis auf die Schulter niederhing.

Das war es, was die Lorgnons und die Operngläser der Hofdamen sofort bemerkt hatten. Aber keine von ihnen hatte bis jetzt das Gesicht des Fremden gesehen, das nach dem Meer hinaus oder hinab gerichtet war, während er mit verschlungenen Armen nachdenkend auf der Klippe saß.

Die hohe Frau, die mit dem Prälaten und dem Knaben ihrer Gesellschaft voran gegangen war, hatte bis dahin im angelegentlichen Gespräch nicht auf die fremde Erscheinung geachtet.


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Erst jetzt, als sie im Begriff war, den gewöhnlichen Sitz einzunehmen, und sie den kurzen da Gloria - Schleier auf das Barret zurückschlug, fiel ihr Blick auf den Fremden. Sie betrachtete ihn einige Augenblicke durch das Lorgnon und wandte sich dann wieder zu ihrem Begleiter.

Das eigenthümlich schöne und zarte Gesicht dieser Dame war fein und schmal geschnitten; die festen Lippen und das schwarze Auge hatten einen stolzen, fast hochmüthigen entschlos- senen Ausdruck; blondes, in die röthliche Farbe des Goldes schimmerndes Flaar umrahmte die hohe Stirn und bildete den seltenen und um so schöneren Contrast zu den dunklen spani- schen Augen. Die zierliche schlanke Gestalt war von jenem weit ausbauschenden Gestell von Stahl, Fischbein und Band umrauscht, das als eine Erfindung der schönen Trägerin bestimmt war, die Reise um die Welt zu machen, und das zuletzt vielleicht noch einmal die Frauen und Töchter der Fidschi-Insulaner [ 210 ]

oder die Schönen von Neuseeland als Flauptgarderobestück tragen werden: dem Krinolin!

»Sie wissen, Monsignore,« sagte die Dame in spanischer Sprache, »welche hohe Verehrung ich Seiner Heiligkeit zolle, und wie tief mich die unglücklichen Ereignisse betrüben, welche den Stuhl Petri in letzter Zeit betroffen haben. Aber was kann ich thun? Ich habe täglich dem Kaiser deshalb angelegen - aber auch seine Hände sind durch den Vertrag gebunden und Alles, was er vermag, ist, die Besatzung von Rom zu verstärken. Seien Sie versichert, daß kein Feind das römische Gebiet betreten soll.« 

»Und Umbrien und die Marken? Ist es nicht genug, daß man dem päpstlichen Stuhl in den Revolutionen von 1859 die Legationen genommen hat?« 

»Wir wollen zu Gott und den Heiligen hoffen, daß es General Lamoriciere gelingt, Ankona zu halten. Die Abberufung unseres Gesandten aus Turin wird ihren Eindruck nicht verfehlt haben - der Kaiser läßt es an Ermahnungen zur Mäßigung nicht fehlen, aber der Hof von St. James unterstützt ganz offen die Bewegung in Neapel, und Sie können unmöglich verlangen, daß der Kaiser für die Bourbonen in die Schranken treten soll.« 

»Großer Gott, ist er nicht ihr Erbe in Frankreich, und verpflichtet der Thron dieses Landes nicht Den, der auf ihm sitzt, ob er Bourbon oder Bonaparte heißt, als den ersten Sohn der heiligen Kirche zu ihrem Schutz? Glauben Euer Majestät mir, es handelt sich hier nicht um den Besitz eines weltlichen Gebietes, sondern um die Existenz der katholischen Kirche, um ihren festen Bestand gegen die [ 211 ]

frechen revolutionairen Ideen der Neuzeit, die gleich den Bilderstürmen früherer Zeit ihre frevle Hand an die Altäre legen, und die - wenn diese gefallen - ohne Bedenken auch die Throne Umstürzen werden, welche jetzt in blinder Sicherheit dem Untergang der Kirche zu- schauen, statt einen Wall um sie zu bilden. Was soll die Welt sagen, wenn der >Correspondant< ganz offen meldet, ohne desavouirt zu werden, daß der Prinz Napoleon und die Prinzessin Clotilde Sterbini, den Mörder Rossi’s und seine Genossen empfangen hat?« 

»Sie wissen, Monsignore, daß der Streit über die weltliche Macht der Kirche ein sehr alter ist und daß selbst der große Oheim meines Gatten, so streng er auch die Würde der Kirche aufrecht erhielt, darüber abweichender Meinung war!« 

»Euer Majestät kennen die Geschichte Frankreich’s zu gut,« sagte der Prälat mit einer ge- wissen Strenge, »als daß Sie sich nicht erinnern sollten, was die Folgen jenes frevlen Spiels


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mit den Rechten der heiligen Kirche gewesen sind. - Auf Eure Majestät, der bisher so ge- treuen Tochter des Glaubens, der kräftigen Stütze der katholischen Kirche, setzt der heilige Vater seine ganze Hoffnung und hat mich beauftragt, mit meinen Worten das Schreiben zu unterstützen, das ich die Ehre hatte, Euer Majestät diesen Morgen zu überreichen. Soll die Antwort, die ich ihm zu überbringen habe, wirklich eine so traurige sein? Soll das Oberhaupt der katholischen Christenheit wirkich gezwungen werden, die Freistätte anzunehmen, die ihm das protestantische England in Malta angeboten hat?« 

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»Ich bin trostlos darüber, Monsignore, aber die öffentliche Meinung in Frankreich . . . Der Heilige Vater wird jeden Augenblick in Frankreich oder Spanien ein seiner würdigeres Asyl finden!« 

Ein rascher Blick des Priesters überzeugte ihn, daß die Gesellschaft sich weit genug entfernt hielt, um die Unterredung nicht zu verstehen und daß der Kaiser eben erst mit den Herren seiner Begleitung die Stufen zu der Rotunde erreicht hatte.

Sein scharfes hageres Gesicht neigte sich etwas vor, näher der schönen und hohen Frau.

»Euer Majestät und Dero Mutter, die Frau Gräfin von Theba,« sagte er leise, »haben früher strenger und eifriger über diesen Punkt gedacht. Euer Majestät wollen mir erlauben, Sie an jenen Abend in den Tuilerien zu erinnern, wo ich so glücklich war, der Erste zu sein, Ihnen und uns zu dem Siege zu gratuliren.« 

»Monsignore!« 

Der Priester fuhr fort. »Seine Heiligkeit der Papst ist der Pathe Ihres Sohnes. Erinnern Euer Majestät sich an das Schicksal des unglücklichen Thronerben des ersten Kaiserreichs und vereinigen Sie die Gebete der Mutter mit denen der Kirche zur heiligen Jungfrau . . . « 

Ein Schrei der Damen unterbrach ihn. - die hohe Frau, die soeben auf solche Weise an ihren Sohn erinnert worden, hatte sich erhoben und erschrocken nach dem Knaben gesehen, der bisher still an ihrer Seite mit den Steinen gespielt hatte. Sie stand sichtlich erbleicht unter dem Rouge der Toilette und streckte zitternd die Arme aus.

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»Heilige Madonna - mein Sohn!« 

»Der Prinz! der Prinz!« war der allgemeine Ruf, aber Niemand hatte Geistesgegenwart oder Gewandtheit genug, der Gefahr zu begegnen, die diesen Schrecken verursacht.

Der Knabe, der Hand seiner erlauchten Mutter und der direkten Aufsicht seiner Oberhof- meisterin entzogen, hatte die Augenblicke benutzt, wo die Aufmerksamkeit seiner Umgebung auf andere Gegenstände gerichtet war, um sich unbemerkt von der Seite der Kaiserin zu entfernen. Er war einige Schritte vorwärts gegangen, und von der gewöhnlichen kindlichen Neugier oder vielleicht einem im Sonnenschein besonders glänzenden Stein verlockt, hatte er den schmalen Felsensteg betreten, der zu der Klippe führte, auf wacher noch immer der Fremde saß.

»Prinz, kommen Sie zurück! hierher!« 

»Louis - heiliger Gott!« 

Der kaiserliche Knabe hörte entweder vor dem Geräusch der Wogen nicht die mahnenden Rufe oder wollte sie nicht hören und schritt vorwärts. Ein falscher Tritt konnte ihn leicht in den Abgrund rollen machen, und es war ebenso gefährlich, ihn weiter gehen zu lassen, als ihn durch Nacheilen in Verwirrung und Schrecken zu setzen.


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In diesem Augenblick, wahrscheinlich durch die Bewegungen im Publikum auf der Höhe des Plateau’s aufmerksam auf die Scene in seinem Rücken gemacht, hatte sich der Fremde erhoben.

Ein Blick zeigte ihm die Ursache des Schreckens, der alle Mitglieder der hohen Gesellschaft erstarrte; - ohne sich

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einen Moment zu bedenken, schritt er sicher und fest auf dem schmalen Felsgrat auf den Knaben zu, der ihm neugierig und freundlich entgegensah, beugte sich zu ihm nieder, nahm ihn in die Arme und trug ihn auf das Land zurück, wo er ihn zu den Füßen der Kaiserin niedersetzte

Die erste Bewegung der hohen Dame war, das Kind an ihrer Brust zu drücken, das gar nicht zu wissen schien, daß es irgend Besorgnisse verursacht hatte, und sehr verwundert war, daß ein fremder Mann sich die Freiheit genommen, es in solcher ungenirten Weise zu berühren. Ihre zweite aber, noch ehe sie ihre Augen auf den Fremden richtete, der mit unbefangener und sicherer Haltung in dem vornehmen Kreise stand, ihre Hand dem Prälaten zu reichen, indem sie in größter Aufregung auf ihren Sitz zurücksank.

»Sie hatten Recht, mich zu erinnern, Monsignore, daß die Heiligen allein dieses Kind schüt- zen können. Kehren Sie unbesorgt nach Rom zurück!« 

Sie wollte sich eben zu dem Unbekannten wenden, als ihr Gemahl rasch herankam und der halblaute Ruf des Marschalls »Seine Majestät der Kaiser!« den Fremden belehrte, in welch hoher Gesellschaft er sich befand.

Der Knabe, der sich den Armen seiner Mutter entwunden, lief auf seinen Vater zu und schmiegte sich an ihn.

Der Kaiser küßte ihn auf die Stirn, dann fuhr er mit dem Taschentuch über die seine. »Beruhigen Sie sich, Madame,« sagte er, »Sie sehen, die Unvorsichtigkeit hat keine üblen Folgen gehabt. Nehmen Sie den Knaben zu sich, Oberst de Lamorte, und

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Sie, Frau Admiralin« - er wandte sich an eine der Damen des Gefolges, die vorhin den Prinzen - freilich zu spät - angerufen, »haben die Erlaubniß, morgen früh nach Paris zurückzukeh- ren.« 

»Aber was giebt es denn, eher papa?« frug ganz erstaunt der Kleine.

»Du warst ungehorsam, Louis,« sagte der Kaiser, »Du hättest ein Unglück haben können, wenn dieser Herr nicht so freundlich gewesen wäre, für Dich besser zu sorgen, als die Perso- nen, denen Du anvertraut bist. - Mein Herr, nehmen Sie meinen und der Kaiserin Dank für Ihre rasche und entschlossene Hilfe. Sind Sie Franzose?« 

»Nein, Sire!« 

»Ich habe noch nicht das Vergnügen gehabt, Sie unter den Badegästen zu bemerken, oder Sie sonst zu kennen.« 

»Sire, ich bin erst heute Morgen hier angekommen.« Der Fremde deutete dabei mit einer Bewegung nach dem Meere.

»Zur See? - Sie sind also Seemann?« 

»Ich bin der Kapitain und Besitzer der Yacht, die in der südlichen Bucht liegt.« 

»Eine englische Yacht! man hat es mir gemeldet. Darf ich um Ihren Namen bitten, Sir?«  »Ich bin kein Engländer, Sire, sondern ein Spanier, und heiße Juan Graf von Lerida.« 


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»Lerida? der Name ist mir nicht unbekannt und wird es meiner Gemahlin noch weniger sein.« 

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Die Kaiserin hatte sich erhoben und war an die Seite ihres Gemahls getreten, die Damen und Herren des Gefolges bildeten einen Kreis um die kleine Gruppe und Aller Augen waren auf den Fremden gerichtet.

Die Person desselben war vollkommen geeignet, das Interesse zu rechtfertigen, das schon sein erster Anblick namentlich bei den Damen erregt hatte.

Er war ein Mann von etwa 26 bis 28 Jahren, nicht viel über Mittelgröße, aber von jenem elastischen Wuchs mit schmalen Hüften und breiter Brust, der trotz der schmächtigen, ele- ganten Taille eine stählerne Muskelkraft verkündet. Die frauenhaft kleinen Hände und Füße bekundeten den Südländer, und dies that auch das dunkle Auge, während die Farbe seiner Haut jene Klarheit und Reinheit zeigte, wie sie sonst nur ein Vorzug des nordischen Ursprungs ist und man sie häufig bei der wirklichen Aristokratie der normannischen Race findet.

Der Kopf des Fremden bildete ein schönes Oval, das von einem fast schwarzen, krausen und wohlgepflegten Bart eingerahmt war, während die volle, rothe Oberlippe durch das Fehlen eines Lippenbarts und ihre besondere, die glänzend weißen Schneidezähne bei jeder Bewe- gung zeigende Wölbung einen eigenthümlich üppigen Ausdruck bekam. Es war, als ob dieser Mund geschaffen sei, sich unauflöslich auf schönen Frauenlippen festzusaugen, und auch nicht das geringste Hinderniß dieser Verschmelzung dulden möge. Ueber diesem wahrhaft wollüstigen Mund hob sich aus breiter gewölbter Stirn eine kurze, aber kräftige und schön geformte Nase mit weiten, offenen Nüstern, die dem [217]

Gesicht jenen kühnen und männlichen Ausdruck zurückgab, den zuweilen das Schwimmen- de, Träumerische des großen Auges zu beeinträchtigen drohte. Der Ausdruck dieses Auges war überaus wechselnd und schien selbst dessen Farbe von dem weichen Blau des Schmach- tens bis zum dunklen verzehrenden Schwarz zu verändern. Es waren dies in der That Augen, für Männer wie Frauen gleich bedeutsam, hochmüthig und herausfordernd, und wiederum bittend und verzehrend.

Als die Blicke des kecken Seemanns mit diesem verschiedenen Ausdruck über den Kreis, der sich um ihn gebildet, liefen, entstand unter den Damen das Flüstern jener ungenirten Bemerkungen, welche die Pariserinnen als ein Vorrecht der Weltstadt in Anspruch zu nehmen pflegen.

Die Kaiserin, welche nur ungern an ihre spanischen Familienverbindungen sich erinnern läßt, während ihr Gemahl es liebt, auf diese zurückzukommen, machte diesmal eine Ausnah- me.

»Die Familie der Lerida, mein Herr, ist ein ebenso altes als zahlreiches Geschlecht in Spani- en,« sagte sie. »Ich habe selbst deren Einige gekannt.« 

Der Fremde, der dies bisher anscheinend vergessen, entblößte bei dieser Anrede sein Haupt.

»Mein Vater,« sagte er ehrerbietig, war Korregidor von Irun und später Kapitain unter Zumala-Carreguy.« 

»Also von dem biscayischen Zweige. Aber wenn ich mich recht erinnere, glaube ich gehört zu haben, daß dieser Herr gar keine Familie hatte und die Linie ausgestorben sei?« 


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»Mein Vater war mit einer Engländerin vermählt, die, Familienverhältnisse halber, schon nach zwei Jahren nach ihrer Heimath zurückkehrte, Madame. Ich wurde unter dem Schutz meines Oheims erzogen.« 

»Sein Name?« 

»Der Viscount von Heresford, Sire.« 

»Wie,« sagte der Kaiser erstaunt, »Lord Heresford, ein alter Bekannter von mir? ich war während meines Aufenthaltes in England auf seinem prächtigen Landsitz Eglinton bei ihm zum Besuch und jagte mit ihm auf seinen Gütern in Schottland.« 

»Ich habe die Ehre gehabt, als Page bei dem Turnier, das mein Oheim gab, Eure Majestät zu sehen.« 

»Und - wenn ich mich recht erinnere - ist mein alter Freund todt?« bemerkte nicht ohne ein gewisses Zögern der Kaiser.

»Er wurde in Paris am Tage der Hinrichtung Orsini’s ermordet!« 

»Recht - es muß um diese Zeit gewesen sein. Ich habe das Unglück und den Verlust leb- haft bedauert; aber der Marquis, Ihr Oheim, war etwas excentrischen Charakters und liebte seltsamen Umgang.« 

Der junge Mann schwieg.

»Und Sie, Herr Graf,« unterbrach der Kaiser die entstandene Pause, »darf man fragen, was Sie hierher führt? eine Vergnügungsfahrt, oder vielleicht wollen Sie Ihre Verwandten in Spa- nien besuchen?« 

»Verzeihen Sie, Sire, es ist eine Geschäftsreise, ich bin Schmuggler!« 

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Der ganze Kreis der vornehmen Herrschaften lachte nach dem Beispiel des Herrschers bei diesem eigenthümlichen Geständniß.

»Ei, Herr Graf, dann rathe ich Ihnen, sich vor meinen Douaniers in Acht zu nehmen,« sagte der Kaiser auf den Scherz eingehend. »Die französischen Zollgesetze sind zwar in neuerer Zeit sehr gemildert worden, indeß noch immer ziemlich streng, und ich menge mich nicht in meine Justiz, selbst bei einem Schmuggler Ihrer Art, der uns eben so hoch verpflichtet hat.« 

»Verzeihung, Sire, aber es war mein voller Ernst. Ich habe eine unüberwindliche Neigung, in Frankreich Puros und Manilla’s zu rauchen, statt der Cigarren der Regie, in England Bor- deaux zu trinken, der nicht von den Zollbeamten Ihrer Majestät der Königin Victoria gewäs- sert ist, und in Spanien französische Foulard’s zu tragen, die keine Steuer bezahlt haben.« 

»Ich sehe, mein Herr,« sagte der Kaiser lächelnd, »Sie haben einige der Eigenheiten Ihres verstorbenen Oheims geerbt, und dem Anschein nach auch die Mittel, Ihren Liebhabereien zu fröhnen, was mich um Ihretwillen freut. Doch Schmuggler oder Graf, die Kaiserin und ich sind Ihnen sehr verpflichtet und wir hoffen, Ihnen während Ihrer Anwesenheit in Biarritz unsere Geneigtheit beweisen zu können!« 

Eine freundliche Bewegung der Hand zeigte dem Fremden, daß die Audienz beendet sei, und er trat zurück. Der Kaiser reichte seiner Gemahlin die Hand und führte sie die Stufen hinauf; der Hof folgte.

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Die glühenden Blicke des Zurückbleibenden hefteten sich auf die schönen zierlichen Gestal- ten der jüngeren Damen, als sie mit dem graziösen Schritt der Pariserinnen nicht ohne koket- tes Zurückblicken auf den Helden der kleinen Scene die Uferwand erstiegen, und begegneten dabei zwei braunen Augen, die mit einer gewissen vornehmen Kälte auf ihn herabsahen.

Es war die letzte der Damen, eine hohe schlanke Gestalt von aristokratischer Haltung. Das stolze vornehme Gesicht war kalt wie Eis, und dennoch zuckte jenes geheimnißvolle Fluidum, das den Rapport von Auge zu Auge gleich einem elektrischen Strahl bildet, in jäher Röthe über ihre Schläfe, als ihr Blick dem des Fremden begegnete.

Die Dame wandte sich ab und folgte langsam dem Zuge, nicht ohne sich nochmals auf der Höhe des Ufers zurückzuwenden. Der Blick des Grafen begleitete sie und er wandte ihn erst ab, als er angesprochen wurde.

»Monsieur,« sagte der Cavalier, der zu dem jungen Mann zurückgekehrt war, »ich bitte um die Erlaubniß, mich Ihnen als der Graf Tascher de la Pagerie, erster Kammerherr Ihrer Majestät der Kaiserin, vorzustellen. Ich habe den Befehl, Sie für heute Abend zum Thee bei Ihren Majestäten zu laden.« 

Der Besitzer der Yacht verneigte sich. »Ihre Majestät hat zu befehlen, aber - entschuldigen Sie, ich kenne die Gewohnheiten des französischen Hofes nicht - um wie viel Uhr muß ich erscheinen?« 

»Ihre Majestäten nehmen um 9 Uhr den Thee auf

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der Terrasse der Villa. Ich werde die Ehre haben, Sie nach 8 Uhr zu empfangen.« 

Der Spanier oder Engländer warf einen Blick auf den Himmel und das Meer. »Erlauben Sie, Herr Graf, daß ich Sie noch einen Augenblick zurückhalte. Ich befinde mich wirklich in nicht geringer Verlegenheit. Wir haben Südwest und jetzt 6 Uhr. Es ist unmöglich, mein Schiff unter zwei Stunden zu erreichen und meine Toilette zu machen, da ich ohne Ahnung der Ehre, die mir geworden, an das Land gegangen bin und mein Boot zurück geschickt habe. Ich würde bei der größten Eil mit einer Barke des Hafens nicht vor zehn Uhr eintreffen können, wenn nicht . . . « 

»Nun, mein Herr? - in diesem Kostüm allerdings, auch wenn es ganz vortrefflich gewählt ist und unsere Löwen vor Neid bersten machen würde, geht es nicht. Wenn ich nur wüßte, wie ich uns aus der Verlegenheit helfen könnte!« 

»Es giebt allerdings ein Mittel.« 

»Ei, parbleu, so sprechen Sie!« 

»Der Telegraph des Douanenamts -« 

Der Kammerherr brach in ein lautes Gelächter aus, in das der Fremde mit einstimmte.

»Allerliebst, mein Herr Schmuggler, Sie verlangen doch nicht, daß wir die kaiserliche Doua- ne zu Ihrer Verfügung stellen?« 

»Es wird nichts Anderes übrig bleiben, wenn Sie mich diesen Abend haben wollen,« sagte der junge Mann noch immer lachend.

»Nun ich denke, mit einem Contrebandier Ihrer Art

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können wir es schon riskiren. Und dort seh ich zum Glück einen Offizier unserer Douaniers. Bitte, kommen Sie hierher, Lieutenant!« 

Aus einer Gruppe der Zuschauer kam der Zolloffizier ehrerbietig näher.


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»Was wünschen Sie nun, Sir, oder Don Lerida?« 

»Bloß, daß Sie mir erlauben, meinem Schiff einige Signale zu geben, damit mein Stewart mir meine Koffer an’s Land bringt.« 

Der Kammerherr wandte sich zu dem Douanier. »Dieser Herr ist Gast Seiner Majestät des Kaisers. Sie haben gehört, was er wünscht, also haben Sie die Güte, ihn nach der Station zu begleiten und dort die nöthigen Instruktionen zu geben.« 

Der Offizier verbeugte sich.

»Nun mein Herr Schmuggler,« sagte der Graf heiter, »hoffe ich bestimmt, das Vergnügen zu haben, Sie um 8 Uhr unseren Damen vorzustellen zu können.« 

Er reichte ihm die Hand, die der Anglospanier einen Augenblick festhielt.

»Ich bin sehr begierig darauf. Wenn es nicht unbescheiden ist, Herr Graf, so möchte ich Sie schon jetzt um Auskunft bitten, wer die beiden jüngeren Damen in Begleitung Ihrer Majestät waren.« 

»Welche meinen Sie? - Sie wissen, daß alle möglichst jung erscheinen wollen.« 

»Zunächst die Dame in Meergrün!« 

»Ei den Teufel, Sie haben Geschmack, mein junger Freund! das ist die Herzogin von Ro- chambeau, die kälteste

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und stolzeste Schönheit des Hofes und noch dazu gewiß nicht sehr gut auf Sie zu sprechen.«  »Warum dies?« 

»Weil Ihre Gewandtheit und Ihr rasches Einschreiten ihrer Verwandten den starken Verweis zugezogen hat. Dieselbe ist die Oberhofmeisterin des Prinzen.« 

»By Jove, Herr Graf, es wäre sicher schlimmer geworden, wenn die Hoffnung Frankreichs einen kleinen Purzelbaum in das Wasser geschlagen hätte,« sagte mit Ironie der junge Mann. »Und die blonde zarte Dame in Blau?« 

»Diese ist allerdings die jüngste - Fräulein von Kervague, eine Bretagnerin, noch ein pures Kind. Und nun au revoir, Sir!« 

Der Kammerherr eilte der hohen Gesellschaft nach, die er auf der Mitte des Weges zur Villa erreichte. Der Fremde blickte im tiefen Sinnen hinterdrein, aus dem ihn erst die Anrede des Douaniers weckte.

»Wenn es Ihnen gefällig ist, Monsieur, ich stehe zu Ihren Diensten.« 

»Ah richtig! Entschuldigen Sie, daß ich Sie habe warten lassen!« Ein leichter Hohn blitzte in den Augenwinkeln des Sprechers, als er den Offizier näher musterte, der ein noch jünge- rer Mann, als er selbst, mit offenem, wettergebräuntem Gesicht war. »Lassen Sie uns denn gehen!« 

Die Beiden nahmen ihren Weg am Ufer entlang nach der Höhe, auf der sich, den Blick auf beide Einbuchtungen

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beherrschend, das Observatorium der Douane mit dem Telegraphen befindet.

»Sie wünschen also Signale nach der englischen Yacht zu geben, die auf der spanischen Seite liegt?« frug der Offizier.

»Ja, mein Herr! - ich habe mein Boot unglücklicher Weise zurückgeschickt und bedarf einiger Koffer, um bei Hofe passend zu erscheinen.« 

»Aber werden Ihre Leute auf der Yacht auch unsere Signale verstehen?« 


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«Ich werde Ihnen meine Privatsignale geben, für die ich immer vorbereitet bin, wenn ich mein Schiff verlasse.« 

»So ist die Yacht also die Ihre, Mylord?« 

»Ich bin zugleich Besitzer und Kapitain der >Victory<, sagte der Fremde, ohne den Titel zurückzuweisen, den ihm der Andere gab. »Sie ist ein vortrefflicher Segler!« 

»So scheint es - wir beobachteten sie schon gestern Abend bei der Ankunft auf der Rhede. Ich muß bereits die Ehre gehabt haben, Euer Herrlichkeit Gesicht schon früher bei irgend einer Gelegenheit gesehen zu haben?« 

»Ich bezweifle es,« sagte der Fremde, der jetzt sein Französisch mit stark-englischem Accent sprach. »Es ist das erste Mal, daß ich mit meinem Schiff hier einlaufe und ich komme direkt von Cork.« 

»So hat sich der alte Narr, der Codes, getäuscht, als er behauptete, er kenne die Yacht und habe sie oft gesehen.« 

»Bah,« sagte der Kapitain, »die Schiffe des Yachtklubs ähneln einander sehr, sie werden meist alle auf denselben Werften gebaut. Ob dies mit der Victory der Fall, weiß

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ich jedoch in der That nicht, ich erbte sie vor zwei Jahren beim Tode meines Oheims, des Lord Viscount von Heresford.« 

Der Offizier schwieg vor diesen Thatsachen.

»Sind Sie schon lange auf dieser Station, Herr Lieutenant?« frug im Weitergehen der Eng- länder.« 

»Seit einem Jahr, mein Herr.« 

»Und ist Ihr Dienst sehr streng und beschwerlich?« 

»Von Zeit zu Zeit - je nachdem in Spanien das Ministerium steht oder wankt.« 

»Goddam! das begreife ich nicht ganz. Was haben die Cortes und das spanische Ministerium mit der Beschäftigung eines französischen Douanen-Offiziers zu thun?« 

Der junge Beamte lachte. »Ich sehe in der That Mylord, daß Sie noch nicht an unserer Küste gewesen sind. Die Sache ist sehr einfach. Vor und nach jedem Aufstandsversuch - Pro- nunciamento, wie die Spanier sagen - sind die spanischen, wie die französischen Schmuggler außergewöhnlich beschäftigt und daher um so kecker und verwegener. General Prim ist ein wahrer Fluch für uns und bei dem letzten Versuch der Bourbons -« 

»Ah - das war im April, wobei General Ortega in Tortega erschossen wurde und der Graf von Montemolin sich ziemlich kläglich benahm.« 

»Ich habe davon gehört,« sagte der junge Offizier gleichgültig. »Aber der Graf von Monte- molin hat uns weniger zu schaffen gemacht, als dieser Teufel von Juan el Tuerto!« 

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»El Tuerto? - wer ist das? ich habe den Namen nie gehört.« 

»Dies, Mylord, ist der Name des kühnsten und gewandtesten Contrebandiers, Briganten und Verschwörers, der seit langer Zeit die Pässe der Pyrenäen, die Küsten von Asturien und Biscaya und den Thron Ihrer Majestät der Königin Isabella unsicher gemacht hat.« 

»Und dieser Spitzbube und Revolutionär respectirt selbst die französischen Wachen nicht?« 

»Wir haben alle Ursach, anzunehmen, daß er in diesem Frühjahr verschiedene kühne Strei- che der Schmuggler und Gefechte selbst geleitet hat, die sie uns lieferten und bei denen - wie ich zu meiner Beschämung als Franzose gestehen muß - wir den Kürzeren gezogen haben.


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So viel steht fest, daß der verteufelte Alte sowohl bei den Schmugglern französischer wie spanischer Nationalität in dem höchsten Ansehen steht.« 

«Sie sagten >der Alte<, bemerkte der Besitzer der Yacht. »Es ist also bereits ein alter Bandit, der eine lange Laufbahn des Verbrechens hinter sich hat?« 

»Er kann fünfzig Jahre sein und ist häßlich und einäugig, daher auch sein Name. Doch muß er früher an einer anderen Küste oder im Innern des Landes sein Handwerk getrieben haben, denn sein Ruf in dieser Gegend ist kaum älter als zwei Jahr. Vielleicht ist er auch ein entsprungener Galeerensclave von Brest oder Toulon. Wir haben an diesen Gränzen öfter solche rasch auftauchende und durch eine glückliche Kugel, den Dolchstoß eines Rivalen oder ein gesammeltes Vermögen eben so bald

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wieder verschwindende Berühmtheiten, und ich selbst erinnere mich deren ein Paar, als ich noch im Landdienst an den Pyrenäen-Pässen und der Gränze von Savoyen stand - und richtig, Mylord, dort war es, wo ich Jemand sah, der Ihnen zum Verwechseln ähnlich war, nur daß er einen anderen Bart trug.« 

»Ich war niemals in Nizza oder Savoyen.« 

»Und ich freue mich dessen, daß ich mich getäuscht, Mylord, denn die Scene, der ich beiwohnte, und in der Ihr Ebenbild eine böse Rolle spielte, kostete einem schönen jungen Mädchen das Leben.« 

Sie waren bei diesen Worten an dem Observatorium angekommen und der Engländer da- durch verhindert, sich näher das Abenteuer erzählen zu lassen.

Auf der Bank saß einer der beiden die Wache habenden Douaniers, ein Mann von etwa 40 Jahren mit offenem ehrlichem Gesicht und großer kräftiger Gestalt, während sein Gefährte, ein verwitterter alter Seemann mit einem Stelzfuß, vor dem Fernrohr hockte und eifrig nach einem Gegenstand spähte.

»Der Teufel soll mein Holzbein als Handspeiche brauchen, wenn mir der Kerl nicht immer verdächtiger wird« brummte der Alte. »Es ist das zweite Mal, daß er heute mit dem verfluch- ten Schleichhändler Boote wechselt und ein Bursche, der das thut, ist selber nicht viel besser und hat keine Reputation.« 

»Aber es waren beide Mal Boote der Felucke, Codes,« sagte der Douanier vor dem Häus- chen, indem er seinem Gefährten durch das offene Fenster antwortete. »Wir

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wissen selbst nicht einmal gewiß, ob das Schiff draußen der spanische Schmuggler ist oder nicht, und am Allerwenigsten kann das die Yacht verdächtigen, daß ein fremdes Schiff ein Boot an ihren Bord schickt. Es können hundert ganz unschuldige Ursachen dazu sein - viel- leicht ist Jemand krank geworden und man bittet um eine Arznei, oder man bietet Fische an, oder -« 

»Oder Orangen von Pamplona,« sagte der Engländer lachend, indem er mit seinem Beglei- ter um die Ecke des Hauses trat, wo sie die Worte mit angehört.

Der Douanier war bei dem Anblick seines Vorgesetzten aufgestanden und hatte achtungs- voll gegrüßt. »Der Lieutenant, Codes!« rief er halblaut.

»Guten Tag, Lafarre,« sagte der Offizier. »Was haben Sie Neues?« 


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»Nicht Viel, Herr Lieutenant, als daß Codes immer verbissener auf seine Behauptung wird, die Felucke, die seit diesem Morgen auf der Höhe beigelegt und unser Signal mit der fran- zösischen Flagge erwiedert hat, sei nichts weniger als ein Schiff von Bordeaux oder Nantes, sondern unser alter Bekannter, der >San Martino<.[«]

»Ich will mich kielholen lassen, wenn er’s nicht ist!« rief der Veteran, der unterdeß in die Thür getreten war. »Wenn der Halunke denkt, daß er einen alten Seewolf von Brest mit der Flunkerei einer neuen Malerei und eines veränderten jibbaums täuschen kann, verdient er ein Tauende zehn Mal backstags zu kriegen. Es ist so gewiß der San Martino, als der verdammte englische Gelbschnabel dort

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schon mehr als ein Mal in schlechter Absicht die Bai gekreuzt hat.« 

»Das Schiff, was Ihr nennt, Alter,« unterbrach ihn der Engländer, »ist allerdings kein Fran- zose nach dem Schnitt seiner Segel und dem ziemlich liederlichen Zustand seiner Takelage zu urtheilen.« 

Der alte Seemann sah den Sprecher groß an. »Was verstehen Sie davon?« fragte er barsch, den Fremden für einen der gewöhnlichen Badegäste haltend, die so häufig diesen Punkt besuchen und die Aufseher mit ihren Fragen und Bemerkungen quälen.

»Goddam, ich denke, ich kann etwas sicherer urtheilen,« sagte der Engländer, »weil ich den Burschen heute Morgen um drei Meilen näher vor meinem Glase gehabt habe, als Ihr, und mein Glas ein echter Dolbond ist, während dies -« er war durch die offene Thür sans gene an den Tubus getreten und beschaute die beiden Schiffe - »eine sehr mittelmäßige Waare ist. Die Felucke scheint mir von Oporto zu kommen und Wein oder Südfrüchte geladen zu haben, und die Burschen haben wahrscheinlich meinem Stewart und der Mannschaft davon angeboten.« 

Der alte Stelzfuß sah den Fremden mit noch größerem Erstaunen an.

»Dieser Herr,« sagte der Offizier, »ist der Besitzer der Yacht, und wie es scheint ein See- mann, wie Sie, Codes, was ich leider nicht bin. Deshalb muß ich auch Ihrer Meinung ver- trauen in Betracht jenes Schiffes, um so mehr, da auch Mylord Ihre Ansicht bestätigt. Geben

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Sie daher das Signal, Lafarre, daß unsere Posten auf der ganzen südlichen Küste diese Nacht strenge Wachsamkeit üben sollen, und dann bitte ich Sie, die Befehle Mylords nach seiner Yacht durch den Telegraphen zu übermitteln. Dienst des Kaisers! Der Herr hat, wie ich am Ufer hörte, vielleicht Frankreich vor einem großen Unglück bewahrt.« 

Er verbeugte sich gegen den Fremden. »Haben Sie noch Etwas zu befehlen, Mylord? - sonst erlauben Sie wohl, daß ich meinem Dienst folge, der diesen Abend und diese Nacht wahrscheinlich ein ziemlich angestrengter sein wird.« 

»Noch Eins - wo kann mein Boot landen?« 

»Wo Sie wollen, Mylord - ich werde Befehl geben, daß Sie in keiner Weise belästigt wer- den.« 

»Meinen besten Dank, mein Herr, ich werde nicht verfehlen, Ihre Gefälligkeit dem Herrn Grafen zu rühmen.« 

Der junge Beamte erröthete vor Vergnügen über dies Versprechen und wollte eben gehen, als ihm noch eine Sache einzufallen schien.


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»Haben Sie noch etwas von dem Fahrzeug bemerkt, Codes, das Sie gestern auf der Höhe kreuzen gesehen haben wollen, obschon keiner von uns mit dem Glase mehr als die Spitzen einiger Segel entdecken konnte!« 

»Sapristi - es ist noch da, Südwest, aber es muß so weit entfernt sein, daß man nicht mehr davon sehen kann, als der Flügel einer Möve zeigt.« 

Der Douanenoffizier entfernte sich, dem ersten Aufseher, der ihn einige Schritte begleitete, nochmals die größte Höflichkeit und Bereitwilligkeit gegen den Fremden

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empfehlend, da dieser die besondere Aufmerksamkeit der kaiserlichen Herrschaften zu ge- nießen schien.

Als der Aufseher Lafarre zur Station zurückkehrte, fand er den Fremden in Unterhaltung mit Codes begriffen, der ihm wie eine knurrende Bulldogge antwortete, da er, wie alle Breta- gner, die Engländer auf’s Bitterste haßte. Der vermeintliche Lord saß vor dem Fernrohr und beobachtete sein Schiff.

»Mein Herr,« sagte der Aufseher, »wie meinen Sie, daß wir mit der Yacht in Correspondenz treten können?« 

»Nichts leichter, mein Lieber, als das. Ich sehe, daß man bereits Ihr Signal an die Küsten- wächter bemerkt hat. Master Wilmsen, mein Steuermann, ist auf Deck und wird im Augen- blick meine Privatflagge bemerken, wenn Sie die Güte haben wollen, dieselbe aufzuziehen.« 

Er nahm bei diesen Worten ein kleines fest zusammengeschnürtes Packet aus seiner Brust- tasche, öffnete die Schnur und entwickelte eine Anzahl kleiner seidener Flaggen und Wim- pelbänder in allen Farben, die er alsbald zu ordnen begann.

»Da, nehmen Sie, Monsieur, und lassen Sie das eine Minute lang wehen. Ich wette zehn Pfund, daß noch vor dieser Zeit die Antwort da ist.« 

Er gab dem Aufseher eine kleine Flagge von Grün und Weiß quadrirt, die im nächsten Augenblick am Flaggenstock der Signalstange in die Höhe stieg und von dem Seewind lustig entfaltet wurde.

»Sehen Sie, Monsieur,« sagte der Fremde, »da ist

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die Antwort schon. Dieselbe Flagge an der Gaffel des Besanmastes.« 

In der That konnte man selbst mit bloßen Augen erkennen, daß am Bord der Yacht eine Flagge aufgezogen worden.

»Nun, mein Freund,« fuhr der Herr des Fahrzeuges fort, »nehmen Sie dies rothe und weiße Band und ziehen Sie es auf. Es ist das Signal, mir Boote zu senden.« 

»Das Boot meinen Sie, Mylord?« 

»Nein, ich beordere deren zwei, denn das eine mag am Strand auf mich warten, bis die Soiree bei Ihrem Kaiser vorüber ist, während das andere nach der Yacht zurückkehrt für den Fall, daß ich noch einige Anordnungen zu treffen haben sollte. - Ah, man hat mich begriffen und macht bereits das Gig und das große Boot los! Jetzt, Monsieur, bitte, hissen Sie diese beiden Flaggen auf, es ist das Privatsignal, daß ich meines Stewarts und meiner Koffer bedarf.« 

Die Flaggen stiegen im Nu in die Höhe. Ueber das Hinterdeck der Yacht erhob sich ein leichter Rauch und gleich darauf hörte man den schwach herüberschallenden Knall eines


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jener kleinen Geschütze, welche gewöhnlich diese den bloßen Vergnügungsfahrten gewid- meten Fahrzeuge zu führen pflegen.

»By Jove ,« sagte der Engländer - «Sie hören, daß man meine Befehle verstanden hat! - Gleich, mein Lieber,« fuhr er zu Codes fort, der, Verwünschungen über die englische Frechheit leise murmelnd, die sich so keck auf einer französischen Station breit mache, schon seit einiger Zeit

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um ihn herumstelzte, offenbar bemüht, an das Fernrohr zu kommen. - »Sie sollen sofort meinen Platz einnehmen, so wie ich mich überzeugt habe, daß man meine richtigen Koffer gewählt hat.« 

Es dauerte einige Minuten, ehe dies geschehen zu sein schien, und erst, als die beiden Böte von der Seite der Nacht abstießen, verließ der Fremde das Fernrohr.

»In anderthalb Stunden können sie am Ufer sein,« sagte er - »es ist Zeit, daß ich mir ein Quartier suche, da das Flötel Gardere vom Dach bis zum Keller besetzt ist. Und darum Adieu, meine Flerren, und besten Dank für Ihre Gefälligkeit. Ich hoffe, Sie werden mir nicht abschla- gen, eine Flasche Wein auf meine Gesundheit und die Fortsetzung unserer Bekanntschaft zu trinken, denn ich denke, diesen Platz während meiner Anwesenheit öfter zu besuchen.« 

Er hatte auf die Ecke des Tisches einen Sovereign gelegt, nickte dem alten Stelzbein noch vertraulich zu, wobei wieder das frühere spöttische Lächeln um seinen Mund flog, und ging langsam den Fußweg hinunter, indem er die Richtung nach dem Platz vor der Kirche nahm, wo sich mehre kleinere Hotels befinden.

Die Neugierigen sahen ihn in zwei derselben treten und nach kurzem Gespräch mit dem Wirth oder dem Oberkellner wieder herauskommen, als ob er von dem Erfolg seiner Nach- fragen nicht befriedigt worden.

Als er zum zweiten Mal herauskam, stellte sich ihm ein kleines etwa achtjähriges Mädchen in den Weg und redete ihn, wie die jungen und alten Gaffer hörten, die sich

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alsbald herbeidrängten, in dem baskisch-französischen Jargon der Gränze an:

»Suchen Sie vielleicht ein Quartier, Monsieur?« 

Er verstand sie offenbar nicht und frug, was sie wolle.

»Verzeihen Sie, Monsieur,« sagte einer der Umstehenden, »die Kleine frägt, ob Sie vielleicht ein Quartier suchen?« 

»Goddam - freilich suche ich ein Quartier für zwei oder drei Tage - aber die Hotels an diesem Orte sind ja alle bis unter das Dach besetzt, und ich habe vergeblich bereits in vier derselben nachgefragt und doppelte Preise geboten. Fragen Sie das Kind, ob ich zwei Zimmer auf einige Tage haben kann?« 

»Ja, Monsieur, zwei schöne Zimmer mit der Aussicht auf das Meer.« 

»Und wo?« 

»Bei Mademoiselle Margaritta Labeule! [«]

Der Namen, den die Kleine genannt, schien eine große Sensation in dem Kreise der Gaffer zu machen, wenigstens unter dem Theil, der aus dem Orte selbst stammte.

»Bei Margaritta Labeule, der Tochter des Douanen-Inspekteurs, der vor achtzehn Monaten erschossen wurde? Aber sie hat noch nie vermiethet und sich stets geweigert, ihr Haus für die Badegäste herzugeben!« 


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»Sie ist vielleicht klüger geworden und hat sich besonnen,« sagten Andere. »Das Geld ist eine schöne Sache, und die Pension, welche ihr die Regierung giebt, ist gering. Sie muß sehr schmal gelebt haben in ihrer Abgeschlossenheit.« 

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»Man sagt, der neue Lieutenant mache ihr den Hof und wolle sie heirathen.« 

»Geh’ doch, Mathurin - Mademoiselle Magaritta hat schon ganz andere Partieen ausge- schlagen, zum Beispiel den reichen Padrillo, der doch drei Weinberge besitzt. Sie hat am Sarge ihres Vaters der heiligen Jungfrau ewige Keuschheit gelobt, wenn sie ihr dazu hilft, den Tod des Inspekteurs an seinen Mördern zu rächen!« 

»Bah,« sagte ein junger Mann in der leichten aber malerischen Tracht der Küstenfischer - »es waren keine Mörder! Er ist im ehrlichen Kampf mit der Contrebandista erschossen worden.« 

Der Fremde machte all’ dem Geschwätz, auf das er anscheinend nicht geachtet, ein Ende, indem er sich zu der Kleinen wandte. » Very well,« sagte er, »ich nehme die Zimmer, sie mögen kosten, was sie wollen. Führe mich also dahin!« 

Der müßige Haufen begleitete das Paar eine kurze Strecke, dann verlor er sich.

Das kleine Mädchen ging voran, der Besitzer der Yacht folgte ihr. -

Auf der wohl 150 Fuß fast senkrecht aus den Wogen sich erhebenden Felsenwand der südlichen Bucht steht eine Reihe von einzelnen Häusern, die gewöhnlich als Wohnung den spanischen Herrschaften vermiethet werden, welche die Bäder von Biarritz besuchen und die von diesen Adlernestern aus das tobende Meer zu ihren Füßen und die Küste ihres Heimath- landes vor ihren Augen haben.

Zwei enge Felsensteige führen zu denjenigen Theilen

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des schmalen Strandes nieder, die während der Ebbe zu passiren sind, denn auch während dieser stürzt sich an langen Strecken brüllend der Ocean in die Spalten und Schluchten der Felsenwand, die er seit Jahrtausenden auszuhöhlen versucht.

In diese spanische Kolonie zu einem der äußersten Häuser führte das Kind den Fremden.

Das Haus war klein und zweistöckig, ganz von Stein erbaut, mit einer offenen Veranda im Parterre und einer Galerie darüber im zweiten Stockwerk nach der Wasserseite. Eine Mauer schloß es nach vorn von der Straße ab, zu der man auf einigen Stufen niederstieg. Der da- durch gebildete etwa zwanzig Schritte breite Hof oder Garten zwischen der Mauer und dem Hause war völlig öde, obschon er noch die Spuren trug, daß eine sorgsame Hand wenigstens früher einen fleißigen Kampf gegen die rauhen Seewinde geführt, die auf dieser Höhe trotz der glühenden Sonne des Südens nur Wenig aufkommen lassen.

Das Kind öffnete die Thür in der Mauer und ging zu dem Hause, während der Fremde ihm ernst und schweigend folgte. Statt die Thür zu öffnen, führte die Kleine den Miether zu der hölzernen Treppe, welche, wie gewöhnlich bei den Gebäuden dieser Bauart, an der schmalen Außenseite des Hauses zu der Galerie des zweiten Stockwerks und zu den in diesem belegenen Gemächern führte.

»Steigen Sie hinauf, Monsieur,« sagte das Kind, »und sehen Sie sich die Wohnung an, sie ist bereit zu Ihrer Aufnahme.« Damit verschwand es in dem unteren Stockwerk, dessen Flur wie gewöhnlich die Küche, das heißt

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zwei Drittel des ganzen Raumes und den Aufenthaltsort der Bewohner, bildete.

Der Eigenthümer der Yacht schien übrigens wohl vertraut mit den Landeseinrichtungen, denn er stieg ohne zu zögern die Treppe hinauf, trat auf den offenen balkonartigen Gang und, nachdem er noch einen Blick auf das Meer, die beiden etwa eine Meile von einander liegenden Schiffe und die zwei zum Ufer rudernden Boote der Yacht geworfen hatte, durch die Balkonthür mit festem Schritt und erwartungsvollem Blick in das Zimmer.

Ganz gegen die Gewohnheit fast aller dieser Häuser war dasselbe auf das Bequemste, ja fast üppig eingerichtet, nur hatte Alles eine gewisse bunte Zusammensetzung, ohne Styl und Harmonie.

Die Wände waren mit werthvollen türkischen Seidentapeten behängen, deren Goldsticke- rei zwar nicht neu war, aber doch immer noch einen phantastischen und prächtigen Eindruck machte. An der Wand hingen einige werthvolle tiefgedunkelte Bilder der spanischen Schule zwischen orientalischen und modernen Waffen. Eine feine Strohmatte bedeckte die Steinflie- ßen des Fußbodens, und während an der einen Wand ein niederer Divan von breiten Kissen hinlief, stand auf der entgegengesetzten ein prächtiges Sopha von vergoldetem Holz im Roc- cocostyl, mit schwerem buntgeblümtem hellem Seidendamast gepolstert. Ein Paar gleiche unbequeme Stühle, ein amerikanischer Schaukelstuhl von gebogenem Holz und im Winkel eine schlechte bunte Gypsfigur der heiligen Jungfrau auf einem kostbaren Bronce-Consol, mit verwelkten Blumen, Goldflittern und Muscheln

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geschmückt, vollendete nebst ein Paar gleichfalls in Styl und Holz verschiedenen, mit hun- derterlei Sachen bedeckten Tischen das Mobilar des ziemlich großen Salons, der außer der Thür zur Veranda noch zwei andere Eingänge zeigte, den einen ihr gegenüber, den zweiten zur Seite des Kanapees nach einem Kabinet, das als Schlafzimmer diente.

Beide Eingänge waren von schweren dunklen Sammetportieren statt der Thüren geschlos- sen.

Als der Kapitain der Yacht in den Salon eintrat, fiel sein Blick sogleich auf den ihm gegen- über liegenden Zugang.

In demselben Moment wurde die Portiere desselben zurück geschlagen, und in dem dunklen Rahmen zeigte sich eine Frauengestalt.

Es war eine zierliche schlanke Figur mit breiten Hüften und voller eleganter Büste, wie es ein Erbtheil der Frauen der pyrenäischen Halbinsel zu sein pflegt. Sie war in ein kurzes Kleid von schwarzer Seide gekleidet, das den zierlichen Aenkel und Fuß in dem Saffianpantoffel sehen ließ. Der mit Schmelz gestickte Rebozo mit den kostbaren Brüsseler Spitzen verhüllte, von der einen Hand zusammen gehalten, zur Hälfte das blasse Gesicht, aus dem nur die schwarzen funkelnden Augen gleich zwei scharfen Dolchspitzen über die Schleier hinweg blitzten, während die andere kleine und schmale Hand, nachdem sie die Portiere gehoben, fest und schwer auf das Herz gepreßt blieb.

»Margaritta!« 

Der Fremde war mit einem Sprunge vor ihr auf den

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Knieen, ergriff die zarte kleine Hand und preßte sie trotz ihres Widerstrebens an seine Lippen.

»Senor Don Juan, was thun Sie?« - rief mit erregter sonorer Stimme die Dame - »fort von mir - lassen Sie meine Hand los, Sie wissen, was uns für immer scheidet!« 


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Statt ihre Hand los zu lassen, hatte er den Arm um ihre schlanke Taille gelegt und zog sie unwiderstehlich zu sich.

«Unsinn, mi cara,« sagte er im besten Spanisch. »Es ist endlich Zeit, daß Ihr thörichtes Zürnen aufhört. Was kann Ihr getreuer und so lange verbannter Amoroso für den Lauf einer Kugel, die zufällig den würdigen Senor Ihren Vater traf, der freilich etwas Besseres hätte thun können, als ohne die geringste Benachrichtigung seine alten Freunde mit diesen Spitzbuben von Douaniers zu überfallen. Sie wissen, daß ich nur durch Zufall bei jenem Unglück zugegen war und nur deshalb nicht zu Ihnen zurückkehren konnte, weil wir Alle auf hohe See flüchten mußten.« 

»Ich weiß, daß es jener schändliche Bandit, El Tuerto gewesen ist, welcher meinen Vater erschossen hat,« sagte sie, »weil er behauptete, er habe Verrath an der Gesellschaft der Con- trebandista beabsichtigt. Ich habe geschworen, mich an ihm zu rächen und werde meinen Eid halten!« 

»Durch Senor Lafarre?« 

»Nein« - erwiderte sie, »Sie wissen, daß ich meine Rache keinem Douanier überlassen wer- de! Aber - und das war es, worin ich mich so bitter getäuscht, - ich rechnete auf Denjenigen, dem ich mehr als mein Leben

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hingegeben, auf ihn, der mich so schändlich und treulos in meinem Unglück verlassen!« 

»Treulos, Margaritta? wer sagt Ihnen das?« Er hatte sich erhoben und die nur schwach Widerstrebende zu sich auf den Divan gezogen. »Wer sagt Ihnen, daß Juan nicht Ihr Bild fortwährend im Herzen getragen hat, auch wenn er so lange Zeit vorüber gehen lassen muß- te, ohne Sie wieder zu sehen! Können Sie die zahllosen Hindernisse beurtheilen, die einem Manne, der seinen Weg machen muß durch das Leben, sich oft bei seinen liebsten Wünschen entgegenstellen? « 

»Aber warum haben Sie mir dann nicht wenigstens eine Nachricht zukommen lassen wäh- rend dieser langen Zeit? Man hat mir gesagt, daß Sie während des Frühjahrs an den Expedi- tionen der Contrebandista an dieser Küste Theil genommen hätten!« 

»Und wer hat Ihnen dies gesagt?« 

»Miguel, der Träger!« 

»Er muß sich geirrt haben, oder ist selbst getäuscht worden,« erwiderte der Seemann, während ein finsterer Blitz aus seinen Augen schoß. »Mein Schiff kehrt zum ersten Mal seit den zwei Jahren in die Bai von Biarritz zurück, nur -« 

Sie sah ihn fragend an.

»Nur daß Juan Waterford jetzt nicht mehr der Steuermann, sondern der Kapitain des Schif- fes ist, das jetzt die >Victory< heißt, während man es früher die >Schwalbe< nannte.« 

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Sie warf sich an seinen Hals: »Und Du liebst mich noch?« 

»Hast Du je gezweifelt? Soll ich Dir schwören bei der Madonna?« 

»O geh’ - Du glaubst ja nicht an die Mutter der Gnaden, Du bist ein Ketzer!« 

»Nun wohl, also bei dem Wort eines Seemanns, und zum Beweis, will ich selbst diesen Banditen El Tuerto bei der ersten Gelegenheit zum Kampf herausfordern, obschon . . . « 

»Nimmermehr! O heilige Jungfrau, der Unmensch würde Dich tödten, wie er meinen Vater gemordet hat, und Du mußt leben für Margaritta und -« 


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Sie barg ihr Gesicht erröthend an seiner Brust. Er hob es sanft empor und heftete seine Lippen in langem verzehrendem Kuß auf ihren Mund. Endlich wand sie sich los aus seinen Armen und zog ihn von dem Divan auf.

»Komm Juan!« 

Er sah sie mit einem flammenden fragenden Blick an, als sie ihn nach der Portiere des Kabinets zog.

»Ja, Juan, Du mußt leben für Margaritta und - diesen hier!« 

Sie hatte rasch die Sammetdecke zurückgeschlagen und sein erstaunter Blick fiel auf eine Hängematte, die von der Decke hing und in der auf einer kleinen Matratze ein schöner Knabe von etwas mehr als einem Jahre schlafend lag.

Ihr anfangs so finsteres drohendes Auge lag jetzt mit dem Ausdruck überschwenglichen Glückes und doch auch ängstlich und fragend auf dem Gesicht des Geliebten.

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Er sah erstaunt auf die Seemannswiege und dann auf die junge Frau.

»Wie - dies Kind?« 

»Es ist das unsere, Juan!« 

Der glückliche Vater schien gerade nicht sehr erbaut zu sein von dieser lebendigen Ue- berraschung. Er rieb die Stirn mit der Hand und blickte etwas verlegen auf das schlafende Kind. »Aber Margaritta - ich hatte keine Ahnung davon und Niemand hat mir ein Wort davon gesagt, daß Du Mutter geworden!« 

»Wer sollte es auch, da Du entfernt warst, wie Du selbst so eben mir sagtest! Konntest Du glauben, daß die Tochter meiner Mutter es ertragen hätte, vor den Augen dieser Leute als eine Entehrte umher zu gehen? Keine Seele in diesem Orte ahnet, daß ich Mutter bin und daß ich unter tausend Schmerzen und Leiden auf den Tag harrte, der diesem Knaben seinen Vater zurückbringen würde.« 

Die heroische Aufopferung des jungen Weibes schien doch sein Herz zu rühren. Er fuhr nochmals mit der Hand über Stirn und Augen, wie um einen unangenehmen Traum zu ver- wischen, und reichte ihr die andere über den Knaben hinweg, der eben die Augen öffnete und leise zu weinen begann, als er den fremden Mann neben sich sah. »Verzeih, Geliebte meiner Seele,« sagte er, »daß die Ueberraschung mich stumm machte. Du Arme, was mußt Du gelitten haben, so ganz auf Dich allein beschränkt. Ich bewundere die Energie Deines Charakters!« 

Ihr Auge hatte anfangs mit starrem Blick auf ihm

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geruht, als er so ganz anders sich zeigte, wie ihre glühende Phantasie diesen Augenblick sich in mancher einsamen Stunde ausgemalt haben mochte. Aber das Frauenherz, das liebt, ist so leicht getröstet und so hoffnungsreich. Sie nahm den Knaben aus der Matte, hob ihn zu den Lippen seines Vaters empor und zog diesen dann zurück nach dem Divan.

»Sieh, Juan, wie er Dir ähnlich sieht,« sagte sie, »Deine dunklen Haare und das Auge, dessen Strahl schon beim ersten Blick mein Herz Dir zu eigen machte, als Du zum ersten Mal mit den Schleichhändlern aus der Höhle im Felsen zu uns emporstiegst und dann hier oben in diesem Gemach nach der Unterredung mit dem Vater drei Tage heimlich verweiltest, bis Dein Schiff von der spanischen Küste zurückkehrte.« 


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»Aber wie hast Du es angefangen, Deine -« er wollte ein anderes Wort brauchen, änderte es aber - »Dein Geheimniß aller Welt zu verbergen?« 

»Das Unglück, das mich traf, wurde in anderer Beziehung mir zum Glück. Ich hatte kaum eine Ahnung davon, als Du das letzte Mal von uns schiedest, aber ich glaube, daß mein Vater unser Verhältniß kannte!« 

Er sah sie aufmerksam an.

»Du weißt, Geliebter, daß seit dem frühen Tode meiner Mutter der Vater mich verwöhnt hatte, denn er konnte niemals eine meiner Launen weigern und selbst das Geheimniß der Contrebandista mußte mir offenbart werden. Das baskische Blut meiner Mutter rollt in mei- nen Adern und empört sich gegen diese tyrannischen Gesetze! Wie oft

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habe ich von diesem Zimmer aus, das mein Vater und die Geschenke der Contrebandiers schöner schmückten, als der Palast einer Herzogin sein kann! auf die Ankunft des San Martino und anderer Schiffe gelauert, oder die Lampe an meinem Balkon hat in der Nacht den Böten das Signal gegeben, während der Vater die Beamten nach einer anderen Seite führte.« 

»Ich weiß, ich weiß,« sagte der Kapitain der Yacht ungeduldig. »Aber Du sprachst davon, daß Dein Vater unser Verhältniß gekannt . . . « 

»Er machte oft in der letzten Zeit Andeutungen und warnte mich! Er wurde überhaupt mit jedem Tage mißmuthiger und finsterer und sprach davon, daß er sein Verhältniß zur Gesellschaft lösen müsse. Oft verstand ich seine Worte und Andeutungen nicht - auch über Dich - und merkte bloß, daß er einen tiefen Groll zu hegen begann gegen Euch Alle und namentlich gegen El Tuerto - Da geschah in jener schrecklichen Nacht das Unglück - ich hatte von der Galerie her die Schüsse blitzen sehen, die an der Küste gewechselt wurden - mein einziger Trost war, daß ich Dich fern wußte. Als die Douaniers aber dann mir den Vater in’s Haus brachten, blutend, sterbend, von einer Kugel die Brust durchbohrt, da sank ich verzweifelnd an seinem Lager nieder und zerriß mein Haar, denn Du warst fern und ich war nun ganz allein!« 

»Und hat Dein Vater Dir nicht erzählt, wie es gekommen, daß er den Tod von der Hand seiner alten Freunde fand?« 

»Nein, Geliebter, nur von den Beamten erfuhr ich,

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daß sie unter der Anführung meines Vaters drei Boote unserer Freunde, wie sie an dem rocher de cancale landen wollten, überfallen hatten und daß es zum Kampf gekommen. Wahrschein- lich hatte mein Vater nicht mehr Zeit oder Gelegenheit gehabt, um das Signal zu widerrufen, oder unsere geheimen Freunde auf andere Weise zu warnen. Um kein Mißtrauen zu erre- gen, war er der Vorderste im Kampf und der Erste, der fiel! Die Contrebandieros verloren die Ladung von zwei Booten und drei Mann, wie sie mir später selbst erzählten.« 

»Aber Dein Vater?« 

»Er starb eine halbe Stunde nachdem sie ihn zurückgebracht. Ein einziges Wort ging noch über seine Lippen, als er krampfhaft meine Hand in der seinen preßte und seine Augen mit einem Ausdruck auf mich heftete, den ich niemals vergessen werde. Heilige Jungfrau, es war entsetzlich, und ich glaubte mit ihm sterben zu müssen. Die Anstrengung, die er gemacht, um zu sprechen, hatte seine letzten Kräfte erschöpft und ein Blutstrom kam aus seinem Munde, mit dem seine Seele entfloh, noch eh’ der Priester kam, ihm die Absolution zu reichen.« 


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«Und jene Worte? hast Du sie verstanden?« 

«Ja - ein Name!« 

»Sprich!« 

»El Tuerto! - er ist - der Sterbende wollte sagen: mein Mörder! - doch er hatte nicht mehr die Kraft dazu! Aber als ich wieder erwachte an der Seite des Todten, da legte ich die Hand auf seine Wunde und gelobte seinen Mord zu rächen. Und die heilige Jungfrau

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wird mir beistehen darin, denn sie hat mir ein Zeichen gegeben, das mich mahnen soll an meinen Schwur!« 

»Was meinst Du?« 

Die junge Frau schob mit der Hand das Hemdchen des Knaben zurück, der in ihrem Schoos lag, und zeigte dem Mann ein kleines blutfarbenes Mal, das gerade auf derselben Stelle bei dem Kinde sich befand, an welcher der Vater seiner Mutter die Todeswunde empfangen hatte. »Sieh her, Juan, es ist die heilige Mahnung, die uns mein Vater noch aus dem Grabe gesandt hat! Fluch dem Mörder!« 

Ein leichtes Zittern machte die Lippe des Mannes erbeben bei der leidenschaftlichen Ver- wünschung der jungen Frau und dem Anblick des Males, doch überwand er schnell diese Schwäche.

»Ich habe Dir schon einmal gesagt, daß der Tod Deines Vaters im ehrlichen Gefecht erfolgt ist« sagte er finster, »also kein Mord genannt werden kann. Ueberdies geht unter der Con- trebandista das Gerücht, er habe jenen Ueberfall der Douaniers selbst veranlaßt, statt ihn zu hindern!« 

»Ha - ich weiß, daß man ihn dessen anklagt, aber Der lügt wie ein Schurke, der ihn des Verrathes beschuldigen will!« 

»Es könnte auch eine andere Ursache geben! doch erzähle weiter, Margaritta!« 

»In der nächsten Nacht, als ich einsam bei der Leiche meines Vaters wachte, klopfte es an die Thür. Zwei Männer in Mäntel gehüllt traten ein, von denen ich nur

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den einen kannte. Es war Miguel, der Schmuggler, und er sagte mir, daß wir seinem Begleiter zu gehorchen hätten auf Tod und Leben. In der That sagte dieser mir das Wort, dem wir Alle geschworen zu gehorchen. Dann mußte ich ihm alle Papiere meines Vaters aushändigen, die er in diesem Zimmer durchsah, während Miguel und ich bei dem Todten blieben. Als er mich dann zu sich rief, sagte auch er, mein Vater habe sein Schicksal verdient, aber die Gesellschaft werde für mich sorgen und ich solle mich erklären, ob ich dies Haus ihr verkaufen oder hier wohnen bleiben wolle. Du weißt, Juan, daß es das Erbe meiner Mutter ist; aber wenn es auch dies nicht gewesen, wie hätte ich mich von der Stelle trennen können, wo ich Deiner harren mußte!« 

»Und Du bliebst?« 

»Ich wiederholte den Eid, den mir der Vater bereits abgenommen, damals, als ich zum ersten Mal in die Felsenkeller niederstieg. Seitdem habe ich nur selten mit den Männern zu thun gehabt. Sie kommen und gehen, während ich hier oben verweilte und mit Sehnsucht nach Deinem Kommen ausschaute.« 


»Aber das Kind?« 


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»Bald fühlte ich, daß ich Mutter werden würde. Das einsame Leben, das ich führte, und das nur selten durch einen Besuch der früheren Untergebenen meines Vaters unterbrochen wurde, gestattete mir, meinen Zustand zu verbergen. Nur meine alte Amme wußte davon, und sie war es, die mir Beistand leistete in der schweren Stunde. Das Kind, das zu meiner Bedienung bei mir ist, ist ihre

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Enkelin, die Waise eines Contrebandiers aus den Pyrenäen, und trotz seiner Jugend voll Klug- heit und Verschwiegenheit.« 

»In der That, sie wußte mich sehr wohl zu finden. Und erkanntest Du sogleich mein Si- gnal?« 

»Ich sah es gestern Abend, als die mir anfangs fremde Yacht vor Anker ging, vom Maste wehen. Erst daran erkannte ich Deine Nähe! Aber vergeblich harrte ich die ganze Nacht auf Dich, obschon ich das Licht brennen ließ, das Dir die Sicherheit des Landens anzeigte.« 

»Du hast vergessen, mi cara, daß Dein Vater nicht mehr Inspecteur der Douaniers ist und sie uns aus dem Wege halten kann. Dieser Lieutenant Dalbond ist ein junger und anscheinend sehr thätiger und wachsamer Mann, denn wie ich gehört habe, hat er in diesem Frühjahr meinen alten Kameraden bei zwei Gelegenheiten die Waaren fortgenommen. Man wird einen tüchtigen Beutel Doublonen an ihn wenden müssen.« 

»Er ist unbestechlich!« sagte das Mädchen rasch.

» Vamos ! wir werden ja sehen! aber Du scheinst seinen Charakter sehr genau zu kennen! Wenn er keinen Sinn für das Gold hat, werden wir dafür sorgen müssen, daß er versetzt wird. Er hat in der That zu gute Augen und ein zu richtiges Gedächtniß. Wir haben einige Verbin- dungen in Paris, die das leicht bewerkstelligen werden. Doch nun höre mich an, Margaritta, ich habe Dir Einiges zu sagen.« 

Sie sah ihn fragend an.

»Hast Du das Schiff weiter hinaus auf der Rhede bemerkt?« 

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»Die Felucke mit der französischen Flagge?« 

»Ja!« 

»Es hat einige Aehnlichkeit mit dem San Martino. Aber er ist es leider nicht! Ha - wenn der Bandit sich je wieder an dieser Küste blicken ließe, bei der heiligen Jungfrau, ich wollte ihn in sein Verderben führen!« 

»Thorheit - die Felucke ist ein ehrliches Schiff von Nantes, das spanischen Taback geladen. Du hast auch bemerkt, daß ich erst heut Vormittag an’s Land ging?« 

»Ich habe die Yacht mit keinem Auge verlassen! Aber Du bist seit Stunden am Ufer - warum kamst Du nicht zu mir? warum spanntest Du meine Ungeduld so lange auf die Folter? Ich konnte es nicht länger ertragen, ich mußte Louison schicken, Dich aufzusuchen.« 

»Es war sehr thöricht von Dir und hätte unangenehme Folgen haben können, wenn die Kleine sich nicht so klug benommen.« 

»Aber Du mußtest wissen, daß mich die Sehnsucht verzehrt! Warum kamst Du nicht?«  »Weil so gut wie mein Schiff ein anderes Gesicht und einen anderen Namen angenommen, ich dasselbe gethan habe.« 

»Was willst Du damit sagen?« 


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»Cospetto! einfach, daß nicht der Steuermann Juan oder James Waterford vor Dir steht, sondern der Graf Don Juan da Lerida, der in einer Stunde bei Ihren Majestäten dem Kaiser und der Kaiserin der Franzosen in Villa Eugenie den Thee einnehmen wird.« 

Sie wandte sich gekränkt von ihm. »Die heilige Jungfrau vergebe Dir Deinen Spott. Du bist eben noch

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so leichtfertig, wie Du warst, während das Unglück mich ernst und traurig gemacht hat.« 

Er hatte sich erhoben und war an die Thür der Veranda getreten, von wo sein Blick über das Meer lief.

»Margaritta, meine süße muchächa,« sagte er lachend, »es ist kein Scherz, sondern That- sache, und wenn Du Dein hübsches Ohr dem Geschwätz der Basen von Biarritz ein wenig öffnen wolltest, könntest Du in diesem Augenblick von hundert Zungen hören, daß besag- ter Graf Lerida, Dein gehorsamer Schatz, vor kaum zwei Stunden die Dynastie Bonaparte vor einem Sturz bewahrt hat und diesen Abend der Mann des Tages ist. Ich glaube deshalb ein gewisses Anrecht an die Person des Thronerben von Frankreich zu haben und werde mir zunächst den Dank dadurch einkassiren, daß ich einige Koffer ächte Puros und Manillas und Saffian in das französische Gebiet mit Unterstützung der scharfsichtigen Douanen ein- schmuggle, ohne die passage d’enfer dafür in Anspruch zu nehmen. Sieh, da kommen meine Boote eben um die Klippe der Madonna, und es ist Zeit, daß ich ihnen ein Signal gebe, wo sie landen sollen, und ihre Landung überwache.« 

»Wie - Du willst mich verlassen?« 

»Auf eine halbe Stunde, Täubchen, um meine Koffer hierher schaffen zu lassen. Das Weitere erkläre ich Dir später. Vor Allem halte die Augen offen und Deine Lippen geschlossen, was Du auch hören und sehen magst, und vergiß nicht, daß ich jedem Neugierigen gegenüber der Graf von Lerida bin, Dein Miethsmann und zum ersten Mal in Biarritz!« 

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Er hatte einen Kuß auf ihre Lippen gedrückt, seine Mütze genommen und den Salon ver- lassen, ehe sie noch recht zu einer Antwort und einem Versuch, ihn zurückzuhalten, kommen konnte. Traurig und unwillig sah sie ihm nach, drückte das Kind an ihre Brust und hob seuf- zend das Auge zu dem Madonnenbild im Winkel des Gemachs. »Heilige Mutter der Schmer- zen« klagte sie, - »wie wenig verstehen die Männer wahre Liebe! O Madonna, gieb, daß sein Herz mir immer gehöre - es wäre schrecklich, wenn ich je an ihm zweifeln müßte! für mich - und - für ihn!« Ein drohender leidenschaftlicher Strahl schoß aus dem eben noch so sanften flehenden Auge bei diesem Gedanken.

Er wurde durch ein leichtes Klopfen an der inneren Thür unterbrochen.

Rasch legte sie das Kind in seine Hängematte, ließ die Portiere vor dem Alkoven nieder und fragte dann erst: »Wer ist da?« 

»Louison, Senoritta!« 

Sie öffnete die Thür. »Was willst Du, Kind?« 

»Miguel, der Träger ist unten. Er will Sie besuchen und sagt, er habe mit Ihnen zu spre- chen.« 

Sie sann einen Augenblick nach. »Wenn ich ihn dazu benutzte, ihn zu überwachen?« mur- melte sie leise. »Ich weiß, er ist mir treu! - Aber nein - warum Mißtrauen?! - Laß ihn kom- men, Louison, ich will ihn hier sprechen!« 


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Während sich die Kleine entfernte, trat die Senora an die Thür zu dem Kabinet, drückte an einer Feder und man hörte hinter der Portiere eine schwere Holzjalousie niederrollen, die den Zugang hermetisch verschloß.

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Dann setzte sie sich auf das Kanapee.

Louison öffnete die Thür. »Treten Sie ein, Monsieur Miguel.« 

Die athletische Gestalt eines Mannes von etwa dreißig bis fünfunddreißig Jahren, in der Kleidung der Küstenfischer, mit der Baskina auf dem wirren Kraushaar, schob sich mit plum- pen Bewegungen in das Zimmer und machte eine Art von Verbeugung.

Der Mann hatte, entgegen der intelligenten energischen Physiognomie dieser Gebirgs- und Küstenbewohner, wie in seinem ganzen Wesen so auch in seinem Gesicht etwas Plumpes, Stupides; die Natur schien mit der geringeren geistigen Begabung die gewaltige Körperkraft ausgeglichen zu haben. Dennoch lag nicht etwa Blödsinn oder Gemeinheit in seinen Zügen, vielmehr eine gewisse Gutmüthigkeit und hündische Treue.

»Gelobt sei Jesus Christ!« sagte er demüthig.

»In Ewigkeit, Amen!« 

»Ich freue mich, Sie wohl zu sehen, Mademoiselle,« sprach der Träger, dessen riesige Schul- tern ganz für sein Gewerbe gemacht schienen, indem er verlegen die Baskina zwischen den Fingern drehte.

»Ich danke Euch, Miguel« erwiderte lächelnd die Herrin des Hauses, »und weiß, daß es Euch von Herzen kommt. Aber sicher habt Ihr noch etwas Besonderes auf demselben?« 

Der Lastträger sah sich vorsichtig um, ob sie auch unbelauscht wären. Dann streckte er den Kopf vor und

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flüsterte: »Es wird Etwas geben diese Nacht, Mademoiselle!« 

»Ich dachte es mir. Aber Ihr wißt, Miguel, daß ich mich nicht darum kümmere, außer daß ich das Signallicht ausstecke, wenn es verlangt wird!« 

»Ja, aber - er ist da!« 

»Wer?« 

»Der Einäugige, Mademoiselle! der Ihren Vater erschossen.« 

Sie fuhr wie von einer Natter gestochen empor und sprang auf ihn zu.

»Mann, was sagst Du? El Tuerto ist auf jenem Schiff und er wird die Expedition führen?« 

»Ich glaube es sicher, Mademoiselle! Wir haben heut Morgen bereits Ordre bekommen, uns bereit zu halten.« 

»Aber es ist unmöglich! Juan müßte es wissen! Oder sollte er es mir absichtlich verschwie- gen haben?!« 

»Ich verstehe Sie nicht, Mademoiselle, von wem sprechen Sie?« 

»Du hast mich früher versichert,« sagte sie nicht ohne Verlegenheit, »daß der junge Englän- der, der Steuermann der >Schwalbe<, der vor anderthalb Jahren verwundet in diesem Zimmer wohnte bis kurz vor der schrecklichen Katastrophe, in diesem Frühjahr an den Expeditionen der spanischen Schmuggler Theil genommen hätte?« 

»Ich erzählte es Ihnen!« erwiderte der Riese mürrisch.

»Ihr habt Euch geirrt. Monsieur Waterford ist nicht an unserer Küste gewesen - aber er ist seit gestern hier und hat es mir selbst gesagt.« 


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Der Lastträger starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Sein von Sonne und Wetter gebräuntes Gesicht schien noch röther zu werden.

»Wer ist hier, Mademoiselle?« 

»Ich sagte es Euch - Monsieur Waterford, der frühere Steuermann, jetzt der Kapitain der Yacht, die dort auf der Rhede ankert.« 

»Und er ist bei Ihnen?« 

»Er bewohnt wieder dieses Zimmer und hat es vor kaum einer halben Stunde verlassen. Ich wundere mich, daß Du ihn nicht gesehen, da er doch seit diesem Mittag an der Küste ist.« 

Der Riese schüttelte finster den Kopf. »Ich habe ihn nicht gesehen,« sagte er; - »aber wenn der Tollkopf hier ist, dürfen Sie um so weniger zweifeln, daß auch El Tuerto in der Nähe ist! Erinnern Sie sich, daß es auch der Fall war, damals - im März des vorigen Jahres!

Die Augen des Mädchens funkelten, wie die eines Raubthiers, das sich auf seine Beute stürzen will. »Still« herrschte sie - »ich bedarf keiner Mahnung! Selbst er soll meine Rache nicht hindern und den Mörder schützen! Ich danke Euch, wackerer Miguel, daß Ihr mich von der Anwesenheit des Verfluchten in Kenntniß gesetzt habt, aber Ihr müßt Euerem Dienst einen zweiten hinzufügen, für den ich Euch ewig dankbar sein werde!« 

»Sprechen Sie, Mademoiselle« sagte der Sackträger. »Sie wissen, daß ich Alles für Sie thun möchte, was in meinen Kräften steht!« 

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»Wohlan - ich muß es wissen, wenn der blutige Mörder sich in die Höhle wagt!« 

»Sie sollen es erfahren, bei der heiligen Jungfrau gelobe ich’s. Es ist nicht gegen meinen Eid, es Ihnen zu sagen, da Sie ja zu den Wissenden gehören. Aber Mademoiselle - Sie werden sich doch in keine Gefahr stürzen? Er ist so grausam und wild, daß er selbst ein Weib nicht schonen würde!« 

»Seid ohne Sorgen, Freund,« meinte sie mit leichtem Hohn - »ich will ihm nur seine schänd- liche That in’s Gesicht schleudern! Geht jetzt, Miguel - und nehmt den Dank eines Weibes, das Euch zu seinen wahrsten Frennden zählt!« 

Sie reichte ihm die Hand, die der Riese mit den äußersten Spitzen seiner Finger berührte und ehrerbietig küßte.

Er hatte kaum das Zimmer verlassen, als die Tochter des erschossenen Douaniers zu einem der Tische eilte, auf deren Platten eine Menge meist sehr werthvoller Gegenstände aufgehäuft war und aus diesen einen kleinen Dolch von spanischer Arbeit hervorsuchte, den sie aus seiner von Gold ciselirten Scheide zog, um die Spitze der Klinge zu prüfen.

Wie sie so dastand und mit ihrer weißen kleinen Hand einen Stoß in die Luft that, wie, als versuche sie ihre Kraft an einem unsichtbaren Feind, hatte der funkelnde Blick der sonst so schönen Augen einen Ausdruck, der selbst einen tapferen Mann erzittern machen konnte!


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Der Graf von Lerida, wie er sich dem französischen Hof gegenüber genannt, war mit ra- schem Schritt nach der nördlichen Bucht hinunter gegangen, wo die Boote zu landen pfle- gen, da die Brandung hier nicht so gewaltig tobt, als an der Felsenmauer der spanischen


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Seite. Eben naheten sich die beiden Fahrzeuge, und der Kapitain der Nacht bezeichnete ih- nen durch seine Stellung wie zufällig den Punkt, wo sie anlegen sollten, etwas entfernt von den zahlreichen Fischerbooten und Barken, die hier zur Ausübung ihres Gewerbes oder zu Spazierfahrten für die Badegäste am Ufer lagen. Die kleine Vorsicht, wenn sie wirklich eine solche sein sollte, hatte jedoch wenig Nutzen; denn mit jener ungenirten Neugier, die den mehr als die Nordländer auf den Straßen und im Freien lebenden Bewohnern des Südens ei- gen ist, hatte sich bald ein Schwarm von Müßiggängern aus allen Ständen um ihn gesammelt, der das Landen der Boote abwartete.

Der Anblick, den sie gewährten, als sie näher kamen, entschuldigte übrigens wohl diese Neugier.

Beide Fahrzeuge, das Gig 1 , die Barkasse 2 der Yacht, waren schöne und feste Boote von ei- ner Konstruktion, die auf ihre besondere Geschwindigkeit schließen ließ, eine Eigenschaft, die der kundige Blick der anwesenden Seeleute auch sofort erkannte und welche offene Be- wunderung hervorrief. Die Aufmerksamkeit aber fesselte vor Allem die Bemannung der Boote selbst. Entgegen der einfachen gleichmäßigen Seemannstracht, welche die Matrosen der

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englischen Yachtschiffe gewöhnlich zeigen, war die Kleidung der ziemlich zahlreichen Be- mannung ebenso verschieden, als ihre Physiognomie. Die Mannschaft schien buchstäblich aus Individuen aller Küsten des atlantischen und Mittelmeers zusammengesetzt und der Ka- pitain dieser bunten Gesellschaft ein besonderes Vergnügen daran gefunden zu haben, die Leute in ihrer Nationaltracht zu bestärken, denn diese war an Allen reich und sauber. Die vier Matrosen im Gig des Kapitains waren ein langgebauter Schwede, ein Mohr von der Kü- ste von Guinea in reichem phantastischem Kostüm, ein Neapolitaner und ein Mulatte von den westindischen Inseln, auf der Steuerbank aber saß ein junger Mann in der malerischen griechischen Nationaltracht.

Die Bemannung des großen Bootes war mindestens ebenso bunt zusammen gewürfelt. Eng- länder, Franzosen, Spanier, Italiener, Araber und selbst ein langhaariger rothhäutiger Indianer von der Mündung des Orinoco bildeten dieselbe in den buntesten Kostümen, als wollten sie zu einer Maskerade ziehen. Aber Alle schienen vortreffliche Seeleute und waren ausgesuchte kräftige und fast durchgängig junge und hübsche Männer.

Nur der Bootsmann, welcher das Steuer der Barkasse führte, machte eine Ausnahme. Er war ein älterer, von Wind und Wetter gebräunter grimmig aussehender Bursche mit einem von den Pocken und mehreren Narben zerfetztem Gesicht Die linke leere Augenhöhle be- deckte ein schwarzes Pflaster, das der ganzen Physiognomie noch etwas Wilderes gab, als sie ohnehin schon hatte. Ein dichter schwarzer,

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schon leicht mit Grau gemischter Bart bedeckte den untern Theil seines Gesichts.

Ein munteres »Viva, el capitano!« begrüßte den Grafen, während das leichte Gig durch die Brandung auf den Sand schoß, und mit keckem und sicherem Schwung setzte der junge Grieche im Bug auf das Land, zog ehrerbietig seine rothe Mütze und meldete: »Alles recht an Bord, Excellenza! Ihre Befehle sind erfüllt und wir haben die Koffer in der Barkasse!« 


^as kleine Kapitainsboot. 2 Das größte Boot.


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Der junge Mann bediente sich bei der Anrede der an den südeuropäischen Küsten üblichen Lingua franca, wie die ganze Mannschaft that, und auch der Graf antwortete ihm in derselben Mundart, obschon - wie später mehrere einzelne Befehle zeigten - er fast sämtliche Sprachen seiner so gemischten Schiffsbemannung ziemlich geläufig sprach.

»Gut, Mauro« sagte der Kapitain, »ich wußte, daß ich mich auf Dich und Master John verlassen konnte. Hast Du die Seespinne mitgebracht?« 

»Er hockt in der Barkasse unter der Bank. John hat ihn mit dem Bootsmantel zugedeckt, damit das Spritzwasser nicht seinen Staat verderben möchte, denn der kleine Teufelsbraten bestand durchaus darauf, seine besten Kleider anzuziehen, obschon er darin aussieht, wie einer der geputzten Affen, mit denen die Savoyarden umherziehen.« 

»Du hast Recht, er ist schlau und gewandt wie ein Affe, aber ebenso boshaft und neugierig. Ueberdies ist er bei Dir in einer guten Schule, da noch nicht viele Jahre vergangen sind, daß Du ein ebenso schlimmer Bursche

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warst! - Aber« - er senkte seine Stimme und setzte in neugriechischer Sprache seine Rede fort, - »habt Ihr Eure Waffen mitgebracht?« 

»Ja, Excellenza - wir sind zu Allem bereit! Aber wenn man die Koffer öffnet?« 

»Man wird es nicht thun! - Da kommt die Barkasse! Sorge nur dafür, daß meinen Befehlen streng Folge geleistet wird und die Mannschaft sich so wenig wie möglich mit den Bewohnern einläßt, bis ich sie instruirt habe!« 

»Ohne Sorgen, Excellenza!« Er fing geschickt das Tau auf, das ihm einer der Matrosen vom Boot zuwarf, und sofort waren eine Menge Hände bereit, es an den Strand ziehen zu helfen.

Der junge Kapitain hatte bemerkt, daß unter der versammelten Gruppe der Zuschauer sich auch der alte Codes und ein anderer Douanier befanden, die mit sichtbarer Neugier die landende Mannschaft betrachteten. Er bemerkte zugleich, daß in einiger Entfernung eben der Douanen-Offizier, an welchen der Ober-Kammerherr der Kaiserin ihn empfohlen, zu dem Ufer niederstieg.

Der einäugige Steuermann war gemächlich an’s Land gestiegen, wobei er unterm Arm ein seltsam zappelndes und sich bewegendes, in einen Schiffsmantel gehülltes Packet trug.

»An Land gekommen, Kapitain,« meldete er, - »und hier ist diese Teufelskrabbe, die mir unterwegs zu schaffen genug gemacht hat, um sie ruhig zu halten.« 

Dabei stellte er seine Last auf den Boden, zog den Mantel fort und es zeigte sich, daß das Bündel nichts

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mehr und nichts weniger als ein menschliches Wesen war, das jetzt von seiner Hülle befreit, sprudelte und pustete, von einem Bein aufs andere sprang und zum großen Amüsement des Schiffvolks und der Umstehenden dem Steuermann wüthend mit der Faust drohte.

Der kleine Kerl bot an und für sich schon einen komischen Anblick. Es war ein Knabe von etwa zwölf Jahren, aber in Folge seiner Mißgestalt kaum 3 Fuß hoch. Er hatte hinten und vorn einen so starken Höcker, daß der kleine Kopf mit dem eigenthümlichen fast froscharti- gen Gesicht, aus dem zwei scharfe boshafte und rastlose Augen funkelten, fast dazwischen verschwand. Die Beine waren dünn wie Spinnenfüße, die Arme aber von ungewöhnlicher Länge, so daß sie über seine Knie hinunter reichten und mit den langen hageren Fingern der ganzen grotesken Figur wirklich Etwas gaben, das den Spottnamen, den der Knabe führte,


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rechtfertigte. Das Lächerliche der Erscheinung erhöhte noch sein Aufputz. Der verkrüppelte Bursche trug nämlich das vollständige mit silbernen Knöpfen, Frangen und Stickereien reich bedeckte Kostüm eines andalusischen Majo, an dem von den Zwickelstrümpfen, den Schuhen mit großer Bandrosette, dem lilafarbenen Sammetbeinkleid bis zum Haarnetz, das die Fülle der semmelblonden Haare umschloß, auch nicht ein Stück fehlte.

Die lebhaften Gesten des kleinen Burschen, verbunden mit einigen schrillen Lauten, die er im Zorn hervorstieß, bewiesen der Umstehenden, daß sich zu dem Gebrechen seiner Gestalt auch der Mangel der Sprache gesellte.

»Still, Bursche,« befahl endlich der Kapitain. »Du

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solltest Master John dankbar sein, daß er Dich so wohl verpackt durch die Brandung ge- bracht hat. Geh’ mit den Leuten, welche die Koffer nach meiner Wohnung bringen sollen, und sieh zu, daß Alles für meine Toilette in Ordnung ist, wenn ich komme. Irgend einer die- ser Caballero’s ohne Schuh und Strümpfe wird Euch für einige Sous den Weg zum Hause der Mademoiselle Leboeuf zeigen. Die Barkasse soll in einer Stunde an Bord zurückkehren, Master John, also laßt die Leute, die nicht im Dienst sind, sich in der nächsten Taverne etwas erfrischen. - Unter Aufsicht!« fügte er leise hinzu, »und folge mir! - Was ist das dort und warum geht Ihr nicht weiter, Männer?« 

Die Frage galt den sechs Matrosen, die mit den drei Koffern den Uferweg hinauf zu steigen begannen und dabei von dem alten Codes aufgehalten wurden.

»Ihr müßt die Kasten da nach der Douane bringen,« sagte er rauh. »Dort hinüber - sie müssen morgen geöffnet und untersucht werden, denn mit Sonnenuntergang ist das Bureau geschlossen.« 

In der That war die Sonne bereits unter dem Horizont des a[n]tlantischen Ozeans in aller Farbenpracht eines solchen Unterganges verschwunden und die Dunkelheit verstärkte sich rasch.

»Macht Platz, Ihr holzbeiniger alter Schuft, oder ich will Euch einen Tritt geben, der Euch bis an Eure Klystirspritze da drüben schickt, was Ihr Franzosen einen Leuchtthurm nennt!«  gegenredete einer der englischen Matrosen. »Wir haben hier nur unserem Kapitain zu gehor- chen!« 

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Dieser war herangekommen. »Still, Jack,« befahl er - »dieser Mann ist ein Zollbeamter und in seinem Recht. Da er ein alter Seemann ist und mit Ehren seine Wunden erhalten hat, sollte ein junger Laffe wie Du ihn mit mehr Respekt behandeln. »Verzeihen Sie dem jungen Seewolf, Monsieur Codes, und sagen Sie mir, ob die Durchsuchung der Koffer auf dem Zollamt wirklich nothwendig ist, da sie nur mein Privateigenthum enthalten?« 

»Versteht sich! Parbleu - wozu wäre denn die Douane da? um so mehr, da man nicht weiß, was man von den Schiffen zu halten hat, von denen sie kommen.« 

»Dann, Leute, bringt die Koffer nach dem Boot zurück, und Sie, Monsieur« er wandte sich mit hochmüthiger und beleidigter Miene zu dem Zolloffizier, der in Begleitung eines zweiten Beamten eben herankam, - »ersuche ich, meine Entschuldigung bei dem Herrn Ober- Ceremonienmeister Ihrer Majestät übernehmen zu wollen, daß ich dem kaiserlichen Befehl zur Abendgesellschaft nicht Folge leisten kann, da ich nach einer solchen Beleidigung lieber nach meinem Schiff zurückkehre. - Mauro! die Mannschaft des Gig!« 


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Die beiden Zollbeamten, der Offizier und der Inspekteur beeilten sich, dieser Drohung gegenüber ihre Entschuldigungen zu machen und Codes einen strengen Verweis zu ertheilen, den der alte Stelzfuß ingrimmig hinunterschluckte, worauf er allerlei Verwünschungen in den Bart murmelnd hinweghumpelte. Aus dem Publikum erboten sich alsbald wohl zehn Personen, den Weg zu weisen, worauf die Matrosen ihre Last von Neuem aufnahmen und mit ihr weitergingen.

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Der junge Kapitain aber wandte sich in Gegenwart des Steuermannes an den Zolloffizier.

«Ich danke Ihnen nochmals für Ihre Aufmerksamkeit, Herr,« sagte er höflich, »und werde sie gebührend zu rühmen wissen. Vielleicht aber kann ich mich schon jetzt in einem Punkte dankbar erweisen, indem ich Ihnen wiederhole, was Master John, der Steuermann der >Vic- tory<, mir über den Charakter der Felucke mitgetheilt hat, die Ihnen so verdächtig erschien!« 

»Mylord,« entgegnete der junge Mann hocherfreut, »Sie werden mich durch jede Nachricht außerordentlich verbinden.« 

»J will do it with pleasure ! 1 Nun denn - ich habe richtig gerathen! das Fahrzeug ist kein Franzose, sondern ein Spanier!« 

»Ich dachte es mir!« 

»Seine Bootsmannschaft hat daraus gar kein Hehl gemacht, als sie mein Schiff besuchte. Es ist richtig, was ich vermuthete. Das Schiff ist mit bestem Xeres und Alicante beladen und die Bursche kamen auf die Victory, um meinem Steward dort« - er wies auf den Griechen - »einige Pinten anzubieten. Schade, daß ich nicht an Bord war, ich hätte einen vortrefflichen Einkauf machen können.« 

Der Zollbeamte sann nach. »Der Bursche hält sich wohl weislich über die zwei Meilen von der Küste entfernt, innerhalb deren wir ihn durchsuchen können. Wir dürfen

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nicht eher etwas thun, als wenn er unverzollte Waaren zu landen versucht.« 

»Vielleicht macht das, was ich Ihnen noch zu sagen habe, Sie weniger bedenklich. Ma- ster John hier, der etwas Spanisch versteht, behauptet, gehört zu haben, daß die Leute im Gespräch unter sich ihr Schiff >San Martino< nannten.« 

» Diable ! Dann hatte der alte Codes Recht, und es ist dieser Satan von El Tuerto, der wieder auf eine Gelegenheit lauert, uns einen Streich zu spielen! Ha - wenn man ihn fassen könnte, mein Glück wäre gemacht!« 

» It is likily[likely] ! aber Sie haben ja eine genügende Kraft zur Verfügung, um über den Burschen herzufallen!« 

»Wie so, Mylord?« 

»Nun, ich meine, den kaiserlichen Aviso-Dampfer, der unter dem Leuchtthurm ankert?« 

»Zum Henker - wir würden schön ankommen mit einem solchen Verlangen. Die Herren rechnen sich zur Kriegsmarine und ließen eher die ganze spanische Schmuggler-Flottille an unserer Küste landen, als daß sie auch nur eine Schaufel Kohlen für die Douane heizten, - es müßte denn ein besonderer Befehl des Kaisers oder des Kriegsministers sie zwingen. Nein, Mylord, wir sind auf unsere eigenen geringen Mittel angewiesen und müssen unsere Augen offen halten, so viel wir können. Ich werde es doppelt thun nach dem Wink, den Sie mir gegeben und habe bereits alle Anstalten getroffen, jede Landung zu verhindern.« 

1 Ich thue es mit Vergnügen.


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Sie waren, von dem Steuermann, Mauro und dem

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Zwerg gefolgt im Gespräch auf die Höhe des Plateau de St. Luz gekommen, wo der Weg nach den Häusern am südlichen Strande, der Cöte Basque, sich abzweigt. Der Cavalier blieb stehen und reichte dem Beamten die Hand.

»Nochmals also meinen Dank, Herr, ich muß mich jetzt sputen, meine Toilette zu machen, um unsern beiderseitigen Gönner, den Herrn Ober-Kammerherrn, nicht warten zu lassen, und deshalb sage ich Ihnen Lebewohl für heute und wünsche Ihnen von Herzen, daß Sie den Sennor El Tuerto diese Nacht sich nicht entschlüpfen lassen!« 

Eine höfliche Verbeugung entließ die beiden Zollbeamten, die enchantirt von dem zutrau- lichen und offenen Wesen des vornehmen Herrn sich entfernten.

Der Graf that einen kräftigen Athemzug, als sie fort waren. »Caramba,« sagte er - »es ist gut, daß das Geschmeiß seiner Wege gegangen. Vorwärts, Jones und Mauro, unser Tagewerk hat erst begonnen.« 

Er schritt ihnen hastig voran nach dem Hause der schönen Margaritta.

Hier waren die sechs Matrosen bereits mit den Koffern eingetroffen und hatten sie in den Küchenflur abgesetzt. Auf dem Heerde brannte ein lustiges Feuer, Rum und Zucker stand in reichlicher Weise auf dem Tisch, die Herrin des Hauses nebst ihrer Bedienung aber war unsichtbar.

»Stelle die Wachen aus, John!« befahl der Kapitain, »und schicke nach Miguel, dem Träger.«  Dann stieg er in seinem Gemach hinauf.

Der Steuermann der »Victory« ging mit drei

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Matrosen hinaus. Die Anderen nebst Mauro machten sich, nachdem sie die kleinere Schiffs- kiste durch den inneren Aufgang in den oberen Salon geschafft hatten, alsbald daran, die beiden größeren Koffer auszupacken.

Es kamen unter einigen Garderobestücken eine Menge werthvoller Waaren zum Vorschein, deren Eingang in Frankreich mit hoher Steuer belegt ist, meist englische Fabrikate.

Master John, der bald zurückkehrte, ließ die Waaren auf einen Haufen in große Leinentü- cher zusammen legen, dann wandte er sich zu dem Griechen.

»Du erinnerst Dich an den Eid, den Du geleistet hast, als Du unter die Mannschaft der >Victory< tratest?« 

»Der Kapitain befahl und ich gehorchte!« 

»Es ist gleichgültig, wie und warum Du geschworen. Du hast den Eid auf Euer griechisches Kreuz gethan und ich erinnere Dich bloß daran, daß hundert kräftige Arme bereit sein wür- den, Dir sechs Zoll eines guten katalonischen Messers zwischen die Rippen zu stoßen, wenn Dir je in den Sinn kommen sollte, ein Wort von dem zu verrathen, was Du jetzt sehen wirst.«  »Mach’ keine unnützen Redensarten,« sagte der Grieche, »Du kennst mich.« 

»So kehrt alle Vier ein Wenig Eure Fratzen nach der Thür!« 

Als sie gehorcht hatten, drückte der Alte in einem dunklen Winkel des Raumes an einem verborgenen Knopf. Ein Geräusch wie von einer schweren Rolle ertönte, während der Steu- ermann sich gegen die Seitenwand des

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Heerdes stemmte, der aus schweren Steinen gebaut schien. Als auf seinen Ruf sich die Matro- sen wieder zu ihm kehrten, fanden sie, daß der ganze Heerd mit Feuer und Geräth wohl fünf bis sechs Fuß zur Seite geschoben und Master John bereits beschäftigt war, die geschmuggel- ten Waaren auf die Stelle zu heben, auf welcher bisher der Heerd gestanden.« 

»So, Master Mauro,« sagte er - »kennt Ihr jetzt einen Theil des Geheimnisses und ich be- daure, daß Ihr nicht gleich das Ganze sehen und in die Felsengewölbe hinab steigen könnt. Aber der Kapitain dürfte uns brauchen und so muß es diesmal Rafael und der Rothkopf thun. So, Kinder, steigt auf die Planke, bringt die Waaren unten in das Magazin und setzt Alles in Bereitschaft für den Fall, daß wir der Höhlen bedürfen sollten.« 

Die beiden bezeichneten Matrosen halfen die geheime Fallthür beladen, und als sie dann auf den Waaren Platz genommen, drückte der Steuermann an einer zweiten verborgenen Feder, worauf sofort ein etwa 5 Fuß im Quadrat haltendes Stück des Bodens langsam in die Tiefe sank.

Ein feuchter heftiger Luftzug stieg aus dieser empor und der Donner der Brandung drang durch den Schlund in die Höhe, gleich als tobte sie dicht darunter.

Mauro hatte sich der Oeffnung genähert und blickte neugierig in die Tiefe, in der bald darauf ein schwacher Lichtschimmer wie ein Stern erglänzte.

»Sei vorsichtig, Bursche,« mahnte der Steuermann, »Du kennst die Gelegenheit und die Fährlichkeiten des Ortes noch nicht. Ein falscher Tritt und Du bist verloren.

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Da kommt die Planke wieder herauf und hier giebt der Kapitain das Signal, daß er uns braucht.« 

In der That hörte man den schrillen Ton einer Bootsmannspfeife aus dem oberen Geschoß. Nachdem der Steuermann durch die Anwendung der geheimen Maschinerie den steinernen Heerd wieder auf die frühere Stelle gerückt und so jede Spur des Geschehenen beseitigt hatte, stieg er mit Mauro im Hintergrund eine Treppe hinauf, die in einem Winkel des Küchenflurs nach dem oberen Stockwerk führte.

Im Salon fanden sie den Kapitain, der mit Hilfe des Zwerges aus der Garderobe des ge- öffneten Koffers eine einfache, aber sehr elegante Toilette gemacht hatte. Der dunkle Frack nach dem modernsten Schnitt von Stolz, des Königs der Garderobiers von London, hob die elegante geschmeidige Gestalt, ein kaum die Kinderform überschreitender Lackstiefel zeig- te den aristokratisch kleinen Fuß, und ein prachtvoller grünlicher Brillant glänzte auf dem zierlichen Jabot. Im Knopfloch des Frackes hingen an der feinen Goldkette die englische und französische Medaille des Krimfeldzuges und auf der Brust das Ritterkreuz des St. Mauritius- Ordens; auf dem nächsten Tisch lagen Hut und Handschuhe aus dem Magazin von Alexander in Paris - kurz, der Schmuggler-Kapitain verleugnete in keinem Zug das Recht auf den vor- nehmen Rang, den er für sich in Anspruch genommen.

Der Graf ordnete vor dem breiten venetianischen Spiegel eben mit letzter Hand seine Kra- vatte, als die Beiden [269]

eintraten. Die Vorhänge der Thür zum Kabinet waren dicht geschlossen.

»Sind die Wachen auf beiden Seiten der Straße ausgestellt?« 

»Ja, Sir!« 

»Und die Waaren?« 


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»Sie sind in den Gewölben. Rafael und der rothe Portugiese sind mit hinunter für alle Fälle.« 

»Es ist gut. Wir werden sie vielleicht brauchen. Ihr habt meine Signale von der Douanen- warte her sämtlich verstanden?« 

»Ich denke, Sir!« Der Alte lachte. »Ich meine, es kann in der ganzen Welt auch nur Ihnen einfallen, von einer Zollstation aus die Ordre zum Schmuggeln zu geben. Goddam. - ich möchte wohl wissen, wie Sie das Ding angefangen haben?« 

»Der Zufall stand mir bei. Indeß wir haben Wichtigeres zu thun. - Ist der San Martino benachrichtigt, daß er sich diesen Abend zu einer Expedition bereit halten soll?« 

»Wir gaben ihm das Signal und mit Eintritt der Dunkelheit ist der Lieutenant hinüber, um den spanischen Gurgelabschneider zu instruiren.« 

»Und der Montgomery?« 

»Der Dampfer wird mit Eintritt der Dunkelheit auf 3 Meilen heranlegen in der Richtung zwischen dem Leuchtthurm und der Signalstation.« 

»Das würde eine Ruderfahrt von zwei Stunden sein,« murmelte der Kapitain. »Es muß also jedenfalls Etwas

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geschehen, um die Verfolgung zu hindern. Nun höre mir aufmerksam zu, denn es handelt sich um die wichtigsten Interessen, um Tod und Leben!« 

»Ich höre, Sir!« 

»Ich weiß nicht, ob sich ein gewisses Unternehmen wird ausführen lassen, aber in jedem Fall muß Alles bereit sein dazu. Die Douaniers hegen starken Verdacht, daß die Felucke der >San Martino< ist und glauben, daß er den Versuch machen wird, diese Nacht Waaren zu landen. Alle Wachen auf dem südlichen Ufer sind daher auf ihren Posten und die Boote des San Martino werden von den Beamten angegriffen werden.« 

»Aber sollten wir unsere alten Genossen nicht warnen?« 

»Nein - wenigstens nicht eher, als im letzten Moment. Selbst wenn die ganze Ladung ver- loren ginge und die Burschen Seewasser trinken müßten, hätte es Nichts auf sich. Aber es braucht auch dazu noch nicht zu kommen. Ihr habt doch Eure Kleider und Masken bei Euch?« 

»Ja, Sir!« 

»Gut denn! in einer halben Stunde mußt Du mit der Barkasse wieder in See sein. Sobald Du außer dem Bereich der Beobachtung bist, setze das Seegel auf, der Wind ist günstig, und lasse die Mannschaft ihre Kleidung wechseln. Auf der Höhe der Rhede wartest Du, bis die Boote des San Martino heran kommen. Dann übernimmst Du das Kommando derselben und nimmst die Hälfte der Mannschaft der Barkasse mit Dir. Es liegt mir daran, die sämtlichen Posten der Douane nach dem südlichen Ufer zu ziehen und daß die ganze Küste von dem

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Gefecht weiß. Der Rest der Mannschaft mit der Barkasse kehrt zurück auf die Höhe der kaiserlichen Villa, legt dort bei und hält genauen Ausguck auf Alles. Die Loosung für meinen Befehl, der ihr werden wird, ist der Name: Ortega! - Wenn ihr bis zur Dämmerung kein Befehl zugegangen, kehrt sie nach der Victory zurück. Du selbst hältst das Gefecht so lange als möglich, ehe Ihr Euch zurückzieht. In jedem Fall muß der San Martino dann Anker lichten und bei Sonnenaufgang bereits im Schutz der spanischen Küste sein. - Hast Du mich genau verstanden?« 


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»Ich denke, Sir!« 

»Dann an’s Werk. Noch Eins - sage den Wachen auf der Straße, daß, wenn sich Jemand mit der Loosung >Ortega< meldet, er sofort zu mir geführt werden soll! Jetzt Adieu, und wenn das Glück gut ist -«er unterdrückte die Fortsetzung und nickte bloß dem Gehenden vertraulich zu.

»Jetzt, Mauro, zu Dir! wo ist die Mannschaft des Gig?« 

»Zwei halten die Wache auf der Straße, die beiden Anderen sind in der nächsten Posada am Ufer.« 

»Ziehe Seespinne zunächst seinen Flitterkram vom Leibe und gieb ihm Kleider, die ihn weniger auffallend machen und die er leicht abwerfen kann. In diesem Schrank -« er schob die Tapete zur Seite und öffnete unter dieser eine verborgene Thür, - »findest Du vollständige Uniformen der Zollbeamten. Nimm vier derselben und das gerollte Tau, das dabei liegt. Dann warte unten auf den Träger Miguel und gieb ihm seine Instruktionen,

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da ich schwerlich Zeit dazu habe. Du begleitest ihn mit Seespinne zum Boot; rufe den Malte- ser und benachrichtige ihn, daß um 9 Uhr das Gig abstoßen soll. Die Leute sollen die Uniform der Douaniers anlegen, damit sie bei einer Begegnung für solche gehalten werden. Miguel kennt die Küste genau und jeden Stein an derselben. Das Boot muß sich außer Sicht des Ufers halten, bis es in die Nähe des Dampfers unter dem Leuchtthurm kommt. Umwickelt die Ruder, damit jedes Geräusch vermieden wird. Sie mögen sich hinter das Vorgebirge de la Fregatte legen, jedenfalls möglichst nahe zu dem Dampfer, doch so, daß man sie nicht sieht. Dann sollen sie dem Jungen die Kleider abziehen, ihm das Tau um den Hals schlingen und ihm das Weitere überlassen, - er weiß bereits, was er zu thun hat.« 

Seespinne grinste vergnügt und klatschte in die Hände.

»Der kleine Satan,« fuhr der Kapitain fort, »schwimmt und taucht wie ein Delphin. Das Boot muß fleißig nach ihm ausschauen, wenn er zurückkehrt, denn ich möchte ihn nicht verlieren, selbst um den Erfolg nicht dieser Nacht; der Halunke kennt alle meine Gewohnheiten und ist mir unentbehrlich. Sobald sie ihn wieder an Bord haben, sollen sie ebenso vorsichtig, wie sie gekommen, sich entfernen und sich hinter den St. Martin, den Felsblock, geradeüber der kaiserlichen Villa, legen. Er ist etwa 40 Faden von der Terrasse und sie können dort hören und sehen, was darauf vorgeht. Wenn sie zwei Mal den Schrei einer Seemöve von der Terrasse hören, soll Miguel so nahe als möglich heranlegen und mit dem Malteser an’s Land waten.« 

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»Und ich?« 

»Du kehrst, nachdem Du Deinen Auftrag ausgeführt, sobald als möglich hierher zurück und wirst mich begleiten. Nimm Deine Struka 1 um, er macht Dich weniger kenntlich.« 

Der Grieche wußte, wie wenig sein junger Kapitain eine Wiederholung seiner Befehle lieb- te, erwiderte diese daher blos durch das Schütteln des Kopfes, das orientalische Zeichen der Bejahung, und zog den Zwerg am Kragen seines schönen Wamses aus der Thür.

Sobald sie sich hinter ihm geschlossen, öffnete der junge Abenteurer den Vorhang des Kabinets, drückte an der Feder der Thür und diese fuhr in ihre Vertäfelung zurück.


1 Der braune, zottige Mantel der Albanesen.


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Ein reizendes Bild zeigte sich seinem Auge. Die junge Mutter saß auf der niederen Hän- gematte und hielt das Kind an ihren Busen, das am urewig einzigen und rechten Quell des Lebens, der leider so oft durch fremde Miethlinge ersetzt wird, seine Nahrung trank.

Es überkam den wilden jungen Abenteurer wie eine heilige Mahnung, als die junge Frau ihr großes dunkles Auge mit dem Ausdruck der Liebe auf den Vater ihres Kindes heftete, und er blieb einige Momente, in dem Anschauen dieses Bildes versunken, regungslos stehen.

Wie oft tritt dem Mann dieses Bild eines friedlichen häuslichen Glückes entgegen, und wie oft stößt er es in dem überfluthenden Drang der Leidenschaften von sich!

Freilich gehört zu diesem Bild Liebe, Sanftmuth und

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Nachsicht, - Eigenschaften, die bei den Frauen nach dem Besitz selten genug sind!« 

Sie lächelte ihm süß zu, während sie sich züchtig verhüllte und den Knaben in seine Matte legte, und blieb dann vor ihm stehen. «Heilige Madonna, wie schön und stattlich Du aussiehst, Juan! So sah Deine Margaritta Dich noch nie! Wie unglücklich bin ich, daß Du diesen Abend nicht bei mir bleiben kannst. Aber versprich mir, Mann meines Herzens, sobald wenigstens zurückzukehren, als Du kannst!« 

Er sah sie mit zerstreuten Blicken an. »Sobald ich kann! - Es soll geschehen, sorge nicht! Hast Du die Dienerin nach einem Wagen gesandt, der mich zum Schloß bringt? ich habe nur noch eine halbe Stunde Zeit!« 

»Ich habe sie nach dem Hotel Garderes darum geschickt. Aber wo ist der arme verwachsene Knabe, der Dich bediente?« 

»Fort mit den Männern, die bei mir waren!« 

»Juan - Du verheimlichst mir Etwas - Du gehst nicht nach dem Schloß! Du willst mich täuschen! Ihr habt diese Nacht eine Expedition vor - ich hörte die Fallthür öffnen zu den unterirdischen Gewölben - ich beschwöre Dich, hüte Dich, die Douaniers sind wachsam!« 

»Thörin - ich habe Dir vorhin schon mein Wort gegeben, daß ich diesen Abend Nichts mit den Contrebandiero’s zu thun haben werde. Geh zur Ruh und kümmere Dich um Nichts, selbst wenn die Burschen angegriffen werden sollten. Ich bin nicht dabei. - Halt - da kommt Jemand!« 

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Es klopfte an der Thür - die Herrin des Hauses barg sich rasch hinter dem Vorhang.

»Wer ist da?« 

Die Thür nach der Treppe zum untern Raum öffnete sich; die breite kräftige Gestalt des Packträgers erschien auf der Schwelle.

»Ich bin es, Monsieur, Miguel, den Sie rufen ließen.« 

»Gut, daß Du da bist. Mein Stewart hat bereits meine Instruktionen für Dich. Hast Du ihn nicht getroffen?« 

»Wohl, Monsieur. Ich werde Ihren Anweisungen gehorchen, obschon ich diesen Abend mich lieber nicht von hier entfernt hätte. Aber das ist nicht der Grund, weshalb ich herauf komme!« 

»Was sonst?« 

»Es sind zwei Fremde vor der Thür, die den Grafen von Lerida zu sprechen verlangen und diese Karte schicken.« 

Der Kapitain warf einen Blick auf das einzige Wort, das darauf stand. Dann frug er hastig:

»Wo sind die Caballero’s?« 


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»Sie warten an der Gartenthür! Sie müssen das Paßwort gehabt haben, da sie die Wache passirt sind.« 

Der Kapitain trat rasch zu der Portiere und sprach leise einige Worte hindurch. Dann winkte er dem Schmuggler. »Du kannst gehen - ich werde die Fremden selbst heraufführen. Mauro wartet auf Dich unten am Heerd. Führe das Boot vorsichtig und sicher, und haltet Augen und Ohren offen!« Er ging durch die Thür zur äußeren

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Veranda hinaus und man hörte ihn die Treppe hinunter eilen.

Ebenso rasch war die Herrin des Hauses hinter der Portiere hervor und bei dem Lastträger.

»Wer sind die Fremden?« 

»Ich kannte nur den einen derselben, Mademoiselle. Es ist der Viejo, der Alte aus Bayonne, dem wir zu gehorchen haben, derselbe, der damals nach dem Tode Ihres Vaters hier war.« 

»Warum bleibst Du nicht hier? wo sollst Du hin?« 

»Ich weiß es ebensowenig, Mademoiselle; - ich weiß augenblicklich nur, daß der junge Kapitain befohlen hat, daß ich mit seinem Boot in See gehe und zwar auf der französischen Rhede!« 

»Und die Contrebandiero’s? - El Tuerto?« 

Der Riese erbleichte, zögerte aber mit der Antwort.

»Du erinnerst Dich an Dein Versprechen? Was ist mit ihm? Du verbirgst mir Etwas!« 

»Mademoiselle . . . « 

»Sprich schnell!« 

»Der Einäugige war in Ihrem Hause!« 

»In meinem Hause?« 

»Ja, Mademoiselle, - wenigstens kam er von dort, als ich ihm begegnete.« 

»O daß ich an Deiner Stelle und ein treuer Stahl in meiner Hand gewesen wäre. Ich danke Dir für die Nachricht - ich selbst werde jetzt auf der Lauer sein. Fort mit Dir - Juan kömmt zurück und darf Dich hier nicht mehr finden!« 

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Sie eilte hinter den Vorhang, während der Lastträger das Zimmer verließ, und rollte die Thür in ihre Fugen. Als der Kapitain jetzt, den beiden Fremden vorangehend, vom Balkon her in das Gemach trat, war dasselbe leer. Sorgfältig untersuchte er alle Thüren und schloß sie von Innen; dann erst wandte er sich zu seinen Begleitern und bat sie höflich, sich zu setzen und ihrer sie ganz verhüllenden Mäntel und Hüte zu entledigen.

Der Salon war durch zwei silberne Lampen und einige Kerzen erleuchtet, so daß helles Licht auf die Anwesenden fiel, als sie jetzt, der Eine auf dem Kanapee, der Zweite in einem Sessel sich niederließen, ohne jedoch ihre langen spanischen Mäntel abzulegen. Sie waren Beide Männer im Anfang der Fünfziger. Der Erste, welcher dem jungen Kapitain bekannt schien, war ein großer hagerer Mann mit scharfen Zügen und stechenden Augen. Es lag etwas Beobachtendes, Vorsichtiges in seinem ganzen Wesen und selbst in seinen Bewegungen, und er sprach leise und langsam. Der Zweite war gleichfalls von hoher Gestalt, aber kräftiger und fester wie sein Gefährte, der ihm sichtliche Ehrerbietung erwies. Er trug die einfache dunkle Kleidung eines Landpriesters und dennoch - würde nicht die Tonsur auf seinem noch immer mit starkem dunklem Haar bedeckten Kopf sein Anrecht darauf bewiesen haben, hätte man nach dem kühnen entschlossenen Ausdruck seines edel geformten Gesichts glauben sollen,


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einen alten Soldaten vor sich zu haben. Er betrachtete den jungen Mann mit aufmerksamem prüfendem Blick.

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»Es scheint, Sie waren im Begriff auszugehen, Senor Don Juan?« frug der Hagere.

»Zu dienen, Monsieur. Und wissen Sie, wohin?« 

»Wir sind erst von Bayonne gekommen. Wie können wir wissen, welche Abenteuer Herr Ju- an Waterford nach seiner gewöhnlichen Manier schon angesponnen hat in einem Augenblick, wo die höchste Vorsicht und Besonnenheit nothwendig ist und die wichtigsten Interessen auf dem Spiele stehen.« 

»Sie werden sich beruhigen, Monsieur,« sagte der junge Mann spöttisch, »wenn Sie erfah- ren, daß der Kapitain der >Schwalbe< oder >Victory<, wie sie jetzt heißt, die Ehre haben wird, in einer halben Stunde in den Salons des Kaisers und der Kaiserin von Frankreich zu figuriren.«  »Wir haben keine Zeit zu scherzen,« sprach der Andere unwillig.

»Wir haben allerdings keine Zeit, die Sache zu erklären, aber nichtsdestoweniger ist es Thatsache« entgegnete der junge Mann mit demselben spöttischen Lächeln. »Freilich ist nicht der Kapitain Jack Waterford, sondern der Conde Juan Lerida in den Hofzirkel geladen. Und dieser wird vielleicht besser im Stande sein, als der Schmuggler Jack, noch heute der erlauch- ten Familie der Bourbons einen Dienst zu leisten, der wichtiger ist, als zehn Waffentransporte an die baskische Küste.« 

»Was wollen Sie damit sagen?« 

»Ehe ich spreche, bitte ich Sie, mir den Namen dieses Herrn zu sagen.« 

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»Sie wissen, Senor Don Juan, daß ich allein verantwortlich bin!« 

»Der Contrebandista von Spanien und Frankreich, ja, Monsieur! - Allein, da ich leicht die Ehre haben könnte, außer diesem Geheimbund einigermaßen auch noch einem halben Dutzend anderer der Art anzugehören, wie z. B. der sehr ehrwürdigen Camorra, dem jungen Italien, der liga polska, den Feniern, Nihilisten und dem Legitimistenbund, so werden Sie entschuldigen, wenn ich gern meine Gesellschafter kenne!« 

»Ich habe keineswegs die Absicht, mich Ihnen gegenüber zu verbergen,« sagte der Priester. »Ich bin Francesco Felix Solano, Bischof von Tarragona.« 

Der junge Mann verneigte sich ehrerbietig. »Ich dachte es mir fast, Senor, und beeile mich daher, Euer Gnaden diesen Brief zu eigenen Händen zu übergeben.« 

Er nahm aus seinem Portefeuille ein kleines versiegeltes Schreiben und überreichte es dem hohen Würdenträger.

Der Bischof erbrach es sofort und sah nach der Unterschrift.

»Ah, von Seiner Königlichen Hoheit, dem Infanten Don Juan selbst!« 

Der Kapitain verbeugte sich.

»Der Infant empfiehlt Sie mir, Herr Graf,« sagte der Bischof, - »denn ich weiß, daß sie auf diesen Titel vollen Anspruch haben, auf das Wärmste. Er lobt Ihren Muth, Ihre Hingebung und Ihre Entschlossenheit, selbst Ihre Schlauheit. Das ist viel in einer Person! Se. Königliche Hoheit,« fuhr der Kirchenfürst lächelnd fort, »warnt

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nur vor einer Ihrer Eigenschaften, er bittet, Sie vor den Augen schöner Damen zu hüten!« 


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Der junge Kapitain zuckte die Achseln. »Ein Jeder hat seine suijada! 1 , die meine ist mirar d las mugeres ! 2 ich habe nicht wie Euer Gnaden das voto de castid 3 gethan.« 

Der Bischof biß sich leicht auf die Lippen - nach verschiedenen Anekdoten, die aus seiner etwas wilden Jugend im Umlauf waren, fühlte er den kleinen Stich.

»Sie haben die Waffenladung in Ihrem Schiff?« 

»Sie ist bereits diese Nacht aus der Yacht vollständig an Bord des San Martino überführt worden, der morgen vor Sonnenaufgang die Anker lichten wird, nachdem er noch ein kleines Schmuggelgeschäft auf eigene Rechnung ausgeführt hat.« 

»Es würde besser gewesen sein,« sagte der Bischof unwillig, »wo so wichtige Interessen auf dem Spiele stehen, sie nicht wegen eines geringen Vortheils zu gefährden.« 

»El Tuerto« meinte lächelnd der junge Mann, »hat so gut seine Launen, wie ich. Ueberdies, Monsignore, ist es gerade heut nothwendig. Hat Se. Königliche Hoheit Euer Gnaden in dem Schreiben nichts weiter gesagt?« 

»Allerdings, Senor Conde. Der Infant spricht von einem Plan, der den legitimen Linien der erlauchten Familie der Bourbonen, welche jetzt in größter Gefahr ist, auch von dem letzten ihrer Throne durch die Revolution [ 281 ]

verdrängt zu werden, mit einem Schlage wieder zu ihren geheiligten Rechten verhelfen soll.« 

»So ist es, Monsignore.« 

»Se. Königliche Hoheit verweisen mich auf Sie, Senor Conde!« 

»Ich befinde mich jetzt in derselben zweifelhaften Lage,« sagte lächelnd und mit einer bezeichnenden Verneigung gegen den Begleiter des Bischofs der Abenteurer, »in der vorhin sich unser verehrter Freund, der Herr Consul, sich mir gegenüber mit Euer Gnaden befunden hat.« 

»Ich verstehe, Senor, aber Don Naväles war weit eher Carlist und ein treuer Anhänger des rechtmäßigen Herrschers, als er Senior der Contrebandista und Bewohner von Bayonne wurde. Sprechen Sie ungescheut in seiner Gegenwart, auch über die politischen Interessen.« 

»Dann, Monsignore, will ich mich kurz fassen! - Ich habe mich erboten, Se. Majestät den Kaiser Napoleon zu entführen und nicht eher wieder loszulassen, als bis derselbe genügende Garantien für die Familie Bourbon gegeben hat.« 

Der Bischof sah den kühnen und sorglosen Sprecher mit Bestürzung an. »Sie machen einen schlechten Scherz, Senor Conde,« sagte er zögernd. »Ein solcher Plan - so folgenreich er auch sein möchte - er ist Thorheit, er ist unmöglich! Was sagen Sie dazu, Senor Don Naväles?« 

»Der Herr Graf macht einen seiner wilden Späße!« 

»Sennores,« sagte der Abenteurer gelassen, die Füße von sich streckend und mit den kost- baren Berlocques seiner Uhrkette spielend, »ich habe mir das auch überlegt, und [ 282 ]

bin zu einer besseren Einsicht gekommen. Es würde Ihren Majestäten dem König Franz von Neapel, Don Carlos VI. von Spanien, dem Herrn Herzog von Parma und dem Herrn Grafen Chambord bei der gegenwärtigen Stimmung der Nationen wahrscheinlich nicht viel nützen, die Person des Kaisers Louis Napoleon in ihren Händen zu haben, wenn dies auch mit vollster


Schwache Seite.

2 Nach den Frauen schauen. 3 Gelübde der Keuschheit.


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Sicherheit der Fall wäre. Ihre Majestät die Königin Isabella würde darum ihre königlichen pe- tis plaisirs nicht aufgeben, der König Victor Emanuel würde einen sehr unbequemen Aufseher los werden und in Paris würde höchstens Herr Plonplon den sehr zweifelhaften Vormund sei- nes kleinen Vetters spielen! Nein - man muß Se. Majestät den Kaiser Louis Napoleon so lange als möglich auf dem Throne Frankreichs lassen, denn er ist ein wahrer Segen für das sehr zu Revolutionen geeignete Europa. Ich beabsichtige nur, ihm seinen Sohn zu stehlen!« 

Der Prälat warf ihm einen ernsten festen Blick zu, worauf er den Kopf in die Hand stützte. »Nochmals, Senor Conde, scherzen Sie nicht mit so schweren Dingen!« 

»Nun - um Ihre eigene Diöcese zu brauchen, Monsignore, bei dem heiligen Kreuz vom Montserrat! ich schwöre Ihnen, daß ich nicht scherze, sondern im vollen Ernst spreche und ich freue mich, Euer Gnaden gerade heute begegnet zu sein, wo mir ein günstiger Zufall die Gelegenheit in den Schoos zu werfen scheint.« 

»Wie - Sie wollten wirklich diesen Versuch heute wagen?« 

»Ich habe alle Anstalten dazu getroffen. Ueberlegen

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Sie die Sache ruhig und ernst, Monsignore! Die Person des Kaiser Napoleon nutzt uns Nichts, wohl aber die seines einzigen Stammhalters. Im Besitz dieses Kindes können wir dem Kaiser Louis Napoleon Gesetze vorschreiben, die er wiederum Europa diktirt. Das erste wäre die Wiederherstellung des Königreich Neapels, des Kirchengebiets und der Herzogthümer in Ita- lien, und der Unterstützung eines von Euer Gnaden geleiteten Pronunciamento zur Erhebung des Grafen Montemolin als rechtmäßigen Herrscher auf den Thron von Spanien.« 

»Sie phantasiren! Niemals würde sich der Kaiser Napoleon dazu verstehen. Er würde höch- stens alles Mögliche versprechen, um seinen Sohn und Erben wieder zu erhalten, und dann doch thun, was ihm beliebte. Ueberdies haben Sie die Hauptline der Bourbons, die rechtmä- ßige Königsfamilie Frankreichs, ganz in ihrem Calcul ausgeschlossen!« 

»Euer Gnaden haben mich nicht zu Ende gehört! Die direkte Linie der französischen Bour- bons, die allein in Frage kommt, da trotz aller Fusion die Orleans als die Urheber oder ersten Begünstiger des europäischen Umsturzes in allgemeiner Exkommunication sind, - ist ohne direkte Nachkommen. Die Frau Gräfin von Chambord zählt bereits 43 Jahre. Unter den sämt- lichen Prinzessinnen des bourbonischen Hauses, nehmen wir die Orleans aus, giebt es eine einzige, die im Alter des jetzigen Kronprinzen von Frankreich steht, die Prinzessin Luigia, Schwester des Königs von Neapel.« 

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»Wie - Sie denken an eine Verbindung der Häuser Bourbon und Bonaparte?« 

»Warum nicht? In dieser Linie ist sie möglich und würde allem Streit ein Ende machen. Oder glauben Sie, daß der Kaiser Louis Napoleon nicht auf diese Bedingung eingehen und nicht einsehen würde, daß er damit seine Dynastie auf ein festeres Fundament stützen könn- te, als indem er sich auf Monsieur Plonplon und seine Generale verläßt? Der Papst, Itali- en, Spanien, selbst die dadurch befriedigten Häuser Oesterreich und Baiern würden dieses Bündniß schützen, das einen dauernden Zwiespalt aus der Welt schafft, und den französi- schen Legitimisten die längst ersehnte Gelegenheit giebt, sich mit der herrschenden Gewalt auszusöhnen!« 

»Aber es sind vier- und fünfjährige Kinder! . . . « 


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»Die katholische Kirche,« sagte trocken der Abenteurer, »hat nach der Geschichte sich stets das Recht gewahrt, dergleichen Bündnisse selbst in der Wiege schon zu sanctioniren und gültig zu schließen.« 

Der Bischof war aufgesprungen und ging erregt in dem Gemach auf und nieder. Dann blieb er plötzlich vor dem jungen Mann stehen.

»Seien Sie aufrichtig, Senor Conde,« sagte er - »dieser teuflische, aber ich gestehe es, famo- se Plan, kommt nicht von Ihnen. Wenn Sie zu den Jesuiten gehörten, würde ich es erklärlich finden!« 

»Euer Gnaden irren! ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich so ziemlich allen geheimen politischen Gesellschaften und Comite’s der alten, und, wie Sie bald sehen werden,

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auch der neuen Welt angehöre, aber mit den Vätern des heiligen Ignatius habe ich Nichts zu thun. Ich bin ein Schüler meines Oheims Lord Heresford, und arbeite auf meine eigene Rechnung und zu meinem eigenen Vergnügen. Die Herren mögen sich also erklären, ob sie mir beistehen wollen oder nicht! ich denke, Ihres Schweigens bin ich sicher!« 

Der Bischof ging noch immer unruhig auf und nieder. »Geben Sie mir wenigstens eine Garantie, daß die Leiter des carlistischen Comite’s nicht gegen Ihre kecke, aber - ich muß es gestehen - vielversprechende Idee sind!« 

»Euer Gnaden werden davon gehört haben, daß einige kühne und geschickte Amerikaner mit der Idee umgingen, den Kaiser Napoleon I. mittelst eines unterseeischen Schiffes von St. Helena zu entführen!« 

»Ich erinnere mich dessen.« 

»Nun wohl! die Schiffsbaukunde hat seitdem sehr bedeutende Fortschritte gemacht.« Er stieß die Thür des Balkons auf. »Wenn die Sonne ihre Strahlen über das biscayische Meer in diesem Augenblick würfe, könnte ich Ihnen mittels eines guten Fernrohrs vielleicht einige leichte und dünne Spieren zeigen, die in der Entfernung von drei Seemeilen gleich dem Mast eines Fischerbootes sich über dem Spiegel der See wiegen, während unter ihnen, im Schoos des ewig wogenden Meeres, ein stattliches wohlbemanntes Schiff schwimmt, bereit, in seinen sicheren unentdeckbaren Räumen den Kaiser Napoleon oder seinen Sohn in die unauffindbaren Verstecke der Lagunen Florida’s zu entführen.« 

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»Aber welche Rolle haben Sie denn uns, oder mir zugedacht?« frug hastig der Prälat.

»Nach dem Umstand zu schließen, daß Euer Gnaden von Tarragona nach Biscaya gekom- men sind, um selbst die Uebernahme der Waffensendung des carlistischen Comite’s in London zu leiten, darf ich annehmen, daß ein neuer Versuch im Werke ist, die Scharte von Tortosa und den Tod des General Ortega 1 auszuwetzen!?« 


1 Der noch junge General Ortega, der Kommandant der Balearischen Inseln, wurde bei dem im April 1860 unternommenen Versuch, den Grafen v. Montemolin (Sohn des bekannten Prätendenten Don Carlos) als Carl VI. zum König zu proklamiren, von seinen eigenen Leuten gefangen genommen, und in Tortosa am 22. April erschossen. Der Graf v. Montemolin und sein Bruder Ferdinand waren bei der Unternehmung zugegen und am 21ten gleichfalls gefangen worden. Am 23. April gab der Graf hierauf in Tortosa die Erklärung, daß er auf seine Thronansprüche verzichte und die Königin Isabella als berechtigte Thronerbin anerkenne, worauf beide Prinzen in Freiheit gesetzt wurden und Spanien verließen. Sein Bruder Juan de Bourbon richtete am 2. Juni aus London ein Schreiben an die spanischen Cortes, worin er erklärte, daß er seinerseits seine und seiner Familie Rechte auf


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»Meine Diöcese erstreckt sich auf die Landestheile diesseits des Ebro. Es wäre also nichts Auffallendes, mich in Irun oder San Sebastian zu finden. Aber Ihnen gegenüber, Senor Conde, sage ich allerdings, daß die Patrioten Biscaya’s und Navarra’s damit umgehen, bei erster Ge- legenheit jene Niederlage zu rächen, und daß ich außer meiner Ergebenheit für Se. Majestät den König Karl VI.

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noch ein persönliches Interesse habe, da General Ortega mein Verwandter war.« 

»Euer Gnaden wollen ferner bedenken,« fuhr der Graf fort, »daß Frankreich gegenwärtig im Allgemeinen eine Veränderung in Spanien nicht unlieb sein würde, da die Siege des Her- zogs von Tetuan in Marocco für Algerien etwas unbequem sind. Um es kurz zu machen, ich wüßte keinen besseren Unterhändler, wenn unsere Absicht gelungen, mit dem Kaiser Louis Napoleon oder Madame Eugenie, als Euer Gnaden!« 

»Aber dazu müßte ich Näheres wissen über den Plan - über den Ort, an den man den Prinzen gebracht hat?« 

»Wozu? Sie müssen mit gutem Gewissen sagen können, daß Sie dies nicht wissen. Die Ge- fahr soll möglichst allein die meine sein. Ist die Sache gelungen, werden Euer Gnaden durch Don Jose Naväles hier die nöthige Adresse in London erhalten, mittels deren die Unterhand- lungen geführt werden können.« 

Der Prälat schien noch immer zu schwanken. »Sagen Sie mir aufrichtig, Senor Conde, was ist die Forderung, die Sie für Ihre Person stellen, wenn Ihr kühner Plan glückt?« 

»Für mich? O si! - daran habe ich in der That noch nicht gedacht! ich habe mich auf die Sache eingelassen, weil sie ein kostbares Wagstück ist und Lärm machen muß! - Dieser Herr hier kann Ihnen sagen, daß ich durch die Güte meines Oheims ziemlich reich bin und auch der edlen Association der Contrebandista nur aus Liebhaberei

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angehöre. Das Einzige, was ich verlange, ist, dafür nicht nach Cayenne oder Ceuta 1 geschickt zu werden, sondern den Damen des Hofes von Saint Cloud und Madrid ungehindert den Hof machen zu dürfen. Aber Euer Gnaden müssen sich entschließen, denn ich höre auf dem harten Boden des Plateau de Saint Luz deutlich das Geräusch eines Wagens, die Uhr weist auf fünfzehn Minuten vor Acht, und den Kaiser und die Kaiserin von Frankreich darf ein einfacher Caballero, wie ich, unmöglich warten lassen.« 

Der Prälat zauderte noch einen Augenblick, dann sagte er entschlossen: »Sie wagen Ihren Kopf für die gute Sache Senor Conde, es wäre Feigheit von mir, nicht wenigstens die Rolle anzunehmen, die Sie mir zudenken. Der Segen der heiligen Kirche sei mit Ihnen. Ich erwarte Ihre Nachrichten!« 

Ein Klopfen an der Thür unterbrach das Gespräch.

»Wer ist da?« 

»Mauro, Excellenca!« 

Der Prälat und der Viejo der Contrebandista hüllten sich in ihre Mäntel und drückten die breitkrämpigen Hüte über ihre Stirn, während der Kapitain zur Thür ging und sie öffnete.

»Was giebt’s? Ist Alles besorgt?« 


den spanischen Thron aufrecht erhalte. Darauf nahm auch der Graf Montemolin in einem Schreiben aus Cöln vom 15. Juni seine Entsagung zurück.

'Der spanische Deportationsort.


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»Ja, Signor Capitano! Das Boot ist fort!« 

»Und ist der Wagen da?« 

»Si Signor! aber es ist eine kaiserliche Equipage,

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die man vom Schloß geschickt hat, Euer Excellenca abzuholen, und ein Bursche, goldbordirt wie der Pascha von Smyrna, wartet unten auf Ihre Befehle.« 

Der junge Kapitain wandte sich lächelnd zu seinen Gästen. »Sie sehen, Senores, eine solche Höflichkeit darf man nicht unbeachtet lassen. Geh’ und mache Dich fertig, mich zu begleiten - ich folge sogleich!« 

Der Grieche entfernte sich.

»Hier, Senor Don Jose,« fuhr der Graf fort - »sind die Consignements der Ladung nebst den Rechnungen. Die Felucke wird hoffentlich die Kisten glücklich in einem ihrer Verstecke an der baskischen Küste landen. Es wird gut sein, wenn Sie Beide noch diesen Abend Biarritz verlassen - morgen früh möchte es vielleicht nicht mehr möglich sein!« 

Der Bischof trat ihm näher und reichte ihm die Hand. »Wenn Ihr kühnes Unternehmen mißglückt,« sagte er mit warmer Theilnahme, »haben Sie wenigstens daran gedacht, Ihre Flucht zu sichern?« 

»Pardious - es würde ihnen schwer werden, mich einzuholen! Selbst der mißtrauischste Douanier hat keine Ahnung davon, daß die >Victory< jetzt außer ihren Seegein eine gute Propellerschraube führt, die in zehn Minuten ihren Schornstein aufsetzen kann und allen Dampfern des Continents ein Schnippchen schlägt. Uebrigens - la malayerba crece mucho! 1 wie das spanische Sprüchwort sagt. Leben Sie wohl, Monsignore! wenn wir uns

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Wiedersehen, hoffe ich Sie als Erzbischof von Toledo 2 mit der Ehre des rothen Hutes zu be- grüßen!« 

Er warf einen dunklen Carbonari über seinen Arm und öffnete, den Hut in der Hand, die Thür der Veranda.

Ahe Drei verließen den Salon, ohne daß Don Juan dem Kabinet, in dem er Margaritta mit seinem Kinde wußte, noch einen Blick zuwandte.

Wenige Minuten darauf hörte man das Rohen der kaiserlichen Equipage, die den schönen Abenteurer zur Villa Eugenie entführte.

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In Sibirien!

Die kurze Zeit, die unterm 64 Grad nördlicher Breite, also fast in der Zone des Polarkrei- ses, als Sommer gilt, - das heißt, in welcher der Schnee an den westlichen Abhängen des Stanoway-Gebirges schmilzt, für wenige Wochen dürftige Halmen aus dem Boden und Zwei- ge aus dem niedern Koniferenwerk oder den Birkenbüschen sprießen und die Sonne nur kurze Stunden unter den Horizont tritt, - also der Juli und August, - war längst vorüber; schon seit vier Wochen war der Winter wieder eingetreten und der Schneesturm fegte mit seiner gewaltigen Macht über die Tundra und durch die öden Thäler.


1 Unkraut verdirbt nicht.

2 Der Erzbischof von Toledo ist Primas von Spanien.


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Es war noch früh am Morgen, als sämtliche Bewohner der kleinen, aus wenigen elenden Blockhäusern und Jurten bestehenden Kolonie Katemskoi, eine der alten Zawod’s oder Tri- butstationen für die Stämme der Jakuten und Tungusen zwischen dem oberen Lena-Gebiet und Ochotzk vor dem Blockhaus des Holowa, oder Gemeindevorstehers,

[ 292 ]

versammelt waren. Ein Narty 1 mit dem aus Weiden geflochtenen Korb auf den vorn schmalen und hohen, hinten breiter werdenden leichten Kufen stand an dem Vorbau, und neben dem Gespann in seinen Sanejach, den Pelz von doppelten Rennthierhäuten gehüllt, die Beine mit den langen Torbassy, den Winterstiefeln bedeckt, und Pfeife, Kneipzange 2 , Wermuthbeutel und Messer am Gürtel, Bogen und Köcher über der Schulter und einem langen Stock zum Lenken seines Postzugs in der Hand, harrte ein alter Jakute; diesen Postzug selbst aber bil- deten paarweise langgespannt zwölf Hunde, von der Größe etwa unserer Schäferhunde, mit schmuzig gelbgrauem Fell und starkem Knochenbau, die sich jetzt gemüthlich in dem Schnee gelagert hatten. Zwei der jenisseik’schen Kosaken in spitzen kirgisischen Pelzmützen mit brei- ten Ohren- und Wangenklappen, in warme Armiaks 3 von Schafwolle gekleidet, darüber Pelze von Wolfsfell, saßen bereits auf den hohen Sätteln, welche mit den dicken Filzdecken, Pot- niki genannt, auf kleine wild und unbedeutend aussehende, aber ungemein ausdauernde Steppenpferde geschnallt waren, und schienen ungeduldig die Insassen des Schlittens zu er- warten, den sie zu begleiten hatten.

Wenn wir eben von der ganzen Bevölkerung der Colonie gesprochen haben, so müssen wir sogleich bemerken, daß diese aus höchstens zwanzig Personen bestand, von denen etwa ein Drittheil Weiber und Kinder waren. Noth und Leiden, oder stumpfe Gleichgültigkeit lag auf den meisten

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Gesichtern, von denen einige die tartarische oder mongolische Abkunft verriethen. Einige Physiognomien zeigten die breite russische Gesichtsbildung mit gemeinen, vom Branntwein oder den narkotischen Wirkungen der Surrogate des Tabacks, hauptsächlich des giftigen Ler- chenschwamms zerstörten Zügen, einigen aber war auch der Stempel höherer Abkunft und früherer glücklicher Lebensverhältnisse noch unverkennbar eigen.

»No,« sagte einer der Kosaken - »wenn unser Väterchen sich nicht eilt, werden wir heute nicht mehr das Stationshaus an der Maja erreichen und können die Nacht im Schnee Zubrin- gern Wo zum Teufel steckt denn der Pfaff?« 

»Er spricht mit dem Schweigenden,« sagte einer der Kolonisten.

»Was spricht der Warnak 4 für Unsinn? Weißt Du nicht Kerl, daß ein Kosak das Recht hat, Dir den Bart zu zausen und Dir das Gesicht zu verarbeiten? Wie kannst Du Dich unterstehen zu sagen, daß man mit einem Stummen sprechen kann, Du Hundesohn?« 

Der Sträfling warf bei dem Schimpfwort, obgleich er in der That zur Katorga, das heißt zur schweren Arbeit verurtheilt war, einen giftigen Blick auf den Kosaken, entgegnete aber mit Rücksicht auf die gewaltige Nahaska, den kirgisischen Kantschuh, den jener in der Hand trug,


^undefuhrwerk.

2 Zum Ausraufen der Barthaare.

3 Oberrock.

4 Dieb, Schurke, die schimpfliche Benennung der verurtheilten gemeinen Verbrecher.


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sehr devot: «Womit habe ich Dich beleidigt, Batiuszki ? 1 Ich rede nicht von einem Stummen, sondern von Einem, der

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nicht mit uns reden will, obschon er nichts Besseres ist als wir. Gott und der Czaar wissen allein, warum er hier ist! Aber schau, da kommen Beide!« 

Aus einer der dürftigen, von Stangen, Birkenrinde und Rennthierfellen gebildeten mit Erde beworfenen Jurten traten eben zwei Männer in’s Freie und schritten auf das Blockhaus der Holowa zu.

Es waren beide ältere Männer, der eine freilich zehn oder fünfzehn Jahr älter als der ande- re. Aber selbst die Last der sechszig Jahre und der furchtbaren Leiden, die er erduldet haben mußte, hatten nicht vermocht, seine hohe edle Gestalt zu beugen oder den Glanz seines Auges zu trüben, das finster und streng vor sich niedersah. Er war in einen weiten, einem Schlafrock ähnlichen Armiak von brauner Farbe gekleidet, der bis zu den Füßen niederhing, und trug auf dem kahlen Kopf eine Pelzmütze, nach Art der Jakuten das Fell nach Innen gekehrt. Trotz des unbehülflichen Schnitts seiner Tracht, die durch ein Paar hohe Stiefeln von Pferdehaut, Sary genannt, vervollständigt wurde, hatte dieselbe etwas Geordnetes, Militärisches.

Er ging mit gesenktem Haupt neben seinem Begleiter und schien empfindungslos und gleichgültig gegen dessen Worte.

Dieser war ein ernst aussehender Geistlicher vom Orden der Basilianer, der in Irkutzk ein Kloster besitzt, trug aber nicht das weiße Ordensgewand, sondern die dunkle Kleidung der katholischen Weltgeistlichen, über welche ein Pelz von dem Fell der schwarzen sibirischen Bären geworfen war, während seine Beine in weiten Filzstiefeln

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steckten. Wenn je die heilige Mission der Tröstung Opfer und Anstrengungen gefordert hat, so ist es jene, welche eine kleine Anzahl von Geistlichen der katholischen Kirche in den Einöden Sibiriens vollzieht. Von Tobolsk und Irkutzk aus, wo die Station dieser frommen und ehrwürdigen Männer für die beiden General-Gubernate von West- und Ostsibirien ist, durchziehen sie unter tausend Leiden und Entbehrungen die ungeheuren Landstrecken vom Baikal bis zum Eismeer, vom Ural bis Kamczatkca, und besuchen jedes Fahr alle Stationen der Verbannten, um den Nieszczastbyi, den « Unglücklichen «, wie der Volksgebrauch sie mitleidig heißt, die ewigen Tröstungen der Religion zu bringen!

Die russische Regierung, die bei so vieler tyrannischer Härte in manchen Dingen, so eigent- hümlich liberal in anderen handelt, hat dieser Seelsorge der katholischen Kirche bis jetzt noch kein Hinderniß in den Weg gelegt. Freilich verpflichtet ein strenger Eid diese Geistlichen, sich jedes politischen Verkehrs mit den Verbannten zu enthalten.

Der Begleiter des Priesters blieb, ehe sie die Gruppe um den Schlitten erreichten, stehen und reichte jenem die Hand.

»Lassen Sie uns scheiden Pater, und möge Ihnen Gott noch ein langes und segensreiches Wirken hienieden verleihen. Dort oben hoffe ich Sie nach diesem wiederzusehen!« 

»Ich hoffe es noch in dieser Welt. Ich hoffe zu dem Erlöser, noch aus Ihrem Munde zu hören, daß Sie wie dieser Ihren Feinden vergeben und Denen, die Ihnen Leiden verursacht haben, nicht mehr fluchen!« 

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Väterchen.


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Der gebeugte Mann richtete sich kräftig empor, sein Auge flammte im finstern Blick auf das milde Gesicht des Geistlichen.

«Vergeben? Wissen Sie, wer ich bin? Haben Sie die Flammen von Praga leuchten, die Kinder polnischer Mütter auf die Bayonnete der russischen Schergen spießen sehen? Haben Sie je in den Kerkern unter dem Palast dieses Czaren geschmachtet, in einem Kerker, gegen den die Marterkammern Venedigs ein glücklicher Aufenthalt? Haben Sie die Tiefen, der Bleigruben von Nertschinsk ermessen und unter den Stockschlägen dieser Henker ihre beste Lebenskraft gelassen? Vergeben? Vergeben das geknechtete, gemordete Vaterland, diese verstümmelten Glieder? Verlangen Sie die Vergebung von einem Gott - bei einem Menschen, der gelitten, wie ich, finden Sie nur den Fluch!« 

Der Pater wandte sich erschüttert ab. «Unglücklicher Mann,« sagte er, «dessen Namen ich nicht einmal weiß, da Sie ihn selbst in der heiligen Beichte verschwiegen, der aber sicher einst unter den Edelsten und Besten Ihres unglücklichen Vaterlandes geglänzt hat, - kann ich denn Nichts thun zur Erleichterung des Restes Ihres Lebens? Ich will mit dem Horodiczny 1 dieser Station sprechen und ihm jede Milde empfehlen - das gestattet unsere Lizenz der Regierung.« 

»Der Holowa der Station,« sagte der Verbannte, »ist, wie Sie wissen, ein alter Franzose, ein Ehrenmann, der

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mir jede Gunst, die er gewähren kann, ohnehin zuwendet. Was Sie mir Gutes erweisen kön- nen, haben Sie gethan, das heilige Sakrament hat mich zum letzten Kampf des Lebens ge- stärkt. Was ich allein noch von Ihnen erbat - die Annahme und Beförderung meines Testa- mentes haben Sie mir abgeschlagen . . . « 

»Ich habe einen Eid geleistet!« unterbrach ihn der Priester.

»Ich weiß es, und ergebe mich darein, obgleich es mich nöthigen wird, mein letztes, ein heiliges Wort an das Vaterland und meine Brüder einem Manne anzuvertrauen, den mein besseres Selbst mich verachten läßt, obschon er unter der gleichen Tyrannei leidet wie ich. Wenn Sie Etwas dazu thun können, retten Sie jenes Mädchen, die Enkelin des Holowa, vor dem entsetzlichen Einfluß des Russen!« 

Der Priester sah fragend empor, aber in diesem Augenblick traten mehrere Personen aus der Vorhalle des Blockhauses, und der Verurtheilte wandte sich rasch um, als wolle er nicht mit ihnen zusammen treffen.

»Ihre Zeit ist um,« sagte er, »und auch die meine! Die heilige Jungfrau segne Ihren Weg!« 

Er ging eilig davon, seiner einsamen Jurte zu.

Es waren drei Personen, die aus dem von Fichtenstämmen errichteten, in den Spalten mit Lehm und Moos ausgedichteten und durch Erdanwurf gegen die Winterkälte möglichst ge- schützten Blockhaus getreten waren, zwei Männer und ein Mädchen. Der Eine war ein Greis nahe den Siebenzigen. Gleich dem Polen hatte er in seiner Haltung etwas Adrettes, Militäri- sches, was ihn

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vortheilhaft von den Eingeborenen und den Verurtheilten unterschied. Obschon er die Lan- destracht trug, zeigten der scharfe Schnitt seines faltenreichen Gesichts, die Adlernase und das große dunkle Auge doch den Südländer.


'Polizeidirektor.


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Der Zweite war ein Mann von etwa vier- bis fünfundvierzig Jahren, eine Löwengestalt, dem die langen Haare wüst um den Kopf flogen, eine echt russische Physiognomie mit trotzigem energischem Ausdruck. Es lag etwas Vornehmes, Gewaltiges in der ganzen Erscheinung des Mannes, dessen Wesen und Geberden im Gegensatz zu der traurigen Lage eines Sträflings jenes eigenthümliche Air der vornehmen russischen Gesellschaft zeigten. Selbst in der Art, wie er seine unvortheilhafte Kleidung trug und in der Wahl derselben prägte sich dies aus; denn obschon sie an Unordnung und Schmuz der der andern Verbannten und Eingebornen wenig nachgab, war sie doch von den besten Stoffen. Er trug über einem dunkelgrünen Tuch- rock einen Pelz von jenem Semisch-Leder, dessen treffliche Fabrikation die Haupt- oder fast die einzige Industrie der Bewohner von Irkutzk ist, gefüttert mit sibirischem Fuchs, und eine gleiche über die Wangen reichende Kappe. Ein chinesischer Shawl von rother Seide schloß den Pelz um seine Hüften, und auf dem Rücken trug er eine Janczarki, die lange tartarische Flinte, neben Pfeil und Bogen.

Zwischen diesen beiden Männern erblickte man eine Erscheinung, wie man sie schwerlich in diesen Einöden, unter diesem traurigen Himmel und so fern den Gränzen europäischer Kultur gesucht hätte.

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Es war ein junges Mädchen von etwa neunzehn Jahren, die Enkelin des Holowa oder Ge- meindevorstehers, des alten Franzosen, wie ihn vorhin der Verbannte in dem kurzen Ge- spräch mit dem Geistlichen bezeichnet hatte.

In der That war der civile Vorsteher der Kolonie - die Kolonisten haben in Sibirien das Recht, diesen aus dem Kreise der sogenannten Kronbauern zu erwählen, - von Geburt ein Sohn des schönen und fernen Frankreichs. Auf dem unglücksvollen Rückzug der einst so übermüthigen napoleonischen Armee von dem brennenden Moskau durch die Winter- schrecken von 1812 war er - damals ein junger Krieger von kaum 20 Jahren, - in die Hände der Kosaken gefallen, und als Kriegsgefangener nach dem fernsten Osten des gewaltigen Reichs geschleppt worden. Wie so viele derselben war er bei der nach dem pariser Frieden erfolgten Auslieferung der Gefangenen in dem fernen Sibirien vergessen, hatte seinen Ange- hörigen in der Heimath längst für todt gegolten und war später durch verschiedene Lebens- schicksale, die wir vielleicht noch Gelegenheit haben werden, näher zu erwähnen, veranlaßt worden, alle weiteren Schritte zur Erlangung seiner Freiheit zu unterlassen, um so mehr, als er hier die Tochter eines Eingebornen, eines der angesehensten Tungusenhäuptlinge zur Frau genommen.

Nur einige Jahre hatte jedoch diese Verbindung gewährt. Von den Kindern, die seine Frau ihm hinterlassen, war eine einzige Tochter am Leben geblieben, die Mutter des Mädchens, das jetzt neben ihm stand und dem seine ganze Liebe und Sorgfalt gehörte. Denn seine Tochter,

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welche einen vornehmen verbannten Russen geheirathet, der mit dem unglücklichen Dichter Bestuschew in der Pestel’schen Verschwörung von 1825, welche den Thron des Czaaren Ni- kolaus so blutig befestigte, eine hervorragende Rolle gespielt hatte und nach der Hinrichtung der Hauptleiter mit 83 Verschworenen nach Sibirien begnadigt und nach Verlauf der Katurga 1 in die Posieleniec 2 nach den Wildnissen zwischen der Lena und Ochotzk gesandt worden, -

1 Strafarbeit.

2 Verbannung.


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war schon vor zehn Jahren mit ihrem Gatten an einem der bösartigen sibirischen Fieber ge- storben. Jeanrenaud, wie der alte Franzose sich nannte, war mit seinen Kindern in die Kolonie gezogen, und da er sich von dem Grabe seiner Tochter nicht trennen wollte, hier geblieben. Sein ruhiges gediegenes Wesen und der Einfluß, den er durch seine frühere Heirath auf die Nomadenstämme übte, hatten ihm das Vertrauen nicht allein der Ansiedler, sondern selbst der russischen Beamten erworben, und so war er auf Grund seiner Stellung als Kranbauer oder freier Besitzer zum Vorsteher der einsamen Station gemacht worden.

So sehr er auch wünschte, die geliebte Enkeltochter, das einzige Band, was ihn noch an’s Leben fesselte, in glücklichere und für ihre Zukunft geeignetere Verhältnisse zu bringen, hat- ten doch seine Zärtlichkeit für sie und andere Umstände ihn bisher gehindert, sich von ihr zu trennen und sie zur Erziehung nach St. Petersburg oder einem andern geeigneten Ort zu senden. So war Jahr auf Jahr vergangen, aus dem Kinde war eine Jungfrau

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geworden, die in dieser wilden und schmuzigen Atmosphäre zu einer seltsamen Blume em- porgeblüht war.

Der Holowa, der in seiner Jugend eine gute und vornehme Bildung genossen, hatte sich bemüht, diese bei der Erziehung seiner Enkelin zu verwerthen, in deren Adern sich das fran- zösische mit dem tartarischen Blut so seltsam kreuzte; aber die Zärtlichkeit für dieselbe hatte ihn leider auch verhindert, die Prinzipien einer Erziehung mit Strenge durchzuführen und sie vor den wilden Einflüssen zu bewahren, die sie rings umgaben, und denen er ja selbst unterlegen war.

So war denn ihr Charakter bei großen natürlichen Anlagen und einem ursprünglich war- men Herzen und richtigem Gefühl bald zu einem beklagenswerthen Gemisch von wildem kühnem Trotz, Aberglauben, Hochmuth und Laune geworden. Dennoch zeigten sich häufig auch unter diesen schlimmen Eigenschaften und in einer noch schrecklicheren, für ein so junges Herz und so ungeordnetes Denkvermögen wahrhaft teuflischen Versuchung, wie die letzten zwei Jahre sie ihr gebracht, Züge hohen und edlen Sinnes und wahrer Weiblichkeit.

Dieses seltsame Wesen war eben so eigenthümlich in ihrer äußeren Erscheinung.

Wera Tungilbi, - wie sie mit ihrem russischen und tungusischen Namen genannt wurde - war von mittlerer Größe, schlank, aber kräftig gebaut, mit abgehärtetem Körper gegen alle Strapatzen und die Wirkungen des Klimas. Unter einem reichen, in Zöpfe geflochtenen blonden Haar und der niederen Stirn wölbte sich schön

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und kühn eine kurze Adlernase über einem etwas breiten, aber edel und voll geschnittenen Mund. Das Kinn war schmal und ging in eine schön gebogene Kehle über, die mit dem Hals dem kräftigen Nacken eines Hirsches glich. Der Bau des Gesichts neigte sich allerdings zu der bekannten tartarischen Form der Backenknochen, ohne aber einen unangenehmen Eindruck zu machen, harmonirte vielmehr vollkommen mit dem Ganzen und der eigenthümlichen Bil- dung der Augen, die diesem Gesicht erst seinen merkwürdigen Ausdruck gab. Diese Augen waren in Folge ihrer Abstammung klein und in leichtem Winkel sich zur Nasenwurzel nei- gend, aber von einem solchen Feuer, daß sie förmlich zu funkeln schienen und nur Wenige ihren Blick ertragen konnten, ohne den ihren zu senken. Dies Feuer wurde noch erhöht durch die seltsame Anomalie, daß trotz der blonden Farbe ihres Haars tiefschwarze buschige Brauen


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in hoher Wölbung sie beschatteten. Füße und Hände waren überaus klein und von aristokra- tischer Form. Die junge Sibirianka trug einen reichen phantastischen Anzug, wie die Frauen des Volkes, dem ihre Großmutter entsprossen, ihn lieben. Er war wie der der Männer, zwar aus Häuten und Pelzwerk, aber dies von kostbarster Art, und bestand aus einem kurzen bis über die Kniee reichenden Frauenrock von dem weißen Fell des Hermelins, Strumpfstiefeln von Rennthierfell, und einem anschließenden, mit bunten Glasperlen, Seide, Pferde- und Zie- genhaaren phantastisch geschmückten jakutischem Obergewand von kostbaren Zobelfellen, das Rauhe nach Außen gekehrt. Obschon dieser Rock oder Pelz gegen die jakutische

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Sitte den Körper vollständig hätte einschließen können, trug die schöne Halbwilde doch den Handi, die eigenthümliche bis auf die halben Lenden reichende und unten ausgefranzte Schürze von gelbgegerbtem Leder, welche Männer und Frauen an einer Schnur um den Hals gehangen haben und die den Spalt des engen Obergewandes ausfüllt. Dicke Pelzhandschuhe und ein pelzgefütterter Baschlik von rothem Tuch um Kopf und Hals geschlungen vollende- te diese wilde, aber keineswegs unschöne Tracht. In der Hand trug die Schöne eine kleine roh geschnitzte, aber mit scharfem Stahlreifen versehene Armbrust, und an dem Gürtel des Rocks einen Köcher mit stumpfen Bolzen, ein Messer in einer Scheide von Fischhaut und einen kleinen handlangen amerikanischen Revolver. An einem leichten Riemen hingen über ihrer Schulter zierliche lange Schneeschuhe, mit dem Fell eines Rennthierkalbes bespannt.

Wera Tungilbi trat alsbald auf den Geistlichen zu und streckte ihm die Hand entgegen. »Siehst Du, Väterchen,« sagte sie französisch, »daß ich Recht hatte, als ich sagte, wir könnten zusammen aufbrechen. Nummer Neunhundertachtzig muß Dir sehr interessante Dinge zu sagen gehabt haben, daß seine Beichte so lange gewährt hat!« 

»Spotte nicht eines Unglücklichen, Tochter,« sagte ernst der Priester, indem er sich zu sei- nem Schlitten wandte, gleich als wünschte er weiterem Verkehr zu entgehen. »Welchen bes- seren Trost konnte er für die schweren langen Monden, die ihm und allen Bewohnern dieser traurigen Oede wieder bevorstehen, gewinnen, als daß Gott der Herr seine

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Sünden verziehen hat und die Heiligen ihn stärken werden, seine Leiden zu tragen!« 

»Ein warmer Bärenpelz,« meinte höhnisch der Begleiter des Mädchens, »würde das mehr thun, als alle Heiligen des Kalenders! Ein tüchtiger Schluck Branntewein ist ein besseres Remedium gegen 40 Grad Reaumur, als alle Absolution!« 

»Schweig Unseliger!« sprach zürnend der Priester, »Du frevelst an Gott, der Dich wie ihn zur Strafe Eurer Sünden in diese Einöde geführt hat!« 

»Unsinn!« lachte höhnisch der Verbannte. »Der Czar in Petersburg oder der Generalgouver- neur von Irkutzk ist Dein Herrgott gewesen, der uns zur Strafe für unsere Dummheit hierher geschickt! Ich dachte nicht, daß ein Mann wie Neunhundertachtzig nach seinen Erfahrungen noch an dem Ammenmährchen von Gott und Religion hängt!« 

Das Mädchen lachte hell auf, als sie das entsetzte Gesicht des Priesters bei dieser Blasphe- mie sah, welcher der greise Holowa mit finsterer unwilliger Miene zuhörte, ohne indeß zu wagen, seinen Hausgenossen darüber zu tadeln, vor dem er eine gewisse Furcht zu empfin- den schien.

»Heilige Jungfrau!« rief der Priester mit Entsetzen, die Hände erhebend - »das also ist der Grund, unglückliches Kind, weshalb Du gestern zögertest, die Segnungen unserer heiligen


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Religion zu genießen? ! Welcher schlimme Saame ist in Dein Ohr gefallen, seit ich das letzte Mal diesen Ort besuchte! Und Ihr, Jeanrenaud, wie konntet Ihr es dulden, daß dieser Frevler an Gott und Menschen ein junges Gemüth vergiftet, das die Segnung der christlichen

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Taufe empfangen, und für das Ihr den Heiligen verantwortlich seid?« 

Der Greis wandte sich finster ab, ohne eine Antwort zu geben. Das Mädchen selbst aber übernahm dieselbe.

«Ich bin den Kinderschuhen entwachsen, Pater Hilarius,« sagte sie stolz und trotzig, «und danke es diesem Herrn, daß er meinen Geist frei gemacht von allen Fesseln des Aberglaubens. Ich wollte Dich nicht kränken, deshalb schwieg ich gestern und ließ mir all den Firlefanz Dei- ner Kirche gefallen, die nicht mehr die meine und nicht besser als die Zauberbeschwörungen meiner heben Verwandten, der Tungusen ist! Ich bin ein freies Weib, das Ich ist mein Gott und im Namen der Moral verwerfe ich den Deinen! Ich glaube an Nichts, als an meine fünf Sinne und läugne die Berechtigung irgend welcher Religion im Namen der Rechte der freien Menschheit!« 

Der Mann an ihrer Seite winkte ihr Schweigen und flüsterte ihr leise einige warnende Worte zu, der Pater aber schlug ein Kreuz, als wolle er sich vor diesen entsetzlichen Lehren des Nihilismus, die ihm hier zum ersten Mal so dreist entgegentraten, schützen, und wandte sich zu den Umstehenden, von denen noch zwei oder drei seine Beichtkinder waren, als wolle er sie ansprechen; aber der Hausgenosse des Holowa kam ihm zuvor.

«Still!« sagte er mit gebietendem Ton - »wir achten Ihre Ueberzeugung, ehren Sie die unsere! Sie haben Ihr Amt hier gethan und Nichts mehr hier zu schaffen vor Nächstem Jahr. Besteigen Sie den Schlitten und sehen Sie Ihren Weg fort, oder ich werde dem Gubernador

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anzeigen, daß Sie Bekehrungsversuche treiben, was Ihnen streng durch das Gesetz verboten ist!« 

Der Geistliche senkte das Haupt unter dieser Drohung, deren schwere Folgen er sehr wohl kannte. Wie ein Betäubter wankte er zu dem Schlitten und ließ sich von seinen Beichtkindern hinein heben, die hierauf neben demselben auf die Knie fielen, um seinen letzten Segen zu empfangen. Der Jakute setzte sich auf den Vorderplatz und erhob mit einem langgezogenen Je - tiah! den langen Stock - die Kosaken riefen ihr Paszol! und schwangen den Kantschuh - und dahin trottete im scharfen Trab der Hundezug, begleitet von den Reitern.

Der Verbannte wandte sich lachend zu dem Mädchen. »So, Wera Tungilbi, den Schwarzrock wären wir los, und ehe er wiederkommt, kann sich Manches geändert haben. Ist es Dir jetzt gefällig, unsern Jagdzug anzutreten?« 

»Ich bin bereit,« sagte sie nachdenkend. »Im Grunde meinte er es gut und ist ein redli- cher Mann, wenn er auch ein Priester ist, von denen Du mir so viel Schlimmes erzählt hast, Michaeloff! - Wer wird uns begleiten? [«]

»Sergei, der Katori, und Ajun, der Jakut; dort steht er bereits mit Spieß und Sack.« 

»So leb wohl, Diadiuszki ! 1 Am Abend sind wir zurück, laß Dir die Zeit nicht lang werden und halte den Samowar 2 warm!« 

Sie reichte dem alten Mann die Wange, die er

'Großväterchen.

2 Theekessel.


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betrübt, aber zärtlich küßte, indem er ihr noch verschiedene Warnungen und Vorsichtsmaßre- geln einschärfte, von denen er doch wußte, daß sie vergessen waren oder unbeachtet blieben, sobald sie nur dem Hause den Rücken gewandt. Als aber der Verbannte ihm die Hand reichen wollte, ehe er der Voraneilenden folgte, wandte er sich unwillig von ihm.

»Nein Gospodin - ich mag Ihre Hand nicht,« sagte er finster, »denn Sie sind der schlimmste Feind, den ich habe. Sie haben das Kind meiner Seele verführt zu ruchlosen Grundsätzen und alle guten und ehrenwerthen Gefühle der Liebe, des Gehorsams und der Frömmigkeit aus ihrem Herzen gerissen und dafür das Gift Ihres politischen Hasses hinein gepflanzt. Auch das letzte Band der Ehrfurcht vor der Religion haben Sie so eben gelöst - Gott wird Sie einst strafen dafür! ich aber fluche dem Tag, da ich gezwungen wurde, Sie in mein Haus zu nehmen.« 

Der Russe zuckte hochmüthig die Achseln. »Sie werden kindisch, Monsieur Jeanrenaud! Ihre hübsche Enkelin ist nicht dazu geboren, um in diesem Winkel Sibiriens zu verkümmern. Es fließt nobles Blut in ihren Adern, und ich hoffe sie noch einmal auf den Parkets des Win- terpalastes eine Rohe spielen zu sehen. Dazu muß sie etwas Schliff und Charakter erhalten, und Sie sollten mir’s danken, daß ich mich herablasse, ihr diese zu geben. Was die Strafe Ihres Gottes betrifft, so wissen Sie, daß ich diesen so wenig fürchte, wie die Blechgötzen der Tungusen und Jakuten. Der Godernador von Irkutzk hat in

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meinen Augen mehr reelle Macht, als alle Götter der civilisirten und uncivilisirten Welt. Auf Wiedersehen Papa Jeanrenaud!« 

Er ging lachend davon den Hügeln zu, an deren Fuß ihn bereits das Mädchen ungeduldig erwartete.

»Du hattest wieder Streit mit dem Vater, Michael Iwanowitsch?« frug sie, indem sie ihren Begleitern den trotz der unförmlichen Pelzstiefeln noch kleinen Fuß hinhielt, um die Schnee- schuhe daran zu befestigen.

»Bah - es ist Nichts, Kind! seine gewöhnlichen Klagen - ich verdürbe Deinen Charakter, weil ich mir die Mühe gebe, die läppischen Vorurtheile aus Deiner Seele zu verbannen und sie einer erhabenen großen Weltanschauung zu öffnen, der Erkenntniß, daß der Mensch nicht nur sein eigener Gott, sondern der wahre Gott der Welt ist!« 

Sie lachte leichtherzig. »Ein schöner Gott, der als Kind sich nicht einmal die Windeln wa- schen kann, als Mann Zobel und Füchse jagen muß, und als Greis sich füttern läßt!« 

»Und dennoch sich ewig erneut und verjüngt. Ich spreche nicht von dem Individuum, son- dern von dem Menschengeschlecht, dem Herrn alles Sichtbaren und Greifbaren, also Dessen, was allein wahr ist. Ich freue mich, Wera Tungilbi, heute mit Dir allein zu sein, um Deine Kraft zu stärken und die Einflüsterungen jenes Schwarzrocks zu paralysiren, der gestern sei- ne Künste an Dich verschwendete. Ich sah mit Vergnügen, wie wenig Du auf ihn achtetest, und daß Du nicht einmal der Mühe werth

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hieltest, ihn über Deine Gesinnung zu enttäuschen. Desto schärfer traf die Lection von vor- hin!« 


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Das Mädchen war bereits im Begriff, davon zu fliegen auf den statt der Fittiche mit Holz und Thiersehnen beflügelten Sohlen, hielt aber wieder inne, und sah zu ihm, auf die lan- ge schlanke Lanze gestützt, die sie aus den Händen ihrer Begleiter empfangen und die ihr als Stab diente, mit einem seltsamen Blick empor, in dem sich ein Gemisch von Trotz und Schalkhaftigkeit spiegelte.

«Und warum glauben Sie wohl, sehr weiser Barin « 1 frug sie, «warum ich gestern nicht dem armen Pater Hilarius antwortete?« 

»Weil ich Dich seinen Unsinn verachten gelehrt!« 

Sie lachte. »Weit gefehlt, edler Bojar! Ich that es, damit er sich nicht früher betrüben sollte, als nöthig, und weil er der beste und achtungswertheste Mensch ist, den ich kenne, hundert Mal besser, als Du und ich! So - und nun fange mich, Michael Iwanowitsch, wenn Du es vermagst!« 

Und lachend mit Windeseile flog sie auf dem einfachen Instrument, das in der arktischen Zone dem Jäger das Roß der Steppe ersetzt, über die weite Schneefläche.

»Sie ist und bleibt ein Kind,« sagte unwillig der Verbannte, - »eine Natur, die Alles in sich aufnimmt, die kühnsten Ideen, die wichtigsten Probleme der regirenden Philosophie - und im nächsten Augenblick alle Lehren vergißt, um dem Uebermuth ihrer Laune sich zu [ 310 ]

überlassen! - Weiber! Weiber! wirbelnde Schneeflocken in der Menschennatur, ohne Halt und Mark, und dennoch die Erde befruchtend!« 

Er warf die Flinte über den Nacken und eilte ihr nach, der bereits die Begleiter gefolgt waren.


Es sind etwa vier Stunden seit dem Aufbruch vergangen, als wir die Gesellschaft wieder finden.

Sie lagerte in einem jener nach Westen - der weiten Schneebene zu - geöffneten wilden Thäler des Stanoway Gebirges unterhalb eines vorspringenden Felsens, »der sie gegen den eisigen Nordwind schützte. Der Jakut und der Katurgi hatten den hier nur leichten Schnee zur Seite gebracht und in der Höhlung des Gesteins ein Feuer angezündet, dessen Rauch um den überhangenden Fels sich windend hoch hinauf in die klare Luft trieb. Ein Handkessel siedete Schneewasser auf der Gluth zum Thee, während schon über den nächsten Umkreis des Feuers hinaus die Kälte wieder ihr Recht behauptete.

Sergei, der Katurgi, ein Mann von einigen vierzig Jahren mit stumpfem mongolischem Ge- sicht, hütete den Kessel bis zum günstigen Augenblick, um im Samowar den Kirpiczny czaj, den sogenannten Ziegelthee zu brühen, die niederste Sorte Thee’s, die aus China in dieser Form gebacken nach Sibirien kommt und mit Beil oder Messer in Stücken geschnitten wer- den muß, während sein Gefährte, der Jakute, auf das Geheiß der europäischen Jäger hinaus gegangen war in die Ebene, um nach dem Wetter zu spähen.

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Michailoff saß mit der jungen Sibirianka unter dem Felsen und betrachtete sie mit for- schenden Blicken, während die ihren zerstreut bald auf einem halben Dutzend Zobeln und


1 Herr!


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Hermelins ruhte - die Beute ihrer Jagd, die zu ihren Füßen lagen, - bald über den Thalkes- sel schweifte. Der Eingang desselben war ziemlich eng, - schwarze Felsenmassen drängten sich aus den weißen Schneelagen, und am Ort, wo sie geschützt vor dem scharfen Wind sa- ßen, öffnete sich hinter ihnen eine dunkle Spalte oder Kluft, die tief hinein in das Gestein zu führen schien.

»Woran denkst Du, Wera Tungilbi?« frug der Verbannte.

»Ich dachte daran, was aus mir werden soll, wenn die Begnadigung von Sanct Petersburg für Dich kommt, die Du schon längst erwartest, oder Du heimlich Katemskoi verläßt, wie Du gleichfalls schon lange beabsichtigst.« 

»Du weißt, daß ich Dir versprochen habe, in jedem Fall Dich mitzunehmen,« 

»No - das eben will ich nicht! es würde ein trauriges Loos für mich sein. Hier bin ich wenigstens die Herrin, aber wenn ich Dich begleitete und allein von Deiner Gunst abhinge, würde ich nicht viel besser sein, als Deine Sclavin; denn ich weiß, Du verachtest die Weiber!« 

»Du bist ungerecht gegen Dich selbst,« sagte der Verbannte. »Du bist eine Ausnahme von Vielen und mein Zögling. - Ich betrachte Dich wie - wie meine Tochter!« 

Sie lachte ihm übermüthig in das Gesicht. »Du wirst Deinem eigenen System untreu, Mi- chael Iwanowitsch.

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Hast Du mich nicht selbst gelehrt, daß der Mensch keine Verpflichtung der Dankbarkeit gegen seine Erzeuger, die Eltern keine Schuld gegen ihr Kind haben, daß dessen Erziehung Pflicht der allgemeinen Gesellschaft ist? In der Gesellschaft gelten nur Contrakte mit gegenseitigen Rechten, und wo ist der Richter, der Dich zwingen würde, mir einen solchen Contrakt zu halten?« 

»Deine eigene Schönheit und Liebenswürdigkeit . . . « 

»Bah - werde nicht albern, Michael Iwanowitsch! Du kannst nicht denken, daß ich geson- nen bin, Deine Hilfe mit meinem Leibe zu bezahlen, und Liebe ... es ist, wie Du mich selbst gelehrt, nur eine Schwäche und der Zucker über der Mandel Sinnenlust. Ueberdies« - sie lachte wieder heiter und mädchenhaft auf, - »habe ich noch keine Gelegenheit gefunden, unter Jakuten, Tungusen und Warneki’s mich zu verlieben. Mutin, der Kosak, ist der einzige Junge und Hübsche, der mir den Hof macht, und der riecht mir zu sehr nach Branntwein. Noch weniger mag ich den Horodiczny 1 Pisarew in Jakutzk heirathen, der mich vom Vater schon zwei Mal verlangt hat. Der Lump hat sein erstes Weib zu Tode geprügelt. Wenn ich mich je einem Manne verkaufe, so muß er jung, schön und reich sein, und mir jeden Wil- len lassen. Ueberdies ziehe ich es vor, viele junge, reiche und schöne Männer zu haben und über alle zu regieren und sie zu genießen, wie einst die Czarewna Katharina, von der Du mir erzählt hast. Darum

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will ich nach Petersburg gehen, oder gar nach Paris, wo es noch schöner und freier sein soll, wie Du sagst.« 

»Aber Du wirst nie ohne mich dahin kommen!« 

»Wir wollen sehen! - Schau, Michael Iwanowitsch, Du bist ein stattlicher Mann, stattlicher als alle andern, die ich bisher gesehen, und wenn Du auch ein >Unglücklicher< bist, so hast Du doch mächtige Freunde; denn selbst der Horodiczny und der Vice-Gubernador in Jakutzk

1 Polizeidirektor.


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behandeln Dich nicht wie die andern Verurtheilten, und ich weiß, daß Du heimlich Geld und Briefe erhältst. Aber es giebt doch Personen, die mächtiger sind, als Du, denn sie haben Dich bestraft und zwingen Dich, hier zu leben und die Zobel zu jagen, nachdem Du alle Schönheiten der Welt gesehen und ein freier Mann warst. Du bist also jetzt ein Knecht, ein Sclave, so gut wie die Diener meines Großvaters, des Kameelfürsten. Du wirst mir zugeben, daß es dumm von mir wäre, mich an einen Knecht, einen Unfreien zu hängen und ihm zu gehorchen, wo ich Fürsten und freie Männer genug in der Welt finden kann! - Ich bin Dir verpflichtet für Deinen Unterricht und daß Du mir gezeigt, welche Rechte der Mensch hat und wie kindisch alle meine früheren Begriffe waren - aber ich habe Dich dafür bezahlt mit vielen andern Dingen, seit der Smotrytiel 1 Dich in das Haus meines Großvaters gewiesen hat. Es ist also keine Ursach, daß ich Dir noch meine Zukunft opfern soll; denn wenn man uns Beide auf der Flucht einfinge, würde ich so gut verurtheilt wie Du!« 

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Der Lehrmeister dieser Grundsätze biß sich auf die Lippen. »Du hast einen Hauptsatz mei- ner Lehren vergessen, Wera,« sagte er. »Es ist der, daß in der Verbindung der Menschen, in der gleichberechtigten Genossenschaft ihre Kraft liegt. Niemand ist einem Andern Dienste schul- dig, die ihm nicht selbst nützen. Wenn aber sein eigner Vortheil damit verbunden ist, wäre es thöricht von ihm, sie nicht zu leisten. Indem Du meine Gefahr einer Flucht theilst, hast Du auch die Aussicht auf die Vortheile derselben. Deine Verwandten werden nie zugeben, daß Du allein in die weite Welt gehst, überdies würde es Dir dort an Allem fehlen, und in Folge der noch bestehenden widersinnigen und ungerechten Einrichtungen der Gesellschaft bedarf eine Frau überall des männlichen Beistands. Du siehst also, daß der Vortheil auf Deiner Seite ist bei meinem Anerbieten.« 

»Wie viel Geld würde ich brauchen, um von Ochotzk nach Paris zu kommen?« sagte sie, ohne auf seine Rede zu antworten.

»Tausend Rubel Silber.« 

»Zeige mir Dein Messer - dasselbe, was Du aus dem Kaukasus mitgebracht, und das Du Amru-Bey dem Tscherkessen-Häuptling als Beute abgenommen, nachdem Du ihn erschlagen. Ich weiß, Du führst es stets auf der Jagd bei Dir.« 

Der Verbannte löste den Shawl, der seinen Pelz umschloß, und zog aus dem Gürtel um seinen Oberrock einen tscherkessischen Dolch, den er ihr verwundert reichte. Der

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Metallgriff desselben war mit mehreren Edelsteinen ausgelegt - an einzelnen Stellen waren solche ausgebrochen.

Die Sibirianka legte den Finger auf einen Stein, der den Knopf bildete. »Dies sind Edelstei- ne, wie Du mir erzählt, solche, mit denen in Europa sich die Frauen und die Vornehmen des Landes schmücken. Wie nennst Du diesen?« 

»Es ist ein sibirischer Smaragd.« 

»So findet man solche Steine auch in unserm kalten Lande?« 

»Grade hier. Die Gebirge Sibiriens liefern außer den kostbaren Metallen Smaragde, Sapphi- re, Amethyste, Topase, Hyazinthe und dem kostbaren Phemakit, nicht nur im Ural, sondern


Inspektor.


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selbst in den Brüchen von Nertschinsk. Das thörichter Weise in Europa so verschrieene Si- birien birgt sonderbarer Weise die reichsten Schätze in seinem Schoos. Aber warum frägst Du?« 

«Ich kenne die Namen nicht, die Du eben genannt hast. Es mögen wohl solche darunter sein. Aber sage mir, wie viel dieser Stein hier am Knopf Deines Messers wohl werth ist?« 

»Der Chinese Tali Thingh in Ochotzk würde gern zweihundert Rubel dafür zahlen. Viel- leicht führe ich ihn im Frühjahr in Versuchung.« 

»Und wenn ein Stein doppelt, dreifach so groß ist, steigt damit sein Werth?« 

»Nicht in dem Verhältniß, wie Du es sagst, sondern zehn, zwanzigfach. Aber nochmals, warum frägst Du solche Dinge, die in dieser Einöde Dir ziemlich gleichgültig sein können?« 

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Wera Tungilbi hatte sich der dicken Pelzhandschuhe entledigt, griff in die Tasche ihres Hermelinrocks und holte einen Gegenstand hervor, den sie dem Verbannten reichte. Es war ein Stein in der Form eines Säulencrystalls von etwa Zoll Länge und \ Zoll Dicke. Als der Russe ihn in seiner Hand wandte, fiel der Wiederschein des von dem Katurgi angezündeten Feuers darauf, und der Stein funkelte, wie das grüne Auge einer Schlange.

Der Verbannte prüfte ihn erstaunt von allen Seiten und sah dann auf die Eigenthümern:.

»In des Teufels Namen, Mädchen, wie kommst Du zu diesem Stein? Es ist, so viel ich sehe, ein Smaragd von bester Farbe und bedeutendem Werth!« 

»So sage mir diesen, Michael Iwanowitsch!« 

»Ich bin kein Juwelier, aber ich müßte mich sehr täuschen, wenn dieser Stein nicht zwei- oder dreitausend Rubel werth sein sollte!« 

Die Sibirianka klatschte in die Hände wie ein Kind. »Druzno! druzno I « 1 rief sie. »Ich werde mir sie von meinem Diadiuszki schenken lassen und gehe dann sicher nach Paris!« 

»Von Deinem Großvater? ist dieser Stein denn Eigenthum des Holowa?« 

»Bewahre, drug moi ! 2 Er weiß gar Nichts davon. Sie gehören Scheminge Tojon , 3 dem Ka- meelfürsten, meinem andern Großväterchen.« 

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»Sie - Du redest von diesem Stein hier!« 

»No, no! er hat mir ein ganzes Säckchen voll zum Aufbewahren gegeben, viele schöner und weit größer, als dieser hier - es sind mindestens hundert Stück. Der alte Mann sagt, er habe sie in den Bergen am Amur unter einer Baumwurzel gefunden 4 und viele viele Jahre in seiner Jurte bewahrt. Er meint, die Weiber putzten sich gern und er habe sie zu meinem Ischi 5 bestimmt!« 

Der Verbannte war erregt von seinem Sitz aufgestanden. »Wenn Du die Wahrheit sprichst, Mädchen, so bist Du ja im Besitz eines mehr als fürstlichen Vermögens. Warum hast Du mir nicht längst davon gesagt?« 


1 Lustig!

2 Mein Freund.

3 Tojon oder Tonjon heißen die Oberhäupter, die Fürsten der Tungusen.

4 Im Jahre 1850 fand ein Bauer bei Jekatarienenburg unter der Wurzel einer vom Sturm gefällten Tanne die kostbarsten Smaragde, die zur Entdeckung einer reichen Smaragdgrube durch den Direktor der Steinschleife- reien, Kokowin, führten.

5 Die Mitgabe der Braut bei den Tungusen.


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»Was sollte ich - ich dachie nicht daran, bis ich gestern in der rothen Kiste 1 meiner Mutter kramte und den Ledersack zufällig wieder fand. Da fiel mir der Stein ein, den ich auf Deinem Messer gesehen und ich beschloß, Dich zu fragen.« 

»So ist die Erzählung der Tungusen und Jakuten von dem Reichthum Scheminga’s doch keine Fabel,« meinte in tiefem Nachdenken der Russe. »Hüte Dich, mit Jemandem weiter von diesem Schatz zu sprechen, bis ich über

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den Gebrauch nachgedacht, den wir davon machen können! - Jedenfalls mußt Du sie behal- ten - am Besten, Du giebst sie mir in Verwahrung!« 

»Er wird sie mir schenken, wenn ich ihn darum bitte« - sagte die Sibirianka einfach - »bis dahin aber sind sie sein Eigenthum und ich habe kein Recht daran. Es ist schlecht von Dir, Michael Iwanowi[t]sch, mich zu einer Diebin machen zu wollen!« 

»Thörin! der alte Nomade kennt nur seine Kameele und Pferde und weiß den Werth dieser Edelsteine nicht zu schätzen. Wie oft hab ich Dir gesagt, daß jeder Mensch gleiches Recht auf den Besitz hat. Aber dort kommt Ajun in voller Eile gerannt, und während wir hier streiten, hat sich das Wetter geändert.« 

In der That kam die kleine in Rennthierfell gehüllte Gestalt des Jakuten in eiligen Bock- sprüngen vom Eingang des kleinen Thals daher gerannt und suchte schon in der Ferne durch allerlei Schwenkungen der Arme die Aufmerksamkeit seiner Gefährten zu erregen.

»Was hast Du, Socha 2 was bringt Dich aus Deiner gewohnten Trägheit?« 

»Er wird sie ereilen, ehe sie im Schutz der Berge sind, Gospodin. Der böse Geist wird ihre Seelen haben, ehe die Sonne unter ist!« 

»Wer zum Teufel wird denn die Deine holen, Du Sohn einer Hündin!« 

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» Rass - dwa - pät - sehest 3 habe ich gezählt!« stöhnte der Jakut.

»Eins, zwei - fünf, sechs! was meinst Du damit? Antwort, oder ich brauche den Kantschuh!«  Der Jakut fiel vor dem gestrengen Frager in die Knie. »Väterchen, gnädigstes, warum willst Du den armen Ajun schlagen, weil sein Auge dem des Falken gleich ist, und er sechs Schlitten in der Ebene gesehen hat!« 

»Schlitten? mögen sie verdammt sein! was kümmert uns irgend eine herumziehende Horde Deines Gelichters!« 

»Aber der Buran 4 wird sie tödten.« 

»Der Buran?« 

»Er kommt über die Tundra her, Gospodin - in wenig Zeit wirst Du sein Brausen hören.«  Das Mädchen hatte aufmerksam zugehört. Entschlossener und williger zu helfen, als der Mann, wandte sie sich zu dem Katorgi:

»Sergei - mach das Feuer stärker, damit der Rauch dunkler wird und sie die Richtung finden. Geben Sie mir Ihr Glas, Gospodin!« 


'Diese Holzkisten, blau und roth angemalt und mit schwarzlackirten Eichenbeschlägen versehen, werden in Stewiaask gefertigt und gehen jährlich in großen Mengen über Irbit nach allen Theilen Sibiriens.

2 Die Jakuten nennen sich selbst Socha’s; den Namen Jakuten haben sie von den Russen durch anfängliche Verwechselung mit den Jakuyiren erhalten.

3 Eins - zwei - fünf - sechs.

4 Schneesturm.


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Er reichte ihr ein kleines Perspektiv. «Was willst Du damit, Wera Tungilbi?« 

Ohne ihm zu antworten, flog sie dem Eingang des Thaies zu und erklimmte den Felsen, von dem aus sie eine weite Aussicht auf die schneebedeckte unendliche Fläche hatte.

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Die Nomaden dieser öden Steppen haben eine wunderbare Schärfe des Gehörs und Ge- sichts. Der Jakut hatte mit seinen bloßen Augen gesehen, was jetzt Wera nur mit Hilfe des Glases als sich rasch in der Ferne über die Fläche bewegende Schlitten zu erkennen ver- mochte. Verschiedene kleine Zeichen in der Anordnung des Narty-Zuges ließen sie zugleich erkennen, daß es nicht blos Eingeborene sein konnten, welche die beschwerliche Fahrt un- ternommen hatten.

Sie behielt jedoch wenig Zeit, ihre Beobachtungen fortzusetzen, denn die Athmosphäre verdichtete sich überaus schnell, und als sie, das Glas senkend, die Augen erhob und den Horizont überschaute, erkannte sie aus der Erfahrung mit Schrecken, wie wahr der Jakut gesprochen.

Ein unheimliches Zischen und Sausen kam von Norden, in der Richtung vom Polarmeer her, über die Fläche, und wie der Wirbelwind in der Wüste den Staub vor sich hertreibt oder der Sturmfluth der Gischt der Wellen vorangeht, so knisterte und bewegte es sich auf der weiten Schneedecke, eine lange große Woge von wirbelnden Crystallen. Die ganze Fläche schien plötzlich in Bewegung und Leben zu gerathen und sich zu erheben. Hinter dieser am Boden hinrollenden Welle aber erhob es sich wie eine hohe bis zum Zenith reichende Mauer und kam näher und näher, Myriaden beweglicher Atome und doch wie eine kompakte gigantische schwarze Masse.

Es war im Nu Nacht geworden und die nach der kurzen Tageszeit schon dem Untergange nahe Sonne ganz verschwunden. Durch die Luft heulte und schnob es und

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ein eiskalter alles Leben ertödtender Luftzug bildete gleichsam den Vortrab des Unwetters.

Es war der furchtbare Schneesturm des nördlichen Sibiriens, der in seinen Wirkungen dem Samum der Wüste, dem Cyclon des chinesischen Meeres gleicht.

Wera fühlte in diesem Augenblick den Griff einer kräftigen Hand an ihrem Arm.

»Unsinnige - willst Du Dich schutzlos der Gewalt des Sturmes aussetzen? Hinunter in den Schirm der Felsen, es ist unsere einzige Rettung!« 

Es war der Verbannte, welcher ihr gefolgt war und sie jetzt von der gefährlichen Stelle fortzog. Sie folgte rasch, denn sie erkannte die Gefahr und die Nutzlosigkeit ihres Verweilens an der ausgesetzten Stelle.

Während sie die wenigen Schritte über die Sohle des Thaies nach der nördlichen Wand desselben eilte, war die Luft bereits mit knisterndem Schneestaub gefüllt, der wie scharfe Nadeln in ihre Gesichter peitschte. Wera bemerkte, wie an ihnen vorbei dunkle Gestalten am Boden hinhuschten und in das Sausen und Brausen des Sturmes zuweilen sich ein pfeifender Ton oder ein ängstliches Schnauben mischte.

Der Schein eines Feuerbrandes, den der Katorgi schwang, zeigte ihnen die Richtung nach der Höhle oder Felsenspalte, in welche sich ihre beiden Jagdgefährten bereits zurückgezogen hatten, und im nächsten Augenblick waren sie neben ihnen. Der Zufluchtsort, an dem sie sich jetzt befanden, war zwar wenig geräumig, gewährte ihnen aber hinreichenden Schutz, da die Höhlung wohl fünf bis sechs


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Schritt in die Bergwand hinein lief und von einer überhangenden Felsmasse bedeckt war.

Hierdurch waren sie wenigstens von drei Seiten und von oben her vor den wirbelnden Schneemassen und bei der Richtung des Sturms vor dessen Wuth geschützt, wenn auch der in der Thalhöhlung kreisende Wirbelwind ihnen einen Theil der Schneeflocken zuwarf.

Die Sibirianka sah sich übrigens kaum in Sicherheit, als ihre volle Ruhe und Kaltblütig- keit wiederkehrte, und sie an die Felswand gelehnt mit einem gewissen Entzücken diesen furchtbaren Aufruhr der Natur beobachtete. Der Katorgie und Ajun der Jakut hatten die von ihnen in Sicherheit gebrachten Feuerbrände im Hintergrund der Höhle niedergelegt und un- terhielten mit trocknem Rennthierdünger und Moos, das von den wandernden Horden hier aufgehäuft war, die Flamme, während der Verbannte sich breit vor dieselbe hingestellt hatte, um sie mit seiner mächtigen Gestalt gegen die Gewalt des Sturmes zu schützen. Diese war jetzt wahrhaft furchtbar. Alle Dämonen der Luft schienen losgelassen und in dem Thalkessel ihren wilden Tanz zu feiern, während oben hoch in den Lüften über die niedern Hügel und Felswände hinweg es pfiff und heulte wie von tausend Wolfsschaaren. Der Schnee wirbelte in so dichten Eiscrystallen an dem Eingang der Grotte vorüber, daß diese wie durch eine Mauer geschlossen schien. Aus dieser glaubte Wera, die sich hinter einem kleinen Vorsprung ge- schützt hatte, am Boden lauernd feurige Augen blitzen zu sehen, und das ängstliche Winseln, das zwischen dem Sturmesbrüllen an ihr Ohr drang,

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überzeugte sie, daß es in der That flüchtige Thiere der Schneesteppe waren, die hier vor dem Orkan Schutz gesucht und ihren Zufluchtsort bereits von Menschen besetzt gefunden hatten.

Sie wollte eben sich Michaeloff nähern, um ihm darüber eine Bemerkung zu machen, denn das Toben des Sturmes machte schon auf Schritte weit jedes Wort unverständlich, als sie plötzlich durch einen Zwischenfall daran gehindert wurde.

Es war in der That ein Fall; denn wie sie in dem matten Halblicht des Feuers sah, plumpte eine große schwarze Masse kugelartig von dem die Decke des Zufluchtsortes bildenden Fel- sen vor dem Eingang nieder auf den Boden, wälzte sich dort umher und richtete sich dann brummend und schnaubend langsam empor.

Die grünlichen Augen eines großen schwarzen Bären, der wahrscheinlich in diesem Felsen- spalt sein gewöhnliches Winterlager und den Zufluchtsort jetzt aufgesucht hatte, funkelten ihr entgegen. Es war zwar keineswegs das erste Mal, daß die junge muthige Jägerin diesem einzigen Hochwild der sibirischen Schneesteppen entgegentrat und es erlegt hatte, wie zwei mächtige Felle in dem Hause des alten Holowa bewiesen, - aber dann war es mit einem guten Gewehr bewaffnet und wohlvorbereitet geschehn. Dennoch verlor das kühne Mädchen auch unter diesen ungünstigen Umständen nicht die Entschlossenheit und bemühte sich nur, ihren kleinen Revolver aus seiner wohlverknöpften Tasche loszumachen.

Ein lauteres tieferes Brummen des Schwarzen, der

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vor der Gewalt des Buran flüchtend sich kopfüber den Thalhang herabgekugelt hatte und sein Asyl so unerwartet besetzt fand, namentlich aber durch den ihm widerwärtigen Schein des Feuers erschreckt und in Zweifel war, ob er sich auf seine Gäste stürzen oder lieber der Gewalt des Wetters sich aussetzen sollte, - ließ erst jetzt die Männer am Feuer auf- und Michaeloff sich umblicken.


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Der Jakute begann sofort bei dem großen Respekt, den seine Nation vor dem Bären emp- findet, in dem sie die Verkörperung eines bösen Geistes sieht - was sie jedoch keineswegs abhält, bei günstiger Gelegenheit ihm das Fell über die Ohren zu ziehen und seine Schinken und Rippen mit fabelhafter Gefräßigkeit zu verschlingen - allerlei seltsame Verbeugungen und Gliederverrenkungen gegen den unwillkommenen Gast zu machen und ihn mit allerlei Ehrentiteln willkommen zu heißen. Sergei faßte nach dem kurzen Beil in seinem Gürtel und stieß einen barbarischen russischen Fluch aus, - der Verbannte aber ergriff den ihm zunächst an der Felswand lehnenden Jagdspieß, da seine Flinte außer dem Bereich seiner Hand war, fällte die Waffe zum Stoß und sprang vorwärts.

Unglücklicherweise hatte er den hastigen Sprung nicht genügend berechnet oder glitt wäh- rend desselben aus, - kurz, das breite harpunenartige Eisen des Spießes traf nicht die volle Brust des Ungethüms, sondern nur die Seite unter der rechten Vordertatze, zerschnitt in brei- ter und schmerzender aber nicht tödtender Wunde Fell und Fleisch und fuhr am Rücken hinaus. Die Gewalt des Stoßes und die Kraft des Mannes waren aber so groß,

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daß er - keinen Widerstand mehr findend - mit dem eigenen Körper gegen den des Bären prallte und mit ihm zu Boden stürzte.

Meister Petz versuchte sofort, seinen Gegner zu umarmen und wälzte sich dabei mit ihm am Boden. Die starke Kleidung schützte anfangs denVerbannten vor jeder Verwundung, aber obschon er die Vorsicht brauchte, sofort mit der linken Faust die Kehle des Thiers zu fassen und dessen Rachen in die Höhe zu drücken, vermochte doch seine Rechte sich nicht von der Umarmung des Bären genügend zu befreien, um seinen tscherkessischen Dolch zu erfassen, und selbst seine große Kraft würde kaum genügt haben, die Zähne des Thiers länger von seiner eigenen Kehle abzuhalten, wenn nicht eine andere Hand helfend dazwischen getreten wäre.

Es war die junge Sibirianka, die mit bewundernswürdiger Kaltblütigkeit, als sie endlich die Schnallen ihres Revolvers gelöst und diesen frei bekommen hatte, sich den Ringenden näherte und, einen günstigen Augenblick abpassend, den Lauf in das Ohr des Thiers hielt und den Schuß abfeuerte.

So schwach auch die Waffe war, hatte die Kugel doch genügende Kraft, den Schädel des Thiers zu durchbohren; augenblicklich lösten sich seine Tatzen und es wälzte sich am Boden in Todeszuckungen, denen alsbald einige Beilhiebe des Katorgi ein Ende machten.

Der Verbannte richtete sich unterdeß empor, versuchte seine Glieder und reichte dem Mäd- chen die Hand. »Ich danke Dir wahrscheinlich mein Leben, Wera Tungilbi,« 

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sagte er mit tiefer Stimme, die selbst durch das Brausen des Sturms zu ihren Ohren drang, »und Michael Bakunin wird es nicht vergessen und hofft, Dir diesen Dienst noch vergelten zu können!« 

Es war in der That der berühmte Agitator, der geheimnißvolle Revolutionair und Propagan- dist des Slaventhums, der in diesem entfernten Winkel Sibiriens - nicht das blutige Drama von Dresden oder die Berliner Novembertage, - vielleicht nicht einmal die berühmte und


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berüchtigte Rede vor der polnischen Emigration zu Paris am Jahrestag der Warschauer Revo- lution 1 , sondern wie man wissen wollte, seinen Ungehorsam zuerst im Kaukasus, und dann ein bitteres Epigramm gegen den Czaaren an dem jetzigen Verbannungsort büßte.

Aber das Mädchen beachtete keineswegs die Stimmung ihres Mentors.

«Unsinn, Michael Iwanowitsch,« sagte sie lachend - «das wäre ja ganz gegen Ihre Grundsät- ze; Dankbarkeit ist eine Albernheit und der Mensch, der sie sich auferlegt, bindet sich damit eine Ruthe, die ihn auf die Dauer nur gegen seinen Gläubiger verbittert. Was ich dabei gehol- fen, hab’ ich aus reinem Eigennutz gethan; denn hätte der Bär Sie gefressen, würde ich einen guten Gesellschafter und Lehrmeister verloren haben, wenn wir nicht gar noch in Gefahr ge- wesen wären, daß er nachher über uns herfiel. Also Nichts von Verdienst und Dankbarkeit Michael Iwanowitsch.

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Ajun versteht sich besser auf den Vortheil, denn ich glaube, daß er große Lust hat, das Stück, was er da aus seinem Freunde schneidet, auf dem Feuer zu rösten, und wenn nicht alle Anzeichen trügen, hat der Buran bereits sein Schlimmstes gethan und läßt nach in seinem Toben.« 

In der That begann das Heulen und Pfeifen des weiterziehenden Orkans geringer zu wer- den, wenn er auch immer noch gewaltig genug in dem Thal und draußen auf der Fläche brauste, daß kein lebendes Wesen ihm hätte widerstehen können. Nach einer halben Stunde aber fing das Wirbeln des zu förmlichem Eisstaub gepeitschten Schnees an, sich in ein dichtes Flockengestöber zu verwandeln.

»Bei allen schlimmen Geistern meiner würdigen Verwandten von Tunga,« sagte die Sibiri- anka, »statt daß der Buran ein helles Nordlicht und einige Grad Kälte mehr herauf bringen soll, wie er sonst zu thun pflegt, giebt er uns eine tüchtige Burany 2 , die vierundzwanzig Stunden anhalten kann. Das wird es uns sehr erschweren, die armen Burschen aufzufinden.« 

»Von wem sprichst Du?« 

»Nun von wem anders, als von den Schlitten, die wir vorhin sahen. Sie müssen jetzt bis über den Kopf im Schnee stecken und wenn sie nicht einen sehr gescheuten Führer haben, können sie in diesem Schneetreiben unmöglich ihren Weg hierher oder nach der Kolonie finden. Aber ich denke, ich habe mir die Richtung genau gemerkt, und Ajun ist ein zuverlässiger Spürer!« 

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»Den Teufel auch, Mädchen! Du wirst doch nicht daran denken, in diesem Höllenwetter das jakutische Lumpengesindel aufzusuchen? Mögen sie zum Teufel nach allen vier Winden gehn und krepiren !« 3

»Gewiß werde ich es!« 

»Aber ich werde es nicht zugeben! ich werde Dich mit Gewalt zurückhalten!« 

»Du?« 

»Ja!« 


1 1847; sie machte ungeheueres Aufsehen und wurde in Uebersetzungen durch ganz Europa verbreitet.

2 Heftiges Schneegestöber.

3 Stupaj kczortu, na czetyre wiatry, sztob ty zdoch! Geh zum Teufel nach allen vier Winden und krepire! ein sehr gewöhnlicher Fluch.


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Die Sibirianka lachte ihm spöttisch in’s Gesicht, dann wandte sie sich zu ihren beiden andern Begleitern. «Nimm Dein Beil, Sergei, und Du Deinen Spieß, Ajun! - Ihr habt gehört, was ich thun will, ich hoffe, Ihr werdet mich begleiten!« 

«Wohin Du gehst, Gospodina,« sagte der Katorgi - »ob ein elender Kerl wie ich in der Jurte auf seinem Filzlager stirbt oder hier im Schnee, es bleibt sich gleich. Aber Niemand soll Dich hindern, zu thun was Du willst. Ich habe das Unglück gehabt, zwei Menschen todt zu schlagen und bin deshalb zur Katorga verurtheilt - aber der Czaar ist gerecht und wird mich nicht härter strafen, wenn es auch einer mehr ist!« 

»Sie hören es, Michael Iwanowitsch,« fuhr das Mädchen lachend fort. »Ajun würde Ihnen die Lanze von hinten durch den Leib rennen, mit der Sie vorhin

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den Bären fehlten, wenn Sie sich mit meinem andern bärtigen Ritter dort in ein Gefecht einließen. Sie wissen, ich bin eigensinnig und lasse mich nicht zwingen. Aber bleiben Sie hier, - Sie haben Feuer mit Bärenbraten, und wenn die Purgy 1 vorüber, werde ich Sie durch meinen Leibkosaken holen lassen, - vorausgesetzt, daß wir selber glücklich heim kehren!« 

»Wenn Sie thöricht genug sind, Ihr Leben auf’s Spiel zu setzen, werde ich wahrlich nicht feig zurück bleiben!« 

»Charoscho! 2 ich wußte es wohl! Ich sehe Ajun, Du bist fertig mit dem Abziehn des Fells! So - nimm es mit, vielleicht können wir’s brauchen, und hänge Sergei die beiden Keulen um den Hals - für Großväterchen sind die Tatzen ein Leckerbissen. Das Andere mag für die Wölfe und Füchse bleiben, die draußen umherlungern und sehnsüchtig auf unsern Abzug warten. Steckt die Zobel in den Sack - so - seid Ihr fertig?« 

»Da, Gospodina!« 3

»Als wir zuletzt die Schlitten sahen, konnten sie nicht viel mehr als vier Werst 4 entfernt sein. Du wirst die Richtung finden, Ajun?« 

»Da, Gospodina! wenn der Buran sie nicht veranlaßt hat, davon abzuweichen.« 

»Dafür hat Michaeloff sein Gewehr und wird es von Zeit zu Zeit abschießen. Vorwärts denn Ajun, strecke den

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Spieß zurück, damit wir uns daran festhalten, um nicht von einander zu kommen!« 

Ein solches Hilfsmittel war in der That nöthig, denn das Schneegestöber war so dicht, daß man nicht über zwei Schritte zur Seite sehen konnte. Nachdem Alle wieder die Schneeschuhe angelegt hatten, weniger um bei der jetzigen Weiche des frischen Schnee’s rasch vorwärts zu kommen, als um möglichst wenig einzusinken, faßte der Jakut die noch blutige Spitze seines 5 bis 6 Fuß langen Spießes und trat hinaus in das Schneetreiben. Die drei Andern folgten, sich am Schaft festhaltend.

Die kurze Wanderung durch das Thal bis zu seinem Ausgang war verhältnißmäßig leicht, da hier die Fels- und Hügelwand die Richtung gab. Als die kleine Jagdgesellschaft aber deren Schutz verlassen, zeigte sich das begonnene Unternehmen als ein eben so verwegenes wie schwieriges.


1 Wie Burany: starkes Schneegestöber. 2 Sehr gut! - Russisch.

o

Ja, Herrin.

4 Sieben Werst = 1 deutsche Meile.


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Für jeden anderen Menschen, als den an solche Erscheinungen gewöhnten und mit unge- meiner Schärfe des Gesichts und Gehörs begabten Eingebornen wäre es eine Unmöglichkeit gewesen, in diesem dichten Gewirr aus Schneeflocken, die schon nach ein paar Minuten die vier Personen in wandernde Schneehügel verwandelten, eine grade Bahn einzuhalten. Der Jakute hatte jedoch bei dem Austritt aus dem Thal, ehe er seinen Weg weiter fortsetzte, genau die Richtung der treibenden Flocken beobachtet, und kreuzte dieselbe nun in einem bestimmten Winkel, ohne auch nur einen Augenblick unterwegs zu zögern. Von Zeit zu Zeit schien ihm ein aus der weißen rastlos beweglichen Wand umher auftauchender, in Schnee gehüllter Felsblock

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- wie deren viele in der Nähe des Gebirges noch über die Ebene verstreut lagen, - zur Orien- tirung zu dienen.

Während der Buran das Fortkommen der Jäger unmöglich gemacht hätte, einestheils durch seine furchtbare Gewalt, die sie zu Boden geworfen haben würde, andererseits durch die Schärfe des zu Eisstaub aufgewirbelten Schnee’s, der wie tausend Nadelspitzen auf alle preis- gegebenen Theile der Haut fällt und selbst durch die dichten Kleider dringt, - setzte in dieser Beziehung der Burany ihnen weniger Hindernisse in den Weg; denn wenn auch das dichte Flockengewirr ihre Augen blendete und alle Glieder bedeckte, konnte er doch die Bewegun- gen nicht hindern.

Dennoch kamen die kühnen Jäger nur langsam vorwärts und es erforderte ihre ganze Ab- härtung und Körperkraft, das begonnene Unternehmen fortzusetzen. Sie mochten in dieser Weise etwa eine halbe Stunde vorgedrungen sein, als der Jakute stehen blieb und den Ver- bannten aufforderte, einen Schuß zu thun.

Michaeloff hatte das Feuerschloß seiner Flinte sorgfältig in Rennthierleder gegen die Nässe gehüllt, ließ dieses jetzt von dem Mädchen und Sergei darüber halten und drückte los.

Zur allgemeinen Freude versagte auch das Gewehr nicht und der Schuß krachte hinaus.

Alle Vier lauschten eifrig auf eine Antwort, aber Alles umher blieb still.

»Wir können unmöglich schon an der Stelle sein, an welcher der Buran die Schlitten er- reicht haben muß,« 

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erklärte die muthige Jägerin. »Laden Sie zunächst Ihre Flinte wieder, Michael Iwanowitsch, und lassen Sie uns dann weiter gehn.« 

Die erste Aufgabe war aber keineswegs so leicht, als die zweite, da sie in dem dichten, das Pulver nässenden Gestöber nur mit Mühe gelang.

Sobald die Flinte geladen war, machte sich die kleine Gesellschaft wieder eilig auf den Weg, denn jedes unnöthige Verweilen konnte leicht Allen den Tod bringen.

Sie mochten etwa weitere 15 Minuten vorgedrungen sein, als der Jakut auf’s Neue stehen blieb und erklärte, sie wären bereits über den Punkt hinaus, wo sie den Schlitten begegnet sein müßten, wenn diese in der Richtung nach dem Thal die Fahrt so lange als möglich fortgesetzt hätten.

Der Verbannte versuchte sofort seine Flinte abzuschießen - aber das Gewehr versagte, das Pulver war feucht geworden.

Nach kurzer Berathung erhoben alle Vier ihre Stimme so laut als möglich und lauschten dann.


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Eine Zeit lang blieb Alles still - dann plötzlich reckte Ajun sein Ohr in die Luft.

»Was hörst Du, Mann?« 

»Es ist ein Laut in der Luft außer dem Lispeln des Schnees« meinte der Nomade, »aber ich kann nicht entdecken, von welcher Seite es kömmt.« 

»Der Schnee stört Dich darin,« sagte hastig das Mädchen. »Da, Michaeloff und Du Sergei, nehmt das Feh des Bären und breitet es als Dach aus. Wenn Ajun

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darunter kriecht, wird er von dem Schnee nicht gestört sein und kann seine Sinne besser zusammen nehmen. Dann vereinigt noch einmal Eure Stimmen.« 

Der Rath wurde sofort befolgt - Ajun kroch unter das improvisirte Zeltdach und die drei Andern stießen gemeinsam den langgedehnten Ruf aus, mit welchem die Poworotschiks 1 ihr Gespann anzutreiben pflegen, wobei das Mädchen zwei Mal ihren Revolver abschoß.

Einige Augenblicke darauf sprang der Jakute hastig empor und streckte den Arm aus. »So wahr mir Kuchta 2 eine gute Pelzjagd in diesem Winter gewähren möge - Ajun hat es deutlich gehört: ein Mensch, - ein Hund!« 

»Gott und den Heiligen sei Dank,« rief unwillkürlich, - in dem bessern Gefühl und der Erregung des Augenblicks die entsetzlichen Lehren des Atheismus vergessend - das Mädchen, »so kommen wir nicht zu spät! - Vorwärts, vorwärts!« 

Der Jakute schritt eilig voran, die Andern folgten. Es war, als ob mit der Entdeckung auch die Macht des Schneefalls gebrochen sei, denn die Flocken fielen jetzt weniger dicht, was bei der längst eingetretenen Finsterniß eine große Erleichterung wurde. Sie waren in der neuen Richtung auch kaum zweihundert Schritt gegangen, als sie auf eine im Schnee begrabene feste Masse stießen; zugleich klang von links her der matte, aber jetzt Allen deutliche Ruf einer menschlichen Stimme.

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Dorthin eilten die Promyschlenniki 3 und hörten im nächsten Augenblick folgende Worte in englischer Sprache: »Verdammt will ich sein, Ihr verrätherischen Halunken, wenn ich nicht dem Ersten eine Kugel auf den Pelz brenne, der in diebischer Absicht kommt. Noch ist wenig- stens Einer von uns im Stande, Euch zu strafen!« 

Der Verbannte lachte. »Ruhig, Sir, wer Sie auch sein und worüber Sie sich auch beklagen mögen!« sagte er gleichfalls in englischer Sprache. »Die, welche hier kommen, haben Sie wahrscheinlich im Leben noch nie gesehen, und doch haben sie die beste Absicht, Ihnen zu helfen. Wo zum Teufel stecken Sie denn, Sir?« 

»Wo soll ich sein, als hier unter dieser doppelten Wolfsschur,« sagte ein Mann, der sich jetzt vor den Augen der Pelzjäger aus einem Schneehaufen aufrichtete, der sich alsbald als ein eingeschneiter Korbschlitten mit darüber gedeckten Pelzen enthüllte. »Oder glauben Sie vielleicht, daß ich eine Ehre drein setze, zu erfrieren? - Aber damned! wenn Sie wirklich Helfer in der Noth sind, so sehen Sie zuerst nach meinen Reisegefährten, von denen ich seit einer Stunde Nichts gehört habe.« 

»Nehmen Sie selbst zunächst einen Schluck Branntwein, Sir!« 


1 Die Jakuten, welche Waaren auf Pferden und Schlitten transportiren.

2 Der Hauptgötze der Jakuten.

3 Pelzjäger.


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»No! - ich bin zwar kein Anhänger des Pater Matthew, aber ich weiß zu gut, wie gefährlich das in dieser Situation ist!« 

»Nicht, nachdem wir bei Ihnen sind. Aber wer sind

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Sie, wie kommen Sie in diese Wüste und wer sind Ihre Reisegefährten?« 

»Was mich betrifft, so ist das leicht gesagt. Es scheint, ich zähle zur Klasse der verrück- ten Engländer, denn very well, nur einem solchen konnte es einfallen, eine Vergnügungsreise nach Ihrem reizenden Lande zu machen und sich von einem womöglich noch verrückteren Gelehrten bei Samojeden und Jukayiren, in Nowaja-Semlja und sonstigen angenehmen Lieb- lingsorten der weißen Bären und blauen Füchse herumschleppen zu lassen, blos um eine Ab- weichung der Magnetnadel oder lieber gar den Nordpol zu entdecken. Mit andern Worten, ich bin Lord Frederik Walpole und habe zu meinem Vergnügen einigen Eisbären eine Kugel in den Schädel geschickt, während mein Gefährte Mammuthknochen suchte. Jetzt kommen wir von der untern Lena und wollen nach Olensk, wenn wir nämlich nicht sämtlich erfroren sind! Damned, diese Bemerkung bringt mich darauf, von meinen Gefährten zu sprechen. Es sind wie gesagt, ein deutscher Professor und unser gemeinschaftlicher Diener und Dolmetscher, ein Russe aus Archangel. Sie müssen in den beiden nächsten Schlitten liegen, wenn Ihr teuf- lischer Wirbelwind - Buran nennen Sie ihn ja wohl? - diese wirklich noch auf dem Erdboden gelassen hat!« 

»Wir werden sogleich nachsehen. Unterdeß, Mylord, berathen Sie mit dieser Dame weiter, sie versteht zwar noch nicht Englisch, spricht außer ihrer Muttersprache aber Französisch und etwas Italienisch!« 

»Eine Dame? - la dame blanche? By Jove! und

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Sie lassen einen Gentleman in Gegenwart einer so gelehrten jakutischen Lady liegen wie ein Stück Holz?« - Er versuchte sich mit Gewalt aus seiner bisher sitzenden Stellung empor zu raffen, mußte sich aber mit einigen Versuchen begnügen, denn seine Glieder waren ganz steif und ungelenk. Als es ihm endlich - auf einen Wink des Mädchens mit Hilfe des Kator- gi - gelang auf die Füße zu kommen, schüttelte er sich wie ein Bär, der aus dem Wasser kommt, trampelte mit den Beinen und schlug mit den Armen, um das stockende Blut wieder in Bewegung zu setzen.

So viel die Dunkelheit zu erkennen erlaubte, war der Lord ein noch ziemlich junger Mann, von hoher schlanker Gestalt, in einen Rennthierpelz gehüllt. Auch jetzt noch hielt er die Pistole in der Hand, mit der er vorhin die Helfer bedroht hatte.

»Eine Lady? - very well! ich möchte wissen, woran eigentlich die Leute in diesem Lande die Männer von den Weibern unterscheiden? Aber Madame, wenn Sie weiße Schneegestalt wirklich eine französisch parlirende Frau sind, sagen Sie mir zunächst, wie kommt Saul unter die Propheten?« 

Die schöne Sibirianka, die dem Auftritt, obschon sie ihn nur halb verstand, mit großem Interesse zugehört, behielt nicht Zeit, der französisch an sie gerichteten Frage zu antwor- ten, denn von dem zweiten etwa zehn Schritt entfernten Schlitten her, erscholl ein Ruf des Verbannten. »Kommen Sie hierher Mylord, Ihr Gefährte ist erfroren!« 

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Sie waren Alle nach wenigen Augenblicken an dem Ort versammelt. Der junge leichther- zige Lord, der die eigene Gefahr so gering genommen, zeigte die größte Besorgniß und ein theilnehmendes warmes Herz bei dem Unglück seines Reisegefährten.

Dieser, ein kleiner Mann von etwa fünfzig Jahren, lag unter seinem Schlitten begraben, den der Wirbelwind umgestürzt hatte. Dieser Umstand hatte jedoch, obschon der Fremde beim ersten Auffinden keine Spur des Lebens mehr zeigte, wahrscheinlich seine Rettung veranlaßt; denn als die Helfer sich weiter mit ihm beschäftigten, erkannte Michaeloff an dem leisen Herzschlag, daß noch nicht alles Leben entwichen sei. Man suchte daher dem Erstarrten durch die zusammengeklemmten Zähne etwas Branntwein einzuflößen und Sergei und der Lord machten sich daran, seine Glieder zu reiben, während die Andern ihre Nachforschungen fortsetzten.

Von dem Dolmetscher, der im dritten Schlitten gefahren, war keine Spur zu entdecken - er mußte entweder mit den jakutischen Führern entwichen oder bei dem Versuch, sich in dem Schneetreiben allein zu retten, umgekommen sein. Allem Anschein nach hatten die Jakuten, welche die Reisenden schon von der Lena aus geführt, bei dem Eintritt des Burans sie schändlich im Stich gelassen und sich und ihre Hunde allein zu sichern versucht, denn die Lederriemen, an denen die wackern Thiere die Schlitten gezogen, waren zerschnitten und die Hunde mit den treulosen Fuhrleuten verschwunden.

Nach diesen Ergebnissen ihrer Untersuchung sammelten

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sich Alle wieder um den Schlitten des Gelehrten, in dem die eifrigen Bemühungen des Ka- turgi, der seinen Pflegebefohlenen unbarmherzig mit Schnee rieb, wirklich das Leben wieder zurückzurufen schienen. Der Halbentseelte öffnete die Augen, stammelte einige Worte von dem kleinen Cerebrum des Mammuth und dann aber fiel er wieder zurück in den lethargi- schen Zustand.

»Der Teufel hole die Situation!« rief der Verbannte. »Wir können den Mann unmöglich hier liegen lassen - aber wie sollen wir ihn fortschaffen?« 

»Der Schlitten ist leicht - bemerkte Wera, »wir werfen alles Ueberflüssige hinaus und zie- hen ihn selbst bis zur Colonie. Wie weit sind wir entfernt von dieser, Ajun, und in welcher Richtung liegt sie?« 

Der Jakut kratzte verlegen seine Pelzmütze. »O Herrin,« murmelte er, »Ajun ist kein Scha- mane, der Alles weiß. Der Wind ist still geworden, und in dem Drehn und Wenden bei den Fremdlingen war es schwer, die Richtung zu bewahren. Der Holowa mag dort wohnen,« er wies nach der einen Richtung, und dann nach der entgegengesetzten, »es kann aber auch dort sein! - Wenn die Socha’s nur die Hunde zurückgelassen hätten, sie brächten uns sicher zum Feuer.« 

Der Verbannte stieß einen grimmigen Fluch aus. »Verdammt seien die Hunde und die Müt- ter dieser Hunde! Was fangen wir an? - wir werden Alle erfrieren!« 

Der Engländer frug, um was es sich handle.

»Die Hunde?« sagte er - »aber ich denke, es müssen

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deren noch an meinem Schlitten sein. Wir hatten einen Rauch in der Ferne gesehn an den Bergen und glaubten dort auf die Station zu treffen, als die Vorboten des Sturmes uns über- raschten. Die Thiere wollten nicht vorwärts, unser Zug hielt und ich sah, daß die Führer zu- sammen liefen und mit einander beriethen. Dann eilte Jeder zu seinem Schlitten und gleich darauf hörte ich den Ruf Wassili’s, unsers Dolmetsch. Ich sah, wie der Jakute, der die Hun- de vor meinem Schlitten leitete, beschäftigt war, sie von dem Riemen los zu schneiden. Ich rief ihm zu, abzulassen davon und drohte ihm, als er fortfuhr in dem bübischen Verrath, mit dem Pistol, worauf er entfloh. In diesem Augenblick erreichte uns der Orkan und es heulte und tobte um uns her, als wären alle Höllengeister losgelassen, wie ich es noch auf keiner meiner Seereisen erlebt, und als wollte es uns mitsammt dem Schlitten in die Lüfte heben. Das Unwetter war kaum vorüber, als dieser entsetzliche Schneewirbel eintrat, der mir nicht erlaubte, drei Schritte weit zu sehen. Vergeblich rief ich nach meinen Gefährten und suchte sie zu erreichen, - es blieb mir zuletzt Nichts übrig, als mich unter die Rennthierdecke des Schlittens zu flüchten, wollte ich nicht selbst umkommen!« 

»Wir wollen uns sofort überzeugen,« sagte der Verbannte. »He - Ajun - wo ist der erste Schlitten?« 

»Hier, Gospodin!« 

»Sieh genau nach, ob alle Hunde fort sind?« 

Der Jakute that einen schrillen Pfiff - ein Winseln antwortete ihm; erfreut sprang er nach der Stelle hin.

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»Hier Gospodin! Kuchta will nicht, daß seine Kinder in diesem Wetter umkommen! Es liegen zwei Hunde unter dem Schnee!« 

Die beiden armen Thiere, die es aus Furcht vor der Drohung des Lords dem jakutischen Führer nicht gelungen war, von dem langen, die Stelle eines Deichsel vertretenden Riemen zu lösen, hatten sich tief unter den Schnee vergraben, der sich über ihnen zu Hügeln ge- wölbt, so daß sie bei dem ersten Auffinden des Schlittens unentdeckt geblieben waren. Ajun brachte sie mit einigen Schlägen bald in die Höhe. Dann holte er aus seiner Tasche einige Jukola’s 1 und ließ sie dieselben verzehren, wodurch sie wieder ganz gestärkt und munter wurden. Eine kurze Berathschlagung genügte, um die weiteren Schritte der Gesellschaft fest- zustellen. Der Schlitten des deutschen Professors wurde bis auf seine Person alles weitern aus antediluvianischen Knochen, Versteinerungen und sonstigen Merkwürdigkeiten bestehenden Krams entledigt, während der unglückliche Gelehrte im Halbbewußtsein einige Sätze über Späroiden, Gradmessung und Tertiärformation murmelte, ohne dadurch jedoch die Helfer zur Nachsicht für seine Kabinetsstücke zu stimmen. Hierauf deckte man ihn mit den vor- handenen Pelzen zu, befestigte an dem Schlitten den rasch zusammengeknüpften ledernen Zugstrick, den die beiden Verbannten, Wera und der Lord, der seine Schneeschuhe angelegt hatte, anfaßten und dann machte sich der Jakute daran, die beiden Hunde an eine Leine zu nehmen, nachdem

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er ihnen die Nasen mit dem Innern seiner schmuzigen Leibschürze wiederholt gerieben hatte.

Sein Zuruf brachte die Thiere alsbald in Bewegung, und da sie keine Last zu ziehen hatten, trabten sie leicht in die Schneewüste hinein, während die Gesellschaft, an den Führer sich

Getrocknete Fische.


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haltend und den Schlitten hinter sich drein ziehend, ihnen folgte. Ajun ließ den Thieren gänzlich freien Willen, überzeugt, daß ihr Instinkt sie die gerade Richtung nach der nächsten menschlichen Wohnung finden lassen werde. So beschwerlich und anstrengend auch der Marsch in dem frischen Schnee war, gab doch Keiner der Ermüdung nach, da Alle sehr wohl wußten, daß jedes weitere Verweilen oder Abirren ihnen den Tod bringen mußte. Wie richtig der Nomade den Instinkt der Thiere berechnet, zeigte sich nach etwa einer Stunde, indem die Hunde an einem riesigen Steinblock vorbei ihren Weg nahmen, dessen Gestalt die Jäger wohl kannten.

Dieser Fels - dessen Untersuchung dem Gelehrten gewiß großes Interesse gewährt haben würde, - lag etwa eine halbe Stunde weit von der Kolonie.

Plötzlich hielt der Jakute die Hunde an. »Hörst Du den Tamtam, Gospodina?« 

»Wahrhaftig! - Großvater Jeanrenaud ist in Besorgniß um mich und giebt das Zeichen, das uns auf dem rechten Weg halten soll. Aber dort drüben höre ich gleichfalls ein Klingeln und Getöse?« 

»Es sind die Schellen, die sie rühren. Die Kinder des weißen Vaters in Petersburg haben sich auf den Weg gemacht, die Tochter des Halowa zu suchen.« 

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In der That hörte man von Zeit zu Zeit durch das Schneetreiben den dröhnenden Hall eines großen chinesischen Tamtams, das in der kleinen Niederlassung die Stelle der Glocke vertrat. Zugleich konnte man in einer andern Richtung das Rufen von Stimmen vernehmen.

Der Engländer schoß sogleich sein Pistol ab, das, mit Percussion versehen, nicht von der Nässe unbrauchbar geworden, und die Gesellschaft erhob jetzt auch ihre Stimme zu einem gemeinsamen Ruf.

Der Erfolg zeigte sich sogleich. Die Männer, die ausgezogen, um den vom Buran über- raschten Jägern wenn nöthig Hilfe zu bringen, hatten den Schuß und den Ruf auch ihrerseits gehört und kamen eilig näher. Nach zehn Minuten hatten sie die Bedrängten erreicht und es fand eine jubelnde Begrüßung statt.

An der Spitze der in weite Fuchs- und Rennthierpelze gehüllten fünf Ansiedler stand ein junger stattlicher Mann, dessen Abzeichen ihn als einen Unteroffizier vom Corps der Jeni- seisk’schen Kosaken kennzeichnete. Er eilte mit sichtlicher Freude auf das junge Mädchen zu, machte den demüthigen Gruß des niedern Russen und küßte den Zipfel ihres schneebedeck- ten Pelzes.

»Die Heiligen seien gepriesen, Gospodina, daß wir Dich glücklich wiederhaben. Ich ha- be dem heiligen Anastasius von Nertschinsk einen neuen Pelz von blauem Fuchs gelobt in der Angst um Dich und werde mein Versprechen halten! Wie werden sich Deine Diadiuszki freuen, Dich wieder zu sehen!« 

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»Sieh da, Mutin, braver Bursche, wo kommst Du her? Wir glaubten Dich am Aldan.« 

»Ich komme von Pristan - und nicht allein. Weißt Du, wer mich begleitet hat, Gospodina?« 

»Nun?« 

»Der Kameelfürst, Dein Großväterchen. Er ist bei dem Holowa und Beide ängstigen sich um das Licht ihrer Augen und das Kleinod ihrer Herzen.« 

Die Sibirianka ließ einen lustigen Ruf erklingen.


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»Wie - Scheminga Tojan, mein Großväterchen ist im Haus? Der Besuch konnte nicht besser kommen! Hast Du gehört, Michaeloff Iwanowitsch?« 

»Ich habe und rathe Dir, die Gelegenheit zu benutzen. Es giebt nicht viele solcher Großväter. Was mich betrifft, so wünschte ich, ich hätte sein gutes Roß Melilbi zwischen meinen Knieen und es wäre Sommer.« 

»Auch Deine Zeit wird kommen. Michael Iwanowitsch. Nun aber Männer, löst uns hier ab am Schlitten und Du, Mutin, übernimm die Führung und laß uns eilen, daß wir zum Feuerheerd kommen! Vorwärts denn, Toweritschi’s !« 1

»Einen Augenblick noch,« sagte mißtrauisch der Unteroffizier und wandte sich zu dem Engländer. »Kto wy tajoj, i czewo protrebujetie !« 2

»Unsinn Mutin,« lachte das Mädchen - »er ist ein Fremder und kommt aus einem Lande, von dem Dein [ 344 ]

Hohlkopf wahrscheinlich im ganzen Leben noch nicht gehört hat. Wie soll ein Engländer Dein Kauderwälsch verstehen?« 

»Jeto prawda! das ist wahr!« sagte der Kosak. »Aber ich muß seinen Paß sehn?« 

»Hier im Schneegestöber? Dazu ist Zeit genug im Hause! Paszol! paszol!« und laut rufend glitt sie auf ihren Schneeschuhen voran.

Die Andern folgten, so rasch es der Transport des Erstarrten gestattete.


Zwei Stunden später saß der größte Theil der Gesellschaft, die dem grimmigen Schnee- sturm getrotzt hatte, um den Heerd des Holowa.

Das Blockhaus des alten Franzosen war ziemlich geräumig, von Fichten- und Birkenstäm- men errichtet, die Außenwand mit Erde beworfen. Es bestand nach sibirischer Sitte aus zwei Abtheilungen, außer dem von als Säulen verwendeten unbehauenen Stämmen gebildeten Vorraum. Die vordere größere Abtheilung war zum allgemeinen Gebrauch bestimmt. Die Balkenwände waren mit Birkenrinde beschlagen, die Fugen mit Moos ausgefüllt. An der Sei- te war der weite tartarische Kamin, der Czulan, von Lehmsteinen gebaut, mit dem hölzernen Tschuwal oder Schornstein, und der niedere, von Bänken umgebene Ofen, während über den halben Raum die Potatje, die etwa l\ Elle von der Decke entfernten, zu Schlafstellen bestimmten Hängeböden liefen.

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Die Wände im Innern waren zum Theil mit Rennthier- und Wallroßfellen behängen. An Holzpflöcken hingen Pelze, Kleidungsstücke, Netze, Fischfangs- und Jagdgeräthschaften, wie sie in dieser Einöde zum Erlegen und Fangen der Pelzthiere, vom schlanken Hermelin und Zobel, die mit stumpfen Bolzen geschossen, oder in Schlingen gefangen werden, bis zum mächtigen Eisbären, in Gebrauch sind. Wenige eiserne und kupferne Geräthschaften standen auf Holzregalen in der Nähe des Kamins, dazwischen chinesische Theekisten und allerlei zierliche Arbeiten aus dem Reiche der Mitte.


Gefährten! Die am Ufer der Lena übliche Anrede. 2 Wer sind Sie und was wollen Sie hier?


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Rechts und links an den Wänden lagen dicke Filze mit Bärendecken zum Nachtlager be- stimmt. Im Kamin hingen Rennthierzungen, Bärenschinken und gedörrte Lachse von mäch- tiger Größe, während an dem Feuer ein Kessel brodelte und der Samowar siedete. Den Hin- tergrund des Blockhauses nahmen zwei gesonderte Kammern ein, deren eine der Enkelin des Holowa zum Schlafgemach diente, während die andere die Vorräthe der Wirthschaft und den Tribut an Fellen enthielt, welchen die Verurtheilten und die Nomaden des Distrikts hier für die Regierung abzuliefern hatten.

Die eigenthümlichste Verzierung dieser Halle oder Wohnküche bildete ein Gegenstand, der wohl im Stande war, die Aufmerksamkeit auch noch anderer Personen zu erregen, als des kleinen Naturforschers, der jetzt wohlbehalten und bis an’s Kinn in einen großen Fuchspelz gewickelt, in der Nähe des Feuers saß, und die Augen nicht davon verwendete, während seine Kinnbacken in dem

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angenehmen Geschäft der Versorgung seines innern Menschen eifrig in Thätigkeit waren.

Diese seltsame Ausschmückung bestand in einem kolossalen wohlerhaltenen Mammuth- schädel mit den beiden vollständigen Stoßzähnen von vollen vierzehn Fuß Länge in ihrer Krümmung.

Es ist eine heutzutage wohlbekannte Sache, daß der Norden Sibiriens jährlich gegen 40,000 Pfund fossilen Elfenbeins oder die Stoßzähne von mindestens hundert dieser vorwelt- lichen Riesenthiere in den Handel bringt. Sie werden von den nördlichen Nomadenvölkern in dem seit Jahrtausenden lagernden, durch irgend einen Temperaturwechsel schmelzenden Eise oder in dem Uferschlamme der Riesenströme gefunden, aber meist aus Habgier oder Unkenntniß vernichtet, so daß - bei der Schwierigkeit der Nachricht des Auffindens und des Transports aus jenen öden unermeßlichen Strecken selbst das Petersburger Museum bis jetzt nur zwei vollständige Skelette besitzt. -

In der Mitte des Raums befand sich ein roh gezimmerter Tisch mit Bänken an den Seiten. Um ihn saßen die Männer, die das Spiel des Zufalls hier vereinigt hatte, während Wera Tungil- bi mit einem alten hexenartig aussehenden Weibe, der Dienerin des Hauses, ab und zuging, die Männer mit Thee, Branntwein und Speisen versehend, wobei sie eine ganz besondere Aufmerksamkeit dem kleinen Gelehrten widmete. Sie hatte jetzt die schwere Jagdkleidung abgelegt und trug einen kurzen Rock von rothem chinesischem Seidenstoff mit Pelz besetzt und den breiten vergoldeten Stirnreif der russischen Tracht auf dem

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in langen Flechten über den schönen Nacken herabfallenden Haar.

Die Augen der beiden jüngeren Männer am Tisch, des Engländers und des Kosaken- Unteroffiziers verfolgten mit sichtlicher Bewunderung die freien, aber zierlichen Bewegun- gen des Mädchens, dem diese Aufmerksamkeit nicht entging, das aber mit einer gewissen Koketterie davon keine Notiz zu nehmen schien. Aber auch die Aufmerksamkeit der beiden ältesten Mitglieder der Gesellschaft blieb ihr fortwährend zugewandt und häufig rief sie der eine oder der andere der beiden »Großväter« zu sich, als wollten sie sich überzeugen, daß ihr Augapfel wirklich glücklich und unversehrt der Gefahr entkommen sei.

Die Person des Holowa haben wir bereits beschrieben. Den Ehrenplatz am Tisch nahm der Vater seiner verstorbenen Frau ein, der Tungusenhäuptling Scheminga Tojon, oder der »Kameelfürst«, wie ihn der Kosak genannt. Es lag etwas wahrhaft Ehrwürdiges und selbst


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der muntern Laune des vornehmen jungen Engländers wie dem Sarkasmus und Hochmuth des Verbannten Achtung Einflößendes in dem Aeußern des tungusischen Patriarchen, dessen hagere aber kräftige Gestalt die neunzig Jahre, die über seinem Haupte dahin gegangen, nicht zu beugen vermocht hatten. Weißes Haar fiel unter seiner Mütze über die hagern Wangen bis auf seine Schultern nieder und ließ den fehlenden Bart zu seinem ehrwürdigen Aussehen kaum vermissen. Der spärliche Bartwuchs ist überhaupt ein besonderes Kennzeichen dieser Nomadenstämme des Nordens. Ein feurig dunkles Auge von scharf

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mongolischem Schnitt blitzte neben der adlerartig gebogenen Nase aus dem faltenreichen, mit eigenthümlicher blauer Tättowirung in seltsamen Figuren bedeckten Gesicht und nahm einen ganz besondern Ausdruck von Zärtlichkeit an, wenn es sich auf seine Urenkelin rich- tete. Der Greis trug einen engen Pelzrock von weißem Rennthierfell auf bloßem Leibe, den vorn die nationale Schürze, die Handi, bedeckte, mit fliegenden Haaren aus Pferde- und Ka- meelschweifen benäht. Die kurzen, durch eine Schnur um die Hüften zusammengehaltenen Hosen liefen in kleinen Halbstiefeln von Kameelhaut mit Sohlen von geräuchertem Leder aus. Die Mütze oder Kappe bestand aus dem Fell eines Rehkopfs, an dem noch die Ohren und jun- gen Hörner emporstanden. Zur Seite des Alten stand ein von chinesischem Rohr geflochtener großer Korb mit Seidenstoffen und kostbaren chinesischen Artikeln gefüllt, aus dem der grei- se Häuptling jedes Mal, wenn das junge Mädchen seinen Theebecher füllte oder sonst sich mit seiner Person zu schaffen machte, diesem einen der oft sehr werthvollen Gegenstände reichte, die er im Tauschhandel jenseits des Amur mit den Chinesen erworben und als Ge- schenk mitgebracht hatte. Bald war es ein dünnes Gewebe von Grasleinen, bald ein kostbarer von Farben und Gold durchwirkter Seidenstoff, bald eine zierliche Schnitzerei von Elfenbein oder ein werthvolles Schmuckstück von Gold- und Silberdraht. Wera Tungilbi schien übrigens an diese Gaben sehr gewöhnt, denn sie nahm sie ohne viel Beachtung und Dank hin und legte sie, ohne sich viel weiter darum zu kümmern, bei Seite.

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Wenn die Thür der Küche geöffnet wurde, sah man unter dem schuppenartigen und we- nigstens gegen den Nordwind und den Schnee geschützten Vorbau des Hauses eine andere Gesellschaft, die besser im Stande schien, die Kälte zu ertragen, denn das Feuer aus einer torfartigen Erde und Rennthiermist, um das sie kauerte, konnte doch nur wenig dazu bei- tragen, diese abzuhalten. Es waren Zwei- und Vierfüßler, die sich hier versammelt hatten und von denen die ersteren von Zeit zu Zeit aus der Küche des Hauses einen Kessel voll dampfenden Ziegelthee’s erhielten. Der wackere Jakute Ajun und mitunter Sergei, der Ka- torgi, spielten hier die Wirthe, die Gäste aber bestanden aus einigen Dienern und Sclaven des greisen Kameelfürsten und den ungetreuen Jamszyks oder Führern der Reisenden, die mit ihren Hunden ihre Herren bei dem Buran so schmählich im Stich gelassen hatten. Die glücklich aus den Gefahren des nordischen Schneesturms gerettete Gesellschaft hatte bei ih- rer Ankunft in der Kolonie die treulosen Hundekutscher bereits dort vorgefunden, und das erste Geschäft, was die Russen, Michael, der Kosackenunteroffizier und selbst der Katorgi Vornahmen, war, die Flüchtlinge aus den Jurten, in die sie sich verkrochen, hervorzuholen und auf das Unbarmherzigste mit dem Kantschuh durchzuprügeln. Die Motion schien übri- gens gleich günstig auf beide Theile gewirkt zu haben; denn dem Russen hatte sie das Blut so in Bewegung gebracht, daß sie keiner weiteren Erwärmung bedurften, und die jakutischen


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Schlittenführer waren nach überstandener Züchtigung herzlich froh, damit ihrer Schuld und Verantwortlichkeit entledigt zu sein und sich nun ohne

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weitere Furcht der Verzehrung einer tüchtigen Mahlzeit überlassen zu dürfen.

Diese bestand hauptsächlich in dem Nationalgericht, Jukola’s und Katschema’s, d.h. ge- dörrten und getrockneten Fischen mit Tscheremscha, dem wilden Knoblauch, und einem Brei aus Wasser, Fichtenrinde und Hirse, der mit Undoma und Sora, einem säuerlichen Oel, und Klumpen von Robbenthran gefettet war und mit dem Chamyjak, einem nach der Reihe her- umgehenden großen Löffel, verzehrt wurde.

Der Tisch im Innern des Hauses war etwas besser bestellt. Er bot zunächst die beiden Vordertatzen des von Wera so tapfer erlegten Bären, einen gekochten, freilich etwas zähen Rennthierschinken und rohes Sauerkraut in Köpfen, dazu eine Art von Pirogi, jenes wecken- artigen mit Fleisch oder andern Sachen gefüllten Gebäcks, das in ganz Rußland beliebt ist. Der im Samowar brodelnde Thee war von weit besserer Sorte, ein Geschenk des Kameelfür- sten aus seinem Tauschhandel mit den Chinesen, und selbst Zucker von Archangielsk und amerikanischer Rum waren vorhanden.

Die beiden Greise und der Professor, der ziemlich geläufig russisch sprach, saßen an einem Ende des Tisches zusammen, der Lord und Michaeloff einander gegenüber, Mutin der Kosak mit Sergei, der zwar nicht in diesen Kreis gehörte, aber seines wackern Verhaltens wegen eine Einladung dazu erhalten hatte, am andern Ende des schmalen Tisches.

»Bedenket, würdige amici und Bewohner des hohen Nordens,« erklärte salbungsvoll der kleine Professor, während

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er aus der Theeschale nippte, »welche Schätze der Wissenschaft und der gebildeten Welt ver- loren gehen würden, wenn ich durch diesen Unfall - Buran pflegt man ja wohl hier zu Lande diesen Orkan zu nennen, obschon ich noch nicht recht dahinter kommen kann, ob dies Wort in seiner Etymologie von dem griechischen ßopeaq oder von dem lateinischen Bora hergelei- tet werden dürfte! - also wenn ich nach so viel unsäglichen Mühen und Beschwerden dieser wichtigen Sammlungen beraubt werden sollte, die ich zu Ehren meiner neuen Theorie über die Erdrevolutionen und des unbestreitbaren Satzes eigenhändig an den Ufern des nördlichen Eismeeres in Botanicis, Geologicis, Zoologicis und sonstiger Nebenwissenschaften gesammelt habe, - jenes Satzes, daß die jetzigen Aequatorgegenden vulgo die tropische Zone früher an totaler Frigation der Erdrinde gelitten haben, während an den unzweifelbar ehemals vorhan- denen und später bei den Erdumwälzungen verstopften Oeffnungen der beiden Pole durch die herausströmende Gluth des den Erdkern bildenden unterirdischen Feuers unterm 90. bis zum 73. Grad nördlicher und südlicher Breite die wahre heiße oder jetzige tropische Zone gelegen hat. Das zahlreiche Vorkommen von Versteinerungen monokotyledonischer Pflanzen an den Ufern der Lena, des Jenisei, Olensk und selbst des Mackenzin beweist dies schla- gend, und es dürfte daher unzweifelhaft sein, daß jener Garten Gottes, nach dem Persischen Eden genannt, das Elysium der Griechen - das Walhalla der Bewohner des jetzigen Nordens gewesen ist und keineswegs zwischen

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dem Tigris und Euphrat, sondern etwa in der Gegend zwischen Spree und Oder gelegen haben mag.« 


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Die beiden Zuhörer des gelehrten Professors hörten ihn mit Erstaunen und Bewunderung zu. - Jeanrenaud, obschon er in seiner Jugend eine höhere Bildung genossen, war durch die Reihe der Jahre doch so sehr allen Streitfragen des gelehrten Europa’s entfremdet, daß er so viel wie Nichts aus dem Krimskram des Professors verstand und nur bei der Verlegung des Paradieses die stille Meinung zu hegen begann, die jetzige Temperatur des Nordpols habe verschiedene erkältende Einflüsse auf das Gehirn seines unerwarteten Gastes geübt; - Sche- minga aber, der gleichfalls Russi[s]ch verstand, glaubte die geheimnißvollen Beschwörungen eines seiner Schamanen an Boa, den Erschaffer der Welt, zu hören, raufte einige Pferdehaare aus seiner Schürze und warf sie nach jakutischer Sitte über die linke Schulter als Belläch oder Opfer für die bösen Berggeister.

Der kleine Professor bemerkte sehr wohlgefällig die staunende Bewunderung seiner beiden Zuhörer, schnitt sich von der saftigen Bärentatze, die vor ihm stand, einen weiteren Bissen ab, den er zunächst sorgfältig durch ein kleines Vergrößerungsglas inspirirte, ehe er ihn in den Mund schob, und wandte sich dann still vergnügt auf’s Neue an den Hausherrn, diesmal das Thema seines Angriffs wechselnd.

»Wie Du mich versichert, amice oder vielmehr, um nach dem Brauch Deiner Heimath zu reden, verehrter

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Brat! 1 ist dies die Vorderhand des ursusferus eines Thieres dieses Landes, wie ich vermuthe, plantigrades nach Tiedemann, 6 stumpfe Schneidezähne in jedem Kiefer, Hauptart arctus, Spezies ums niger, und ich muß gestehen, daß trotz seiner Entartung von der urweltlichen Größe, die es sicher besessen, und von der noch der Polar- oder Eisbär einen annähernden Begriff giebt, wie ich zu meinem eigenen Schaden erfahren, da ich mich einmal so zu sagen selbst unter den Klauen eines solchen Ungeheuers befunden habe und nur durch die Stärke und den Muth meines jungen Freundes und Schülers dort gerettet wurde, gerade wie heute durch den Scharfsinn und die Energie jener lieblich in diesem kalten Lande anzuschauenden Jungfrau - zwei Geschichten, die ich bei meiner Rückkehr nach Berlin sofort in der Haude- und Spener’schen Zeitung, Rubrik Vermischtes, zu veröffentlichen gedenke, - daß, um auf meinen Vordersatz zurückzukehren, sie ein äußerst schmackhaftes Gericht bildet. Dies bringt mich in natürlicher Folge zu der Frage, ob Ihr, als höchst ehrwürdige und achtungswerthe Männer, die Ihr den Leichtsinn der Jugend längst von Euch gethan und unzweifelhaft ein reges Interesse für die Wissenschaft und die Geologie Eures Vaterlandes hegt, niemals hier die Spuren und Ueberreste des versteinerten Bären, Plattbär oder Höhlenbär im gemeinen Leben genannt, gefunden habt?« 

Die Frage war trotz der verclausulirenden Sätze so

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einfach, daß sie der alte Holowa so ziemlich verstand. »Ich erinnere mich nicht,« sagte er, »sei- ne kurze Pfeife füllend, »daß die Jakuten und die Unglücklichen versteinerte Bären in dieser Gegend gefunden haben, obschon der lebendigen Diebe dieser Art - mit Deiner Erlaubniß Tojon sei es gesagt, der Du ihn Deinen Vetter nennst! - genug herumlaufen.« 

»Du zweifelst an der Petrefaction, Mann,« sagte erstaunt der Gelehrte, indem er mit einem verliebten Blick nach dem Mammuthschädel wies, »und besitzest das schönste Exemplar an- tidiluvianischer Versteinerung, das alle Museen Europa’s entzücken würde, in Deiner Hütte!« 

1 Brat: Bruder.


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»Ah - der alte Elephantenschädel! es ist wahr, er ist ein ziemlich großes Exemplar. Ventre bleu, ich sah in meiner Jugend ihrer zwei, und die sehr zahm waren und Jedem aus der Hand fraßen, aber sie waren kaum halb so groß!« 

Der Professor starrte ihn mit offenem Munde an. Das Haar unter seiner Pelzmütze würde sich gesträubt haben, wenn die gelehrten Studien nicht längst seinen Schädel so kahl gemacht wie eine Billardkugel.

»Eheu! was sagst Du da, Mann? Du hast in Deiner Jugend noch lebende Exemplare des elephas primigenius, jubatus, mammonteus gesehen?« 

Der eifrige Gelehrte schob den Holzteller mit der Bärentatze von sich, griff nach seiner Schreibtafel und schien jedes Wort von dem Munde des Holowa verschlingen zu wollen, indem er bereits im Geist sich mit diesen neuen

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Entdeckungen bei der Rückkehr in die Heimath über Lichtenstein und Cuvier gestellt sah.

»Nun ja - sie sind seit des alten Römer Pyrrhus und Hannibal’s Zeit doch nicht so selten in Europa. In der kaiserlichen Menagerie zu Paris waren deren zwei, und wenn ich mit meiner Mama - Gott habe die alte Dame seelig - nach dem Tuileriengarten ging, hatte ich immer die Taschen voll Zuckerstücken für sie.« 

Der junge Lord, der ohne auf die Unterhaltung der Drei gehört zu haben, zufällig herüber sah, brach in ein helles Gelächter aus bei dem Ausdruck schmerzlicher Enttäuschung, die sich auf dem Gesicht seines ältern Reisegefährten spiegelte.

»Elephanten!« meinte dieser in dem kläglichsten Ton getäuschter Hoffnung - »elefantus communis, asiaticus, africanus ein kluger, aber ordinairer Pachyderme! Also nicht einmal ma- stodon gigantus, othioticus, maximus, congiorostris, sondern ganz gewöhnliche Elephanten, wie sie in allen Menagerien zu sehen sind. Eheu, würdiger brat, das hättest Du gleich sagen sollen, statt einen unwürdigen Jünger der Wissenschaften in eine leicht verzeihliche Aufre- gung zu sehen! So sage mir zum Wenigsten, wo Du jenes merkwürdige und höchst wohler- haltene Haupt des ächten Mammonteus gefunden hast?« 

»Jakuten haben es vor siebenzehn Jahren zur Sommerszeit in einer morastigen Schlucht des Gebirges getroffen. Ich kaufte ihnen für zwanzig Silberrubel den Fund ab und ließ ihn vollends ausgraben. Das andere

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Knochenzeug taugte aber Nichts mehr und so hab’ ich nur den Kopf aufbewahrt!« 

Der Gelehrte schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Taugte Nichts mehr? Mann, bist Du ein Barbar? Du hättest Dein Glück machen können! Weißt Du, daß es in ganz Eu- ropa ein einziges vollständiges Exemplar unsers antediluvianischen Freundes giebt? - Aber ich werde bei Dir, verehrter hospes, meinen Aufenthalt nehmen, bis es mir gelungen, alle jene Knochenreste zu sammeln, von denen Du sprichst, und dadurch das Wenige zu vervoll- ständigen und zu ersetzen, was ich von dem Ufer des Eismeers unter unsäglichen Mühen glücklich hierher gebracht, bis dieser teuflische Orkan - Buran genannt - mich der Früchte einer mondenlangen Anstrengung beraubt hat!« 

Der Lord hatte sich nach dem komischen Intermezzo wieder zu seinem Gefährten gewen- det.

»Lassen wir meinen alten würdigen Freund schwatzen,« sagte er munter. »Er sitzt im Sattel seines Steckenpferds und galopirt damit in voller Glückseligkeit über einige Jahrtausende


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zurück in irgend ein Urstadium. Nichtsdestoweniger wird er morgen oder in den nächsten Tagen, wenn ich es wünsche, bereit sein, mit mir weiter zu ziehen.« 

«Sie werden nach den heutigen Ereignissen einer Ruhe bedürfen.« 

»Ein oder zwei Tage genügen. Wenn wir uns nicht sputen, wird bei der vorgerückten Jah- reszeit das letzte amerikanische Schiff Ochotzk vor unserer Ankunft verlassen haben.« 

[»]Die Verbindung nach Japan ist niemals ganz

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unterbrochen. Sie haben gehört, Mylord, welche Gerüchte der Kosak von Pristan mitgebracht hat?« 

»Yes! aber sie schienen mir ziemlich verworren.« 

»Weil Sie die Redeweise dieser Leute nicht verstehen. Von wann datiren Ihre letzten politi- schen Nachrichten?« 

»Anfang Mai erhielt ich die letzten Briefe in Archangel. Sie waren aus England vom Anfang des April.« 

»Nun wohl - dann sind die unseren doch noch neuer, obschon sie von Petersburg bis Ja- kutzk einen Weg von mehr als fünftausend Werst’s zurückzulegen hatten. Das Weitere läßt sich combiniren mit den Gerüchten vom Amur, die wir eben hörten. Garibaldi ist in Sizili- en eingefallen und hat das letzte Bourbonenreich gestürzt. Doch das wird weniger Sie als mich interessiren. Sie werden sich erinnern, daß England und Frankreich eine kriegerische Expedition nach China abgesandt.« 

»Ja, Sir!« 

»Dieselbe ist im August an der Mündung des Peihoflusses gelandet und die europäischen Truppen sollen bereits auf Peking marschiren. Englische Kriegsschiffe liegen vor Yeddo, wo eine preußische Ambassade eingetroffen ist.« 

»Goddam! Das wird unseren Professor interessiren!« 

»Sie werden also wohl thun, Ihren Weg nach den japanischen Gewässern zu nehmen und dort leicht Ueberfahrt nach Californien oder Madras finden. - Vielleicht -« er brach seine Rede kurz ab.

»Was wollten Sie sagen, Sir?« 

»Nichts - oder vielmehr Viel! Zum Beispiel, daß

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wir uns leicht in Yeddo oder San Francisko Wiedersehen könnten!« 

Der junge Lord sah ihn scharf an.

»Ich fühlte schon seit unserer ersten Begegnung, daß ein Mann wie Sie - Sie sagten mir selbst, daß Sie zu den Deportirten gehören, - unmöglich in dieser Wüste verkümmern darf. Haben Sie Aussicht, Ihre Begnadigung zu erlangen?« 

»Ich bin seit zwölf Jahren meiner Freiheit beraubt, seit vier Jahren in Sibirien.« 

»So denken Sie auf Flucht? - Sie haben unser Leben gerettet! Ich bin Engländer und nicht durch die Gesetze Ihres Czaren gebunden. Kann ich Ihnen behülflich sein, so gebieten Sie über mich!« 

»Ich danke Ihnen, Mylord - ehe ich mich zu dem Wagniß entschließe, muß ich den näch- sten Kurier nach Ochotzk abwarten.« 

Der junge Mann betrachtete nachdenklich den Verbannten. »Ich muß Ihnen sagen,« sprach er - »daß mir schon den ganzen Abend bei Ihrem nähern Anblick gewesen ist, als hätte ich


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Sie bereits vor vielen Jahren einmal gesehen. Es ist eine Thorheit, und doch wäre es möglich, denn zu meinem Oheim kamen viele Fremde, Männer aus allen Ländern Europas.« 

»Der Namen Ihres Oheims ist?« 

»Es war der Viscount von Heresford. Ich erbte von ihm den Titel und das Marquisat als der Sohn seines Bruders. Der bessere Theil seines Erbes, seine Liebe, gehörte leider meinem Vetter, den er erzogen und

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der manche seiner Eigenheiten und Neigungen theilte. Wenn Sie, wie ich vermuthe, einer jener unglücklichen Polen sind, die von der Tyrannei des Kaisers Nikolaus nach Sibirien ge- schickt wurden, so ist es dennoch möglich, daß ich Sie in besseren Tagen in London oder bei meinem Oheim gesehen habe. Ich muß damals noch ein Knabe gewesen sein.« 

»Ich bin ein ächter Vollblut-Russe, Mylord, aus dem Gouvernement Twer. Dennoch ist es möglich, daß wir uns gesehen haben. Ich kannte Ihren hochherzigen, für den Kampf gegen jede Tyrannei begeisterten Oheim und hörte mit tiefem Bedauern kurz nach meiner Ueber- siedelung von seinem Tode.« 

»Ich weiß, Sir,« sprach ernst der junge Mann, »daß es den Verbannten nach Sibirien bei schwerer Strafe verboten ist, ihren Namen zu nennen, und daß nur eine Nummer sie be- zeichnen darf?« 

»Die meine ist Zwölfhundert Vier!« 

»Ich verdiene Ihren Spott nicht, da mich aufrichtige Theilnahme zu der Frage bewegt! Die seltsamen Umstände, unter denen wir zusammengetroffen, und der Dank, den ich Ihnen schulde, veranlassen mich zu der Bitte, mir Ihren Namen zu sagen.« 

Der Verbannte warf einen scharfen Blick umher. Als er den Kosaken-Unteroffizier eben im Gespräch mit dem Mädchen sah, das all seine Aufmerksamkeit fesselte, neigte er den Kopf über den Tisch herüber zu seinem Gefährten.

»Ich habe heute bereits eine Unvorsichtigkeit in dieser

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Beziehung begangen,« sagte er leise, »so daß eine zweite kaum in’s Gewicht fällt. Ich bin Michael Bakunin!« 

»Wie - Herr von Bakunin? derselbe, der mit Richard Wagner bei dem Mai-Aufstand in Dresden focht und dann an die Oesterreicher ausgeliefert wurde?« 

»Und von diesen an die Russen. So ist es, Mylord. Aber ich muß Sie um die Vorsicht bitten, meinen Namen nicht weiter zu nennen. Ich war so albern, mich bei dem Rückzug von Dresden einem Haufen von Reaktionären und Philistern in einer sächsischen Stadt 1 in die Arme zu laufen und mich von ihnen fangen zu lassen.« 

»Ich habe oft von Ihnen sprechen hören,« sagte der junge Lord, - »aber ich muß gestehen, ich habe selbst als angehender Diplomat wenig von Ihrer Geschichte gehört und man scheint Sie in Europa für todt gehalten zu haben. Ist es Ihnen unangenehm, mich etwas Näheres wissen zu lassen?« 

»Warum? ich hoffe, sie bald außerhalb der Gränzen Rußlands wiederholen zu können.« - »Dann bitte ich Sie darum!« 

»Nun - es wird wenig genug sein! - Sie haben mir bereits gesagt, daß Sie als Attache der britischen Gesandtschaft ein Jahr in Petersburg verlebt haben. Das genügt, um unsere

1 Chemnitz.


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russischen Verhältnisse im Allgemeinen zu beurtheilen. Aber sie sind jetzt golden gegen die eiserne Tyrannei, die der verstorbene Kaiser Nikolaus ausübte. Er vergaß niemals! So blieben denn auch die 10,000 Silberrubel,

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welche man nach meiner Rede in Paris in Petersburg auf meinen Kopf gesetzt hatte, ihm wohl im Gedächtniß, obschon meine spätere Thätigkeit Rußland eher genutzt als geschadet hat. Der Traum meiner Jugend, die Verbindung der romanischen, slavischen und germanischen Revolutionskräfte, erfüllte sich eher, als ich gehofft. Das Jahr Achtundvierzig brachte sie. Damals wiegte ich mich, wie der Sturmvogel auf dem bewegten Meer, auf den Wogen der Revolution. Leider war der Traum kurz, die Völker Europa’s waren noch nicht reif genug, sie lagen noch in den Banden des Aberglaubens an Religion und Königthum. Das Letztere gewann überall wieder den Sieg und die sächsischen Gerichte verurtheilten den Gefangenen auf dem Königstein zum Tode. Zum Glück für mich ist man in Dresden dem Kabinet von Sanct Petersburg nicht gern gefällig, man kann ihm den polnischen Thron und den Ausgang des siebenjährigen Krieges noch nicht vergessen. Deshalb wählte man einen Ausweg und statt mich wie Heubner und Andere in’s Zuchthaus zu sperren, lieferte man mich an die österreichischen Regierung aus, die von Prag und Wien her einen metternich’schen Zahn auf mich hatte!« 

«Sie saßen auf dem Hradschin in Prag?« 

«Ja! Es wurden von der czechischen Partei, deren Kraft noch eine Zukunft bevorsteht, zwar ein paar Versuche zu meiner Befreiung gemacht, aber der Felsengrund des Schlosses ist stark genug, um mehr als einen Hungerthurm 1

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zu schützen, der Versuch, den Stein zu durchbrechen, war lächerlich, und um auf andere Weise ihren Witz zu üben, darin fehlte es ihnen an einem Karl Schurz. Als Dank für die russische Hilfe in Ungarn wurde ich endlich an Rußland ausgeliefert.« 

«Ihr Loos muß schrecklich gewesen sein!« 

Der Verbannte lachte. »Ich sehe, daß Sie dennoch die russischen Verhältnisse wenig ken- nen! Jene Auslieferung geschah mit meiner vollen Uebereinstimmung. Oder meinen Sie, daß der Spielberg und der Kufstein mehr Annehmlichkeiten gewähren, als Schlüsselburg und To- bolsk? Die russischen Kerker bevölkert wenigstens nur die Politik, nicht der Haß der Pfaffen! Ueberdies sind unsere Kerker nur für die Kronprätendenten und die Polen, und der russi- sche Adel läßt keinen der Seinen in Stich. Ich wurde allerdings einige Zeit in Kronstadt und Schlüsselburg eingesperrt, war aber schon 1856 im Kaukasus. Eine Unvorsichtigkeit - ein Epi- gram [m] auf eine schöne Gräfin, die damals am Hof von Sanct Petersburg eine Rolle spielte - verwies mich nach Irkutzk.« 

»Aber wie treffen wir uns hier?« 

»Ich liebe die Polizei-Aufsicht nicht! Sie wissen wahrscheinlich nicht, daß die Murawieff’s meine nahen Verwandten sind, und wenn auch meine politischen Anschauungen mich mit den Häuptern der Familie entzweit haben,

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'Die Existenz dieses gräßlichen, noch aus der Hussitenzeit stammenden Kerkers auf dem Prager Königsschloß ist nur wenig bekannt. Ein Brunnen in dem Felsengrund nahm die zu dem entsetzlichen Tode Bestimmten auf. Religiöser, politischer und privater Haß hat ihn Jahrhunderte lang mit Opfern gefüllt!


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finden sich doch immer gewisse Beziehungen. Sie nützen wenigstens meiner Familie!« 

«Sie sind verheirathet?« 

«Ja - ich war ein solcher Narr! - General Kossakoff, der General-Gobernator von Ost- Sibirien, gestattete mir, an den Amur zu gehen, um dort meinen Unterhalt als Dolmetscher mit den amerikanischen Kaufleuten zu erwerben. Sie müssen überhaupt wissen, daß die Be- wegung der zur Kolonisation bestimmten Verbannten, der Posieleniec, innerhalb der Gränzen des Gubernements eine ziemlich freie ist. Ein Zufall führte mich auf diese Station in der Nähe der oberen Route nach Ochotzk, und da ich hier verschiedene günstige Verhältnisse vereinigt fand, bin ich hier geblieben, bis — [«]

»Bis?« 

»Nun - bis man in Europa meiner bedarf. Haben Sie Herzen in London kennen lernen?« 

Der junge Mann zuckte vornehm die Achseln. »Obschon Hochtory von Geburt und Erzie- hung,« sagte er kalt, »begreife und achte ich doch einen Charakter wie den Ihren oder den meines Oheims. Jeder Mann hat das Recht zu kämpfen, sobald er seine eigene Person einsetzt. Banknotenfälscher werde ich niemals für Märtyrer einer großen Idee halten.« 

Der Verbannte lächelte. »Diplomaten,« meinte er, »sind sonst weniger bedenklich in der Wahl der Mittel für politische Zwecke!« 

» Very well! Das mag sein, Sir - aber ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich ein herzlich schlechter Diplomat

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war, und deshalb habe ich die ganze Geschichte an den Nagel gehangen und meinen Ab- schied von Ihrer britischen Majestät Staatssecretair des Auswärtigen genommen. Zur Zeit als er ankam, - das war zu Ende April dieses Jahres, - traf gerade mein alter Lehrer in Göttingen, Professor Peterlein, von Berlin ein, um eine wissenschaftliche Expedition auf Magnetnadeln und fossile Knochen nach dem Eismeer zu machen. Da meint’ ich denn, ich könnte eben so gut einmal in Nowaja-Semlja weiße Bären und blaue Füchse schießen, als in den Hochlan- den Hirsche und Auerhühner, bot ihm meine Begleitung an, da sein Compagnon vorzog, in Petersburg zu bleiben, und - la voilä!« 

»Es gehört allerdings der Geschmack eines Briten dazu, zum Vergnügen nach dem Polar- kreis zu reisen. Aber sehen Sie, Mylord, was die tolle Dirne treibt! ich glaube, sie hat es auf Ihren würdigen Gefährten abgesehen, und wenn sich Wera in den Kopf gesetzt, ihm den seinen zu verdrehen, werden ihm alle Mammuthknochen und Tertiärgebilde nicht dagegen helfen!« 

In der That hatte sich die junge Sibirianka auf einem kleinen Schemmel zwischen dem Tungusenhäuptling und dem deutschen Professor niedergelassen, und schenkte Beiden große Gläser voll Thee, den sie mit vielem Rum verstärkte, während sie nach beiden Seiten hin coquettirte.

Ein Blinzeln in ihrem Auge bewies dem Verbannten, als sie dessen Blicken begegnete, daß sie eine bestimmte Absicht verfolge.

»Geben Sie Acht, Mylord,« flüsterte der Russe, - »sie hat irgend eine Teufelei vor! Ich kenne sie.« 

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In der That übte das schwere Getränk auch bereits seine Wirkung auf die drei älteren Personen.


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Der greise Tunguse begann mit dem Kopf hin und her zu fahren und eine Art zweitönigen Gesanges anzustimmen, in welchem der Name Tungilbi und Melilbi wiederholt vorkamen.

»Hören Sie, gelehrter Herr, Großväterchen singt den Kur 1 , wie er Tungilbi meine Aeltermut- ter vom Mandschu Khan gewann und auf seiner berühmten Stute Melilbi durch die Wüste entführte.« -

[»]Ein Heldengesang? - ein Epos des Volkes der Tungusen? - Eheu, Jungfrau, - Du mußt mir dasselbe übersetzen und ich werde es niederschreiben und im Magazin für die Litteratur des Auslandes veröffentlichen mit dem Namen jenes alten Mannes, - wie nennst Du ihn doch?« 

»Scheminga Tojon, gelehrter Herr!« 

»Ich danke Dir, holde Jungfrau, die nach Allem, was ich bisher von dem weiblichen Ge- schlecht der samojedischen Bevölkerung dieses höchst interessanten, aber etwas kalten Lan- des gesehen habe, ist, wie eine blühende Rose auf den Schneefeldern.« 

Das Mädchen lachte kokett. »Gefalle ich Ihnen denn wirklich? Da Sie doch ein weitgereister Herr sind und

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Alles wissen, müssen Sie es besser verstehen, als die ungehobelten Burschen, die hier woh- nen.« 

»Eheu - Du bist, wie die Blume von Saaron, von der die alten Schriftsteller sprechen. Dein Kinn könnte zwar nach den Regeln der klassischen Schönheit etwas breiter sein, und Deine Augen, ein höchst gefährlicher Gegenstand in Deinem Gesicht, könnten um einen oder zwei Grade sich mehr der horizontalen Linie nähern, - aber ich schließe, daß dies die natürlichen Bedingungen der östlichen Schönheitsnormen sind, - und im Ganzen« - der kleine Professor trocknete sich etwas verlegen den Schweiß von der Stirn und nahm einen Schluck Thee, - »im Ganzen möchte ich, um als Mann der Wahrheit zu reden, nicht ein Titelchen anders an Dir, als der allmächtige Schöpfer des Weltenraums und alles Dessen, was darinnen ist, zur Verherrlichung der Creatur in Dir geschaffen hat.« 

Die Sibirianka lächelte über diesen Triumph ihrer ihr wohl bewußten Schönheit, während der Professor einen neuen Schluck Thee nahm, und setzte dann ihren Angriff auf ihn mit der direkten Frage fort: »ob er in seiner Heimath verheirathet sei?« 

Der gelehrte Herr wurde sehr verlegen. »Nein, Jungfrau,« sagte er endlich - »ich habe kei- ne Gelegenheit gehabt, das Band der Ehe zu schließen, denn in meinen jüngeren Jahren, als ich wohl auch, wie es die Natur des Menschengeschlechts ist, für die Liebe zum Weibe emp- fänglich gewesen wäre, war ich zu arm, um eine Frau ernähren zu können, und in späteren Jahren hatte ich keine Zeit

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dazu, da dieselbe der Lösung der großen Probleme der Wissenschaft von der Geschichte dieses Erdballs gehörte.« 

»Sie haben diese ja vorhin dem sogenannten Gott überlassen,« warf spöttisch der Verbannte ein - »die Wissenschaft hat also mit der Entwickelung Nichts mehr zu thun.« 


^ie kleine Brettgeige der Tungusen, mit der sie ihre Gesänge von Jagd und Liebe begleiten, - auch für den Gesang selbst gebraucht.


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Der Gelehrte, auf diese Weise für den Augenblick von seiner schönen Bedrängerin befreit, wandte sich zu dem Frager. »Eheu! ein Rationalist in diesem Lande? Am Ende gar ein Anhän- ger der neuen Lehre vom Stoff?« 

«Wundert Sie ein Zweifel an der Existenz Ihres Gottes so sehr in diesem Lande, wo Sie doch der Beispiele genug vor Augen sehen, die daran zweifeln lassen?« 

Der kleine Professor war nicht der Mann, den Fehdehandschuh liegen zu lassen; vielmehr - trotz der Verknöcherung seines Denkens durch die Masse seiner Studien und gelehrten Schlüsse - ein Mann von hohem religiösem Gefühl.

»Der welcher über die Eisberge und die Feuerströme der Lava gleich mächtig gebietet,«  sagte er mit tiefem Ernst, - und zu ihnen spricht: bis hierher und nicht weiter! hat Sie vor wenig Stunden im Orkan gesendet, uns vom Tode zu retten. Aber wer, wie man mir gesagt hat, rettete Sie und uns Alle, aus jenem Flockenmeer, in dem selbst die Eingeborenen jede Richtung verloren hatten?« 

»Wer? - die Nase der Hunde!« 

»Und wer gab dem Hunde seinen Instinkt?« 

»Die Natur!« 

Der kleine Gelehrte zuckte die Achseln. »Unseliger

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Trotz, der sich im Kreise allgemeiner Begriffe dreht und nicht sehen will. Ich weiß nicht, ob ich die Ehre habe, mit einem Mitglied der Petersburger Akademie der Wissenschaften zu disputiren, das widrige Verhältnisse hierher gebracht, oder blos mit einem Mann, den sein Unglück verbissen und trotzig gegen seinen Schöpfer gemacht hat! - aber das große und unenträthselbare Geheimniß der Menschennatur selbst sollte Ihnen beweisen, daß über unsere Erklärungen des Schöpfungsganges hinaus ein göttlicher Ursprung vorhanden ist!« 

»Der Mensch etwa?« meinte spöttisch der Nihilist. »Ich halte mich an die Theorien meines Freundes Vogt!« 

»Des Affenprofessors?« frug lachend der junge Lord, der mit Interesse dem Gespräch gefolgt war.

»Wenn Sie ihm diesen Namen geben wollen - warum nicht? Oder -« die Thür des Vorbaues öffnete sich gerade, und die Flamme des Feuers beleuchtete die in viehischer Gefräss[ß]igkeit von Fett und Thran glänzenden Gesichter der Nomaden, - »meinen Sie, daß jene Geschöpfe schon so hoch über dem Affen stehen, daß diese Gattung des Thierreichs nicht ihr Ursprung sein könnte?« 

Eine ernste Stimme übernahm die Antwort.

Es war der alte Holowa, der sprach.

»So niedrig Du sie stellst, Michael Iwanowitsch,« sagte er einfach, - »sie glauben an einen Gott!« 

»Ihr Aberglauben ist ihr größter Fehler neben ihrer Gefräßigkeit,« lautete die höhnische Antwort. »Frage den Tojon, wen er noch heute für mächtiger hält, Boa - seinen Götzen, - oder seinen guten Freund, den Bären?« 

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Die Worte wie ein Theil der Unterhaltung waren russisch gesprochen worden.


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Der Jakutenfürst hatte sie also verstehen können. Der Greis legte den Entenkopf nieder, mit dem er sich die rothen Augen gewischt, streckte seine Hand aus und berührte mit dem Zeigefinger die Brust seines Schwiegersohns mit dem weißen Haar.

»Erzähle!« sagte er.

»Was, Amenikan? 1 « 

»Wie der Fremdling mit dem schwarzen Haar zu Alanmur, dem Tungusenkinde kam, und warum Scheminga, der ein Tojon ist seines Tagaun 2 , ihn aufnahm in sein Zelt!« 

»Dann, Amenikan, mögest Du gestatten, daß ich vorher den Fremden erzähle, wie auch Du die Mutter meines Weibes gewannst?« 

»So sprich von den Tagen, da ein Tojon der Oewöenki 3 jung war! Tungilbi Uta 4 , Du wirst an der Seite Deines Aeltervaters sitzen.« 

»Ich sitze zu Deinen Füßen, Amenikan, und höre! Rücken Sie immerhin näher zu mir, gelehrter Herr, - die Nachbarschaft eines albernen sibirischen Landmädchens wird Ihnen nicht gefährlich sein!« 

Der Professor trocknete nochmals seine von dem starken Thee und der Aufregung geröthete Stirn und rückte [ 370 ]

mit großer Verlegenheit näher, als er zufällig dem schelmischen Blick seines ehemaligen Zög- lings begegnete.

Selbst der Kosak und der Katorgi schoben sich näher. Der Erstere verfolgte mit finstern Blicken die Coquetterieen, die das Mädchen mit dem gelehrten Fremdling trieb.

Draußen schüttete der Burany seine dichten Flocken über die Einöde.

Der Holowa begann.


Ein Brautritt in der Steppe.

Die Tungusenstämme, Fremdlinge, theilen sich in die Wald- oder Rennthier-Tungusen und in die Steppen- oder Pferde-Tungusen - die einen wohnen im Norden des Gebirges, die ande- ren im Süden am Baikal-See und der Lena und besitzen große Heerden von Pferden, Rindern und Schaafen, die sie auf den weiten Steppen der chinesischen Gränze weiden. Das Volk der Oewöenki war einst mächtig und groß, und zahlte seinen Tribut nur dem großen Kaiser im Reiche der Mitte. Das geschah, bis die Russen kamen und sagten: das Land ist unser! Von da ab mußte jeder Donk 5 dem Uprawitel 6 in der Tributhütte als Deleur 7 zwei Zobel steuern.

Als ich in’s Land kam, - ich werde Ihnen später erzählen, wie es geschah - war das Gebiet jenseits der [ 371 ]


Väterchen.

2 Stamm, Geschlecht.

3 Die Tungusen nennen sich Oewöen oder Oewöenki. 4 Kindchen.

5 Donki, ein anderer Name der Tungusen.

6 Distrikts- Amtmann.

7 Tribut.


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Schilka noch nicht in den Händen der Russen, und sie durften ohne Erlaubniß der Langzöpfe auch nicht den Amur hinabfahren; denn überall waren chinesische Wachhäuser und wer die Gränzrechte brach, dem wurde auf derselben Stelle der Leib geschlitzt.

Zur Zeit aber, als Scheminga noch jung war, kümmerte sich Niemand um die Gränze und die Tagaun’s zogen weit umher auf den Steppen am Amur, so weit die Kraft ihres Bogens und der Huf ihrer Rosse reichte.

Damals lebte am Argun Urkundu, der Vater Scheminga’s, der Tojon des Geschlechtes der Dulegat, und war ein gefürchteter Häuptling. Doch der Name seines Sohnes Scheminga war es noch mehr. Sein Luk 1 traf den Vogel im Flug und seine Gidda 2 durchbohrte die Brust des Bären in den Erzgebirgen von Nertschinsk. Er ritt den wildesten Hengst der Steppe und liebte es, auf dem Gebiet der Manshuhs zu jagen und den Falken mit ihnen steigen zu lassen von seiner Faust, oder den Omul 3 zu fangen, wenn er aus dem Baikal in die Flüsse steigt.

Jenseits des Argun wohnte damals als der reichste der Manshufürsten Tolga. Er besaß mehr als 3000 Pferde, 10,000 Rinder und Schaafe und viele Kameele. Sein bestes Gut aber war Tungilbi, seine Tochter. Sie ritt wie ein Mann, warf den Speer wie ein Krieger und war schön wie Ilkun, der Blumenmonat. Tolga-Khan war sehr stolz auf die Tochter und hatte sie selbst den

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Gesandten des Kaisers der Mitte verweigert, der von ihrer Schönheit gehört.

Scheminga war ein Gastfreund in dem Lager des Khans, während dessen Heerden auf den Sommerweiden trieben, und ritt häufig mit ihm auf die Jagd. Aber der Magnet, der ihn anzog, waren nicht die Rosse und die Falken Tolga’s, sondern die schwarzen Augen seiner Tochter Tungilbi. Diese Augen hatten sich nicht vergeblich auf den jungen Tojon gerichtet, - er gefiel auch ihnen wohl und bald waren Beide ein Liebespaar.

Aber ein großes Hinderniß stellte sich der Erfüllung der Wünsche der Liebenden entgegen. Der Vater des Mädchens war, wie erwähnt, reich, der Vater Scheminga’s, wenn auch der mächtigste Häuptling seines Stammes, doch bei Weitem nicht so begütert und sein Besitz beschränkte sich hauptsächlich auf einige Pferdeheerden. Es war vorauszusehen, daß der Khan einen sehr hohen Schurun 4 fordern

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würde, den der ganze Stamm der Dulegat nicht zu erschwingen vermöchte.

Die Tungusen - überhaupt die Nomadenvölker des Ostens - zählen das Jahr doppelt; sie theilen es in das Sommer- und Winterjahr, die zusammen dreizehn Lega’s oder Mondläufe ha- ben. Es war im Blumenmonat, als der junge Tojon Melilbi seine Stute sattelte und mit sechs seiner Gefährten wieder einmal den Weg durch die Manshu-Steppe antrat, um das Lager des

1 Pfeil.

2 Jagdspieß.

3 Lachse, salmo gregarius.

4 Schurun heißt der Brautpreis. Wie bei vielen andern uncivilisirten Nationen werden die Töchter der Familie nur gegen Erlegung einer Brautgabe dem Bewerber überlassen. Bei den Nomaden-Völkern Asiens bildet dieser nach der Schönheit und dem Range des Mädchens sich richtende oft sehr hohe Preis aber weniger eine den Eltern zufallende Kaufsumme, als die bei ihnen verwahrte Sicherung für die Braut, wenn es dem Ehemann etwa einfallen sollte, - was auch mitunter geschieht, - sie nach kürzerer oder längerer Zeit zurückzuschicken. Die mongolischen Schönen stehen sich also eigentlich nicht so schlecht und jedenfalls sicherer, als die europäischen! - Der vierte Theil des Schurun bildet gewöhnlich das Ischi (Tungusisch die Mitgift) der Braut.


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Khans aufzusuchen. Denn da dieser keinen festen Wohnsitz hatte, sondern mit seinen Heer- den umherzog, und selbst sein nächster Standplatz fünf bis sechs Tageritte von den Jurten des Tungusenhäuptlings entfernt lag, brauchte es Zeit, um ihn auf die kargen Nachrichten einiger Hirten hin zu finden. Scheminga hatte seine geheimen Absichten bei diesem Besuch und deshalb die kühnsten und tapfersten seiner Gefährten ausgesucht. Jeder von ihnen führ- te ein lediges Pferd an der Hand, um durch ihren Wechsel den Ritt so rasch als möglich fortzusetzen; denn die Gegenden, durch welche ihr Weg führte, waren der Aufenthalt der Gränzräuber, der entflohenen russischen Katorgi’s und der chinesischen Verbannten, die in ganzen Banden, oft von mehr als hundert Mann, umherziehen, die Karavanen plündern und die Nomadenlager überfallen, um zu rauben und zu plündern. Die Spur der Wanderer wird von ihnen tagelang verfolgt, um zuletzt die Pferde als Beute zu erhalten und die Menschen als Sclaven verkaufen zu können.

Der erste Tageritt brachte die Reiter bis an das Ufer des Argun. Hier machte man Nachtla- ger, denn am

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Morgen mußte der breite und tiefe Strom durchschwommen werden. Die Reiter zogen des- halb ihre Kleider aus, banden sie zu einem Bündel zusammen und befestigten es auf ihrem Kopf. So schwammen sie ohne Unfall hinüber, passirten den breiten Streifen Buschdickicht, das den Argun einsäumt, und ritten frischen Muthes den Bergen zu.

Am Nachmittag kamen sie an eine Bergschlucht, in welcher frische Pferdespuren sichtbar waren.

Die Tungusen sind nach den Rothhäuten Nordamerika^ die besten Spurfinder der Welt. Sie erkennen und verfolgen die Spuren des Wildes am niedergedrückten Moos und Gras oder an Zeichen auf bloßer Erde, wo kein anderes Auge das Geringste unterscheiden würde. Die leicht erkennbaren Abdrücke der Pferdehufe waren ihnen also eine sehr verständliche Spra- che, daß Feinde sich in der Nähe befanden. In der That sah man auch weiter hin in der Schlucht Rauch aufsteigen. Es ward daher Halt gemacht, zwei Mann saßen ab und schlichen unter dem Schutz der Felsklippen bis zu einem vorstehenden Block, von dem aus sie einen un- bemerkten Blick in’s Thal hatten. Es war eine grasreiche, mit frischem Wasser und Brennholz versehene Stelle, die Scheminga zu ihrem eigenen Nachtlager ausersehen hatte. Aber Andere waren ihnen zuvor gekommen, denn die Späher entdeckten dort einen Trupp von mehr als hundert Männern, alle gut bewaffnet. Die Einen saßen vor den errichteten Jurten, die Andern beschäftigten sich mit den Pferden, noch Andere bereiteten Speisen an den Feuern. Es war kein Zweifel, daß man hier auf eine Bande stieß, die eben auf einem Raubzug

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begriffen war. Während die Kundschafter noch lauschten, sahen sie zwei Reiter in das Lager einsprengen und bei ihrer Ankunft den ganzen Trupp in Aufregung gerathen. Die Angekom- menen deuteten unverkennbar nach dem Versteck der Fremden - es war sicher, daß man sie auf dem Wege entdeckt hatte und Jagd auf sie machen werde. In möglichster Eile ritten die Tungusen daher auf ihrem Weg ein Stück wieder rückwärts und bogen dann nach einem Seitenthal ein, das sie in die höheren Theile des Gebirges brachte. So lange es das Tageslicht noch irgend gestattete, ritt man scharf vorwärts und wechselte häufig die Pferde. Erst bei völliger Dunkelheit ward Halt zum Nachtlager gemacht, in einer geschützten Schlucht Feuer angezündet und abwechselnd Wache gehalten, nicht blos wegen der Räuber, sondern auch


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wegen der Tiger, die nicht selten bis hierher streifen. Die Nacht ging jedoch ohne Störung vorüber, mit dem frühesten Grauen des Morgens waren die sieben Genossen wieder im Sattel und zogen eilig weiter. Sie fürchteten, die Räuber möchten ihre Anwesenheit durch Boten der benachbarten Gegend mitgetheilt haben und diese auf allen Seiten ihnen den Weg verlegen. Der ganze Tagesritt ward glücklich zurückgelegt und Abends das Nachtlager wieder durch Wachen gesichert. Aber mitten in der Nacht wurden die Pferde unruhig, ihr Schnauben ließ mit Bestimmtheit schließen, daß andere Pferde in der Nähe waren. Am Morgen bei der Wei- terreise fand man auch am nächsten Felspaß Spuren von Pferdehufen und sah deutlich, daß hier während der Nacht zwei Rosse angebunden gewesen, deren Reiter bis in die

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Nähe des Lagers geschlichen sein mußten. Sie waren also auf’s Neue entdeckt.

Scheminga traf demnach seine Vorsichtsmaßregeln. Er ließ einen seiner Gefährten voran traben und folgte vorsichtig nach, während ein anderer Mann die sämtlichen ledigen Pfer- de leitete. Schon bei der nächsten Wendung der Schlucht gab der Vorposten durch Zeichen kund, daß Feinde in der Nähe wären. Der junge Tojon sprengte hinzu und sah, daß eine klei- ne Strecke entfernt vier bewaffnete Reiter hielten und den Weg verlegten, während aus einer Seitenschlucht eine zahlreiche Schaar Bewaffneter herabkam und ihr wildes Kriegsgeschrei anstimmte. Hier galt es einen raschen Entschluß. Scheminga rief den Seinen zu, sich wacker zu halten, schwang seine kurze Streitaxt, die die östlichen Nomaden von den Kirgisen an- genommen, und sprengte gegen den vordersten der Feinde an. Ein gewaltiger Hieb der Axt spaltete den Schädel des Manshu, daß das Eisen noch in das Genick der Stute drang, die sich mit ihrem todten Reiter überschlug. Zwei andere der Räuber verloren unter den Speerstößen der Gefährten des tapfern Tungusen ihr Leben, der vierte entkam mit genauer Noth in die Seitenschlucht. Scheminga hatte mit seinen Leuten freie Bahn; - die Räuberschaar folgte ih- nen zwar schreiend und drohend mehre Stunden lang, aber bald merkten sie, daß die Pferde der Fremden schnellfüßiger und ausdauernder waren, als die ihren, und sie ließen von der weitern Verfolgung ab.

Am sechsten Abend fand der Tojon das Lager seiner Geliebten auf. Er wurde wie immer freundlich von dem

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Khan empfangen und zum Verweilen mit seinen Gefährten eingeladen. Nichts gab ihm eine Veränderung kund, bis es ihm gelang, Tungilbi allein zu sprechen.

Da enthüllte sich ihm die Größe seines Unglücks und die Nähe der drohenden Gefahr.

Während des Winters, zur Zeit als der Khan mit seinen Heerden nach den Ebenen gezo- gen, war ein junger Mongolenfürst in das Lager des Khans gekommen und hatte um Tungilbi geworben. Der Khan forderte einen hohen Schurun, aber der Mongole war der Herr unermeß- licher Heerden und versprach ihn zu zahlen. In wenig Tagen sollte er auf den Weideplätzen Tolga’s eintreffen, den Schurun überliefern, und die Braut in Empfang nehmen.

Die Liebenden beriethen lange, was zu thun sei, um das drohende Geschick abzuwenden. Tungilbi erklärte, daß sie bereit sei, sich von ihrem Geliebten entführen zu lassen, wozu dieser schon in der Heimath den Plan entworfen und seine Gefährten mit sich genommen hatte. Aber Scheminga’s Charakter widerstrebte es, die Gastfreundschaft zu brechen, so lange er sie genoß und der Khan ihm vertraute, und er beschloß trotz seiner Kenntniß der Sitten der


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Steppe, am andern Morgen vor ihn zu treten und seine älteren Rechte an Tungilbi geltend zu machen.

Am andern Morgen, als der Khan vor seiner Jurte saß, umgeben von seinen angesehensten Kriegern und Dienern, trat Scheminga, gefolgt von seinen Begleitern, zu ihm, setzte sich auf seine Einladung auf die Filzdecke an seiner Seite und rauchte mit ihm die Pfeife.

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Erst nachdem dies geschehen, erhob sich der Aelteste der Tungusen, machte das Zeichen der Begrüßung vor ihrem Gastherrn und sagte, auf seinen jungen Freund deutend:

»Der große Khan der Manshu öffne sein Auge und sein Ohr. Dies ist Scheminga Tojon, der Sohn Urkundu’s, aus dem Tagaun der Dunegat.« 

»Ich sehe es!« 

»Der Name seines Vaters ist berühmt durch das ganze Gebirge, er ist ein weiser und tapferer Mann, selbst die Moskows ehren und fürchten ihn und ihr General hat ihm eine Medaille von reinem Golde gegeben, damit er sie auf seiner Brust trägt.« 

Der Khan begnügte sich, zur Anerkennung der Eigenschaften seines alten Bekannten mit dem Kopfe zu schütteln.

»Scheminga Tojon,« fuhr der Sprecher fort, »ist der Erbe seines Vaters. Er wird über die Dulegat gebieten und das Volk nennt ihn den tapfersten Krieger zwischen dem Baikal und dem großen Meer. Er besitzt viele Pferde und Schaafe, aber seine Jurte ist leer. Niemand bewillkommnet ihn, wenn er heimkehrt von der Jagd. Der Khan der Manshu hat eine Tochter. Sie kann das Lager eines Mannes theilen. Urkundu Tojon wirbt bei seinem Freunde um die schöne Tungilbi für seinen Sohn Scheminga.« 

Der Khan schüttelte den Aermel. »Du hast viel Staub aufgewühlt auf Deinem Wege hierher! Aber Du hast noch nicht von dem Schurun gesprochen, der für ein so seltenes Mädchen wie Tungilbi ist, geboten wird.« 

»Der Tojon besitzt Pferde und Schaafe. Sein

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Lager ist voll von den Fellen des Zobel’s und Hermelin’s und neben seinen Aran’s liegen Haufen von Erz. Der große Khan der Manshu möge den Schurun bestimmen.« 

Der große Khan nahm sich gewaltig Zeit. Dann that er seine Pfeife aus dem Mund und sprach: »Der junge Tojon der Dulegat hätte eher sprechen sollen. Meine Tochter ist nicht für Alle, ich kann sie nur Einem geben. Ich habe sie dem Sultan der Chalchas versprochen, er zahlt einen guten Schurun, tausend Pferde, tausend Rinder, fünftausend Schaafe und tausend Kameele. Wenn der junge Tojon der Donki dasselbe giebt, soll er Tungilbi haben, denn ich liebe ihn und er ist ein guter Jäger und Krieger!« 

Der Ausspruch hatte eine sehr niederschlagende Wirkung, denn er war so gut wie völlige Abweisung. Jedermann wußte, daß - wenn es auch dem ganzen Stamm gelänge, die ver- langten Pferde, Rinder und Schaafe zusammen zu bringen, - eine Sache, die an und für sich sehr zweifelhaft war - doch von einer Beschaffung der Kameele nicht die Rede sein konnte, da diese nur die Nomaden der unteren Steppen besitzen.

Der Brautwerber Scheminga’s versuchte daher, hiergegen Einsprache zu erheben. »Der große Khan der Manshu hat zahlreiche Heerden - er braucht sie nicht zu vermehren! Die Donki haben Pferde - sie werden ihm Zuchtstuten geben! auch Rinder und Schaafe, wenn er


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es verlangt. Aber sie besitzen keine Kameele. Tolga ist ein weiser Häuptling, er möge andere Dinge an ihrer Stelle verlangen.« 

Der Khan machte jedoch das Zeichen der Verneinung.

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»Die schwarze Krankheit hat im vorigen Winter meine Heerden heimgesucht und fast alle meine Kameele sind ihr Opfer geworden. Ich muß Kameele haben. Oder ist die Tochter Tolga Khan’s nicht tausend Thiere mit Höckern werth? Um es kurz zu machen, Tungilbi ist dem jungen Fürsten der Chalcha’s zugesagt, der sich mit Freuden zu dem Schurun erboten. Er wird in drei Tagen mit den Heerden eintreffen und Tungilbi in sein Lager holen!« 

Bis hierher hatte Scheminga nach der Landessitte schweigend der Verhandlung beige- wohnt. Als jedoch der Khan jetzt das Zeichen machte, daß die Unterredung zu Ende sei, erhob er sich.

»Mein Vater hat gesprochen,« sagte er. »Tungilbi ist tausend Mal mehr werth, als tausend Kameele. Ich liebe sie. Wenn Scheminga Tojon in drei Tagen dem großen Khan der Manshu tausend Kameele als Schurun bringt, wird dieser ihm seine Tochter geben?« 

»Ich werde es thun.« 

»Es ist gut! - Laßt uns zur Jagd auf die wilden Pferde aufbrechen!« 

Es wurde kein Wort weiter gesprochen, die ganze Gesellschaft setzte sich zu Roß und ga- lopirte davon.

Die Jagd auf die wilden Pferde ist eine sehr mühevolle, denn die Thiere sind überaus scheu und haben eine sehr scharfe Witterung. Es ist selbst für den schlauesten Jäger ungemein schwer, sie zu überlisten, und lange und eifrig muß er spähen, bis er den Paß ermittelt, durch welchen sie vom Gebirge in die Ebene niedersteigen und wieder in die Berge zurückkehren. Wenn dies gelungen,

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lauern die Jäger den Augenblick ab, daß die Thiere sich möglichst weit in die Ebene gewagt haben; ein Trupp sucht dann in ihrem Rücken zu dem Paß zu gelangen und verbirgt sich hier, während die Anderen eine meilenweite Chaine im Halbkreis bilden, die sich nach und nach verengt und die Thiere nach dem Gebirge zu treibt. Dann, auf ein Zeichen des Anführers, brechen die Reiter gegen ihre Beute vor, - die edlen Rosse flüchten nach dem Paß zurück, stürzen sich blindlings hinein und sehen sich plötzlich von vorn und im Rücken angegriffen. Nun entsteht ein wildes Getümmel, in das der Jäger, das Beil oder die Schlinge in der Hand, je nachdem er tödten oder fangen will, nur mit Lebensgefahr sich hinein stürzt; denn verliert er seinen Sitz und geräth unter die Hufe der bäumenden, beißenden, schlagenden Rosse mit den fliegenden Mähnen und den glühenden Augen, so ist ein schmerzvoller Tod ihm gewiß.

Aber die Nomaden der Steppe und des Gebirges sind eben so kühne als sichere Reiter. Ihre kurzen Beile fallen gewuchtig nieder auf die Köpfe der edlen Thiere und in wenig Minuten hat das Gemetzel ein Ende; - was nicht durchgebrochen und entflohen ist, liegt erschlagen am Boden oder kämpft sich müde in den Schlingen und Banden, die bereits seine Glieder fesseln. Das Fleisch der wilden Pferde gilt den Jägern als ein Leckerbissen.

In gleicher Weise verlief auch diesmal die Jagd, nur daß der Khan dabei von einem der wilden Hengste einen Schlag gegen das Bein erhielt, der ihn zwang, nach

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seinem Lager zurückzukehren und mehre Tage auf seiner Filzdecke still zu liegen, bis die Quetschung geheilt war.

Am Abend, als die ersten Sterne funkelten, kamen die Liebenden an einem einsamen Ort zusammen und besprachen ihr Unglück. Tungilbi gelobte ihrem Geliebten mit dem Ada- katschan, dem Eide, daß sie eher sterben, als die Frau des fremden Mannes werden wolle und Scheminga verschwor sich, gleichfalls sein Leben einzusetzen, um sie zu erwerben. Dann nahm er, unter dem Vorwand, ihre Flucht vorzubereiten, Abschied von ihr, nachdem er sich noch sorgsam erkundigt hatte, in welcher Richtung man den neuen Bräutigam mit seinen Heerden erwartete.

Am nächsten Morgen war Scheminga aus der Jurte, die er mit seinen Gefährten theilte, nebst einem derselben verschwunden; die andern erklärten, daß er zur Jagd auf das Rehwild ausgeritten sei, und da dies häufig vorgekommen, kümmerte sich der Khan in seinen Schmer- zen nicht weiter um seinen jungen Gast, sondern sah mit desto größerem Eifer der Ankunft seines neuen Schwiegersohns entgegen.

Erst gegen Abend des dritten Tages verkündeten herbeisprengende Hirten, daß sie in der Ferne den aufwirbelnden Staub einer mächtigen Heerde gesehen hätten.

Unter Vergießung reichlicher Thränen wurde Tungilbi von den Frauen ihres Vaters genö- thigt, ihre besten Gewänder anzulegen. Filze wurden vor den Jurten des Khans auf den Boden gebreitet, um sich darauf niederzulassen, und mächtige Feuer angezündet, um mehr als ein [ 383 ]

Schaaf zu Ehren der Ankunft des Chalchas-Fürsten zu rösten.

Bald auch hörte man in der Ferne das Geräusch der herbeiziehenden Heerde und erblickte am Abendhimmel sich abzeichnend die langen Hälse der Kameele!

Tungilbi verhüllte das Gesicht in ihre Gewänder!


Scheminga Tojon hatte auf seiner flüchtigen Stute Melilbi unterdeß mit seinem Gefährten den Weg nach Süden genommen. Er beabsichtigte, dem Mongolenfürsten zu begegnen und ihn zum Zweikampf zu fordern, um so die Geliebte von dem Bewerber gänzlich zu befreien oder wenigstens Zeit zu gewinnen.

Solche Zweikämpfe auf Pfeil und Bogen sind in der Steppe sehr gewöhnlich. Die Tungusen nennen sie Kutschigera’s, und sie wurden gleich den Turnieren des europäischen Mittelalters in früheren Zeiten unter den Augen ihrer Stammeshäupter und Aeltesten abgehalten.

Am ersten Tage ritten die Reiter acht Meilen weit und lagerten gegen Abend an dem nörd- lichen, mit Gestrüpp und Rohr umzogenen Ufer eines kleinen See’s.

Die innere Unruhe, die ihn verzehrte, ließ den jungen Tojon nur wenig schlafen.

Mit dem ersten Morgengrauen legte er auf Melilbi, seine Stute, den kleinen Sattel aus Rennthierrippen, befahl seinem Begleiter, seiner an der Stelle ihres Nachtlagers zu harren, und ritt auf Kundschaft aus.

Er nahm seine Richtung am Ufer des See’s entlang, weil er dachte, daß zu diesem auch die Heerden des [ 384 ]

Mongolenfürsten ihre Richtung nehmen würden, um die Thiere zu tränken.


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Er war etwa eine halbe Stunde langsam vorwärts geritten, als er plötzlich einen lauten gellenden Hilferuf vernahm und im nächsten Augenblick einen Reiter in blinder Hast auf sich zu galopiren sah.

Der Reiter hing waffenlos an dem Halse seines Pferdes und es dauerte einige Sekunden, ehe es ihm gelang - obschon er ein junger und stattlicher Mann war, - in den Sattel zu kommen, ohne daß er jedoch damit seines Pferdes Herr werden konnte, das in toller Furcht dahin jagte. Das lange kaftanartige Obergewand des Reiters flatterte zerrissen im Luftzug.

Die Furcht des Reiters und seines Pferdes war auch nicht ohne Grund. Scheminga, der unbeweglich auf seiner Stute hielt, die sich begnügte, die Ohren zu spitzen und gegen das Gebiß zu schnauben, übersah mit einem Blick das Geschehene und die Gefahr, in welcher der Fremde schwebte.

Dieser mußte aus der entgegengesetzten Richtung gekommen sein, und mit einem zweiten Pferde an der Hand wahrscheinlich versucht haben, die Rosse an einer offenen Buchtung des See’s zu tränken, als aus dem Rohrdickicht ein gewaltiger Tiger sich auf ihn gestürzt hatte. Der Reiter hatte kaum Zeit gehabt, sich mit Zurücklassung eines Theils des Gewandes und einer leichten Wunde von seinem bäumenden Rosse auf den Nacken seines Handpferdes zu werfen und sich von diesem in wilder Flucht davon tragen zu lassen, da - selbst wenn er ihn hätte wagen

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wollen, - an einen Kampf nicht zu denken war, weil seine Waffen am Sattel des Pferdes hin- gen, in dessen Brust der Tiger seine Krallen geschlagen hatte. Aber die Bestie, die wahrschein- lich schon Menschenblut gekostet hatte, begnügte sich nicht mit dem zu Boden gerissenen Thier, sondern verfolgte den Fliehenden in mächtigen Sprüngen.

Noch hatte dieser den Tungusen nicht bemerkt, sondern war in blinder Hast an ihm vorüber geschossen, als Scheminga mit der Schnelle des Blitzes den Bogen von der Schulter riß, die Sehne bis an sein Ohr zurückzog und einen Pfeil auf das in wilder Blutgier hinter seiner Beute herstürzende Ungethüm abschnellte.

Der Pfeil traf das Thier in die Flanken und drang mit seiner scharfen, mit Widerkerben versehenen Eisenspitze wohl über eine Handbreit ein.

Der Tiger fiel im Sprunge nieder, kauerte am Boden und warf dann seine glühenden Augen umher, den neuen Feind zu suchen. Sein weithin schallendes heiseres Gebrüll mischte sich in den gellenden Jagdruf, den der junge Tojon ausstieß, und verkündete, daß er diesen Feind entdeckt hatte.

Es war das erste Mal, daß der Tunguse Aug’ in Aug’ dem furchtbaren Könige der Wildniß gegenüber stand. Er hatte zwar schon an Jagden auf das blutdürstige, Heerden und Menschen gleich gefährliche Ungethüm Theil genommen, aber noch nie war er ihm allein so nahe ge- kommen, um es selbst bekämpfen zu können. Trotz der ersten Verwundung des Tigers war seine Situation eine sehr bedenkliche, denn der wohlgezielte Pfeil vermochte keineswegs das Thier kampfunfähig zu machen und hatte seine Wuth nur

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abgelenkt, aber verdoppelt. Der geringste Widerstand seines edlen Pferdes mußte den kühnen Jäger in die größte Gefahr bringen.

Scheminga hatte jedoch in dieser bedenklichen Lage nicht einen Moment seine Geistesge- genwart verloren.


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Der Tiger war kaum niedergekauert, um zu einem Sprung auf seinen neuen Feind auszu- holen, als bereits ein zweiter Pfeil ihn am Halse traf. Dann gab der Tojon seiner Stute die Fersen und ließ sie einen weiten Sprung zur Seite machen, der sie aus dem Bereich eines ersten Angriff des Ungethüms brachte.

Mit Staunen sah der Fremde, der durch den Jagdruf Scheminga’s erst von seiner Nähe Kenntniß erhalten hatte, und der nunmehr, da der Tiger seine Verfolgung aufgegeben hatte, seines eigenen Pferdes Herr geworden war und es zum Stehen zwang, - wie der Tungusen- Reiter im Kreise um die sich windende Bestie her galopirte, allen ihren Sprüngen und An- griffen geschickt auswich, oft im entscheidenden Augenblick über den Tiger selbst hinweg setzend, und währenddessen mit Pfeil auf Pfeil seinen Körper förmlich spickte. Die scharfen Eisen hingen in den Weichen und in der Brust des Thiers, sie hatten seinen Hals und seine Beine durchbohrt, und während das wüthende Thier sich vergebens bemühte, sie herauszu- reißen, durchschnitten immer neue Geschosse sein Fell, ließen sein Blut aus zehn Wunden sprudeln und hinderten durch ihre Schäfte seine Bewegungen.

Zuletzt hielt der Tiger in seinen ihn erschöpfenden Angriffen inne, kauerte sich in der Mitte des von seinem

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Blute bezeichneten Kreises nieder, und versuchte noch einmal, sich von den Pfeilschäften durch Zähne und Tatzen zu befreien.

Diesen Moment schien der kühne Jäger erwartet zu haben. Mit einem Satz drängte er die treue Stute so nah als möglich zu dem Feind, und während das edle Roß sich auf den Hinterbeinen erhob, beugte er sich - die Sehne des Bogens bis hinter das Ohr spannend, - aus dem Sattel nieder, zielte einige Sekunden lang, und ließ dann seinen letzten Pfeil gegen den Kopf des Ungethüms schießen.

Der Tiger stieß ein wüthendes Gebrüll aus, sprang in die Höhe und versuchte seine blutigen Krallen in die Brust der Stute zu schlagen. Aber der Tojon drehte sie mit fester Hand auf ihren Hinterhufen zur Seite, ließ sie einen mächtigen Sprung thun und schoß aus der gefährlichen Nähe.

Es war die letzte Kraftanstrengung der Bestie gewesen. Der wohlgezielte Pfeil war ihr ge- rade in’s Auge und durch dieses bis in’s Hirn gedrungen - sie fiel jetzt auf die Seite und bald streckte sich der mächtige Körper in den letzten Todeszuckungen.

Scheminga näherte sich vorsichtig dem verendenden Tiger, denn er wußte sehr wohl, wel- che zähe Lebenskraft dieser grimmigste Vertreter des Katzengeschlechtes besitzt und daß oft ein letzter Tatzenhieb des schon verendet geglaubten Thiers das Leben des Jägers genommen hat. Der Stolz über die glückliche That schwellte seine Brust und er gedachte dabei kaum, daß er einem Andern damit zugleich

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das Leben gerettet hatte, da er sich während des Kampfes um den Flüchtling nicht weiter gekümmert hatte und denselben längst entfernt glaubte. Endlich überzeugte er sich, daß die Bestie wirklich verendet sei, und indem er sein Messer zog, um das pfeildurchbohrte Fell von dem Rumpfe zu lösen, setzte er den Fuß auf den Kopf des Thiers und brach - an den Zweck seines abenteuerlichen Zuges sich erinnernd, - unwillkürlich in die Worte aus:

»Besser wäre es für mich, Sultan Timur, der Reiche, wäre von diesen Pfeilen durchbohrt und läge an Deiner Stelle!« 


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Eine Hand legte sich auf seine Schulter und eine freundliche Stimme sagte zu ihm in der Sprache der Steppen, die in ihrer Allgemeinheit der Lingua franca des südlichen Europa’s und des Orients gleicht:

»Warum wünscht ein Tapferer den Tod eines andern Tapfern?« 

Der Tojon sah sich erstaunt um und bemerkte, daß der Flüchtling, den er an der zerrissenen Kleidung wieder erkannte, jetzt an seiner Seite hielt und ihn angeredet hatte.

Es war ein junger Mann etwa in seinem eigenen Alter, von ächt mongolischer, aber keines- wegs unedler Physiognomie mit langherabhängenden sorgfältig gehegten, pechschwarzem Schnurbart und gleichem Scheitelzopf von dem sonst glatt rasirten Schädel. Der Fremde be- trachtete ihn mit sichtlicher Bewunderung und Theilnahme.

»Wer bist Du?« frug der Tojon.

»Ich bin Dein Sclave, dem Du das Leben gerettet

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hast, das Dir dafür gehört. Es würde verloren gewesen sein, wenn Buddha 1 nicht Deine tap- fere Hand gesendet hätte.« 

»Ich sollte meinen,« sagte der Tunguse verächtlich, »Dein Buddha hätte Dir selbst Hän- de gegeben, um Dein Leben zu vertheidigen, statt es auf die flinken Beine eines Thiers zu setzen!« 

Der Mongole zuckte mit freundlicher Miene die Achseln, ohne sich anscheinend verletzt zu fühlen. »Warum sollte ein vernünftiger Mensch nicht ein unvernünftiges Thier opfern, wenn er sein Leben dadurch retten kann? Meine Waffen waren mit meinem Pferde in die Klauen des Tigers gefallen.« 

Der Tojon schwieg einigermaßen beschämt, dann wiederholte er seine Frage, wer der Frem- de sei, indem er fortfuhr, das Fell des erlegten Thiers abzuziehen.

»Ich bin ein Chalchas. Die Tungusen und die Mongolen des Ostens entstammen demselben Vater. Der Khakhan 2 Dschingiskhan hat Beide groß gemacht. Warum wünschte der tapfere Donk den Tod eines Freundes an Stelle dieses Tigers?« 

»Timur Khan ist nicht mein Freund - er ist mein Todfeind. Gehörst Du zu seinem Khanat?« 

»Ich stehe dem jungen Sultan sehr nahe, und weiß alle seine Geheimnisse. Er ist wie ein Bruder für mich! Aber ich habe niemals gehört, daß er einen Feind unter den Tungusen hätte.« 

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Ohne auf den Einwurf zu antworten, wandte sich der Tojon hastig zu dem Mongolen. »Wenn Du Timur Sultan so nahe stehst, so gehörst Du wahrscheinlich zu seinen Begleitern und er ist in der Nähe?« 

Der Mongole wies nach dem Südende des See’s. »Der Sultan lagert dort mit seinen Dienern und Heerden. Ich habe vor zwei Stunden noch sein Zelt gesehn.« 

»Wohlan denn, Chalchas,« sagte der Tunguse, indem er das blutige Tigerfell über die Krup- pe seiner Stute warf, und wieder in den Sattel stieg, wenn Du, wie Du Dich rühmst, hoch in der Gunst Timur-Sultans stehst, so kannst Du mir einen Dienst dafür erweisen, daß ich Dir das Leben gerettet habe.« 


1 Der Gott der ostmongolischen Völker.

2 Großkhan, Kaiser.


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»Ich will einen Hund mit Dir schlachten und sein Blut trinken ,« 1 sagte feierlich der Mongo- le, »wenn ich Dir nicht mein Wort halte. Was Du auch von Timur begehrst, ich werde sorgen, daß er Deinen Wunsch erfüllt!« 

»Ich danke Dir! - So wisse denn, ich bin . . . « 

Der Chalchas unterbrach ihn. »Du bist Scheminga, der Tojon der Dulegat!« 

Der Tunguse sah ihn erstaunt an. »Woher kennst Du mich?« 

Lächelnd wies der Mongole auf den Tiger. »Welcher andere Pfeilschütze hätte dies zu thun vermocht? Es giebt nur einen Krieger in der Mitte des Weltalls, der besser schießt, als Sche- minga, der Tojon der Dulegat.« 

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»Und der wäre?« frug eifersüchtig der Tunguse.

»Timur Sultan, mein Herr!« 

»Ah - also auch hier! Nun wohl - ich komme, um mich mit Deinem Gebieter im Bogen- schießen zu messen, und wenn Du wirklich den Einfluß besitzest, dessen Du Dich rühmst, und mir Dankbarkeit zeigen willst, so bewege ihn, daß er sich mir zur Kutschigera 2 stellt.« 

»Timur,« sagte der Mongole stolz, »hat noch niemals einen Zweikampf ausgeschlagen. Aber ich muß ihm einen Grund dazu sagen.« 

»Einen Grund? Nun wohl - ich hasse ihn! oder besser, ich muß die tausend Kameele haben, mit denen er herbeikommt, um die Tochter Tolga-Khans Einem zu rauben, der ein Recht auf sie hat.« 

Der Mongole sah Scheminga, während sie langsam in der Richtung zurückritten, woher dieser gekommen, etwas erstaunt an. Dann sagte er lächelnd:

»Scheminga Tojon liebt die Tochter des Manshu?« 

»Ich denke, das kümmert Dich nicht. Willst Du meinen Auftrag ausführen?« 

»Bei meinem Haupte. Aber Timur Sultan besitzt der Heerden genug. Was sind ihm tausend Kameele gegen das Leben eines Freundes? Er würde sie Dir mit Freuden geben, wenn ich ihn darum bitte.« 

»Nein, Chalchas,« sagte der Tojon finster - »ich nehme von meinen Feinden keine Geschen- ke. Ich fordere ihn zum Kampf.« 

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»Aber - wenn Du einen Preis auf Deinen Sieg setzest, welchen bietest Du?« 

»Mich selbst zu seinem Sclaven und - und Melilbi, meine Stute. Sie hat nicht ihres Gleichen zwischen den Bergen von Nertschinsk und denen von Kurdistan!« 

Es war ihm schwerer angekommen, sein geliebtes Roß einzusetzen als seine eigene Person.

Der Mongole dachte einige Augenblicke nach, dann wiegte er zustimmend den Kopf. »Es sei,« sagte er. »Ich werde den Khan zur Annahme Deines Vorschlags bewegen, wenn Du mich entlassen willst. Wohin soll ich Dir Botschaft senden?« 

Der Tojon wies nach der Stelle seines Nachtlagers, der sie sich jetzt genähert, und wo sein Gefährte bereits sein Pferd aufgezäumt hatte.

»Atunga, mein Pfeilbruder,« sagte er, »wird mit Dir gehen und mir Botschaft bringen. Möge der Kampf stattfinden, wenn die Sonne über unserm Scheitel steht, dann sind die Schatten gleich. Lebe wohl und erfülle Dein Wort.« 

^itte der nordöstlichen Nomaden bei Ableistung eines feierlichen Schwurs.

2 Zweikampf mit Bogen und Pfeil.


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Der Mongole, der von dem zerrissenen Pferde seine eigenen Waffen wiedergenommen, schwang das Messer nach der Sitte der Steppe gegen die Sonne und betheuerte: »Die Sonne lasse Krankheiten wie dieses Messer in meinen Eingeweiden wüthen, wenn ich es nicht thue! Lebe wohl, Tojon, und möge Buddha Dich segnen für das, was Du diesen Morgen an mir gethan!« 

Er wandte sein Roß und bald galopirte Atunga, den wenige Worte über seinen Auftrag verständigt, an seiner [ 393 ]

Seite dem Lagerplatz des Mongolenfürsten zu, während Scheminga seine edle Stute abzäum- te und an den Kohlen des Feuers seine Jukola’s röstete.


Der Tojon wartete drei Stunden, dann kam sein Gefährte zurückgejagt. Er hatte das La- ger des Mongolenfürsten bereits in vollem Aufbruch gefunden, den Sultan selbst zwar nicht gesprochen, aber von dem Krieger, den er begleitet, und der nach der allgemeinen Achtung, die man ihm bewies, ein Günstling des Sultans sein mußte, - die Mittheilung erhalten, daß Timur Khan mit Vergnügen einwillige, sich mit dem berühmtesten Pfeilschützen des Nordens zu messen, und auf die gestellten Forderungen eingegangen sei.

Es war das Abkommen getroffen worden, daß jeder der Kämpfer drei Pfeile gegen den andern abschießen und dabei ganz nach der Kampfsitte seines Stammes verfahren dürfe. Werde keiner der Krieger lebensgefährlich verwundet, so solle ein Rath der drei ältesten Zeugen des Kampfes entscheiden, wer den Sieg davon getragen. Der Zweikampf solle um die Mittagsstunde und zwar in der Nähe der Stelle vor sich gehen, an der Scheminga den Tiger erlegt hatte.

Die beiden Tungusen brachten die Zeit bis zu ihrem Aufbruch mit Vorbereitungen des Kampfes zu. Da er seinen Köcher in dem Kampf mit dem Tiger vollständig geleert, wählte Scheminga aus dem seines Freundes die drei schwersten Pfeile, schärfte ihre Spitzen und glättete die Flugfedern. Er rieb und spannte die Sehne seines Bogens [ 394 ]

und wusch Melilbi, seine Stute, der er selbst das Futter zusammentrug. Endlich, eine Stunde, ehe die Sonne im Zenith stand, machten sich Beide auf den Weg.

Sie fanden den Platz bereits von der Gegenpartei besetzt und zwar war das ganze Lager des Khans dahin verlegt. Unübersehbare Schaaren von Rindern, Schafen und Kameelen lagerten in der Hitze der Julisonne. Krieger und Hirten ritten umher oder lungerten müßig im Schatten der Bäume, Sclaven kochten und brateten [brieten] an den Feuern oder schleppten Wasser herbei, um die Thiere zu tranken.

An dem einen Ende eines ziemlich geräumigen, freigelassenen Platzes war das Zelt Timur Khans aufgeschlagen. Es war nicht wie die gewöhnlichen Wanderzelte der Nomaden von Filzstücken, sondern von chinesischen Seidenstoffen und reich mit bunten Fähnchen und Decken behängen. Scheminga Tojon biß finster die Zähne zusammen bei diesem Anblick, denn er bewies ihm den Reichthum seines Gegners und er wußte, daß die kostbare Wohnung zum Brautgemach bestimmt war.

Es blieb ihm jedoch wenig Zeit zu solchen Gedanken, denn als er sich im Galop dem Lager näherte, kam ihm der Mongole, dem er das Leben gerettet, mit einer Schaar von Kriegern


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und Dienern des Khans entgegen, begrüßte ihn in dessen Namen und lud ihn ein, in einem zweiten Zelt, das er an dem entgegengesetzten Ende des Platzes hatte aufrichten lassen, bis zum Beginn des Kampfes zu verweilen.

Dies Zelt war zwar nur von Filz und Leinen, aber

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nicht ohne sich im Innern tief geschmeichelt zu fühlen, bemerkte der Tojon auf einer hohen Stange vor dessen Eingang den Schädel des erlegten Tigers aufgespießt.

In dem Zelt fanden die beiden Tungusen Diener bereit, ihnen die Füße zu waschen und sie dann mit Thee und allerlei Speisen zu bedienen. Es wurden hierauf noch einmal die Bedingungen des Kampfes besprochen und die Zeugen und Richter desselben bezeichnet. Dann verließen die Mongolen sämtlich das Zelt.

Die ganze Art, wie der junge Sultan die Herausforderung des fremden, so allein stehenden Gegners behandelte, hatte etwas so Ritterliches, daß der Tojon bei allem Groll gegen seinen Nebenbuhler sich doch dem Einfluß desselben nicht entziehen konnte. Er war daher um so gespannter auf die Erscheinung des Khans, den er bisher nie gesehen und von dessen Reichthum und Waffengeschicklichkeit ihm nur der Ruf erzählt hatte, der in den Steppen Hochasiens wahrscheinlich noch lange die Zeitungen ersetzen wird.

Scheminga Tojon war ein tapferer Krieger und Jäger und hatte oft genug Beweise seines Muthes und seiner Todesverachtung gegeben. Dennoch fühlte er wohl die Schwere der Stun- de, die ihm bevorstand, denn er wußte, daß der Sultan nicht blos sein Rival in der Liebe war.

Der weithin tönende Schlag eines chinesischen Gongs gab das erste Zeichen.

Auf dieses trat der junge Tojon aus seinem Zelt, vor dessen Eingang Atunga sein Roß Melilbi hielt.

Er wußte, daß in demselben Augenblick ihm gegenüber

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sein Gegner dasselbe that. Aber die Sitte verhinderte ihn, neugierig nach ihm hinüber zu- schauen; er beschäftigte sich mit der Untersuchung des Sattels und Zaumes. An dem ersteren hing eine kleine Tartsche von doppeltem Wallroßfell, Köcher und Bogen trug er auf dem Rücken, weiter hatte er keine Waffen.

Ein zweiter dröhnender Schlag des Gong, und die beiden Kämpfer schwangen sich in den Sattel.

Jetzt erst warf der Tojon den ersten Blick auf seinen Gegner.

Der Sultan ritt einen prächtigen turkestanischen Hengst von schwarzer Farbe. Er selbst saß auf dem reichverzierten Sattel als wären Roß und Reiter ein Leib. Timur Khan war von schlanker, - wie alle Mongolen mittelgroßer - Gestalt und in weite bunte Gewänder gekleidet. Er trug das weite bis an die Knie reichende Beinkleid von gelbem Seidenstoff und ein weißes fliegendes Obergewand. Seine Linke hielt einen kleinen runden metallenen Schild, der im Sonnenschein wie polirtes Gold funkelte, die Rechte trug den langen tartarischen Bogen. Das Antlitz seines Feindes jedoch konnte der Tojon nicht erkennen, da von der turbanartigen Kopfbedeckung desselben die Enden des dieselbe umwindenden blauen Schleiers über sein Gesicht niederhingen. Ein prächtiger hoher Busch von Reiherfedern erhob sich über dem Turban des Sultans.


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Timur Khan begrüßte seinen Gegner, indem er durch den Druck seiner Schenkel sein wohldressirtes Roß sich strecken ließ und den Bogen vor ihm neigte.

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Scheminga erwiederte das Reiterstück in gleicher Weise mit seiner Schimmelstute Melilbi.

Dann erklang der dritte Schlag des Gong, - das Zeichen zum Beginn des Kampfes, - und die Reiter setzten ihre Rosse in Galop und umsprengten in gleicher Entfernung von einander den Kampfplatz.

Dieser bildete einen Kreis von etwa hundert bis hundertzwanzig Schritten im Durchmesser. Rund um denselben her standen und lagerten die zahlreichen Diener und Begleiter des Khans.

Nachdem die beiden Reiter in verschiedenen Wendungen und Künsten die Gewandtheit ihrer Rosse und ihre eigene Geschicklichkeit in deren Leitung gezeigt hatten, schoß plötzlich der Tojon in die Mitte des Kreises, spannte mit Blitzesschnelle den Bogen und schoß seinen ersten Pfeil auf den Gegner. Timur Khan hatte mit einem gewaltigen Ruck seinen Hengst angehalten und fing mit einer gleich schnellen Bewegung den anzischenden Pfeil, der sonst seine Brust durchbohrt hätte, mit dem goldenen Schild auf. Ein heller Klang der Eisenspitze auf dem Metall bewies die Kraft der Sehne und der Hand, die sie gespannt hatte, und ein lauter Beifallsruf über die Geschicklichkeit ihres eigenen Fürsten brach aus dem Kreise der Zuschauer.

Scheminga wandte seine Stute zur Flucht, wie die Regel dieser Kämpfe vorschreibt, und der Khan verfolgte ihn, um seinerseits ihm einen Pfeil zu senden.

Von diesem Augenblick an war der Kampf ein Wettspiel, das nicht allein mit der Fertigkeit der beiden Kämpfer in der Handhabung des Bogens, sondern auch mit der

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Sicherheit und Gewandtheit ihrer Pferde ausgefochten wurde. Jeder der Kämpfer suchte in hundert Windungen und Künsten die unbeschützte Seite des Gegners zu gewinnen und hier seinen Schuß anzubringen. Während der Tojon floh, das Gesicht - nach dem Ausdruck der Steppen - auf dem Rücken, that der Khan seinen ersten Schuß. Aber der Tunguse warf sich lang zur Seite seines Pferdes nieder, blos im Steigbügel und an den Mähnen hängend, und der Pfeil sauste unschädlich zwischen den Ohren der Stute durch.

Ein gellendes Triumphgeschrei Atunga’s beantwortete den ersten Beifall der Mongolen. Der wackere Tunguse strengte seine Kehle doppelt an, um die Minderzahl seiner Partei möglichst auszugleichen.

Es war Scheminga, der wieder zuerst seinen zweiten Pfeil versandte. Durch die Gewandt- heit seiner Stute hatte er dem Gegner die rechte Seite abgewonnen, und indem er vorüber- jagte, schoß er den Pfeil in solcher Nähe auf ihn ab, daß - wenn er ihn voll traf - die tödtliche Wirkung zweifellos sein mußte.

Der Kahn hatte nicht mehr Zeit, sich mit dem Schilde zu decken. Er sah das tödtliche Geschoß daher schwirren und machte eine Bewegung, es mit der Hand aufzufangen oder zu pariren. Es war dies ein überaus schwieriges Manövre, das nur in der größten Gefahr versucht werden konnte und nur selten gelingt. Auch dem Khan trotz seiner großen Gewandtheit gelang es nur halb; denn indem er sich rückwärts beugte, vermochte er doch nur, dem Pfeil eine Richtung zur Seite zu geben. Die Spitze fuhr

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zwischen Arm und Leib durch und die rothen Blutflecken, die augenblicklich das weiße Ober- gewand färbten, bewiesen, daß der Sultan nicht unverwundet dem Schuß entgangen war.

Ein lautes Klage- und Rachegeschrei der Seinen erfüllte bei diesem Anblick die Luft, - aber ehe es noch zur Hälfte verhallt, schnellte der Khan in den Sattel zurück, stieß einen gellenden Schlachtruf aus und spornte seinen Hengst zu einem gewaltigen Satz, der ihn fast mitten in die Bahn und seinem Feinde gerade entgegen trug.

Das edle Roß stand zitternd von der gewaltigen Anstrengung wie in den Boden gewurzelt, als der Khan blitzschnell seinen Bogen hob und seinen zweiten Pfeil abschnellte, dem er rasch den dritten und letzten folgen ließ.

Der Tojon hatte die Stute parirt, als er sich seinem Gegner auf kaum fünfzehn Schritte gegenüber sah. Der erste Pfeil kam so schnell, daß er den Schild nicht mehr zur Abwehr zu erheben vermochte. Er sah ihn gegen sein Haupt fliegen und glaubte sich verloren.

Aber der Pfeil durchbohrte keineswegs seine Stirn, sondern war so geschickt abgeschossen, daß er nur den eigenthümlichen helmartigen Kopfputz des Tungusenhelden, das Rehhaupt mit dem Gehörn traf und ihn herunterriß.

Der dritte Pfeil des Sultans aber traf voll die Brust des Tojon und mit solcher Gewalt, daß er ihn niederwarf auf die Kruppe der Stute. Im ersten Augenblick glaubte Scheminga sich durchbohrt und faßte nach dem Schaft, um die Spitze aus seiner Brust zu reißen. Aber zu seinem Erstaunen fühlte er im nächsten Augenblick, daß er frei

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und unbehindert athmete und unverwundet sei. Er stieß einen Siegesruf aus, denn er wußte, daß sein Gegner jetzt wehrlos in seine Hand gegeben sei, und indem er seinen eigenen dritten Pfeil auf den Bogen legte, wollte er den des Mongolen von sich werfen, als sein Auge zufällig auf das Geschoß fiel.

Im Moment war ihm das Räthsel seiner Rettung gelöst - dem Pfeil fehlte die eiserne Spitze, es war ein einfacher Holzstab mit abgestumpftem Knopf, wie solche bei den Scheingefechten der Steppenkrieger gebraucht werden. Der Mongolen-Sultan hatte gegen ihn nur mit stump- fen Waffen gekämpft, während er selbst sich wider den Gegner der tödtlichen bedient hatte.

Erstaunt blickte er empor auf diesen - Timur Khan hielt noch immer bewegungslos auf der Stelle, von der aus er die beiden Pfeile entsandt. Er hatte die Arme über die Brust gekreuzt, nachdem er mit einer raschen Bewegung den Turban von seinem Haupte geschüttelt, - und sah ihn mit festem ernstem Auge an.

Der Tojon erkannte dies Auge, dies Gesicht, - es war der Mann, den er wenige Stunden vorher aus den Klauen des Tigers gerettet hatte.

Jetzt war dem Tungusen das ganze ritterliche Benehmen seines Nebenbuhlers klar. Eine gewisse Beschämung überkam ihn, dann erhob er den Blick, als suche er einen Gegenstand, an den er sich dafür halten könne.

Von dem Lärmen des Kampfes aufgescheucht, hatte sich von einem der nächsten Bäume eben ein Rabe erhoben und flog krächzend über den Platz. Obschon der Vogel

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in ziemlicher Höhe, weit über die gewöhnliche Gränze eines Pfeilschusses die Luft durch- schnitt, hob der Tojon doch seinen Bogen nach ihm, zog die Sehne bis über die Schulter an und ließ seinen Pfeil dann fliegen.


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Trotz der Entfernung durchbohrte das Geschoß die Brust des Vogels und krächzend tau- melte er aus der Höhe nieder auf den Boden.

Ein weithin schallender Jubelruf aller Zuschauer, in den sich das Brüllen und Blöcken der erschreckten Heerden mischte, galt nicht allein diesem Meisterschuß, sondern auch der hoch- herzigen That, da Niemand aus dem Gefolge des Sultans wußte, wie edelsinnig dieser seinem Herausforderer gegenüber getreten war.

Der Tojon sah kaum den Vogel fallen, als er aus dem Sattel sprang. Aber so rasch er auch gewesen, war ihm der junge Khan doch zuvorgekommen und schritt auf ihn zu, ihm die Hand entgegenstreckend.

»Warum sollen die Söhne Dschingis-Khans sich bekämpfen,« sagte er laut, »wenn sie Freun- de sein können? Mein Bruder hätte nur nöthig gehabt, zu Timur zu sagen: ich brauche Deine Heerden, und der Sultan der Chalchas würde sie dem Retter seines Lebens gegeben haben.« 

»Nein, Khan« - antwortete der Tunguse - »ich will nicht Deine Dankbarkeit für einen zu- fälligen Dienst mißbrauchen, den ich ebenso willig dem geringsten Deiner Sclaven geleistet hätte. Ich habe Dich zum Kampf gefordert, weil ich eher mein Leben lassen, als dulden will, daß Du Tungilbi zum Weibe erhälst!« 

»Der Tojon der Dulegat,« sagte der Khan lächelnd,

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»möge die Blume der Steppe in seine Jurte führen. Was ist ein Weib gegen das Leben eines Mannes? was sind zehn solcher Heerden gegen das Leben eines Sultans? Mein Bruder mö- ge sie nehmen und damit dem geizigen Manshu den Schurun bezahlen. Eins aber lasse er Freunde und Waffenbrüder sein.« 

Der Tojon reichte ihm die Hand. »Mit Freuden, tapferer Khan,« betheuerte er. »Aber den- noch kann ich Dein Anerbieten nicht annehmen. Wir haben nicht mit gleichen Waffen ge- kämpft. Ich habe also keinen Anspruch auf den Preis.« 

»Sollte ich Eisen auf das Herz des Mannes schießen, dem ich mein Leben verdanke?« frug ungeduldig der Sultan. »Timur Khan hatte seinem Freunde zu beweisen, daß er nicht aus Feigheit vor dem Tiger geflohen, und das Blut, das er vergossen -,« er deutete auf die Streif- wunde, die ihm der Pfeil des Tungusen geschlagen, - »hat ihn als Tapfern erwiesen. Zwei Krieger haben um den besten Schuß gefochten - meine älteren Männer mögen entscheiden, wer von uns ihn gethan!« 

Der Tojon begriff, daß er sich diesem Ausspruch unterwerfen mußte. Er erfolgte aber nicht sogleich, vielmehr lud der Khan jetzt seinen neuen Freund ein, mit ihm und seinen Kriegern, die ihm das Ehrengeleit auf dem jetzt gestörten Brautzug gegeben, zu tafeln. Nach der Sitte der Steppe waren bereits alle Anstalten zu einem solchen Mahl getroffen worden, ein Rind und zwei Schaafe brieten an großen Feuern, und Kessel und Schläuche mit starkem Thee und Kuhmiß standen bereit für das Gelage.

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Erst als dieses im besten Gange war, brachte der Khan die Frage zum Vortrage und seinem sichtbaren Wunsche gemäß erklärten die drei Aeltesten der Gesellschaft, daß der ungewöhn- lich weite und sichere Schuß auf den Raben als der beste der gethanen anerkannt werden müsse.

Aber vergeblich suchte der Khan seinen neuen Waffenbruder zu bewegen, den ganzen Schurun anzunehmen, indem er ihn versicherte, daß er mindestens noch zehnmal so viel


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Thiere auf seinen ungeheuren Steppen zu weiden habe; der Tojon blieb fest dabei, daß er nur um die von Tolga-Khan verlangten Kameele gefochten habe, und so mußte Timur zuletzt nachgeben und den Hirten der Zweihöcker befehlen, die gewaltige Heerde vorwärts zu trei- ben, während die andern Heerden wieder ihren Rückweg in südlicher Richtung einschlugen.

Als die Sonne unter den Horizont sinken wollte, rüsteten sich der Tojon und sein Gefährte zum Aufbruch, um der Kameelheerde zu folgen.

Timur Khan mit allen seinen Dienern gab ihm das Geleit bis über die Gränze des Lagers hinaus. Es ist Brauch bei dem Schluß einer Waffenbrüderschaft, daß beide Theile einander ein Geschenk machen. Als sie daher an der Stelle angekommen waren, wo sie sich trennen sollten, bat der junge Sultan seinen Freund um den Bogen, mit dem er den Tiger erlegt hatte, und gab zugleich seinen Begleitern ein Zeichen, worauf zwei Sclaven den prächtigen kostbar aufgezäumten turkemanischen Hengst herbeiführten, den der Sultan bei dem Zweikampf geritten.

»Mesrur,« sagte der edle Chalchas, «hat zum letzten [ 404 ]

Mal einen Besiegten getragen, er gehöre fortan dem Sieger. Möge Dir die Erde unter sei- nen Hufen verschwinden! Wenn Scheminga Khan je einen Freund braucht, um seine Feinde schlagen zu helfen, möge er Timur Khan nicht vergessen.« 

Die beiden jungen Krieger reichten sich die Hand, dann galopirte der Eine nach Norden, der Andere gen Süden.


Wie wir bereits erzählt haben, hatte man am Abend des dritten Tages im Lager des Manshu- Khans das Herannahen der Heerden bemerkt und Tolga machte sich bereit, den Mongolen- Sultan als seinen Eidam willkommen zu heißen und ihm die Braut gegen den reichen Schurun auszuhändigen.

Tungilbi war in Verzweiflung, die mit jedem Schritt, den die Heerden näher kamen, wuchs. Vergeblich hatte sie Rath und Trost bei den Jagdgefährten ihres verschwundenen Anbeters gesucht, diese wußten ebensowenig, wo ihr Tojon geblieben, und hatten nur den Befehl erhal- ten, vier Tage seiner zu harren, und dann nach ihrer Heimath zurückzukehren. Das Mädchen hatte ein kleines japanisches Messer mit zierlichem Perlmutgriff, das Scheminga ihr früher geschenkt, im Busen verborgen, entschlossen, davon gegen sich selbst Gebrauch zu machen, ehe sie sich dem fremden Bewerber überliefern ließe.

Solche Beispiele treuer und aufopfernder Liebe sind bei der Erziehungsweise der Frauen des Ostens und der Stellung, welche die Weiber in dem Leben der Nomaden [ 405 ]

einnehmen, zwar selten, aber sie kommen doch - wie mannigfache Beispiele zeigen, - vor und geben den Beweis, daß das Frauenherz selbst unter den ungünstigsten Verhältnissen des Heroismus der Liebe fähig ist! -

Endlich erhoben sich aus den Schatten der Dämmerung und den Wolken von Staub die zahllosen langen Hälse der Kameele und schlossen unter dem Zuruf und Geschrei ihrer berit- tenen Treiber einen weiten Halbkreis um die Jurten des Khans.

Aus dem Kreis der Heerde kam langsamen Schrittes ein Reiter - er ritt auf einem schwarzen Hengst und führte eine milchweiße Stute am Handzügel.


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Es war bereits zu dunkel, um in einiger Entfernung den Reiter selbst zu erkennen, aber das Auge der Liebe war wenigstens scharf genug, das Roß Melilbi an der Hand des Reiters zu unterscheiden! Es konnte kein Zweifel mehr sein - der Tojon war im Kampf gegen seinen Ne- benbuhler gefallen, und der Sultan kam, in grausamem Triumph mit seiner Beute prahlend, um sein Opfer zu holen. Mit einem Schrei fiel sie ohnmächtig in die Arme der sie umgebenden Frauen.

Als sie wieder erwachte, kniete Scheminga vor ihr und bedeckte - der Sitte der Steppen trotzend, welche die Berührung unverheiratheter Frauen streng verbietet - ihre Hände mit Küssen. Aber nur schwer konnte er ihr verständlich machen, daß er wirklich mit dem von ih- rem Vater verlangten Schurun zurückgekehrt sei und sie von der Bewerbung des C[h]alchas- Khans befreit habe.

Während des die Liebenden sich ihres Glückes erfreuten

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und die Weiber bereits einen Kur - einen Gesang - auf die Heldenthaten des jungen Tojon dichteten, war der alte Manshu beschäftigt, mit einigen seiner Diener die Kameelheerde zu zählen. Unglücklicher Weise erfuhr er dabei von den das Lob ihres Sultans preisenden Trei- bern, daß dieser sich erboten hatte, nicht blos die Kameele, sondern die sämmtlichen zum Schurun mitgeführten Heerden dem Tojon zu schenken und daß nur der Eigensinn desselben diese Reichthümer zurückgewiesen habe.

Tolga-Khan hegte in Wirklichkeit eine gewisse Neigung für den ritterlichen Tungusen, aber sein Geiz war doch überwiegend, und der Gedanke, welcher Gewinn seiner Tochter oder vielmehr ihm selbst durch die alberne Großmuth des Tojon entgangen, zeigte nur allzubald seine Wirkung.

Scheminga sah sich schon am nächsten Tage auffallend kühl behandelt; der Frage nach der Zeit der Uebergabe der Braut wurde ausgewichen, und schließlich deutete ihm der Khan an, daß die Heerde Kameele ihm zwar sehr willkommen gewesen, daß er aber keineswegs gesonnen sei, um einer generösen Laune seines künftigen Schwiegersohnes willen Rinder und Schaafe einzubüßen, und daß er erst diese herbeischaffen möge, ehe er an die Heimführung seiner Tochter denken könnet

Vergebens berief sich der Tunguse auf das Wort des Khans, das ausdrücklich nur die Ka- meelheerde von ihm verlangt habe und erbot sich, die schon früher angebotene Pferdezahl zu senden, - der Manshu behauptete, mißverstanden zu sein, bestand im Bewußtsein seines Wortbruchs

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immer eigensinniger auf seiner Forderung, und der Tojon mußte zu seinem Schrecken von der Geliebten hören, daß der alte Geizhals bereits heimlich Boten an Timur-Sultan abgesandt hatte, um das abgebrochene Verlöbniß wieder zu erneuern.

Unter diesen sie aufs Neue bedrohenden Umständen zögerten die Liebenden nicht, einen raschen Entschluß zu fassen.

Noch an demselben Abend sandte Scheminga seine sämtlichen Begleiter unter Atunga’s Führung aus dem Manshu-Lager fort, angeblich, um bei seinem Vater für die Vervollständi- gung des Schurun zu sorgen, in Wahrheit aber, um ihre Flucht über das Gebirge vorzube- reiten. Zum Glück war der Verkehr zwischen dem Tojon und seiner Geliebten unbehindert,


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denn der Khan, obschon selbst wortbrüchig, glaubte doch nicht an einen Bruch der Gast- freundschaft seitens seines jungen Gastes. Dieser aber - der früher den Vorschlag der Gelieb- ten zur Flucht geweigert - glaubte sich jetzt durch das Verfahren des Khans jeder Rücksicht entbunden.

Es galt für das Paar, eine Zeit zu wählen, in der sie einen genügenden Vorsprung erreichen konnten, ehe sie verfolgt würden; denn daß eine solche Verfolgung auf Tod und Leben ein- treten würde, war vorauszusehen. Die Umstände waren ihnen auch in so weit günstig, als ein Aufbruch des ganzen Lagers zur Aufsuchung neuer Weideplätze bereits am zweiten Tage erfolgen sollte und in der Verwirrung desselben Jeder so mit seinen Angelegenheiten

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beschäftigt sein mußte, daß ihre Abwesenheit nicht sogleich bemerkt werden konnte.

Scheminga wußte, daß auf die Schnelligkeit und Ausdauer ihrer Pferde, auf die Benutzung der richtigen Pässe über das Gebirge und der Fürthen über die zwischenliegenden Ströme Alles ankommen würde, und deshalb hatte er eben seine Begleiter mit genauen Instruktionen vorausgesandt. Er hatte in den letzten Tagen mehrfach das Geschenk des Sultans, den Hengst Mesrur, erprobt und sich überzeugt, daß derselbe an Schnelligkeit seiner berühmten Stute Melilbi gleich kam, wenn auch nicht an Sicherheit und Ausdauer. Deshalb hatte er auch die letztere für Tungilbi bestimmt, sich selbst den Rappen vorbehaltend, den er nur mit der Tigerdecke beschwerte.

Die Liebenden waren in den letzten Tagen mehrfach unbehindert mit einigen Manshu’s auf die Jagd geritten. Tungilbi liebte es, einen kleinen See am Gebirge aufzusuchen, und dort ihren Falken auf die zahlreichen Reiher und Enten stoßen zu lassen, die im Geröhr hausten. Am Morgen des Aufbruchs, während Jedermann mit dem Einpacken der Jurten, dem Beladen der Thiere und dem Treiben der Heerden beschäftigt war, erklärte Tungilbi, noch einmal nach dem See reiten zu wollen, forderte den Tojon auf, sie zu begleiten, und ritt, gefolgt von einem der Diener ihres Vaters, davon.

Der Mann wußte sehr wohl, in welchem Verhältniß das junge Paar zu einander stand, kümmerte sich daher wenig um dasselbe, und erst, als er es an den Ufern des See’s eine ganze Zeit aus den Augen verloren hatte, und

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der Falke Tungilbi’s suchend zu ihm nieder flatterte, wurde er unruhig und umritt das Ufer des See’s. Am andern Ende desselben angekommen, sah er schon in weiter Ferne zwei dunkle Punkte, die sich mit Windeseile über die Ebene dem Gebirge zu bewegten. Es waren die bei- den Reiter. Im Nu begriff er Alles, wandte sein Pferd und jagte dem Lager zu, um Lärm zu machen. Zum Glück für die Liebenden war der Khan mit einem Theil seiner Jäger aufgebro- chen und mußte nun mit der unangenehmen Botschaft erst zurückgeholt werden.

Die Liebenden setzten unterdeß mit unverminderter Eile ihren Weg fort, um zunächst einen möglichst großen Vorsprung zu gewinnen. Es galt - da sie einen Umweg nehmen mußten, um den Räuberhorden möglichst auszuweichen, - einen Ritt von mehr als einer Woche, über mehrere Gebirgszüge, die nur durch wenige gefährliche Pässe zu passiren waren, und über Ströme, die nur in einzelnen Fürthen den Uebergang ermöglichten.

Scheminga hatte sich zwar bemüht, von den Hirten Erkundigungen über den nächsten Weg einzuziehen, allein das Ergebniß war so ungenügend, daß der beste Theil der Entschei- dung seinem eigenen Scharfsinn überlassen blieb. Nach den Mittheilungen der Hirten war


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der ihnen nächste Paß so schwierig zu finden und so unzugänglich, daß es nur wenigen der kühnsten Jäger gelungen war, ihn zu passiren. Mit seiner Stute Melilbi allein würde Schemin- ga es dennoch versucht haben, aber aus Rücksicht auf das Mädchen mußte er den mehrere Meilen östlich entfernten zweiten Paß wählen.

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Weder er noch Tungilbi kannten denselben und sie mußten daher am Saum des Gebirges entlang reiten, um ihn zu suchen.

Hierin eben lag die Gefahr, daß es ihren Verfolgern gelingen könne, sie zu erreichen und abzuschneiden.

Der erste Tag verlief jedoch, ohne daß etwas von denselben zu merken gewesen wäre. Am Abend lagerten die Flüchtlinge am Feuer, das sie in einer geschützten Schlucht angezündet hatten. Tungilbi entschlief zum ersten Mal in dem Arm ihres Gatten.

Mit dem ersten Morgengrauen brachen die Flüchtlinge auf, - sie mußten jetzt in der Nähe des Passes sein, und Scheminga entdeckte in der That bald die Oeffnung eines Thals, das bergauf in das Innere des Gebirges zu führen schien. Sie galopirten in diesem wohl eine Stunde fort, als sie sich den Weg plötzlich durch eine Klippenwand gesperrt fanden. Dennoch mußte das Erklimmen derselben versucht werden, denn den Weg zurück zu nehmen hätte sie wahrscheinlich in die Hände ihrer Verfolger geliefert, die jetzt ohne Zweifel auf ihrer Spur sein mußten.

Tungilbi mit ihrer Stute begann den gefährlichen Ritt, der Tojon folgte ihr. In der That konnte auch das Wagniß nur zwei so ausgezeichneten Pferden wie den ihren gelingen, denn es war ein Klettern von einer Felsstufe zur andern, bei dem jeder Schritt Tod und Verderben drohte. Nach zwei Stunden der Anstrengung und der Gefahr gelang es ihnen endlich, die Höhe zu erreichen, von der herab sie einen Blick rückwärts in’s Thal warfen.

Sie gewahrten in der Mitte desselben einen großen

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Schwarm Reiter, die sie offenbar, nach ihren drohenden Geberden zu schließen, auf der Höhe entdeckt haben mußten. Zu ihrem Schrecken nahmen aber nur drei oder vier derselben ihren Weg nach der so schwierig zu erklimmenden Felswand, um ihnen den Rückweg abzuschnei- den, die andern bogen in einen Seitenpaß des Thals, den die Flüchtigen in ihrer Eile nicht beachtet hatten, und der, wie sie jetzt erkennen mußten, mit weniger beschwerlichem Wege in die Höhe führte und den Verfolgern möglich machte, ihnen zuvorzukommen.

So ermüdet durch das Ersteigen der Bergwand ihre Rosse auch waren, konnten sie ihnen daher doch nur eine geringe Rast gewähren und mußten sie auf’s Neue zum wilden Rennen spornen.

Ihr Weg ging ziemlich eben auf einer Grasfläche bergab, - während in der Entfernung von etwa drei oder vier Werst der höchste Kamm des Gebirges sich hob, durch welchen eine schmale Schlucht führte. Es war, wie der Tojon von den Hirten erfahren, der einzige Weg, und es galt daher, den Eingang vor ihren Verfolgern zu erreichen. Aber als sie eben um ein kleines Gehölz von Lärchenbäumen bogen, das ihnen die Aussicht versperrt, sahen sie links aus dem Grunde die Schaar ihrer Verfolger hervorkommen. Ein Theil derselben suchte den Eingang der Schlucht zu erreichen, der größere aber sperrte in einer Reihe ihnen den Weg.

Einige Worte Scheminga’s verständigten rasch die junge Frau über das, was sie zu thun hatte. In gestrecktem Galop jagte die Tochter des Khans auf die Mitte der


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Reihe zu - mehre der Reiter verließen ihren Platz und eilten herbei, sie aufzuhalten, - da wandte sie wenige Schritte vor ihnen ihr Pferd zur Linken und entschlüpfte durch die ent- standene Lücke, während der Tojon auf der andern Seite dasselbe Manöver vollführte und den einzigen Manshu, der Zeit hatte, sich ihm entgegenzustellen, über den Haufen ritt.

Es galt nun, im verzweifelten Wettritt den Eingang der Schlucht vor der zweiten Abtheilung ihrer Verfolger zu erreichen, und beide Parteien machten die größten Anstrengungen.

Die Stute Melilbi erreichte mit ihrer schönen Last in demselben Augenblick den Eingang, als ihr Herr kurz vor demselben mit dem Anführer der Manshu’s zusammentraf. Ein furcht- barer Hieb der Streitaxt des Tungusen spaltete die Brust seines Feindes, dessen Leichnam von dem Pferde noch eine Strecke weit fortgetragen wurde. Dann schoß der Tojon mit einem Tri- umphgeschrei die blutige Waffe schwingend in die Schlucht, an deren Eingang die Verfolger Halt machten.

Die Pferde des Paars waren indeß so erschöpft, daß sie jetzt nur langsam weiter konnten. Zum Glück trat bald die Dunkelheit ein und in ihrem Schutz erreichten die Liebenden ein kleines Seitenthal, in dem ein Quell lustig aus dem Gestein sprang. An seiner Fluth konnten sie sich und die Pferde erquicken und ruhten dann bis zum ersten Tagesgrauen.

Der Tojon wußte, daß er auf der dritten Tagereise seine Freunde in der Nähe eines kleinen Flusses finden

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würde, der in den Argun sich ergießt. Es war die Stelle, die er ihnen zum Rendezvous be- stimmt hatte und wo sie eine Furth suchen und ihm frei halten sollten.

Die Sterne flimmerten noch am Himmel, als das Paar aufbrach. Sie sahen in der Tiefe der Schlucht das Wachfeuer ihrer Verfolger, aber es dauerte keine Stunde, so hörten sie auch bereits dieselben hinter sich.

Scheminga wußte sehr wohl, daß der Befehl des Khan weder Roß noch Reiter schonte und die Verfolgung auf Tod und Leben ging. Nachdem er ihren ersten Anführer erschlagen, würde bei einer Gefangennahme der Tod wahrscheinlich gleichfalls sein Loos gewesen sein, - mindestens die Sclaverei. Er war entschlossen, nicht lebend in die Hände seiner Feinde zu fallen.

So dauerte die Hetzjagd den ganzen Tag. Um Mittag hatten die Fliehenden das Gebir- ge verlassen und waren in eine Ebene getreten. Die Zahl ihrer Verfolger hatte sich bis auf etwa zwanzig der bestberittenen vermindert, die andern Manshu’s waren zurückgeblieben. Zweimal tränkten die Fliehenden und ihre Verfolger zugleich ihre Thiere an einem und dem- selben Bach, kaum eine halbe Meile von einander entfernt. Die Lage des jungen Paars war jetzt schlimmer als im Gebirge, denn es konnte sich vor den Augen der Feinde nicht mehr verbergen, und Alles kam jetzt auf die Ausdauer der Pferde an.

Die Jagd ging jetzt an dem Ufer des nicht breiten, aber reisenden und wegen seiner schrof- fen Ufer schwer passirbaren Flusses entlang, den der Tojon seinen Genossen zum Rendezvous bezeichnet hatte. Die beiden edlen Thiere

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begannen nach dem dreitägigen Lauf Spuren der Ermattung zu zeigen und mit Besorgniß blickte Scheminga nach einem Anzeichen aus, das ihm die Nähe seiner Freunde zeigen konn- te.


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Endlich sah er in der Ferne am Ufer des Flusses Rauch aufsteigen.

Dort mußte also die Furth, dort mußte das Lager der sechs tungusischen Jäger sein.

Der Anblick gab ihnen neue Kräfte und schien selbst ihre Rosse zu beleben. Aber auch ihre Verfolger verdoppelten ihre Anstrengungen.

Je näher sie dem Rauch kamen, desto sicherer wurde Scheminga ihrer Rettung. Plötzlich sah er zu seiner Freude, als sie einer Biegung des Flusses folgten, hinter einem Hügel seine sechs Genossen, Atunga an ihrer Spitze, ihnen entgegen kommen.

Aber das Gefühl der Freude sollte sich bald in eine neue Besorgniß verwandeln.

Mit wenigen Worten berichtete ihm Atunga, daß an der einzigen Stehe, wo der Uebergang über den Fluß möglich war, eine ansehnliche Schaar chinesischer Soldaten unter dem Befehl eines Mandarins auf einem Streifzug vom Amur her lagerten.

Die Tungusen sowohl wie die Manshu’s waren allerdings dem Kaiser von China tribut- pflichtig und gehörten somit zu seinen Schutzbefohlenen. Aber die chinesischen Statthalter mengten sich selten in die innern Angelegenheiten oder die Streitigkeiten der Nomadenstäm- me, es sei denn etwa in der Rohe des Adlers, welcher die Beute der

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streitenden Falken für sich nimmt, und Niemand konnte wissen, ob und welche Partei sie in dem vorliegenden Fall ergreifen würden. Es war daher am Besten, den Streit auszumachen, ehe man in den Bereich ihrer Entscheidung kam.

Die kurze Berathung führte zu einem einstimmigen Entschluß.

Die Manshu-Reiter kamen nicht in einen geschlossenen Haufen, sondern je nach der Gü- te und Ausdauer ihrer Pferde einzeln, oder zu zweien und dreien herangejagt. Es galt, sie aufzuhalten, bis das junge Ehepaar den Fluß passirt oder die Zusage des Schutzes von dem Anführer der chinesischen Streifcorps erlangt hatte.

An der Spitze der Manshu’s ritt ein einzelner Krieger, drei Reiter folgten ihm in der Entfer- nung von etwa fünfhundert Schritten.

Von der kleinen Schaar der Tungusen trennten sich Zwei, während die Anderen den Tojon und sein junges Weib, die ihre Pferde in langsamerem Gang verschnaufen ließen, weiter in der Richtung des chinesischen Lagers begleiteten.

Die beiden Tungusen, den gespannten Bogen in der Hand, stellten sich dem heranspren- genden Manshu in den Weg und geboten ihm Halt. Doch der Mann war ein muthiger und kräftiger Krieger, er schwang drohend seinen Speer und galopirte weiter, bis ein Pfeil den Hals seines Pferdes durchbohrte und dieses ihn zu Boden warf. Alsbald waren seine zwei Genossen an seiner Seite und es entstand, halb zu Pferde, halb zu Fuß ein Handgemenge

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zwischen den fünf Kriegern, bei dem die drei Manshu’s schwer verwundet, der eine der Tun- gusen aber erschlagen wurde. Der zweite, mit mehreren leichten Wunden bedeckt, flüchtete, verfolgt von den zunächst ankommenden Reitern, seinen Gefährten nach.

Auf einen Wink Atunga’s lösten sich nochmals zwei der jungen und entschlossenen Dongi’s von der kleinen, ihren Weg unbeirrt verfolgenden Gruppe und eilten ihrem verwundeten Kameraden zu Hilfe.

Die Zahl der herbeisprengenden und sich zum Angriff auf sie sammelnden Manshu’s betrug gerade das Doppelte, sechs, aber die Rosse derselben waren ermattet und ungelenk, und als daher, nachdem man in kurzer Entfernung Pfeile gewechselt und gegenseitig zwei oder drei


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Verwundungen an Leuten und Pferden erzielt hatte, die Tungusen mit ihren frischen und ausgeruhten Pferden sich auf ihre Gegner warfen, trieben sie diese trotz ihrer Ueberzahl in die Flucht, und kamen erst ihrerseits in’s Gedränge, als der Haupttrupp der Nachzügler seinen Gefährten zu Hilfe kam.

Damit war freilich ihr Schicksal entschieden, denn nachdem sie zwei ihrer Gegner getödtet und vier andere kampfunfähig gemacht hatten, unterlagen sie der Uebermacht und wurden alle drei erschlagen.

Der Kampf hatte jedoch nicht allein dem Tojon und seinen Gefährten Zeit gegeben, vor- wärts zu kommen, sondern auch die Aufmerksamkeit der Chinesen erregt; denn man sah etwa dreißig wohlbewaffnete Reiter derselben von ihrem Lagerplatz aufbrechen und lang- sam näher kommen.

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Ihre Ankunft mußte freilich dem ungleichen Kampf und der Verfolgung ein Ende machen, aber die Entfernung war doch noch zu groß, als daß die Tungusen eher mit ihnen hätten Zu- sammentreffen können, als die wieder auf der Verfolgung begriffenen Manshu’s sie erreichen mußten.

Der Tojon übersah die Gefahr und sein Entschluß war gefaßt. Indem er das Anerbieten sei- ner beiden letzten Genossen, allein sich nochmals den Feinden gegenüber zu stellen, verwarf, umarmte er neben ihr her sprengend die junge Frau, empfahl ihr, vorwärts zu reiten und auf die Ausdauer der Stute sich verlassend die Furth und das andere Ufer zu gewinnen, wo sie in Sicherheit sei, und ermunterte seine beiden Gefährten alsdann, mit ihm den ungleichen Kampf zu wagen.

Die Manshu’s, noch zehn kampffähige Männer an der Zahl, zauderten, sich auf die drei Kämpfer zu werfen, da sie die furchtbare Kraft der Streitaxt des Tojon bereits erfahren; aber der Gedanke an den Schimpf, der sie erwartete und die Besorgniß, von den chinesischen Soldaten sich ihre sichere Beute entrissen zu sehen, ließ sie selbst die Furcht vor dem jungen Helden überwinden, und mit wildem Kampfgeschrei stürzten sie sich auf die drei Reiter, die nun allein auf die Gewandtheit ihrer Pferde und die Kraft ihrer Arme sich angewiesen sahen.

Der Tojon hatte keine Zeit, sich um seine Gefährten zu bekümmern, denn er allein sah sich sofort von fünf Reitern angegriffen.

Da er nicht mehr im Besitz seines Bogens war, hatte

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er keinen derselben aus der Entfernung unschädlich machen können und mußte nun ihren Anprall aushalten. Die einzige Waffe, die er führte, da er auf der Flucht selbst den Jagdspeer von sich geworfen, war die treue Streitaxt. Indem er sich selbst auf den nächsten Reiter warf, trennte er mit einem einzigen Hieb seiner Axt den erhobenen Vorderarm desselben von dem Ellbogen, daß die Schneide noch tief in den Oberarm drang.

Er selbst erhielt dabei durch einen der Speere eine Streifwunde am linken Oberschenkel.

Als Antwort tödtete er das Pferd seines Gegners. Von diesem Augenblick an wußte er nur wenig, was geschah. Er fühlte, daß er in dem Knäuel von Menschen und Rossen, in dem er sich befand, wie ein Rasender um sich schlug und daß er selbst mehr als einmal verwundet wurde. Dann erhielt er mit dem stumpfen Ende einer Axt einen Schlag gegen den Kopf, der ihm die Sinne schwinden machte und ihn vom Pferde warf. -


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Als der Tojon wieder zum Bewußtsein kam, bemerkte er Atunga, seinen Pfeilbruder, neben sich knieen, und mit Hilfe eines Schamanen mit der Anlegung eines neuen Verbandes um seinen Kopf beschäftigt. Er lag auf einem Binsenlager vor einer Filzjurte, um ihn her bewegten sich mehre fremde Tungusen, Männer und Weiber, und unter ihnen erblickte er zwei seiner andern Gefährten bei dem gefährlichen Brautritt, gleich ihm in allerlei Binden von Thier- und Schlangenhäuten gewickelt und mit Amuleten zur Heilung ihrer Wunden behängen.

In einiger Entfernung weideten unter andern Pferden

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die Stute Melilbi und Mesrur, das Geschenk des Mongolen-Khan. Auf seinen unwillkürlich ausgestoßenen, ihr wohlbekannten Ruf kam die Stute herbeigetrabt und leckte ihm das Ge- sicht.

Aber vergeblich schaute er sich nach einem Zeichen von der Anwesenheit Tungilbi’s, seines Weibes, um.

Ohne eine Frage an seinen Waffengefährten zu thun, versuchte er sich aufzurichten, aber ein stechender Schmerz in Arm und Bein belehrten ihn, daß er hier schwer verwundet und hilflos sei.

Atunga richtete ihn empor, während auf seinen Wink der Schamane sich entfernte.

Jetzt, da der Platz, auf dem er lag, eine erhöhte Lage hatte, bemerkte er, daß er sich an dem linken Ufer des Abagaitu befand, desselben Flusses, dessen Furth sie gesucht hatten, und zwar der Stelle gegenüber, an dem die chinesische Streitmacht gelagert und in deren Nähe der letzte Kampf stattgefunden hatte.

Aber der Platz war leer, keine Spur mehr von den Chinesen zu sehen - ebensowenig von seinen Feinden, den Manshu’s.

Er wandte fragend das Haupt nach dem Freunde.

»Wo sind die Langzöpfe?« 

»Fort!« 

»Und die Krieger Tolga Khan’s? Hat mein Bruder sie alle erschlagen?« 

»Die Langzöpfe haben zehn von ihnen nach ihrer Heimath zurückgeschickt, damit sie ihre Wunden heilen und

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dem Khan erzählen, wie schwer die Hand Scheminga’s fällt.« 

»Allein?« 

»Allein!« 

Der Tojon zögerte offenbar, nach dem Gegenstand zu fragen, der ihm doch am meisten am Herzen lag. Endlich ermannte er sich.

»Rufe Tungilbi, mein Weib, zu mir!« 

Der Tunguse wollte die Frage nicht hören.

»Scheminga Tojon,« sagte er - »hat viel Blut verloren; er hat lange geschlafen. Mein Bru- der weiß vielleicht gar nicht, daß wir heute den sechsten Tag zählen, seit wir uns mit den Manshu’s geschlagen.« 

Aber einmal entschlossen, sein Schicksal zu erfahren, wiederholte der Tojon nur seine Fra- ge: »Wo ist Tungilbi, mein Weib?« 

Diesmal war die Aufforderung zu direkt, um unbeachtet bleiben zu können.


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Der Tunguse wies traurig nach Osten. »Fort! - die Tergezini 1 haben sie mit sich genommen!« 

Der Tojon stieß ein Gebrüll aus, wie der Tiger, den er vor kaum zehn Tagen getödtet.

»Wie? die Hunde haben es gewagt?« 

»Sie hatten die Uebermacht. Die Khanum selbst, als sie Dich in Gefahr sah, hat ihre Hilfe und ihr Einschreiten angerufen. Die Reiter des Langzopfs trennten uns, als wir um unser Leben fochten, und führten uns vor den

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Mandarin. Er entschied, daß die Dolgi über ihr Gebiet, die Manshu über das Gebirge in die Steppe zurückkehren sollten. So hat man Alle hierher gebracht, zu denen der Todesgott noch nicht getreten war. Ich war der Einzige, der unverletzt geblieben.« 

»Aber mein Weib?« 

»Die Manshuri 2 haben geklagt, daß Scheminga Tojon sie ihrem Vater gegen seinen Willen geraubt. Der Mandarin hat sie mit sich genommen, bis das Recht des Gatten oder des Vaters entschieden sei.« 

»Aber Du hast ihre Spur verfolgt und weißt, wo sie geblieben sind?« 

»Atunga kannte seine Pflicht,« sagte einfach der Tunguse. »Sind wir nicht Pfeilbrüder? Was ist das beste Weib gegen das Leben eines Mannes wie Scheminga Tojon. Im schlimmsten Fall kann der Langzopf sie in die Jurten Tolga-Khans zurückgesandt haben und die jungen Krieger der Dulegat werden sie wieder holen. - Ich habe die Wunden meiner Freunde gepflegt, bis am dritten Tage Donki vom Tagaun der Kutschida in diese Gegend kamen und mir beistanden. Wenn der Tojon geheilt ist, werden wir die Spur seines Weibes suchen.« 

In der That hatten die Chinesen sorgfältig Alles vermieden, was als ein Eingriff in die Rechte einer oder der anderen Völkerschaft hätte betrachtet werden können, und die Eigenthums- rechte selbst so weit geachtet, daß auch das Roß der Khanum den Tungusen zurückgegeben wurde.

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Nur die junge Frau selbst hatten sie mit sich geführt, wie der Mandarin erklärte, bis zur Entscheidung des Unrechts über sie.

Der Tojon mußte sich damit trösten, daß er nach seiner Genesung sein Anrecht auf sie geltend machen werde. Aber leider vergingen Wochen, ehe er unter den Beschwörungen des Schamanen und den besser wirkenden gewöhnlichen Heilmitteln seines Freundes von den schweren Wunden so weit hergestellt war, daß er seine treue Stute wieder besteigen konnte. Dann versäumte er keinen Augenblick, um nach den chinesischen Gränzforts aufzubrechen und nach dem Schicksal seines Weibes Erkundigungen anzustellen.

Doch vergeblich war alles Bemühen - Niemand wollte von einer gefangenen Frau etwas wissen und selbst die Anwesenheit jenes Streifcorps wurde mit den tausend Ausflüchten und Winkelzügen geläugnet, welche die chinesische Politik im Großen wie im Geringen kenn- zeichnen. Vergebens zog er monatelang in den Gränzgebieten umher - selbst die Hoffnung, daß Tungilbi ihrer Familie zurückgegeben worden oder freiwillig zu ihr zurückgekehrt sei, erwies sich als trügerisch; denn der in das Lager Tolga-Khans abgesandte Späher brachte die Nachricht zurück, daß dieser eben so wenig von seiner Tochter wußte und diese vielmehr in der Jurte des Tungusenhäuptlings glaubte.

1 Tungusische Benennung der Chinesen.

2 Manshuri’s: Manshu’s.


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Zuletzt blieb Nichts übrig als die Ueberzeugung, daß die schlauen und hinterlistigen Chi- nesen absichtlich jede Spur ihrer Gefangenen unterdrückt und sie wahrscheinlich

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als Sclavin in das Innere des unermeßlichen Reiches geschleppt hatten.

Von dieser Zeit an wurde der Tojon ein erklärter und gefährlicher Feind der Chinesen und schloß sich den Moskowiten an, die schon damals ihr Gebiet immer weiter nach Süden und Osten auszudehnen suchten.

Er nahm im Laufe der Zeit andere Weiber und zeugte mit ihnen Söhne und Töchter, aber die Erinnerung an Tungilbi Khanum blieb immer wach in seinem Herzen. Das erste Füllen, das Melilbi, die Stute, die sie auf der Flucht getragen, von dem turkestanischen Hengst warf, sandte er mit sicheren Boten als Geschenk an den hochherzigen Sultan der Chalchas und erhielt von ihm mit dem Beklagen seines Unglücks ein reiches Gegengeschenk von kostbaren thibetanischen Waffen und Stoffen - aber von Tungilbi Khanum fehlte jede Nachricht.

Siebenzehn lange Jahre waren vergangen seit jenem Brautritt, als die Hand Gottes mich, den Fremdling, der in weitentlegenem Lande geboren war, an die Ufer des Schilka führte und in wunderbarer Weise dem gereiften Manne das Glück seiner Jugend noch einmal zu- rückbringen ließ. -

Wera Tungilbi, mein süßes Kind, reiche mir die Theeschaale, denn meine Kehle ist trocken von der langen Erzählung.« 


Der Tungusengreis war, obschon der Holowa französisch gesprochen, doch dem Heldenge- sange seiner Jugend mit oft gezeigtem Verständniß gefolgt und hatte die einzelnen,

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ihm durch die Namen bezeichneten Stellen mit Nicken und Handbewegungen begleitet.

Während der Erzähler sich an der ihm von seiner Enkelin, der Namensschwester der un- glücklichen Khanum gereichten Theeschaale erquickte und der Gelehrte mit seinem jungen Freund und dem Verbannten einige Bemerkungen über die eben gehörte abenteuerliche Er- zählung und Sittenschilderung austauschte, benutzte die junge Sibirianka die Unterbrechung zur weiteren Verfolgung ihrer Absichten.

«Ich fühle, daß ich das Blut Tungilbi-Khanums, Deiner tapfern Geliebten in mir habe, Ame- nikan,« sagte sie schmeichelnd zu dem Greise, «und nicht zögern würde, mit dem Mann meiner Wahl einen gleich gefährlichen Weg zu machen. Aber Christenmädchen, Väterchen, verkauft man nicht gegen einen Schurun. Es ist Sitte, daß sie selbst dem Mann den Ischi, die Mitgift bringen, und ich habe noch immer keine solche. Deine Heerden gehören Deinen Enkeln von den andern Frauen.« 

Der Greis spielte mit zitternden Fingern in ihren Locken. »Hab ich Dir nicht das Erbe Deiner Mutter gegeben, die bunten Steine, nach denen die Langzöpfe so lüstern sind?« 

»Du hast sie mir versprochen, aber sie gehören mir noch nicht. Ich kann nicht nehmen, was nicht mein ist. Warum schenkst Du mir sie nicht, wie die Sachen da, die Du mir mitgebracht hast?« 

»Ich bin gekommen, sie Dir zu geben. Scheminga wollte das junge Angesicht Tungilbi’s noch einmal sehen,

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ehe er sein Haupt unter die Gräser der Steppe legt. Das nächste Juani Angani 1 wird einen alten Tojon nicht mehr unter den Lebenden finden!« 

»So schenkst Du mir den Beutel mit den Steinen?« 

»Ich schenke ihn Dir! er ist Dein eigen!« 

Die Augen der jungen Sibirianka funkelten und sie warf einen spöttischen stolzen Blick auf den Verbannten, der diesen wohl sah, obschon er noch nicht wußte, um was es sich handle, da die Schmeicheleien des Mädchens an den Greis in tungusischer Sprache gemacht waren, die es jedoch jetzt wechselte.

»Ich danke Dir, Väterchen. Mögest Du noch lange zur Freude meiner wilden Vettern auf der Steppe wandeln, statt unter ihrem Rasen zu ruhen. Wera Tungilbi wird Deiner nicht vergessen. - Siehst Du, Diadiuszki,« wandte sie sich zu dem Holowa, »Väterchen hat mir meinen Ischi geschenkt - nun sei auch Du artig, und gieb mir Etwas, das mir einen Mann verschafft.« 

»Närrisches Kind! als ob Dir nicht ohnehin Alles gehörte, was ich besitze!« 

»Nein, ich will ein ausdrückliches Geschenk!« 

»Was denn?« 

»Gieb mir den alten Elephantenkopf da oben?« 

»Den Mammuthschädel? Schau, das Mädchen ist nicht dumm! Der Uprawitel hat mir schon hundert Rubel dafür geboten.« 

»Hundert Rubel?« rief eifrig der Professor. »Der

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Kerl ist ein Spitzbube, ich gebe mit Vergnügen fünfhundert!« 

»Nein, gelehrter Herr,« sagte Wera in komischem Zorn. »Sie dürfen mir den Handel nicht verderben. Nun, Väterchen?« 

»Wenn es Dir eine Freude macht, Wera, mein Liebling, mit Freuden!« 

Das Mädchen küßte ihn. »Sie haben es Alle gehört,« sagte sie mit spöttischem Triumph, indem sie eine rundgefüllte Ledertasche aus ihren Kleidern zog und zugleich auf den Mam- muthschädel wies, »meine Väterchen haben mir dies als Heirathsgut geschenkt! Nun, gelehr- ter Herr, wenn Sie den Schatz da oben haben wollen, müssen Sie mich heirathen!« 

Der Gelehrte starrte die kecke Brautwerberin verblüfft über die Brille an und wurde puter- roth im Gesicht, während die Andern in ein heiteres Lachen ausbrachen. Nur der Verbannte warf ihr einen ernsten Blick zu, denn er kannte jetzt den kostbaren Inhalt des Ledersacks und begann das kecke Spiel zu ahnen.

»Unsinn! was redest Du da, Wera Tungilbi! weißt Du nicht, daß sich das nicht schickt für ein Mädchen? - Sie setzen den Herrn da in Verlegenheit.« 

»No! Michael Iwanowitsch, kümmern Sie sich nicht um mich. Ich fürchte, ich weiß Manches durch Sie, was sich für ein Mädchen nicht schickt. Warum wollen Sie mich hindern, eine gute Partie zu machen, - da Sie ja doch selbst verheirathet sind?« 

Der Verbannte zuckte zusammen bei diesem Stich. Er

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hatte bisher nicht gewußt, daß dieser Umstand aus seinem Leben seiner kecken Schülerin bekannt sei, und ihn vorhin nur flüchtig im Gespräch gegen den Lord in englischer Sprache erwähnt, die das Mädchen doch nicht verstand.

1 Sommerneujahr.


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»Sie werden Ihren Großvater unnütz besorgt machen, Wera Tungilbi,« sagte er mit gerun- zelter Stirn. »Es ist besser, Sie lassen ihn uns noch seine zweite Geschichte erzählen, die mich bekehren soll! Nach dem >Brautritt in der Steppe< zu schließen, können wir vielleicht ganz Interessantes zu hören bekommen. Wie nennst Du Deine zweite Geschichte, Gospodin?« 

»Wenn sie einen Namen haben soll,« sagte der alte Franzose höflich aber ernst, »so könnte ich sie vielleicht nennen:


»Die Russen am Amur. -« 

Der Professor, der sich noch immer von seiner Verlegenheit nicht ganz erholt und in der Stille verschiedene, fast verliebte Seitenblicke bald auf daß junge schöne Mädchen, bald auf den alten kahlen Mammuthschädel geworfen hatte, - zog geschwind wieder seine Schreibta- fel, um sich Notizen zu machen.

Aber es sollte heute nicht zu der Erzählung der Geschichte kommen; denn ehe der Holowa sich noch bereit machte, zu beginnen, wurde die Thür hastig aufgerissen, und Wind und Schneeflocken mit sich bringend trat in seine Pelze gehüllt einer der Katorgi herein.

»Was ist’s, Iwan, was willst Du ungerufen?« frug streng der Holowa.

Der Verurtheilte, der, wie man bei dem Licht sah,

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den furchtbaren blauen Stempel auf Stirn und Backenknochen trug, grüßte demüthig.

»Gott und die Heiligen seien mit Dir, Väterchen! Du mußt eilig kommen mit Deiner Medi- zin. Der Schweigende hat seinen Unfall wieder und ich fürchte, er vergeht ohne die heiligen Sakramente.« 

Die Mitglieder der kleinen Kolonie sprangen erschrocken empor.

»Nummer Neunhundertundachtzig, sagst Du?« 

»Ja, Väterchen. Er rollt die Augen, wie ein gestochenes Rennthierkalb und der Schaum steht ihm wie Schnee vor dem Mund!« 

»Der Unglückliche!« Der alte Franzose lief rasch nach seiner Kammer und kam bald mit einem kleinen Medizinkasten unter dem Arm zurück, während Wera Tungilbi seinen Rennt- hierpelz vom Holzpflock an der Wand genommen hatte und ihn jetzt darin einhüllte.

Der Verbannte hatte sich gleichfalls erhoben und den Lord bedeutet, dasselbe zu thun. »Dürfen wir mitgehen, Holowa?« 

»Du weißt, daß es verboten ist, Fremde zu den >Unglücklichen< zu lassen.

»Aber dieser Herr ist ein Arzt, er hat Medizin studirt auf den deutschen Universitäten, und kann vielleicht besser helfen, als Deine einfachen Hausmittel; denn viel Gescheutes giebt die Regierung nicht.« 

Der alte Kolonie-Vorsteher bedachte sich einen Augenblick, aber der Fall war dringend. »Dann mag es geschehen - ich will die Verantwortung

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auf mich nehmen, denn ich möchte dem armen Mann gern helfen. Kommt!« 

»Sie werden eine interessante Persönlichkeit sehen,« flüsterte der Verbannte dem Englän- der zu. »Thun Sie wenigstens, als wären Sie ein Arzt, und Sie dürften Einiges hören, was Sie über die russische Justiz aufklären wird.« 

Er folgte mit dem jungen Viscount dem bereits eilig Vorangegangenen.


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Der Professor befand sich jetzt mit dem alten Tungusenhäuptling und dem schönen Mäd- chen allein an ihrem Tischende und bereitete sich auf eine galante, seine Gelehrsamkeit in das beste Licht stellende Anrede vor. Aber Wera achtete seiner nicht, sondern schien in tiefem Nachsinnen, aus dem sie plötzlich empor fuhr.

»Meinen Bashlik, Mutin! er hängt hinter Dir.« 

Der junge Kosak, der schon zu viel getrunken, starrte sie mit gläsernen Augen an.

»Aber Herrin, Goldengel, wo willst Du hin?« 

Sie stampfte ungeduldig mit dem Fuß. »Kümmert’s Dich? Gehorche!« 

Der junge Unteroffizier brachte schwankenden Schrittes demüthig den pelzgefütterten Bas- hlik.

»Oeffne die Thür!« 

»Gospodina, bedenke, - das Wetter!« 

»Paszot!« 

Er öffnete die Pforte - draußen tobten Wind und Schnee - in ihre Rennthierfelle gehüllt, von den Flocken [ 430 ]

überweht, schliefen an den Wänden wie Murmelthiere die Jakuten.

Das Mädchen huschte hinaus in Eis und Schnee, während der gelehrte Professor mit offe- nem Munde ihr nachstarrte.


Eine Thranlampe verbreitete ein mattes Licht in der engen schmuzigen Jurte.

Auf einem Lager von festgestampfter Erde mit einer alten Filzdecke belegt, halb von einem Bärenfell verhüllt, lag in den Zuckungen der schrecklichen Krankheit der Unglückliche, der am Morgen des Tages einen so traurigen Abschied von dem wandernden Geistlichen genom- men hatte.

Mit den geringen Erfahrungen, welche ihnen zu Gebote standen, versuchten der Holowa und der Warnak die Gewalt des Anfalls zu brechen, indem der Erstere dem Leidenden, der mit weit aufgerissenen starren Augen in Krämpfen zuckte, ein Fläschchen Salmiakgeist unter die Nase hielt und einige Tropfen Rum ihm durch die fest geschlossenen Zähne einflößte, - der Andere ihm mit Gewalt die krampfhaft geschlossenen Hände und gebogenen Glieder zu öffnen und zu biegen suchte, wobei er seine Bemühungen von Zeit zu Zeit mit dem Schlagen des griechischen Kreuzes über sich und den Leidenden unterbrach. -

»Der Teufel soll meine Mutter reiten,« sagte der Warnak, der sich vergeblich in Schweiß gearbeitet, endlich mit einem jener schrecklichen russischen Flüche, die nicht allein von dem rohen Volk, sondern selbst von den [ 431 ]

Gebildeten ohne Bedenken gebraucht werden - »ich könnte einen Bären erwürgen, und der Kerl, der sich nur in Haut und Knochen noch schleppt, läßt sich nicht einmal einen Finger biegen. Aber er ist ein Schismatiker, ein Ketzer, er hat heute von dem falschen Weihwasser getrunken, und der Teufel ist mächtig in ihm!« 

»Schäme Dich, Iwan,« zürnte der alte Holowa, »den Unglücklichen mit Teufelswerk in Ver- bindung zu bringen, blos weil er ein Katholik ist. Bin ich’s etwa nicht auch? - Aber da sind


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Sie ja - wenn Sie wirklich ein Arzt sind, Herr, so helfen Sie, denn unsere gewöhnlichen Mittel wollen diesmal nicht verfangen, der Anfall ist zu stark und wird ihm noch das Leben kosten!« 

Die Anrede galt dem jungen Engländer, der mit dem Verbannten bereits seit mehreren Minuten hinter ihnen stand und die Scene schaudernd betrachtete.

Der Lord nahm bei der Anrede mit Gewalt seine Fassung zusammen und rieth, was Verstand und Beobachtung ihm sagten.

»Lösen sie vor Allem dem Unglücklichen die Halsbinde, Sie sehen ja, daß das Gesicht ganz blau von dem Blutandrang geworden ist. Haben Sie Senfspiritus zur Hand?« 

»Senfspiritus? - nein Herr! Hier ist Salmiakgeist, ein Brechmittel, Rhabarber und Fieber- rinde, das ist Ahes, was die Regierung liefert oder was wir haben.« 

»So geben Sie den Salmiakgeist her. Wir müssen den Unglücklichen auf Brust und Rücken damit einreiben. - Sie tragen ein schwarzes Seidentuch um den Hals,

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Sir! wollen Sie es mir erlauben, um einen Versuch damit zu machen?« 

Der junge Lord hatte sich erinnert, von diesem Hilfsmittel gelesen zu haben.

Der Verbannte nahm sein Tuch ab, während der Katorgi dem Kranken das Hemd von gro- bem Wollenzeug herunterzustreifen suchte.

Der Anblick, der sich darbot, war grauenvoll.

Der Leib des unglücklichen Verurtheilten war hager und glich eher einem mit Haut über- spannten Skelett. Aber diese Haut zeigte, Streif an Streif, auf Brust und Rücken in tiefen Vernarbungen die Spuren einer jener schrecklichen Mißhandlungen, wie sie in der russischen Justizpflege noch heute gesetzlich sind.

Der Lord begriff erst nicht, was diese tiefen rothen Narben zu besagen hatten.

»Um Himmelswillen, der Aermste sieht aus wie tättowirt!?« 

Der Verbannte lachte. »Wie, Mylord, Sie waren ein Jahr Gesandtschaftsattache und sollten nicht wissen, was diese Zeichen bedeuten?« 

»Unmöglich! - es sind doch nicht « 

»Stockprügel und Knutenhiebe! nun ja, was sonst? Der Bursche ist ein Pole und wird sie sich wahrscheinlich als Lohn einer Meuterei geholt haben!« 

Der Lord wandte sich mit Unwillen von dieser kalten Gleichgültigkeit. Er nahm das schwar- ze Seidentuch und deckte es über das Gesicht des Leidenden. Zugleich strich er sanft über die Pulse seiner Handgelenke.

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Schon wenige Augenblicke darauf zeigte sich eine fast wunderbare Wirkung. Die Zuckun- gen ließen nach und hörten allmälich gänzlich auf, - die Glieder erhielten ihre natürliche Biegsamkeit wieder und es gelang dem Katorgi, die Hände des Kranken zu öffnen.

Die eine hatte krampfhaft in der Höhlung einen kleinen Gegenstand verborgen, der bei der Oeffnung auf den Boden rollte. Nur der Verbannte und der Engländer bemerkten es; der Erstere setzte den Fuß darauf und hob ihn dann auf, während der Holowa und der Wornik sich mit dem Kranken beschäftigten.

Dann winkte er den Lord zu der Lampe und betrachtete an ihrem Licht den Gegenstand.

Es war ein eiserner Siegelring.

»Lassen Sie uns sehen,« sagte der Russe, »ich glaube, wir werden hier die Lösung des Räth- sels und der Nummer finden. - Richtig - da ist die Umschrift »Krölestwo polskie« - Königreich


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Polen! - mit dem trotzigen einköpfigen Adler und darunter - ha! fast dachte ich mir’s! Kom- mando des 9. Regiments - und hier im Innern die Buchstaben PW.- so wahr der Teufel meine Seele holen möge - es ist der Oberst Wysocki, von dem man Nichts wieder gehört, seit er nach der Festung Akatuga - gebracht wurde!« 

»Wysocki - ich erinnere mich dunkel des Namens! - War er nicht ein tapferer Offizier und einer der Führer des Aufstands von 1830?« 

»Sagen Sie, der Revolution! - So ist es! Peter Wysocki war vor 1830 Lieutenant und Vorste- her der

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Divisionsschule zu Warschau und eines der Häupter der Revolution. Als Oberst des 9. Re- giments wurde er im Sturm von Warschau am 7. September 1831 bei Vertheidigung der Schanzen von Wola verwundet, gerieth in russische Gefangenschaft und wurde nach Peters- burg gebracht. Hier wurde er nach langer Untersuchung zum Tode verurtheilt, durch die Gnade des Czaren aber zu lebenslänglicher Arbeit in den Minen von Nertczynsk bestimmt. Ich habe dort gehört, daß er 1833 dahin kam, mit ihm mehrere der anderen polnischen Narren, die glaubten, ihre Sensen könnten den russischen Kanonen Trotz bieten, oder Frank- reich und England hätten etwas Anderes für sie, als Versprechungen! Genug, man ging mit ihm in den Bergwerken nicht schlimmer um, als mit Andern, ja ich habe mir sagen lassen, daß man ihn selbst mit Rücksicht für seinen Rang und seine Persönlichkeit behandelte. Aber für Wysocki war die Lage dennoch unerträglich, und da keine andere Aussicht war, sie zu ändern, so dachte er an Flucht. Die Schwierigkeiten einer solchen sind aber, namentlich für politische Gefangene, fast unüberwindlich, und nicht Jeder hat das Glück und die Ausdauer Piotrowski’s. 1 Indessen fand er Gesinnungsgenossen, die das Wagniß theilen wollten, und da Niemand die Wege durch die Gebirge kannte, so vertrauten sie sich einem Bauer an, der sie für eine

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gute Belohnung zu führen versprach, sie auch abholte und an einen bestimmten Ort brachte, dann aber umkehrte, sie verrieth und Soldaten herbeiführte. Nach einem wüthenden Kamp- fe, in dem Wysocki verwundet wurde, wurden sie Alle gefangen zurückgebracht. Wysocki, als der Anführer erhielt 1500 Stockhiebe. Ein Augenzeuge der scheußlichen Exekution erzählte mir, daß man ihn leblos in’s Lazareth getragen. Nun, hat doch der Priester Sierocinski bei der Exekution in Omst bei viertausend noch geathmet, und erst die letzten dreitausend zähl- te man seinem Leichnam oder vielmehr den fleischentblösten Knochen auf! Wysocki wurde wirklich geheilt und nach seiner Genesung brachte man ihn nach der Festung Akatuja, wo nur unverbesserliche Verbrecher hingeschickt werden und wo man aufs Grausamste mit ih- nen verfährt. Hier mußte er die schwersten Handarbeiten leisten. Oft erkrankte er - wie ich hörte und mich jetzt überzeugt habe, - an der Epilepsie, die ihn in Folge jener Mißhandlung befallen; er sprach nie ein Wort, war düster und finster, vermied selbst die Gesellschaft der


Anspielung auf die berühmt gewordene Flucht, die der polnische Emigrant Rufin Piotrowski aus der Jeka- terynski’schen Kolonie im Gubernium Tobolsk im Juli 1845 unternahm, und die derselbe über Archangel und Petersburg, fast ganz zu Fuß bis Königsberg in Preußen, wo er nach Jahresfrist eintraf, mit einer übermenschli- chen Ausdauer ausführte.


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andern Gefangenen und Mißtrauen gegen die ganze Welt beherrschte seine Seele. Sein stol- zes feuriges Herz war gebrochen, nicht durch die Verurtheilung nach Sibirien, sondern durch die entwürdigenden Stockschläge.« 

«Und wann wurde das entsetzliche Verbrechen an einem tapfern Mann verübt?«  «Verbrechen?« sagte höhnisch lachend der Verbannte. «Sibirien würde niemals bevölkert werden, wenn nicht die strengsten Strafen auf jedem Fluchtversuch ständen.

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Aber, um Ihre Frage zu beantworten, Mylord, es muß im Jahr 1837 oder 38 gewesen sein.« 

»Barmherziger Gott, - so hat er seine Leiden 23 lange Jahre mit sich herum getragen? Aber wie kam er hierher?« 

»Ich hörte vor dreizehn oder vierzehn Jahren, daß er nach Irkutzk versetzt sei. Er muß seitdem in die Posiel[i]enie begnadigt worden sein und hier treffen wir mit ihm zusammen. Schade, daß ich nicht eher die Ueberzeugung gewann, aber wie gesagt, er sprach nur selten ein Wort und hielt sich von Allen entfernt.« 

Sie hatten das an der andern Seite der Jurte in englischer Sprache verhandelt; ihre Auf- merksamkeit wandte sich jetzt wieder dem Leidenden zu.

Der Anfall schien vorüber; als der Holowa das Tuch erhob, sah man die Augen des Dulders geschlossen, - die bläuliche Farbe des Gesichts wich einer dunklen Röthe und dicke Schweiß- tropfen perlten von seiner Stirn. Dem Krampf war nicht die gänzliche Erschlaffung der Kräfte, sondern, gefährlicher als das, ein Fieberparoxismus gefolgt.

Der Mund hatte sich geöffnet, der Kranke streckte, wie befehlend, die rechte Hand vor. »Dort - dort - aus dem Pulverdampf! da kommen sie! Vorwärts, brave Kossyniere, mäht sie nieder, wie die Halme der Ernte, die sie zertreten. Feuer, Bursche - Feuer auf sie! Da - der Grünrock dort auf dem Pferd - Dummkopf, daß Du fehlst! - Mir her die Büchse! - Ich kenne ihn wohl, den Teufel - Oberst Apraxin, der

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Helena verführte! - Fahre zur Hölle, Schurke! -Zgie Polska!« 

Der gellende Ausruf des Phantasirenden machte die Hörer erbeben. Die Gluth des Fiebers hatte den Aermsten zurück auf die heldenmüthig vertheidigten Schanzen von Wola geführt. Aber ebenso rasch wechselte in seinen wüsten Träumen das Bild.

»Bez poszczadi! 1 - ja ich kenne das Wort,« brüllte er. »Schlagt zu - trinkt mein Blut, - armweit aus einander, der rechte Fuß vor! armselige dumme Schergen der Tyrannen, die ihr nicht einmal zu schlagen versteht! Pokrepsze! pokrepsze! 2 Schurken!« 

Er schwieg erschöpft - ein Schauer überrieselte die verkümmerte Gestalt, dann wich die Röthe und eine tiefe wachsartige Blässe überzog das eingefallene Gesicht.

»Heilige Jungfrau,« flüsterte der Holowa - »so hab ich ihn noch nie gesehen; nach den Anfällen trat sonst jedesmal eine tiefe Ruhe ein - er lag wie todt!« 

»Mir scheint, er wird bald auch jetzt so liegen,« flüsterte der Verbannte, - »aber in Wirk- lichkeit. - Sehen Sie, - er kommt zu sich!« 

Der Kranke öffnete die Augen und sah um sich. Aus seinem Blick war die gräßliche Starrheit des Krampfes verschwunden, aber auch Nichts von Fiebergluth belebte ihn - er war nur unendlich matt und anfangs erstaunt.

1 Ohn’ Erbarmen - furchtbarer zuweiliger Beisatz der Urtheile.

2 Stärker! stärker!


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»Wo bin ich - was ist geschehen - ich - ich war krank, sehr krank!« 

»Du hast Deinen Anfall gehabt, brat,« sagte mitleidig der Holowa - »ungewöhnlich stark diesmal, aber es ist, Gott und den Heiligen sei Dank, glücklich vorbei und Du wirst Dich bald erholen. Wera Tungilbi soll Dir ein Süppchen kochen - ich befreie Dich für die nächste Woche von jeder Arbeit!« 

Der Pole lächelte schmerzlich. »Gott wird es thun - ich fühle es in meiner Brust - aber Dank Dir, Holowa, Du bist ein braver Mann, auch wenn Du ein Russe geworden bist!« Er reichte ihm mühsam die abgezehrte Hand.

»Schlaf, brat!« bat freundlich der alte Franzose - »wir wollen gehen, damit Du die nöthige Ruhe findest. Iwan soll bei Dir wachen. Das ist ein englischer Doktor hier - ein vornehmer Herr - er wird Dich morgen wieder besuchen.« 

Der Unglückliche schüttelte leise den Kopf. »Sein Gang wäre vergeblich,« flüsterte er - »ich fühle, daß es vorbei ist mit mir, ich sterbe!« 

»Das wolle Gott nicht! - Aber es ist doch ein Trost für mich, daß der heilige Mann gestern bei uns war. Hast Du die Absolution empfangen und den heiligen Leib?« 

»Den Leib des Herrn?« - nein, nur Denen, die vergeben, wollte er ihn reichen,« rief heftig der Kranke, indem er sich auf seinem Arm aufzurichten versuchte, - »und

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ich sollte vergeben meinen Henkern, ich, dem Russenczar mein zertretenes Vaterland? - nie- mals!« 

»Um der Heiligen willen, Mann, sprich nicht so!« bat der Holowa. »Es sind fremde Ohren hier und Du weißt, daß schlimme Strafe steht auf solcher Schmähung.« 

Der Pole lachte bitter. »Ihre Strafe? was kümmert sie mich noch? - aber sagtest Du nicht, daß ein Engländer hier sei - ich hörte von den Fremden -« 

»Dieser Herr, den Wera mit Gottes Hilfe aus dem Buran gerettet, ist ein vornehmer Herr, ein Lord!« 

»Dann schnell, schnell! - hier - Iwan, Mensch, scharre die Erde weg unter meinem Kopf. Sie ist gefroren, nimm Dein Beil!« 

»Was soll das?« 

Der Kranke achtete der Frage des Vorstehers nicht, während der Wornik in der That seiner Anweisung folgte; er wandte sich zu den beiden andern Männern.

»Wer will einem Sterbenden den letzten Dienst leisten?« frug er französisch.

»Ich!« sagten Beide.

»Nein - Du nicht, Nummer Zwölfhundertvier! - Du bist ein Russe, Du verräthst Dein eigen Vaterland und hast kein Gewissen. Ihr Name, Herr?« 

»Frederik Walpole, Viscount von Heresford!« 

»Sie kehren nach Europa zurück?« 

»Ich bin auf dem Wege dahin!« 

Der Kranke stieß mit ungewöhnlicher Kraft den Wornik zurück, der die Erde aufgebrochen und in dieser zu wühlen begann.

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»Nein - nicht Du!« - Er griff mit seiner hagern zitternden Hand hinein und zog nach einigen Momenten ein kleines briefförmiges Packet, in Rennthierhaut gehüllt, hervor. Wollen Sie das


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Testament Peter Wysocki’s, des Obersten des 9. Regiments, an die polnische Emigration in Paris bringen?« 

»Halten Sie ein, Mylord - ich darf es nicht leiden!« rief der Holowa - »und Du, Unglückli- cher, schweig! Wie kannst Du wagen, Deinen Namen vor Allen zu nennen?« 

»Die Stunde ist da, wo ich ihn vor dem Throne Gottes Deinem Czaren entgegen donnern kann! - Zurück Holowa! - Wie ich vor zehn Jahren von einem unglücklichen Landsmann hörte - lebt ein Sohn meiner jüngsten Schwester, Graf Oginski! - also ihm oder dem Fürsten Czartoryski! - Wollen Sie schwören, Herr?« 

Der Lord zögerte einen Augenblick. »Wenn es die Behörden dieses Landes mir nicht mit Gewalt entreißen - mein Wort darauf!« 

»Klauseln! Klauseln! und ich habe es mit meinem Blute geschrieben - ein Geheimniß - das Vermächtniß an mein Land -« stöhnte der Kranke, das Päckchen krampfhaft an seine Brust pressend, als wolle er es dort schützen.

»Gieb es mir, Oberst Wysocki!« sagte eine feste frische Stimme. »Ich schwöre Dir, meine Hand wird es an seine Adresse geben oder vernichten!« 

»Du?« 

Der Sterbende sah mit funkelndem Auge auf die [441]

Sprecherin, zu der erstaunt sich die Zeugen des Auftritts gewendet.

Es war die junge Sibirianka, die zwischen ihnen stand.

»Du - Wera - wie kannst Du? « 

»Ich schwöre es Dir, Oberst Wysocki - ich werde in Paris sein, ehe ein Jahr vergeht, und das Testament in ihre Hände geben!« 

Der alte Holowa brach stöhnend zusammen auf einen Schemmel und streckte die Hände aus, »Kind, unglückliches Kind - Du willst mich verlassen?« 

»Ich werde! - willst Du?« 

Der Pole reichte ihr mit schwerem Arm das Packet. »Ich kenne Dich - Du wirst Deinen Eid halten! Gott segne Dich!« 

»Ich glaube nicht an ihn! - Frage Dein Vaterland - Dein eigen Loos!« 

Der Sterbende richtete sich krampfhaft empor und streckte den Arm nach oben. »Und dennoch lebt er - dort! dort! Seine Hand wird kommen, wenn auch noch so spät! - Zgie Polska! zgie Polska!« 1

Der letzte Ruf erstarb zwischen seinen zuckenden Lippen - er fiel schwer zurück auf das Bett von gefrorner Erde - er war todt!

Up ewig ungedeelt!

An einem schönen Hause der Amalienstraße, die zu dem wenig belebteren, aber aristokra- tischen Theil Kopenhagens gehört, nahe dem prächtigen Köngens Nytorv, - Königs Neumarkt - befanden sich in einem ziemlich geräumigen, auf das Comfortableste ausgestatteten Ar- beitskabinet zwei Männer in angelegentlicher Unterhaltung. Beide trugen reiche Uniformen, überhaupt grande parure, als seien sie im Begriff, sich zu irgend einer offiziellen oder Hoffest- lichkeit zu begeben.

1 Es lebe Polen!


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Der Aeltere von ihnen saß auf einem mit dunklem englischem Velour überzogenem Sopha, hatte eine Nummer der berliner Nationalzeitung in der Hand, und blickte zuweilen während des Gesprächs in diese, gleich als wolle er seinen Stoff daraus erneuern. Er war ein Mann von mittelgroßer corpulenter Gestalt, der die goldgestickte Uniform ziemlich unbequem stand, feinen weißen, mit Brillantringen geschmückten Händen, auf die er sich etwas zu Gute zu thun schien, denn er hob sie oft nach den Augen, und

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einem trotz seiner anderen Korpulenz fein geschnittenen aristokratischen Gesicht, das an den Seiten einen spärlichen, bereits stark in’s Weiße spielenden Backenbart zeigte. Auch das Haar war grau und dünn und über der etwas schmalen, aber hohen Stirn zusammen gekämmt. Im Ganzen machte die Persönlichkeit einen unharmonischen Eindruck, da Kopf und Corpus gar nicht zusammen paßten.

Das Gegentheil war bei seinem Gesellschafter der Fall, der ein Mann von etwa neunund- zwanzig bis dreißig Jahren war, hoch aufgeschossen, schlank und doch von kräftigem Glie- derbau. Sein Gesicht war einfach mit breiter nachdenklicher Stirn und weit geöffneten Na- senflügeln, zuweilen - und in diesem Falle gewiß - das Kennzeichen des Ehrgeizes. Er hatte graue Augen, die gescheut und nachdenkend ausschauten, schmale Wangen und ein der Stirn entsprechendes kräftiges Kinn. Die Büreauluft und das Studirzimmer mochten die ursprüng- lich wohl frische Gesichtsfarbe abgemattet und auf die Stirn und um die Augen bereits die Spuren von Falten gezeichnet haben. Er trug gleichfalls eine Beamtenuniform, nur mit gerin- gerer Stickerei, als der andere Herr.

»Der einfältige Pöbel der Volkspartei,« sagte dieser, »wird Herrn Blixen-Finecke binnen Kurzem zujubeln, den er so oft angegriffen, verlassen Sie sich darauf. Die Narren bilden sich wirklich ein, daß mit der Wechselung der Person in dem Minister der Herzogthümer auch ein Wechsel des Systems beabsichtigt werde. Als ob Wolfshagen 1

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nicht bereits seine Proben in Schleswig abgelegt hätte! Der einzige Unterschied ist, daß der Kammerherr noch besser die Wege kennt, die wir consequent zu verfolgen haben.« 

»Ich fürchte in der That, daß man zu rasch verfährt; Jörgensen 2 macht sich geradezu in Schleswig verhaßt!« 

»Was thut das? - auf die jetzige Generation ist ohnehin nicht zu rechnen, die ist in ihrem Deutschthum erstockt und erzogen. Für sie kann die Regierung nur Strenge und unnachsicht- liche Strafen haben. Man wird doch noch Mittel finden, den Trotz dieser Ritter und Bauern zu beugen. Unsere Hauptaufgabe bleibt es, auf die Erziehung der jungen Generation zu wirken und dieser von vorn herein das Bewußtsein einzuimpfen, daß sie Dänen, - nicht Deutsche - sind. In dieser Beziehung ist Etatsrath Regenburg 3 ganz der Mann dazu, seine Maßregeln sind vortrefflich und das System der gemischten Distrikte trägt bereits seine guten Folgen.« 

»Sie wissen, zu welchen Klagen gerade dieses dem deutschen Bund Veranlassung giebt!« 

Der Conferenzrath lachte. »Der deutsche Bund! wenn wir vor Allem so sicher wären, wie vor dessen Entschließungen.« 


^er eben neu ernannte Minister für Schleswig-Holstein. 2 Damals Polizeimeister.

3 Departementschef für das Kirchen- und Schulwesen.


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»Nehmen Sie die Sache nicht so leicht. Ich kenne den deutschen Charakter, ich« - der Sprecher zögerte einige Augenblicke und sein Gesicht färbte sich mit einer leichten Röthe, sein Auge suchte den Boden, - »ich bin

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ja selbst ein halber Deutscher und weiß, daß man dort lange zu einem Entschluß braucht, aber wenn man endlich dazu kommt, ihn auch ausführt.« 

»Sie sind vorerst kein Deutscher, sondern ein Nordfriese,« sagte der Konferenzrath mit einiger Strenge zu dem jungen Beamten, »und wissenschaftliche Autoritäten, wie Professor Allen 1 haben zur Genüge bewiesen, daß die Friesen nicht ein deutscher, sondern ein dänischer Stamm sind. Solcher Gedanken müssen Sie sich total entschlagen, wenn Sie Karriere machen wollen und auf die Hand meiner Tochter zählen. Erinnern Sie sich, daß die Mission, mit der Sie auf meine Empfehlung betraut sind, ein ganz dänisches Herz erfordert, und lassen Sie uns auf diese noch einmal gründlich zurückkommen, damit Sie diesen Abend, wenn im Kabinet der Gräfin davon die Rede ist, in jeder Beziehung taktfest erscheinen.« 

»Sie wissen,« sagte der Geheim-Secretair fest, »daß ich aus Ueberzeugung Däne bin. Jene Beziehung auf einen historischen Streit sollte meine Treue nicht im Geringsten verdächtigen.« 

»Ich weiß das - und deshalb stehen Sie an dieser Stelle. Also zur Sache. Das Londoner Pro- tokoll, mit dem die schändliche Rebellion von Achtundvierzig bis einundfünfzig endlich statt mit der Waffengewalt unterdrückt wurde, hat leider den deutschen Kabineten einige Hand- haben gegeben, sich in unsere Angelegenheiten zu mischen und die unglückliche Erklärung des Ministers vom 29. Januar 1852 an

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Oesterreich und Preußen verstärkte diese Handhaben in einer Weise, die uns allerdings zu einigen Rücksichten zwingt. Von den andern Unterzeichnern des Londoner Protokolls haben England, Rußland und Frankreich nicht das geringste Interesse, unseren Absichten der end- lichen Danisirung der Herzogthümer in den Weg zu treten, sie stehen vielmehr im Stillen auf unserer Seite. Der Kaiser Louis Napoleon glaubt selbst nicht im Geringsten an den von ihm angeregten Nationalitäten-Schwindel. Gerade die Nationalitäten sind für jede kräftige Regie- rung ein Unglück. Frankreich wird sich nicht einen Augenblick bedenken, Nizza und Savoyen zu französiren, wie es den Elsaß und Lothringen französirt hat. England thut dasselbe mit Irland und Indien, Rußland mit Polen, und die Zeit wird kommen, wo auch seine deutschen Ostseeprovinzen dem Princip zum Opfer fallen müssen. Oesterreich’s größte Schwäche ist seine Rücksicht auf seine zahlreichen Nationalitäten, und Preußen hat im Grunde auch gar keine Ursach, uns anzuklagen, denn es germanisirt in Posen eben so gut, wie wir Schleswig und Holstein danisiren!« -

»Nur etwas vorsichtiger!« warf lächelnd der Legationssecretair ein.

»Mag sein! Es wird auch nicht so gedrängt wie wir. Ich führte überhaupt dies Alles blos an, um Sie darauf aufmerksam zu machen, daß wir eben nichts mehr thun, wie andere Regierun- gen. Die jetzige Generation in Holstein und Schleswig, oder, um mich richtiger auszudrücken, in Südjütland, mag Ursach haben, sich über uns zu beschweren; eine fremde Regierung hat es aber nicht. Der

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1 In seiner »Geschichte der dänischen Sprache.« 


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deutsche Bund sollte sich lieber um ganz andere Dinge kümmern, die ihm bevorstehen, -«  der Conferenzrath hob bedeutsam die deutsche Zeitung, - »als um unsere Angelegenheiten. Ein Krieg mit Dänemark würde sehr leicht dazu führen, die gänzliche Unfähigkeit und Halt- losigkeit dieses Bundes klar an den Tag zu legen und den beiden deutschen Großmächten wahrscheinlich Veranlassung geben, die bisherigen Verhältnisse zu lösen, oder gar mit den Kleinstaaten aufzuräumen.

Hier ist der Bericht der Berliner Nationalzeitung über die Beschlüsse und Verhandlungen des sogenannten deutschen Nationalvereins in Coburg am 3. und 4. September. Ganz offen wird darin die Bildung einer einheitlichen Centralgewalt mit militärischer Obergewalt und ausschließlicher Vertretung gegenüber dem Ausland gefordert, und dabei nicht blos durch die preußischen Mitglieder Amelung aus Stettin, von Unruh u. A., sondern selbst durch süd- deutsche Demokraten, wie Metz und Consorten, ganz offen diese alleinige Führung unter Ausschluß Oesterreichs für Preußen verlangt. Gott sei Dank sind die gegenwärtigen preu- ßischen Staatsmänner nicht kräftig und schwungvoll genug, sich diese Bewegung zu Nutze zu machen, und die conservative und offizielle Presse feindet sie aus aller Macht an. Aber ich sage Ihnen, mein junger Freund, sollte der preußische Ehrgeiz einmal das Glück haben, daß ein Mann von Muth und Energie an die Spitze der Regierung gestellt wird, der dieses Programm auf die Fahne des Ministeriums schreibt und die jetzige oppositionelle Bewegung damit zu einer loyalen und conservativen stempelt, indem er der

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jetzigen Demokratie den Knochen eines deutschen Volksparlaments hinwirft, - dann ist es aus mit dem Bundestag und der Souveränität der Klein- und Mittelstaaten, und wir werden für uns und überhaupt für die Staaten Europa’s sehr bedrohende Wunderdinge erleben. Dar- auf machen Sie aufmerksam. - Das ist der Gesichtspunkt, den Sie beauftragt sind, bei Ihrer Mission an den betreffenden Stellen geltend zu machen.« 

Der Legationssecretair verbeugte sich zustimmend.

»Ihre Aufgabe ist also, an den Höfen von Mecklenburg, Dresden und besonders in Hanno- ver und Cassel zu sondiren und die Gefahr vorzustellen, welche daraus entstehen muß, wenn Preußen irgend eine Einmischung gestattet oder gar die verlangte Exekution übertragen wür- de. Man buhlt in Berlin jetzt um Popularität und ein Krieg mit Dänemark würde vielleicht ganz willkommen sein, um diese angebliche Reorganisation der Armee zu bewähren.

Herr von Quade hat uns überdies einen Wink gegeben, man bereite in Berlin auf unsere Erklärungen am Bunde eine Denkschrift über die angeblichen Unterdrückungen in Schleswig vor, und ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich meine, daß der hiesige preußische General- Consul Quehl, einst die rechte Hand Manteuffel’s, mit der Sammlung von Beweisen dazu beauftragt ist. Er treibt sich in diesem Augenblick in Schleswig unter allerlei Vorwänden umher, ohne daß wir ihn daran hindern können. Es liegt nun der Regierung Seiner Majestät daran, sichere Nachrichten über die beabsichtigte Denkschrift bei Zeiten zu haben, um sie pariren zu können, und wenn der Marquis Moustier

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mit so leichter Mühe die Pläne von Sebastopol aus dem Kabinet Friedrich Wilhelm’s IV sich verschaffen konnte, sollte es doch nicht so schwer und kostspielig sein, einige Blicke in die Mappen des Herrn von Schleinitz zu thun. Schönen Augen ist Alles möglich. Also zeigen Sie sich als gewandter Diplomat und lassen Sie alle Minen springen. Sie wissen, daß von Ihren


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Erfolgen in Berlin und Hannover Ihre Ernennung zum Legationsrath und die Hand Edda’s abhängt.« 

«Wenn Du von mir sprichst eher Papa,« sagte eine helle klare Stimme und in der eben von ihr geöffneten Thür erschien eine hohe schlanke Frauengestalt in eleganter Gesellschaftstoi- lette, - »ich bin da! - ich glaube, es ist Zeit und der Wagen wartet.« 

Der Legationssecretair hatte sich bei dem Klang der Stimme rasch umgewendet, erfreut, die diplomatische Instruction damit beendet zu sehen, und war der Dame entgegen gegangen, deren Hand er nahm und zu den Lippen führte, während seine Augen bewundernd an der schönen Gestalt hingen.

»Sie sind reizend heute, Edda und haben eine allerliebste Toilette gewählt - blos um mir den Abschied doppelt schwer zu machen,« sagte er zärtlich.

»So bewahren Sie dies Bild hübsch im Gedächtniß,« meinte die Dame leicht, »um sich zu panzern gegen die schönen Augen in Berlin. Aber ist es den Herren nun gefällig aufzubre- chen? Ich habe nicht Lust, die Erste, aber auch nicht, die Letzte zu sein!« 

Die schöne stolze Dame war die Tochter des

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Conferenzraths Halsteen, dem sie in körperlicher Beziehung wenig ähnelte. Die hohe schlan- ke Gestalt hatte sie von der Mutter, einer Schwedin, einer gebornen Gräfin Tordenskiold. Auf dem etwas langen schlanken und überaus zartem [n] Halse, von dessen Haut man hätte sagen können, was die Dichter und Geschichtschreiber jener Zeit von der schönen Philippine Wel- ser melden: daß man das Blut pulsiren sah - saß ein idealer Kopf von einer ruhigen ernsten Schönheit. Es lag Stolz und zurückhaltende Würde in dem Ausdruck dieser Züge und der fe- sten dunkelblauen Augen. Der kleine Mund mit schmalen Lippen, war geschlossen und hatte etwas Strenges. Nur die Flügel der geraden, in griechischer Linie von der reinen Stirn herun- terlaufenden Nase waren rosig weit geöffnet und verriethen zuweilen in ihrer Bewegung ein inneres feurigeres Leben, als die ruhige Außenhülle schließen ließ.

Das lichtbraune Haar von großer Feinheit war an Schläfen und Stirn von einem schma- len goldenen Reif zu einer halb chinesisch, halb griechischen Frisur aufgenommen, die dem ernsten Ausdruck des Gesichts mit dem zarten, aber keineswegs unfrischen Teint sehr wohl stand. Harmonisch damit umschloß ein lichtblaues Seidenkleid mit weißen Kanten an Aer- meln und Mieder besetzt die schlanke Gestalt, deren einzigen Schmuck ein einfaches golde- nes Armband in englischem Geschmack und eine lange feine venetianische Kette bildeten.

»So kommt denn, Kinder,« sagte der Conferenzrath. »Edda hat Recht, es wird in der That Zeit, und ich muß gestehn, - ich verspüre einigen Appetit auf die frischen

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husumer Austern, die stets das Entree bei der Gräfin bilden, und den deliciösen Chablis, der dazu gegeben wird. Es ist ein Vorurtheil, daß man blos in Paris gut zu speisen versteht, - ich behaupte, gerade bei uns im Norden dinirt man feiner und besser!« Er war während der Worte in den großen, an sein Arbeitszimmer stoßenden Salon getreten, an dessen gegenüber- liegender Thür ein Diener bereits die Hüllen und Mäntel der Herrschaft hielt.

Der Legationssecretair hatte eben der Dame die elegante Hermelin-Mantille umgelegt und ihr den Arm gereicht, um sie zum Wagen zu führen, während der Conferenzrath bereits in seinen Mantel gewickelt stand, als ein anderer Diener den Kopf durch die Thür steckte und einige Worte mit seinem Kameraden sprach.


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»Was giebt es, Jean?« frug der Hausherr, indem die Gesellschaft bereits auf die Thür zuging.

»Es ist ein Mann da, gnädiger Herr, er wünscht den Herrn Legationssecretair zu sprechen.« 

»Warum hast Du ihn nicht abgewiesen?« 

»Er wollte durchaus herauf - ich sagte ihm, daß der Herr Legationssecretair nicht zu spre- chen wäre, aber er ließ sich nicht abweisen.« 

»Er mag morgen früh wieder kommen,« sprach der Conferenzrath ärgerlich und wollte aus der vom Diener halb geöffneten Thür treten. »Herr Hansen hat jetzt unmöglich Zeit!« 

»Auch nicht für einen Bruder?« frug eine klare sonore Stimme draußen.

Der Legationssecretair blieb stehen und ließ unwillkürlich

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den Arm der Dame fahren. »Bruder? - bei Gott, das ist die Stimme von Klaus! - Bist Du es wirklich?« 

Das alte bessere Naturgefühl siegte über alle Rücksichten und Formen; er schob den Con- ferenzrath und den Diener zur Seite, und lag im nächsten Augenblick in den Armen eines hochgewachsenen kräftigen Mannes, der in einfacher, aber sauberer Seemannskleidung in dem Entree stand.

Der Conferenzrath war mit ziemlich ärgerlicher Miene zurückgetreten, zuckte die Achseln und warf einen Blick auf seine Tochter, die er durch das Benehmen ihres Verlobten beleidigt glaubte, ehe er den neuen Ankömmling selbst durch das Glas in Augenschein nahm.

Dieser stand volle sechs Fuß in seinen Schuhen, - denn solche, und zwar derbe gute See- mannsschuhe trug er allerdings, - als er sich jetzt aus dem Arm des Bruders aufrichtete, wobei er jedoch, - ohne sich viel um die vornehme Umgebung zu kümmern - dessen beiden Hände in den seinen behielt und ihn jetzt mit herzlichen, aber nach und nach einen gewissen gutmüthigen Spott annehmenden Blicken betrachtete.

Der Fremde war ein stattlicher Mann von etwa 27 bis 28 Jahren, also etwa zwei Jahr jünger als sein Bruder. Er hatte dessen hohe Gestalt, vielleicht zwei oder drei Zoll höher, war aber weit breiter und stark gebaut, ganz in Proportion zu seiner Größe. Die von keinem Handschuh bekleideten, nicht unförmlichen, aber kräftigen Hände bewiesen, daß er keine Arbeit gescheut, sondern selbst wacker

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zugegriffen hatte, wo es galt. Sein Gesicht war männlich und offen, von einem röthlich blon- den Bart umrahmt, und hatte etwas überaus Frisches und Festes, und der freie heitere Blick der großen hellen Augen, die über der kurzen, hübsch gebogenen Nase und den vollen, zwei Reihen prächtiger Zähne zeigenden Lippen jetzt mit dem Auge der Liebe auf dem lang ent- behrten Bruder lagen, erweckte unwillkürlich ein günstiges Vorurtheil für ihn.

Klaus Hansen trug, wie bereits erwähnt, die behäbige Tracht eines Seemanns; weite Bein- kleider und Rock von dunkelblauem, zwar nicht feinem, aber gutem Tuch, eine rothseidene chinesische Schärpe unter dem Rock um die Hüften geschlungen und ein schwarzes Tuch im laufenden Schifferknoten um den buntgestreiften Hemdkragen und den kräftigen Hals. Der lackirte Seemannshut mit den langen schwarzen Bändern war bei der stürmischen Umar- mung zu Boden gefallen und hatte die von kurz gelocktem blondem Haar umgebene, nicht hohe aber breite Stirn, offen gelegt. Eine fast scharfe Linie begränzte auf dieser Stirn den von der Sonne der Tropen und den Einflüssen rauhen Wetters bräunlich gefärbten Teint des un- tern Gesichts, während über der Linie, die der Rand des Hutes gebildet, die Farbe der obern


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Stirn fast mädchenhaft weiß erschien. Eine breite, helle Narbe lief deutlich erkennbar durch diese Linie nach der linken Schläfe und verlor sich im lockigen Haar.

»Blixen, Jan,« sagte der Seemann in friesischem Dialekt, indem er den Bruder auf Armes- länge von sich hielt, »wat bist D’ for’n moier Bursch worden in den seewen

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Johren, dat ick Di nich sehn! Nur wat smalbäckig un spindelbeinig vor luter Gelehrsamkeit un Aktenstow, un ick wett, Du kannst kum noch eene Jolle rudern dörch de Brannung! Aber grüß Di Gott Brodder - ok wenn Du in eener Jacke steckst, de so vull Gold is, wie de Rock det Sultans von Mysore un jedenfalls viel tau eng för de Glieder eenes ehrlichen Burschen von Westerland! - Aber Verzeihung,« fuhr er in gutem Hochdeutsch und nicht ohne eine gewisse freie Tournüre fort, indem er das verlegen werdende Gesicht des Bruders bemerkte und erst jetzt auf die beiden diesen begleitenden Personen achtete, - »Verzeihung meine Dame, daß ich hier hinein falle, wie ein tölpelhafter Topgast vor dem Mars. Es ist mein einziger Bruder, den ich sieben Jahr nicht gesehn, und da läuft das Herz über wie eine Sturmfluth über die Dämme unserer Halligen!« 

»Ah,« sagte der Conferenzrath, der schon zwei Mal während der kurzen Scene eine Prise aus seiner goldenen Tabatiere genommen, - »also der jüngere Bruder unsers jungen Freun- des, des Herrn Legationssecretairs, - von dem wir gehört, daß er sich der vaterländischen Handelsmarine gewidmet hat? Wie sehr bedauern wir, daß gerade in diesem Augenblick un- sere Zeit nicht gestattet . . . « 

Die junge Dame ließ ihn nicht aussprechen. Mit einer stolzen Bewegung der Hand unter- brach sie ihn und trat einen Schritt zurück in den Salon.

»Aber Herr Hansen,« sagte sie, - »Sie werden Ihren Herrn Bruder doch hier nicht zwischen der Thür stehen lassen. Bitte, treten Sie näher, mein Herr, und lassen

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Sie sich es einige Augenblicke bei uns gefallen, bis dieser angehende Diplomat sich so weit von seiner Ueberraschung erholt hat, um Sie nach seiner Wohnung zu führen.« 

Der Legationssecretair erröthete bei dem Vorwurf. »Es ist wahr - ich vergaß ganz! Du wohnst doch bei mir? - Aber um Himmelswillen, wo kommst Du her - so ohne alle Anzeige und gerade jetzt?« 

»Ich wußte nicht, daß Dir die Zeit weniger passen würde, als eine andere,« meinte ziemlich trocken der Seemann. »Ich komme zuletzt von Ostindien oder vielmehr jetzt von Schleswig mit dem Barkschiff unsers Oheims Barthelsen, da sein Steuermann krank liegt, ich gerade nichts Besseres zu thun und den Wunsch hatte, Dich einmal nach so langer Zeit wieder zu sehen. Aber genire Dich nicht, ich finde wohl ein Unterkommen am Hafen und werde wieder kommen, wenn Du von Deinen Besuchen zurückkehrst.« 

»Herr Hansen,« mischte sich der Conferenzrath ein, »ist leider mit uns heute bei Ihrer Excellenz der Frau Gräfin von Danner eingeladen, und da nach dem Diner noch kleiner Cercle ist, dürfte es sehr spät werden.« 

»Ich werde hier bleiben, Sie werden mich entschuldigen!« 

»Wo denken Sie hin, lieber Sohn - das ist unmöglich. Erinnern Sie sich, daß Ihr Ausbleiben an dem letzten Abend, wo noch so viel zu besprechen ist, Ihnen die größte Ungnade zuziehen könnte! - Aber Sie haben uns noch nicht einmal mit Ihrem Herrn Bruder bekannt gemacht.« 

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Der arme Legationssecretair kam aus den Verlegenheiten nicht heraus, die ihm die Ueber- raschung gebracht.

«Verzeihen Sie,« sagte er endlich sich fassend. »Lieber Bruder, ich habe die Ehre, Dir meinen sehr wohlwollenden Gönner und väterlichen Freund, Herrn Conferenzrath Halsteen vorzu- stellen, der mich der freundlichsten Aufnahme in seine Familie gewürdigt hat, welcher wir hoffentlich mit Einwilligung dieser schönen Dame« - er nahm galant Edda’s Finger und drück- te einen Kuß auf den feinen Glacee - »schon nächstens durch diese schöne, mir versprochene Hand noch näher angehören werden.« 

»Wie, Du bist verlobt?« frug erstaunt der Seemann, - »davon hat weder Mutter noch Onkel mir gesagt!« 

»Es war mein Wunsch,« bemerkte der Conferenzrath, »daß nicht eher von der Verlobung gesprochen werden möchte, als bis dieselbe mit Allerhöchster Genehmigung Seiner Majestät und der Frau Gräfin von Danner bei Hofe proklamirt worden ist.« 

Der junge Mann warf einen verwunderten Blick auf seinen Bruder und schüttelte den Kopf.

»Mit deren Erlaubniß? Was zum Henker hat denn diese Frau mit Deiner Heirath zu thun? - Aber wenn ich wirklich das Glück haben soll, schöne Dame,« sagte er, sich zu dem Fräulein wendend, und ein voller Blick seiner ehrlichen offenen Augen fiel auf ihr schönes Gesicht und tauchte sich in die ihren - »Sie künftig als meine liebe Verwandte zu begrüßen, so verzeihen Sie um des Bruders willen dem ungeberdigen Seemann sein rauhes Wesen und

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lassen Sie ihn die Bitte aussprechen, ihn als einen treu ergebenen Bruder betrachten zu wol- len.« 

Er hatte ihre Hand genommen und drückte sie herzlich. Ihr großes Auge ruhte trotz seines freien, so wenig den Formen, an die sie gewöhnt war, entsprechenden Benehmens nicht un- freundlich, ja mit Interesse auf seinem ehrlichen Gesicht und eine leichte Röthe überzog das ihre, als sie den harten Druck seiner Hand sanft erwiederte.

»Wenn ich auch noch nicht die Ehre habe, mich die Braut Ihres Herrn Bruders zu nennen,«  sagte sie freundlich, »so darf ich doch wohl schon so weit von den Rechten, die mir dieser Name geben wird, Gebrauch machen, daß ich Sie herzlich willkommen heiße und sofort dafür sorgen werde, daß in der Wohnung Ihres Bruders, die über der unseren belegen ist, Alles für Ihre Aufnahme in Ordnung gebracht wird. Entschuldigen Sie mich also einen Augenblick, ich bin gleich wieder zurück!« 

»Aber Edda,« wiederholte der Conferenzrath - »der Wagen -« 

»Er mag warten!« Sie ging rasch nach der Thür und öffnete sie, prallte aber mit einem leich- ten Schrei zurück, als sie ein durch den weißen, den kahlgeschorenen Schädel bedeckenden Turban noch mehr gedunkeltes Gesicht von in’s Grünliche spielender Broncefarbe vor sich sah, das sie mit funkelnden Augen und breitem, spitze Zahnreihen zeigenden Mund, angrin- ste.

Die fremdartige Erscheinung trug zwar bis auf den Turban das gewöhnliche Matrosenko- stüm: rothwollenes Hemd unter der blauen Jacke, aber in dem breiten gelben

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Seidenshawl, der um die Hüften gewickelt war, steckte ein langes malayisches Messer von höchst gefährlichem Aussehen.


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Die junge Dame hatte im ersten Augenblick übersehen, daß der grimmige Fremdling eine sehr zahme wohlgefüllte Reisetasche in der Hand trug.

»Um Himmelswillen, wer ist dies?« 

«Sahib Hansa mein Master, schöne Missus!« grinste der Grüne.

Der Seemann hatte sich bei dem Ruf umgesehen und lachte jetzt heiter.

«Verzeihen Sie, Fräulein, wenn der Bursche Sie erschreckt hat. Es ist Suky, ein Laskare und mein Diener, ein ganz guter Bursche, wenn er auch etwas wild ausschaut noch von seinem alten Gewerbe als Seeräuber her in den indischen Meeren. Ich verdanke ihm diese Schmarre da über die Stirn und machte ihn dafür zum Gefangenen.« 

»Wie, und Du läßt den Mörder als Deinen Diener umherlaufen?« frug der Legationssecre- tair, während die Dame, nachdem sie sich von ihrem kleinen Schrecken erholt hatte, eilig an dem gefährlichen Fremdling vorüberglitt, um die versprochenen Befehle zu ertheilen.

»Bah - warum soll[t]’ ich nicht? Suky ist ein ganz famoser Stewart geworden und ein tüch- tiger Seemann obendrein, der mir die größte Anhänglichkeit zeigt, seit ich vor den Kurzdegen und Piken meiner Leute sein Leben schützte.« 

»So haben Sie ein Gefecht mit malayischen Seeräubern bestanden?« frug der Conferenz- rath, der sah, daß er sich in Geduld fügen müsse.

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»Auf der Fahrt von Singapore nach Canton, als ich die englische Brigg >Clary< kommandir- te.« 

Der Legationssecretair sah ihn überrascht an. »Wie, Bruder Klaus, Du bist Kapitain?« 

»Mein alter wackerer Stafford starb in Singapore an der Cholera, und da ich erster Steuer- mann an Bord war, übernahm ich das Schiff. Die Rheder in Liverpool boten mir das weitere Kommando bei der Rückkehr an und auch die ostindische Compagnie wollte mir in Folge der kleinen Affaire in der Malaccastraße ein Schiff geben, aber mich trieb die Sehnsucht nach meinen alten Halligen, die ihre Kinder niemals vergessen können! So ging ich nach Hamburg, machte zunächst mein Kapitain-Examen und - da bin ich!« 

»So viel ich weiß, existirt ja auch eine Examinationskommission in Kopenhagen für die Unterthanen des Staates,« bemerkte nicht ohne Schärfe der Conferenzrath.

»Mag sein - wir von den friesischen Inseln kommen nur wenig hierher und halten uns zu unsern Stammesgenossen!« 

»Und wann kamst Du zurück aus Indien?« frug der Legationsrath eilig, um den gefährlichen Gang des Gesprächs zu ändern.

»Vor fünf Wochen, Jan! - Seit einer bin ich bei unserm wackern alten Ohm Barthelsen in Schleswig und kam von dort hierher, Dich zu sehen, wenn Du mich ein Paar Tage beherbergen willst; sonst gehe ich zurück an Bord der Bark, bis diese ihre Ladung gelöscht hat.« 

»Barthelsen, Kapitain Barthelsen« - frug der

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Conferenzrath mit Interesse und einem scharfen Seitenblick auf seinen künftigen Schwieger- sohn. - »Das ist doch nicht derselbe, den — [«]

»Den der Schurke Jörgen Jörrissen auf vierzig Tage in’s Gefängniß gesteckt hat gegen alles Gesetz und Recht, blos weil er auf das Wohl seines Vaterlandes getrunken, - eine Sache, die ich alle Tage thue!« unterbrach ihn der offenherzige Seemann. »Ganz recht - das ist er, und eben deshalb habe ich mit die Fahrt hierher unternommen, um - da mein Bruder Jurist und


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einmal bei der Aktenschreiberei angestellt ist, zu sehen, ob es wirklich in Kopenhagen keine Gerechtigkeit mehr giebt für des Königs deutsche Unterthanen!« 

Der Legationssecretair trocknete sich den Schweiß von der Stirn und sah nur mit einem halben Blick auf das Antlitz seines künftigen Schwiegervaters, das immer länger und finsterer wurde.

«Ich habe bisher nicht gewußt,« sagte endlich der Conferenzrath spitz, «daß der berüchtigte Demokrat Barthelsen mit dem Verwandten dieses Herrn ein und dieselbe Person ist, sonst hätte allerdings Manches nicht stattgefunden.« 

»Wie - hat ihn denn Jan nicht vertheidigt? Die Tante sagte mir doch, daß sie ausdrücklich an ihn geschrieben und ihm die Beschwerde zugeschickt hätte?!« 

Der angehende Diplomat stand wie auf Kohlen über diese unglückliche Offenheit. »Der Brief muß verloren gegangen sein!« stammelte er endlich und versuchte seinem Bruder einen Wink zu geben.

Der junge Schiffskapitain beachtete es aber nicht.

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»Meinetwegen!« sagte er - »aber die Zeitungen haben doch sicher Lärm genug darüber geschlagen, oder die Federfuchser wären ebenso schlecht und faul wie die ganze Wirthschaft drüben in Schleswig! Doch davon zu reden werden wir ja wohl morgen Zeit genug haben. Was aber unsern Oheim betrifft, Herr Conferenzrath, so muß dieser hier nach Ihrer Rede zu schließen, stark verleumdet sein; denn er ist ein so redlicher Mann wie irgend einer, und genießt die ganze Achtung seiner Mitbürger, wenn er auch sonst in seinen Verhältnissen nie viel Glück gehabt!« 

»Aber er ist ein Agitator der Deutschpartei,« stieß der Conferenzrath hervor, der über dem Gespräch selbst das Diner bei der Gräfin Danner zu vergessen begann. »Er ist ein Demokrat!« 

»Den Teufel auch - dann müssen Sie uns Alle hängen in Schleswig-Holstein, denn wir sind geborene Demokraten,« meinte lachend der Kapitain. »Ich bin nur Autokrat an Bord meines Schiffes, und der Teufel sollte Den holen, der da anders wollte, als ich! Am Lande ist das was anders, da hat das Volk seine Rechte - seine Wetten, wie wir Friesen sagen, - und seine Privilegien, die freilich klein genug sind. Uebrigens haben Sie ja hier, wie ich gelesen, selbst auf Seeland der Demokraten in Fülle und sehen an Herrn Orla-Lehmann und seinen Freunden, daß sie nicht so schlechte Burschen sind, wie man sie malt.« 

»Ja, aber sie haben ein dänisches Herz und dänische Gesinnung!« rief mit blitzendem Auge der hohe Beamte, »und ich will nicht hoffen, daß Sie diese Männer, selbst

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wo sie in Opposition gegen das Ministerium stehen, mit den Rebellen in Kiel und Südjütland gleich stellen, die nur auf Ungehorsam gegen ihren König und Herrn und auf Landeszer- stückelung sinnen!« 

»Ich bin kein großer Politiker, Herr Conferenzrath,« sagte ruhig der junge Kapitain, »und überdies in den letzten Jahren zu lange von meiner geliebten Heimath entfernt gewesen, um den Stand der Parteien genügend beurtheilen zu können. Nur das glaube ich sicher sagen zu dürfen, daß es den Herzogthümern nicht im Traume einfällt, eine Landeszerstückelung zu verlangen. Ihr ganzes Streben ist, in aller Treue gegen ihren Herzog ihre seit länger als einem Jahrtausend geschützte Nationalität zu wahren und gerade >up ewig ungedeelU zu bleiben!« 


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Das damals in Kopenhagen bereits so schwer verhaßte Wort, das der ganzen Politik und dem Streben des dänischen Ministeriums einen so gewaltigen Wall entgegensetzte, hätte - so unglücklich in dieser Umgebung angewendet, - sicher eine Explosion veranlaßt, wenn nicht in diesem Augenblick eine andere, noch über dem Nationalstreit stehende Macht, die der Schönheit, eine Intervention eingelegt hätte.

Es war die schöne Tochter des Hauses, Fräulein Edda Hai [1] steen, welche unbemerkt wie- der zurückkehrend die letzten Worte des jungen Friesen gehört hatte und sofort dazwischen trat.

«Sind die Herren schon wieder bei der Politik?« sagte sie lächelnd - «in der That, ich glaube, man kann jetzt diesseits und jenseits des Belt’s die Männer nicht fünf

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Minuten allein lassen, ohne daß sie von Nationalitäten schwatzen und streiten. Sehen Sie, Herr Hansen, ich habe meine Scheu vor einer selbst so wilden, wie die Ihres Suky, überwun- den und ihn bereits unter meine Protektion genommen, so daß er mit seinem närrischen Englisch in voller Thätigkeit ist, die Reisetasche in Ihrem Zimmer auszupacken. Dafür haben Sie sich nun schleunigst in dieses zu begeben und es sich bequem zu machen für heute; - denn allerdings müssen wir Ihnen, so leid es uns thut, Ihren Herrn Bruder jetzt entführen, der um seiner ganzen Karriere und auch um meinetwillen die heutige Einladung zu Hofe nicht versäumen darf. Und es ist wirklich die höchste Zeit. Vertreiben Sie sich diese also am Abend so gut Sie können. Sie sind doch bekannt in Kopenhagen?« 

«Ich war als Schiffsjunge und Leichtmatrose hier!« 

»Ei,« sagte sie nicht ohne einen leichten Spott, der aber bald wieder in einen herzlicheren Ton überging, »dann werden Sie gewiß einige Stadttheile genau genug kennen! Aber nun leben Sie wohl bis morgen und vergessen Sie nicht, mir das romantische Abenteuer näher zu erzählen, bei dem sie eine so kostbare Perle, wie Ihren Suky, aus dem indischen Meer fischten.« 

Sie reichte ihm nochmals mit ruhigem freundlichem Lächeln die Hand, die er ehrerbietig berührte, und wandte sich dann zu Ihrem Vater: »Ihren Arm Papa!« 

Ihre Gewalt im Hause war so groß und so anerkannt, daß selbst der Conferenzrath ihr unterlag. Er zuckte leicht die Achseln über die so offenkundig an den

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Tag gelegte Protektion - wahrscheinlich war ihm die Unterbrechung auch nicht unlieb, - grüßte höflich den jungen Kapitain und ließ sich von seiner Tochter fortführen.

Die Brüder folgten zusammen - Klaus begleitete Hand in Hand den Legationssecretair bis zum Wagen, und der Letztere nahm die Gelegenheit wahr, ihm auf der Treppe die Bitte zuzuflüstern, in seinen Reden möglichst vorsichtig zu sein, bis er erst Gelegenheit habe, ihn über die Stimmung und die Verhältnisse in Kopenhagen näher aufzuklären.

Lächelnd nickte der junge Friese ihm das Versprechen zu, und als er die junge Dame in den Wagen gehoben und die Equipage davon rasselte, wurde ihm noch ein freundlicher Gruß zu Theil, den er jedoch - wie er sich umwendend bemerkte, - mit seinem Indier theilen mußte, der mit dem ganzen braunen Gesicht vor Vergnügen grinsend hinter ihm gestanden und bereits die Aufmerksamkeit der lieben Straßenjugend auf sich gezogen hatte. -

»Serra schön, Missus, serra schön weiß, Sahib Hansa!« meinte der braune Sohn der Moluk- ken, während er sich vergnügt die Hände rieb.


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In tiefem Nachdenken stieg der junge Seemann die Treppe hinauf nach dem ihm angewie- senen Zimmer.


Der Kapitain war ein Paar Stunden allein geblieben auf seinem Zimmer, wo man ihn mit Wein und Speise so angelegentlich versorgte, daß er darin den vorsorgenden

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strengen Befehl der jungen Gebieterin des Hauses erkennen konnte, und ordnete dabei die wenigen Sachen, die er mit von seinem Schiff gebracht, während er zugleich über das eben Erlebte nachsann. Unwillkürlich trat ihm dabei immer wieder das Bild der schönen Verlobten seines Bruders vor Augen und er mußte sich gestehen, daß er selten oder nie ein schöneres Wesen gesehen habe.

Als die Gasflammen brannten und der Abend bereits ziemlich weit vorgeschritten war, verließ er, ohne seinem malayischen Diener weiter davon zu sagen, das Haus und schlenderte durch die Straßen der Altstadt der Gegend des königlichen Schlosses Christiansbourg zu.

Es fiel ihm auf, daß in den Straßen ein ungewöhnlich aufgeregtes und bewegtes Leben herrschte. Zahlreiche Menschengruppen, den untersten Ständen angehörig, zogen und stan- den umher, redeten lebhaft, und da er des Dänischen vollkommen mächtig war, konnte er vernehmen, wie sie auf die Regierung schimpften. Wiederholt fielen auch Drohungen gegen die deutsche Partei, und Klaus Hansen begriff, daß ein ungewöhnliches Ereigniß sie aufge- regt haben mußte. Aus den Reden, als er bei einer der Gruppen stehen blieb und einem der Sprecher zuhörte, erklärte sich ihm auch einigermaßen die Ursach.

Der Reichstag - das heißt: die Kammern für Dänemark allein, nicht für den Gesammt- staat, - war am Tage vorher eröffnet worden. Die beiden Parteien, die nationalliberale, die wenigstens ihre Danisirungsgelüste geschickter zu verbergen wußte, und die sogenannten »Bauernfreunde«, die »Gemeinemanns-Partei« standen sich auf’s Schroffste

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gegenüber. Die letztere, welche die Vernichtung alles Deutschthums forderte, hatte im Volksthing, der zweiten Kammer, die Majorität, und ein Artikel des »Dagbladet« an diesem Tage sie auf das Bitterste angegriffen. Das ministerielle Blatt sagte wörtlich über die Bauern- freunde, zu denen der abgetretene Minister Baron Blixen-Finecke gehörte: »Sie bilden eine Masse unverschämter, roher Dummköpfe, die unter der Leitung einiger halbstudirter Gauner stehen und, den gemeinsten plebejischen Instinkten folgend, zu nichts weiter taugen, als der Regierung Verdruß und dem Lande Schande zu machen.« Eine wüthende Aufhetzung des dänischen Pöbels war die Antwort auf diese freilich wenig parlamentarische - obschon in Kopenhagen keineswegs ungewöhnliche - Sprache.

Er war über Kongens-Nytorv gegangen und hatte sich der Större-Straße zugewendet, als ein Arm sich plötzlich unter den seinen schob.

»De lüvhaftige Düvel sali mi holen,« sagte in gutem Hamburger Platt eine muntere Stimme, »wenn dat nich Kaptein Hansen van de Clary ist! - Heda Schiffskamerad, kennt Ihr mich nicht wieder?« 

Der Angeredete blickte sich um und sah in ein sturmdurchwettertes Seemannsgesicht.

»Wie - seh’ ich recht? Kapitain Dreier aus Altona? mein wackerer Freund und Gönner von Singapore her!« 


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»Hat sich was zu gönnern,« meinte der alte Seewolf. »Ein Bursche Eures Schlages braucht höchstens die Gönnerschaft seines Rheders und die ist einem tüchtigen Seefahrer gewiß. Aber erlauben Sie mir, Kapitain Hansen, Ihnen

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hier einen Kollegen vorzustellen, Kapitain Dom Sylvio Macinhos aus Oporto, der eben seine Ladung gelöscht hat. Ich wünschte, wir hätten etwas davon bei der Hand.« 

Die Vorstellung war in englischer Sprache geschehn, und der Portugiese, der diese verstand, lachte mit ganzem Mund, der seine schönen weißen Zähne zeigte.

»Por Dios, Senhor Capitano, dem läßt sich abhelfen! In der Nähe muß eine Posada sein, deren Wirth ich eine Pipe echten Madeira abgelassen. Es freut mich, die Bekanntschaft des Senhor Kapitains zu machen und ich bitte Sie, eine Flasche mit mir zu leeren.« 

Der Vorschlag wurde nach einer kleinen höflichen Weigerung angenommen, um so lieber, als der Altonaer Kapitain darauf aufmerksam machte, daß die Stimmung des umherziehen- den Pöbels offenbar gegen die Deutschen sehr gereizt sei und ihnen Unannehmlichkeiten zuziehen könne, wenn man sie als solche erkenne.

In der Gegend des Kanals, der am Schloßplatz entlang läuft, traten sie in einer Seitenstraße in eines der Strandwirthshäuser, wo die Seeleute zu verkehren pflegen. Der portugiesische Kapitain, der hier wohl Bescheid wußte, führte sie durch die Reihe der Zechenden nach dem Ende des großen hallenartigen Zimmers, indem er dabei an einigen Stellen Seeleute grüßte, die ihm bekannt oder von seinem Schooner waren.

Die Gesellschaft war aus allen Nationen gemischt, doch führten - wie Kapitain Hansen bald bemerkte, - die Schweden und Dänen heute das große Wort. Fortwährend strömte es ab und zu, und die unruhige Gesellschaft, die

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auf den Straßen lärmte und sich auf dem Schloßplatz zu sammeln begann, um allerlei De- monstrationen zu treiben, rekrutirte oder erfrischte sich fortwährend in den zahlreichen Kneipen. Ueberall war von der Eröffnung des Reichsraths die Rede und der Jubel der ul- tradänischen Partei groß, die mit den Wahlen in ihrer Kurzsichtigkeit bereits einen Sieg der Demokratie über die Regierung errungen zu haben glaubte.

Der portugiesische Kapitain hatte von seinem Wein verlangt, und bald glühte der köstliche Trank in den Gläsern, während der Wirth, ein abgedankter Invalide, hin- und herging, Neu- igkeiten hörte und überbrachte, und die Gäste zum Trinken animirte oder wenigstens das Bestellte herbeischaffen ließ. Eine Flöte, eine Harfe und eine Guitarre bildeten das Orchester und mühten sich meist vergeblich ab, in dem Lärmen sich hörbar zu machen.

»Es ist gewöhnlich stiller und anständiger hier,« meinte der portugiesische Kapitain, »sonst würde ich die Herren nicht hierher geführt haben. Der Teufel ist heute los in der Stadt! Aber wenigstens, Senhor Dreiero, kann ich Ihnen hier meine Schuld von gestern bezahlen. Ich kam eben aus dem Comtoir, an das ich consignirt war und habe die Fracht ausgezahlt erhalten, da wir übermorgen segeln wollen, ehe das Eis kommt - Wollen Sie Gold oder Banknoten?« 

Er hatte eine strotzende Börse auf den Tisch gelegt, durch deren Maschen die Goldstücke funkelten und öffnete seine Brieftasche, die wohlgefüllt mit englischen Noten war, und wühl- te darin.

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»Es hätte ja Zeit gehabt bis morgen, Kapitain,« meinte der Altonaer. »Da Sie aber ein- mal dabei sind, können wir’s abmachen. Sie erhielten ein Faß Pökelzungen und zwei Fässer Rauchfleisch - das macht mit dem baaren Geld, 270 Mark. Geben Sie mir halb in Gold und halb in Noten, so kann ich es am besten brauchen, statt der verdammten dänischen Münzen!« 

Der Portugiese zählte das Geld auf. »Senhor,« sagte der Friese in spanischer Sprache, von der er annehmen konnte, daß sie der Andere verstand - »Sie sollten vermeiden in dieser Umgebung so vieles baare Geld zu zeigen. Sie wissen, daß es selbst unter den Theerjacken schlechtes Gesindel genug giebt, und das confiscirte Gesicht, das Ihnen da eben über die Schultern sieht . . . « 

Der Portugiese wandte sich um. »Ah, por Dios! Pedro Aveiros, mein erster Steuermann! Es ist mir lieb, daß ich Dich treffe, und wen zum Teufel hast Du hier? Der Bursch sieht ja aus, als könne er unseren ganzen Schooner mit einem Bissen verschlingen!« 

Der Mann, von dem er sprach, war selbst unter den kräftigen Nordlandssöhnen von einer riesigen Größe und überragte den friesischen Kapitain wohl noch um eine halbe Kopflänge. Der lange Körper war, wenn auch nicht breit, doch sehnig gebaut, und die langen, bei die- ser Größe höchst unförmlich aussehenden Arme, an deren Enden Hände so breit wie Teller saßen, zeugten von großer Kraft. Das gänzlich bartlose Gesicht, das auf diesem Körper viel zu klein war, sah verschrumpft und unheimlich aus und die kleinen röthlichen Augen hatten einen bösen thierischen

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Blick. Fast weiße flachsartige Haare hingen ihm lang um den Kopf herunter.

Sein Gefährte, der portugiesische Steuermann, war in Gestalt und Wesen gerade das Ge- gentheil. Er war klein und schmächtig, aber von großer südlicher Beweglichkeit, und sein Auge schwarz und scharf funkelte wie das einer Ratte. Er mochte einige dreißig Jahre sein nach dem braunen, von einem dichten schwarzen Bart umgebenen Gesicht, das einige tiefe Falten zeigte.

»Die heilige Jungfrau sei mit Ihnen, Senhor Kapitano!« grüßte der Steuermann. »Ich hoffte, Sie hier anzutreffen, deshalb brachte ich da einen Maten hierher, der Lust hat, für den verun- glückten Perez einzutreten und einmal sich anzusehen, wie sich’s in den Orangenhainen von Portugal lebt. Der Bursche hebt seine fünfhundert Pfund allein!« 

»Wer ist der Mann?« 

»S’ist ein Isländer, Senhor, und heißt Jökul! Er diente bisher nur auf Wallfischfahrern.« 

Der Kapitain musterte den Riesen, der stier auf das noch immer auf dem Tisch liegende Gold blickte. Der Mann mochte ihm wohl nicht sonderlich gefallen, indeß es war schwer, tüchtige Matrosen zu erhalten und deshalb beschloß er, ihn zu nehmen. Er rief nach einer frischen Flasche, schenkte den Beiden zwei Gläser voll und sagte dann: »Ich danke, Steuer- mann Aveiros! Ich werde diese Nacht an Bord der Santa Lucia schlafen und der Mann mag sich morgen früh bei mir melden, um die Heuerung zu schließen!« 

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Die Musik hatte eben auf das tobende Geschrei einer Rotte, die im Vordergrund der Halle zechte, das berühmt gewordene Nationallied den »Tapperen Landsoldaten« angestimmt, und das Gesindel schlug brüllend den Takt dazu mit Händen und Füßen. Das Frauenzimmer, das die Guitarre trug sang mit der gewöhnlichen schrillen Stimme dieser Kneipenvirtuosinnen das bekannte Lied:


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»Als ich marschiren sollt,

Als ich marschiren sollt,

Mein Mädchen auch mit wollt,

Ja, mein Mädchen auch mit wollt.

Mein Schatz, das geht nicht an,

Es heißt nun: Drauf und dran!

Und wenn mich keine Kugel trifft, komm ich schon wieder an.

Ja, wär der Feind nicht nah, ich zog nicht in den Krieg;

Doch alle Dänschen Mädchen, die bauen nun auf mich;

Und drum will ich mich schlagen als tapfrer Landsoldat!

Hurräh! Hurräh! Hurräh!« 

Kommt hier der Deutsche an,

Kommt hier der Deutsche an,

Beklag’ ich Jedermann,

Ja, beklag’ ich Jedermann.

Zu Peter und zu Paul Er sagt gar: »Du bist faul!« 

Und schilt man ihn dann aus auf Dän’sch, so sagt er gleich: »Elols Maul!« 

Wer viele Sprachen spricht, dem ist das zwar einerlei,

Doch gibt’s, zum Henker! solche, die können nicht mal zwei!

Und drum will ich mich schlagen als tapfrer Landsoldat!

Hurräh! Hurräh! Hurräh!

Ich weiß vom Dannebrog,

Ich weiß vom Dannebrog,

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Er fiel vom Himmel hoch,

Ja, er fiel vom Himmel hoch.

Er flattert auf dem Meer Und vorm Soldaten her,

Und keine andre Fahne ist für sich benannt, wie er,

Ihn haben sie gehöhnt und beschimpft mit toller Wuth, - Nein, da ist unsre Fahne zu alt doch und zu gut!

Und drum will ich mich schlagen als tapfrer Landsoldat!

Hurräh! Hurräh! Hurräh!« 

Die Menge jubelte jedesmal den Refrain mit. Die stieren Augen des Isländers hatten sich bei dem Liede seltsam belebt, eine wilde Lust schien über ihn zu kommen und er schwenkte das Glas wie besessen.

»Hurräh! Hurräh! nieder mit der Regierung und den verfluchten Tydskers !« 1 »Der Kerl ist ein Narr!« sagte der Friese mit Ekel zu seinem älteren Kameraden. »Das Ge- sindel tobt wie besessen. Aber ich wette, mit meinen acht braven Jungen von den Halligen schlüge ich die ganze Bande hinaus!« 


deutschen.


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Es war, als ob der Zufall dem Wunsch Antwort geben sollte, denn eben, als der letzte Vers der »tapperen Landsoldaten« abgebrüllt wurde, drang ein neuer Schwarm Gäste in die Thür und sofort klangen am Schanktisch die wohlbekannten plattdeutschen Laute.

Ein tobendes dreimaliges »Hurräh!« schloß das herausfordernde Lied. Der lange Isländer sprang auf eine Bank und schwang eine Rumflasche.

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»Der Dannebrog soll leben! Nieder mit den tydsker Hundeseelen!« 

Durch das Gebrüll der Trunkenen griff plötzlich ein schriller Harfenakkord.

Dann erhob sich eine klare, nicht unschöne Altstimme und ließ das so schwer verpönte Nationallied der deutschen Herzogthümer erschallen:

»Schleswig-Holstein, meerumschlungen,

Deutscher Sitte hohe Wacht,

Wahre treu, was schwer errungen,

Bis es tagt nach düstrer Nacht!

Schleswig-Holstein, stammverwandt,

Wanke nicht, mein Vaterland!

Es war - obschon die Schänke sonst meist von deutschen und fremdländischen Seeleu- ten besucht und der Wirth selbst ein geborener Schleswiger war, unter den obwaltenden Umständen und namentlich an diesem Abend ein so unerhörtes Wagniß, dies Lied zu singen, daß es für eine wahnsinnige Herausforderung oder eine That hochherzigsten Nationalgefühls angesehen werden mußte, und in der That war die Wirkung so überraschend, daß einige Au- genblicke beide Parteien vor Erstaunen schwiegen, während die Sängerin, hinter ihrer Harfe sitzend, mit fester klarer Stimme fortfuhr.

Dann aber brach der Sturm um so gewaltiger los. Ein rasender Applaus der anwesenden Deutschen belohnte die kühne Harfenistin, selbst die beiden Kapitaine am Ende des Zimmers stimmten rückhaltlos mit ein.

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Doch diesem Applaus antwortete sofort ein Sturm der wildesten Flüche und Verwünschun- gen.

Die anwesenden Dänen und Schweden, meist schon in trunkenem oder doch in höchst aufgeregtem Zustand, bedachten nicht, daß sie die Demonstration zuerst hervorgerufen und sahen in dem Gesang des in der Hauptstadt von der herrschenden Gewalt streng verpön- ten Liedes eine freche Verhöhnung. Ihre Wuth war gränzenlos, Tische und Bänke wurden umgeworfen und wohl zehn wilde Männer stürzten mit drohend erhobenen Fäusten gegen die kleine Estrade, auf der die Sängerin unbekümmert in ihrem Liede fortfuhr, obschon ih- re beiden Gefährten sie auf alle Weise an der Fortsetzung ihrer Unvorsichtigkeit zu hindern suchten.

Kapitain Hansen hatte sich bisher um das musikalische Dreiblatt, einen Mann und zwei Frauenzimmer, gar nicht gekümmert und ihnen nicht einmal einen Blick geschenkt, da der Charakter dieser in den Kneipen herumziehenden Virtuosen ihm zu wohl bekannt und widrig war, um Notiz von ihrer Persönlichkeit zu nehmen. Der seltsame Muth der Sängerin, auf deren Jugend die frische klangvolle Stimme schließen ließ, interessirte ihn jedoch so sehr, daß er sich voll Theilnahme erhob, um nach ihr zu spähen.


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Der dicke Tabackdampf und die vor der Sängerin stehende hohe Harfe verhinderten ihn jedoch, ihr Gesicht zu erkennen. Er sah nur die wüthend mit den niedersten Schmähreden gegen die Aermste vorstürzenden Männer, und hörte den schrillen Klang der Harfe, als diese von

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den Fäusten des grimmigen Isländers der Sängerin entrissen und hoch in die Höhe geschwun- gen wurde, als solle das schwere Instrument seine Herrin zerschmettern.

»Metze! deutsche Hure! schlagt die Kanaille todt! Werft sie in’s Wasser!« 

Im Nu war alle Ruhe und Vorsicht bei dem jungen Kapitain verschwunden. Mit einem donnernden »Halt!« sprang er über den nächsten Tisch, stieß den Isländer zurück und stellte sich vor das Mädchen.

»Halt, sag’ ich! hierher zu mir, Schiffsmaate! Niemand soll das Mädchen anrühren! Gieb die Harfe zurück, Mann! habt Ihr Euer Lied gehört, so wollen wir uns auch das unsere singen lassen!« 

Die Summe klang so kräftig und befehlend, die Gestalt des Sprechenden sah so drohend aus, daß die Anstürmer unwillkürlich inne hielten. Die deutschen Matrosen ließen ein lustiges »Hurrah!« ertönen und eilten an die Seite ihres so plötzlich aufgetauchten Führers.

»Die Harfe her, sag’ ich, Mann!« 

Der riesige Isländer stierte ihn an. Er hielt noch immer das schwere Instrument erhoben. Plötzlich machte er eine Bewegung, und ehe der Kapitain oder ein anderer Mensch es hindern konnte, schmetterte er die Harfe auf den Fußboden, daß sie in hundert Stücken zersprang. »Da hast Du sie! und jetzt an Dich!« 

Der halb thierische Wilde riß das kurze Matrosenmesser, das er in einer Scheide von Wall- fischhaut an einer Schnur um den Hals trug, aus seiner Hülle, nahm es

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zwischen die Zähne und streckte dann beide geballte Fäuste vor, um auf seinen Gegner los- zustürzen, der ihn festen Fußes mit kaltem Blute erwartete, obschon er ohne Waffen war und selbst verschmähte, sein eigenes Messer aus der Seitentasche zu ziehen.

So erbittert die Parteien auch gegeneinander waren, so erscholl doch ein Schrei des Schreckens; denn alle glaubten den muthigen jungen Mann für verloren oder erwarteten wenigstens einen schweren blutigen Kampf.

In diesem Augenblick langte die Hand des portugiesischen Steuermannes, dessen kleine Gestalt sich unter dem Arm des Isländers durchwand, nach dem Horngriff des Messers und zog es ihm aus dem Mund, indem der Portugiese dem Riesen einige Worte zuflüsterte.

Was auch ihr Inhalt sein mochte, - die Wirkung war auffallend und augenblicklich.

Der Isländer ließ die Arme sinken, richtete sich wieder auf und warf seinem Gegner einen Blick zu, wie etwa ein tückischer Bullenbeißer einer mächtigen Dogge, die ihm seine Beute streitig macht und die er doch nicht anzugreifen wagt.

Dann drehte er sich um, stieß die umgeworfenen Stühle bei Seite, und sagte blos zwei Worte:

»Zu trinken!« 

Der Portugiese reichte ihm eine neue Flasche Rum und nahm ihn mit einem bezeichnenden und verabschiedenden Wink an seinen näher getretenen Kapitain am Arm, um ihn fortzufüh-


ren.


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Dieser Ausgang war so unerwartet, so gänzlich dem entgegen, was Jeder für unvermeidlich gehalten, daß er nahezu lächerlich wurde und beide Parteien trotz ihrer Aufregung in ein lautes Gelächter ausbrachen.

Unter dieser Verhöhnung wurde der Riese von seinem kleinen Begleiter aus dem Schänk- zimmer geführt.

Kapitain Dreier war mit seinem portugiesischen Freunde bei dem sich zuerst so gefährlich anlassenden wilden Auftritt besorgt näher getreten und nahm jetzt die Hand seines jungen Kollegen.

»Es war brav von Euch, Kapitain Hansen,« sagte er herzlich, »aber es ist genug damit und es wird am Besten sein, wir entfernen uns jetzt. Wir wollen das Mädchen mit uns gehn lassen; denn das arme Ding, wenn sie mir auch aus dem Herzen gesungen, könnte ihre Unvorsichtig- keit doch am Ende noch schwer büßen und hat ohnehin schon einen harten Verlust gehabt. Darum wollen wir sie unter unseren Schutz nehmen, bis sie in Sicherheit ist.

Erst jetzt fand der junge Friese sich veranlaßt, sich umzuwenden und auf die Bänkelsänge- rin zu sehen, der er wahrscheinlich das Leben gerettet hatte.

Das Mädchen kniete hinter ihm am Boden und suchte ohne sichtbare Erregung durch den eben gehabten Schrecken aber mit ernstem, ja hnsterem Ausdruck in ihren Mienen die Stücken seiner zerschmetterten Harfe zusammen.

Als der junge Friese sich umwandte, hob sie eben den Kopf und sah zu ihm auf.

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Klaus Hansen prallte erschrocken zurück und unterdrückte nur mit Mühe einen Ruf.

Die da vor ihm kniete, die eben das deutsche Lied gesungen, die kaum der Todesgefahr entgangen, - war Niemand anders, als - nur in ein verändertes dürftiges Gewand gekleidet, statt in der eleganten Salon-Toilette, in der er sie vor wenigen Stunden bewundert, - als die stolze Dänin Edda Hal[l] steen, die Braut seines Bruders!




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