Auf dem Judenkirchhof in Prag  

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"At the Jewish Cemetery in Prague" ["Auf dem Judenkirchhof in Prag"] is a chapter from the novel Biarritz (1868) by Hermann Goedsche.

It describes a secret rabbinical cabal, Council of Representatives of The Twelve Tribes of Israel, which meets in the cemetery at midnight for one of their centennial meetings. They report on the progress of their long-term conspiracy to establish world domination. Among the methods to achieve this goal are the acquisition of landed property, the transformation of craftsmen into industrial workers, the infiltration into high public offices, the control of the press, etc. The chairman Levit expresses at the end of the meeting the desire to be the kings of the world in 100 years. This fictional "Rabbi's Speech" was frequently quoted later as an authentic episode and invoked as a proof of the authenticity of the Protocols of the Elders of Zion. In Nazi Germany the chapter was re-printed independently in many editions.

To portray the meeting, Goedsche borrowed heavily from the scene in the novel Joseph Balsamo by Alexandre Dumas, père in which Alessandro Cagliostro and company plot the affair of the diamond necklace, and likewise borrowed Maurice Joly's The Dialogue in Hell Between Machiavelli and Montesquieu as the outcome of the meeting.

Full text

Auf dem Judenkirchhof in Prag.

Es ist ein merkwürdiges Gewirr von krummen, winkligen und engen Gassen, das in der Nähe des alten Prager Ringes, der so manche blutige und wichtige Episode der böhmischen und deutschen Geschichte gesehen hat, die sogenannte Judenstadt von Prag bildet.

In diese schmuzigen engen Gassen, die meist keinen Namen führen und deren Labyrinth nur den Bewohnern selbst genau bekannt ist, münden nicht Thüren und Hausfluren, sondern finstere Höhlen, die niemals das Tageslicht erhellt - schwarze Schlünde, die ein Geschlecht von schachernden, feilschenden, zeternden Männern, Frauen und Kindern ausspeien, das in den verkommenen schmuzigen Räumen lebt, zusammenscharrt und stirbt, und während des Tages mit dem seltsamsten Kram die engen Gassen füllt, wenn es nicht in der Stadt der Christen umherstreift, um dort seinen Handel und Wucher zu treiben. Prag ist die einzige Stadt in Deutschland, wo das Judenthum in Sitten und Wohnung noch ganz abgeschlossen von der [142]

Nation lebt, deren Namen es als allgemeine Firma angenommen hat, um die Vortheile der staatlichen Gesellschaft zu genießen, oder vielmehr um diese staatliche Gesellschaft dem eigenen Vortheil dienstbar zu machen.

Was der Tändelmarkt in Wien, der Temple in Paris, das ist zugleich die Judenstadt in Prag. Unter diesem Bänder-, Lumpen-, Eisen- und Lederkram werden täglich Geschäfte von vielen Tausenden gemacht!

Wenn man eine Strecke durch diesen stinkenden, schmuzigen und unheimlichen Markt vorgedrungen ist, stößt man plötzlich auf eine alte hohe verwitterte Mauer, die einen Platz von etwa 1 bis 2 Morgen Größe umgiebt. Hollunderbüsche und andere wilde Strauchbäume ragen über diese Mauer, welche in ihrer ganzen Ausdehnung von den alten Häusern der Judenstadt umgeben ist, die jeden Augenblick in Gefahr scheinen, über ihr zusammen zu brechen. Der seltsame Mauerring hat von Außen ein unheimliches, verworrenes, zerwittertes Aussehen.

Es ist die Stätte der Todten - der berühmte Judenkirchhof von Prag!

Nicht die melancholische Ruhe unter den alten Ulmen und Tannen der christlichen Fried- höfe - nicht der milde Schatten, welcher über dem Cypressenwald türkischer Friedhöfe liegt und sie zum Versammlungsort der Müßigen zu machen pflegt, - nicht die bäum- und busch- lose Oede der neuern katholischen Kirchhöfe des Westens mit der Alles gleichmachenden und deshalb so herzverletzend auch gleichförmigen Rasendecke! ist der Charakter dieser Ruhe- stätte, - ein anderer Geist, der Geist des Volkes, dessen Gebeine


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hier nach der langen rastlosen Wanderung eine Stätte gefunden, seine ganze furchtbare Ge- schichte voll Leiden, Kämpfen, Widerstand und Unüberwindlichkeit ist in ihm ausgeprägt. Es ist, als würden sich jeden Augenblick diese zehnfach übereinander gehäuften, verworre- nen, mit Gestrüpp bedeckten Gräber aufthun, diese von einem Jahrtausend zerbröckelten Steine zerspringen, um den ruhelosen Wanderer, den Quersack auf dem Rücken, den Stab in der Hand, wieder hinaus zu senden unter die lebende Geschlechter, sie zu betrügen und zu knechten und das neue Kanaan zu suchen: - die Herrschaft!

Der Judenkirchhof in Prag ist der älteste, den man kennt; seit hundert Jahren hat das Gesetz des Staates ihn geschlossen, - für die Gegenwart, für die Fremden ist er eine der historischen Merkwürdigkeiten Prag’s - für die gläubigen Juden ein Heiligthum.

Ein Pförtner mit geschwätziger Zunge und rothen Augen, der an der Außenseite der Mauer wohnt, öffnet dem neugierigen Fremden die sonst stets verschlossene Pforte und führt ihn in diese Wüstenei des Todes, die den Eindruck der äußeren Umgebung noch erhöht. Nur ein schmaler Gang ist übrig zwischen den dichtgedrängten Reihen der Gräber und bemoosten Grabsteine, Dornengebüsch und Ginster liegt über allen - selbst das Gras, das dazwischen aufgesproßt, scheint verwelkt aus der Erde gekommen.

Während man vorwärts schreitet, erzählt der Wächter der Todten die Historie des Todes - von dem Rabbi Ben Manasse, dem großen Besieger des Todes, vom Rabbi Löw, dem gelehr- testen Rabbiner des 17. Jahrhunderts.

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- von Schimeon dem Gerechten und der polnischen Fürstin Anna Schmieles. Dann führt er den Wanderer zu dem Grabstein von Anna Kohn und zeigt ihm die geheimnißvolle Zahl 606, die beweisen soll, daß Israel seine Todten hier schon seit zwölfhundert Jahren begrub, in der sagenhaften Zeit der Libussa und ihrer Mägde auf dem Wisherad, lange vorher, ehe das Kreuz auch hierher die vom Zorn Jehova’s in alle Winde Zerstreueten verfolgte.

Ohne jener Jahreszahl Glauben zu schenken, darf man doch der Meinung der ganzen Ju- denschaft zustimmen, daß hier eine der ältesten - die Juden sagen: die älteste - israelitischen Niederlassungen und Gemeinden in Europa bestand. -

Schweigend aber geht der jüdische Führer mit dem neugierigen Fremden an einer Stelle vorüber, wo unter einem uralten Fliederbaum in Mitten der umgesunkenen Steine ein selt- samer Haufen von Feldsteinen sich erhebt, und wenn ihn der Wanderer fragt, giebt er eine ausweichende Antwort.


Beth-Chajim - das Haus des Lebens! heißt der Friedhof! - Ja, wohl ist diese Ruhestätte der Todten das Haus des Lebens! Denn von hier aus geht der geheimnißvolle, gewaltige Impuls, der die Vertriebenen zu den Herren der Erde macht, die Verachteten zu den Tyrannen der Völker, der den Kindern des Goldenen Kalbes die Verheißungen erfüllen soll, die einst im flammenden Dornbusch dem Volke Gottes gegeben wurden!


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Selbst das düstere Aussehen der Judenstadt hatte einen gewissen festlichen Anstrich ange- legt, der fliegende Kram war von den Ecksteinen und Thürpfosten verschwunden, die alten


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zahnlosen Frauen, die Burschen mit den spitzen, scharfen Gesichtern und den listig funkeln- den Augen, die Mädchen mit der üppigen Busen- und Hüftenfülle, welche die Vermehrung des Volkes so sehr erleichtert, schossen in Festtagsgewändern von Höhle zu Höhle, - Laub- zweige waren an den Häusern und den zerbrochenen Fensterscheiben aufgesteckt - auf der uralten Steinbank saßen Männer in eifrigem Gespräch, an den Durchgängen plauderte das jüngere Volk. Dazwischen wandelten Männer und Frauen im besten Sabbathstaat, das Ge- betbuch in der Hand, zur Synagoge, und arme Christenweiber, denen die Noth den Dienst aufgezwungen, kamen mit Schüsseln und Flaschen, um die Vorbereitungen zu dem Mahl zu treffen.

Es war das Laubhüttenfest, der letzte Tag, der Tag der Versammlung, und das Dunkel des Abends lag bereits auf den engen Gassen, während draußen die Christenstadt eben noch in den lichten Strahlen der scheidenden Sonne erglüht war.

Zwei Männer, der eine älter, in schwarzem seidenem Talar und den langen hängenden Locken an den Schläfen, die den polnischen Juden kennzeichnen, der andere, von mittleren Jahren in moderner Tracht, an der - wenn er zufällig an einem seltenen Lichtschein vor- überging, - die Diamantknöpfe des Brusthemdes und die dicke goldene Kette auf der Weste glänzten, schritten, ohne sich um das Treiben umher zu kümmern, durch die engen Straßen.

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Der Jüngere schien der Führer zu sein, und als er seinen Begleiter bis an das Häuschen gebracht, in dem der Pförtner des Kirchhofes wohnt, klopfte er an den bereits verschlosse- nen Laden, aus dessen Spalten heiterer Kerzenschimmer das festliche Treiben im Innern ver- kündete, denn der Sommer war gut gewesen und hatte reichliche Trinkgelder der Fremden gebracht.

Alsbald erschien in der Hausthür das schmale Gesicht des Pförtners und lugte mit geblen- deten Augen heraus in das Abenddunkel.

»Levi Aaron, bist Du’s? wo thust Du bleiben so lange? Sind doch die Nachbarn alle schon beisammen und der Kuchen und der koschere Wein stehen auf dem Tisch.« 

»Es ist nicht der Aaron,« sagte der Klopfer. »Komm heraus, Joel, es hat Jemand mit Dir zu reden!« 

Die blöden Augen des Pförtners hatten sich an das Dunkel gewöhnt. »Gott der Gerechte,«  sagte er erstaunt aus der Thür huschend, »es ist einer der Aeltesten! hochverehrter Herr, was haben Sie zu befehlen?« 

»Ich Nichts, aber der Rabbi hier wünscht, da er morgen in aller Frühe mit der Eisenbahn abreist, noch ein kurzes Gebet auf dem Kirchhof zu verrichten.« 

»Auf dem Kirchhof? heute Abend? Sie wissen doch selbst, hochgeehrter Herr Bankier, daß es ist mir verboten, nach Sonnenuntergang zu öffnen, und es ist doch heute dazu der heilige Sabbath.« 

»Vorerst brauchst Du nicht zu schreien meinen Stand hinaus in die Nacht,« sagte unwillig der Bankier, »daß jeder Trödeljud’ weiß, daß der Bankier Rosenberg gewesen

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ist bei Dir. Was die Erlaubniß zum Oeffnen betrifft, so bin ich Aeltester und gebe sie. Ich werde warten hier bis das Gebet ist zu Ende.« 

»Wollen Sie nicht die Gnade haben einzutreten unter mein schlechtes Dach?« 

»Nein! eile Dich und hole den Schlüssel!« 


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»Er hängt hier hinter der Thür.« 

»Desto besser, dann braucht die Gesellschaft da drinnen nicht zu wissen, was wir gethan. Such’ einen Vorwand, damit das neugierige Volk mir nicht kommt auf den Hals!« 

Der Pförtner verschwand in das Innere, kehrte aber bald mit einem Schlüsselbund zurück und schloß das Pförtchen neben dem Thorweg auf. Er hatte eine Laterne mitgenommen und wollte sie anzünden.

»Laß sein!« sprach die tiefe Stimme des Rabbi. »Ich brauche kein Licht. Schließ die Thür von Innen!« 

»Aber Herr von Rosenberg . . . « 

»Schließe, sage ich Dir!« 

Der Pförtner gehorchte nicht ohne eine Regung des Mißtrauens.

»Jetzt führe mich zu dem Grabe des heiligen Rabbi Simeon ben Jehuda.« 

»Faßt mein Gewand, hochwürdiger Herr,« sagte der Kirchhofwächter, »es ist dunkel und Ihr möchtet über die alten Gräber stolpern.« 

»Ich sehe bei Nacht besser wie bei Tage, mein Sohn!« antwortete die tiefe Stimme des polnischen Schriftgelehrten.

»Gut denn! hier ist das Grab!« 

Der alte Mann küßte ehrerbietig den Steinhaufen, zu

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dem ihn der Pförtner geführt. Dann schlang er die Gebetriemen um seine Stirn und beugte sein Haupt.

Der Wächter hörte ihn ein langes Gebet in hebräischer Sprache murmeln, - aber sie war mit so vielen uralten Worten vermischt, oder ein ihm so gänzlich unbekannter Dialekt, daß er nur wenige Ausdrücke verstand, obschon er in früheren Jahren lange Zeit Vorbeter einer böhmischen Gemeinde gewesen war.

Erst nach einer geraumen Zeit und nachdem der Pförtner wiederholt Zeichen einer wach- senden Ungeduld gegeben, beendete der Fremde sein Gebet und wandte sich darauf zu dem Wächter des Friedhofs.

»Wie lange versiehst Du schon Dein Amt?« 

»Zehn Jahre!« 

»Und wie lange war Dein Vorgänger darin?« 

»F ünfunddreißig ! « 

»Fünfundvierzig Jahre - sie können es nicht wissen!« murmelte der Alte. »Höre!« 

»Was wünschen Sie?« 

»Als Du das Amt von Deinem Vorgänger übernahmst, hast Du von ihm eine Ueberlieferung, einen Befehl erhalten?« 

»Ich?« 

»Ja, Du! denn es ist, seit der erste Todte in diesem Boden seine letzte Ruhestätte gefunden, also gewesen.« 

»Nun - und wenn es ist wahr, was habt Ihr darnach zu fragen? es ist das erste Mal, daß es mir geschehen in meinem Amt.« 

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»Weil es nur alle hundert Jahre geschieht und des Menschen Leben nur selten dies Ziel erreicht.« 


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»Ich sehe, Ihr wißt davon, Rabbi,« sagte ängstlich der Pförtner. »Aber wenn ich Euch gehor- chen soll, müßt Ihr mir geben das Wort, das mir ist überliefert worden von meinem Vorgänger mit einem heiligen Eid, den ich habe leisten müssen auf die Thora.« 

Der polnische Rabbi beugte sich zu ihm und flüsterte ihm langsam ein siebensylbiges Wort zu.

Demüthig neigte sich der Pförtner. »Ihr seid der Herr, Rabbi,« sagte er, »es wird geschehen Alles, wie Ihr befehlt.« 

»Du wirst die Freunde, die das Fest in Deinem Hause begehen, fortschicken, bevor die Uhr der Christen, die sie gemacht zum Hohn unserem Volk auf dem Thurm am Markt, die eilfte Stunde schlägt.« 

»Es wird gescheh’n, Rabbi, wie Du sagst.« 

»Wenn der Hammer der Glocke thut den ersten Schlag, wirst Du aufschließen die Pforte dieses Gartens Adonai’s, und wenn verklungen der letzte Schlag, wirst Du verschwinden in Dein Haus und schließen Thüren und Fenster und suchen Dein Lager, daß Du bist mit all den Deinen wie ein Leichnam, der weder hört noch sieht.« 

»Ich werde weder sehen noch hören!« 

»Der Engel des Todes wird Deine Seele aufhalten in Deinem Körper und sie wandern lassen zwischen den Gräbern bis zum Ende der Zeit, wenn Du nicht gehorchst streng dem Befehl!«  drohte der Greis. »Jetzt komm und gedenke, daß Du bist in Deinem Amt ein Diener der

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großen Synagoge von Jerusalem. Ich brauche Dir nicht zu empfehlen Schweigen auch gegen den Mann der irdischen Eitelkeit, der mich gebracht hierher.« 

Sie gingen Beide zurück nach der Pforte, an welcher der Bankier noch immer Wache hielt.

»Nun,« sagte dieser, - »Sie haben gehabt Ihren Willen, Rabbi, und Sie können berichten meinem Geschäftsfreund in Warschau, daß Rosenberg und Sohn stets sind bereit zu erweisen jede Gefälligkeit an einen Gastfreund, der ihnen empfohlen ist von so guter Hand. Wollen wir gehen nach Hause, wo meine Frau wartet mit dem Mahl?« 

»Wir wollen gehen, Sohn,« sprach der Rabbi - »aber mich entschuldige von dem eitlen Prunk. Ich werde zubringen die Nacht im Gebet!« 

Der Bankier zuckte die Achseln und reichte dem Pförtner ein Geldstück. »Joel,« sagte er leise, »es ist nicht nöthig, daß die anderen Aeltesten der Gemeinde erfahren von der Ueber- tretung der Vorschrift.« 

Der Pförtner nickte und die Beiden verschwanden wieder in den finsteren Gassen, die allmälig leerer geworden, während aus den Häusern munteres Geschwätz und die Töne fest- lichen Mahles erklangen.

Wie elend, wie schmuzig und dunkel diese Höhlen auch von Außen geschienen, nicht we- nige der in den hintersten Räumen befindlichen Stuben prangten jetzt im Licht zahlreicher Wachskerzen, das sich in hohen Spiegeln und auf den kostbaren brüsseler Teppichen des Fuß- bodens fing oder von dem reichen Silbergeschirr blitzte, das schwer in Kannen, Schüsseln und Bechern die Tische belastete, an denen

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Frauen und Mädchen saßen, die am Tage vielleicht den Bändelkram unten an der stinkenden Gasse gehalten hatten und jetzt mit goldenen Ketten und Armbändern behängen in schweren


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seidenen Kleidern rauschten, während aus dem dunklen Haar und von dem hochgewölbten Busen das Feuer der Diamanten und Rubine flammte.


Wer kennt nicht die prächtige Prager Brücke, die von der Altstadt hinüber nach dem Hrad- schin führt, oder hat nicht wenigstens davon gehört?

Auf sechzehn Doppelbogen spannt sich die Brücke mehr als 150 Fuß lang über die in der Tiefe rauschende Moldau, die Altstadt mit der Kleinseite und dem Hradschin verbindend.

Kaiser Karl IV, dem die alte Böhmenstadt ihren Glanz verdankt, legte am 9. Juli 1358 den Grundstein, doch erst nach 150 Jahren unter Wratislaw II. wurde sie ganz vollendet.

Welche Geschicke, welchen Glanz, welche Ströme von Blut hat das mächtige Bauwerk gesehen, das 500 Jahre fast unversehrt der Zeit, den Stürmen, den Wogen und den Kugeln getrotzt hat.

Von jenen Bogen ließ der unheilige Wenzel den heiligen Nepomuk in die Fluth stürzen, weil er ihm die kleinen Sünden der böhmischen Königin nicht verrathen wollte; die steinerne Gasse entlang tobte der wilde König mit Stöcker und Rüden, - dort zog Huß zum Hradschin mit seinen Studenten - der eitle Sigismund im lustigen

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Geprang, der am Scheiterhaufen von Kostnitz ihm so schmählich sein Kaiserwort brechen sollte! - Der wilde Ziska schwang die Keule, - Georg Podiebrad zog zur Krönung über die mächtigen Bogen, Ludwig der Jagellone zu seinem Tod in der Mohacser Schlacht! - Maximi- lian II., der letzte Ritter, schaute stolz auf sein schönes Prag, und der allzuschwache Rudolph, der Kaiser der Weiber, Gaukler und Sterndeuter, schleuderte vom Hradschin herab über sie hin seinen Fluch auf die undankbare Stadt, die seinem Bruder Matthias Corvinus die gestoh- lene Krone gab. Aus jenen Fenstern sahen die schon altersgrauen Quadern am 23. Mai 1618 von den böhmischen Ständen die kaiserlichen Räthe Martinitz und Slawata werfen und damit den blutigen Religionskrieg beginnen, mit dem Oesterreich dreißig Jahre lang Deutschland verwüstete! Wie oft schritt über diese Bogen das Roß des stolzen Friedländers, wie don- nerten vergeblich Wochen lang darüber hin die Schwedenkugeln gegen den Brückenthurm der Altstadt, den die Studenten und Bürger vertheidigten und auf dessen Eckthürmen zehn Jahre lang die Köpfe der Getreuen steckten, die auf dem Schaffet des großen Ringes ihren Glaubensmuth und ihre Treue für den Winterkönig und die Niederlage am Weißen Berge (8. November 1620) büßten.

Und wieder zog über die Brücke ein Kaiserzug des baierschen Albert, der - von dem Erb- feind deutscher Lande, dem Franzosen, im Successionskrieg nach Prag geführt, - sich als Karl VII. dort krönen ließ. Dann kamen die Preußen zum ersten Mal (1744) und dreizehn

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Jahr später spieen die Kanonen des großen Friedrich 90,000 Kugeln gegen die Stadt. -

Aber auch die neueste Zeit hat noch die Brücke mit Blut getränkt, in der Pfingstwoche des Jahres Achtundvierzig, als die wilde Empörung ihre Barrikaden am Brückenthurm der Alt- stadt baute, und die Kanonen des Fürsten Windischgräh herüber donnerten nach der Altstadt und den Tod der Fürstin rächten!

Wenige Brücken haben wohl eine solche Erinnerung!


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Der Menschenstrom, welcher stets diese eben so interessante als schöne Stelle des Böhmer Landes belebt, füllte auch an diesem Abend die breiten Granittrottoirs und die Aussprünge der Bogen mit ihren Bänken und Steinbildern - hin- und herwogend, eine unendliche bunte schillernde Schlange, Bürger, Soldaten, Fremde, Landleute, Geistliche und Arbeiter, die von einer Seite des Flusses zur anderen zogen, oder zur Erholung an dem schönen Abend zu dem prächtigen Garten der Moldau-Insel wanderten.

Von den Thürmen der Stadt schlugen die Glocken 10 Uhr; in dem Halbrondeel, in welchem die Statue des heiligen Nepomuk steht, an derselben Stelle, von welcher König Wenzel, - wahrscheinlich weil Offenbach damals noch nicht sein bekanntes Couplet der schönen Helena für die Ehemänner geschrieben hatte, - den verschwiegenen Beichtvater in die Fluthen der Moldau stürzen ließ und so aus einem sehr eigensinnigen Pfaffen einen christlichen Märtyrer machte, - saß auf der Steinbank ein Mann

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von großer schlanker Gestalt, dem das ernste bleiche Aussehen mit der kahl werdenden Stirn, die Folge der vielen am Studirtisch durchwachten Nächte, offenbar mehr Jahre gab, als er wirklich zählte. Das große hellblaue Auge mit dem etwas starren Blick schaute aufmerksam auf die vorüberziehende Menschenmenge, als suche es unter den Hunderten eine bestimmte Figur und könne sie immer noch nicht finden.

Das Gesicht des Wartenden zeigte zwar den germanischen Typus mit seiner physischen Kraft, aber diese Kraft gleichsam vergeistigt durch große Fähigkeiten und Willensanstren- gung der Seele. Die Eigenschaften des Geistes und die Gewohnheiten des Lebens üben sicher großen Einfluß auf das äußere Aussehen, und können sie dessen ursprünglichen Typus nicht umgestalten, prägen sie ihm doch ihre Spuren auf.

Jeder Physiognom, der den Harrenden auf der prager Moldau-Brücke gesehen, würde so- fort erkannt haben, daß dieser Mann ein hohes geistiges Leben führte und seine Jugendkraft ernsten und schweren Studien gewidmet hatte.

Die Glocken hatten eben die zehnte Stunde geschlagen, als von dem Hradschin her kom- mend ein Mann in einen leichten Sommermantel gehüllt in die Halbrotunde trat und auf den Harrenden zu ging, der sich rasch erhob.

»Willkommen, Herr, ich sehe, Sie haben meinen Brief erhalten und Neugier oder der Durst des Wissens ist wirklich so groß gewesen, Sie die Reise machen zu lassen.« 

Er streckte ihm die Hand entgegen, die der Andere mit seinen beiden herzlich faßte und schüttelte.

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»Signor Lasali, wie freue ich mich, Sie gesund und kräftig wiederzusehen!« 

»Cospetto! nach dem Abenteuer in den römischen Katakomben, wo Sie mir das Leben ret- teten! Sie sehen, die fünf Tage des Hungerns und Durstens haben keine Nachwirkung hin- terlassen, als daß mein Appetit nach Ortolanen und Champagner höchstens desto raffinirter geworden. Aber Sie sehen auch, daß Larochefoucauld’s und Macchiavelli’s Maximen von der Dankbarkeit der Menschen nicht immer ganz zuverlässig sind, lieber Doctor, und daß es wirk- lich in der letzten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts noch Personen giebt, die sich ihrer Schuld der Dankbarkeit erinnern, und ihre Wechsel einlösen, ohne durch das Handelsgericht dazu gezwungen zu sein.« 


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»Glauben Sie mir, Signor,« sagte der Gelehrte, »weniger die Aussicht auf die Lösung Ihres Versprechens und damit die Erfüllung eines meiner eifrigsten Wünsche, als die Thatsache, nach drei Jahren wieder Etwas von Ihnen zu hören, war es, was mich erfreute und mich trieb, Ihren kurzen Zeilen sofort zu folgen und die Reise von Berlin hierher nach Prag zu machen.« 

»Ich komme zu diesem Zweck direkt von Mailand. Mein Brief war allerdings sehr kurz. Haben Sie ihn bei sich?« 

»Ja; ich weiß die Zeilen auswendig, so oft habe ich sie gelesen. Sie lauten: Mein Lebens- retter! ich habe Ihnen einst gelobt, Ihnen den wahren Schlüssel der Kabalah zu verschaffen, wenn ich Gelegenheit dazu fände; ich halte zwar sonst nicht viel von geschwornen Eiden, aber ich bin

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bereit, diesen zu halten, wenn Sie mich am 8. Oktober Abends 10 Uhr unter der Nepomuk- Statue auf der alten Moldaubrücke zu Prag treffen wollen. Darunter Ihr Name.« 

»Richtig, so war es. Bestehen Sie noch immer auf Ihrem Wunsch?« 

»Mehr als je! Sie werden der Wissenschaft einen unbezahlbaren Dienst leisten!« 

»Der Wissenschaft?« sagte spöttisch der Fremde. »Die sollte mich sicher nicht dazu veran- lassen, wenn es nicht meine eigene Neugier thäte. Hören Sie, Doktor, beugen Sie sich etwas über die Brüstung, denn was wir zu verhandeln haben, dürfen kaum die Wellen der Moldau hören, wenn wir uns nicht Beide einem sichern Tode aussetzen wollen.« 

Der junge Gelehrte sah seinen Gefährten etwas erstaunt an, befolgte aber seinen Wunsch. Es ist Zeit, daß wir etwas über die Persönlichkeit dieses Mannes sagen.

Er mochte von gleichem Alter wie der junge Gelehrte sein, obschon der eigenthümliche Teint seines Gesichts jede Schätzung schwer machte. Die Farbe seiner Haut glich dem matten Ton einer Wachskerze, keine Spur von Farbe, von gesunder Röthe lag auf seinem Gesicht. Selbst die aufgeworfenen, von Genußsucht zeugenden Lippen schienen blutleer und ließen, geöffnet, eine Reihe von festen großen Zähnen sehen, die dem Gebiß eines Wolfes glichen. Kinn und Nase waren stark entwickelt, die letztere schmal und kühn vorspringend, durch ihre eigenthümliche Krümmung

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den jüdischen Ursprung verrathend, die Stirn hoch und breit, überhaupt der ganze Oberkopf stark und voll, wie das dichte hellbraune Kraushaar zeigte, das der Negerwolle ähnlich war. Um den Mund und die weiten Nasenflügel lag ein hochmüthiges Lächeln, das oft zum Aus- druck des Hohns und der Grausamkeit wurde; die mehr runden als ovalen grüngrauen und sehr hellen Augen hatten etwas Geierartiges.

»Hören Sie mich an, Doktor Faust,« sagte er, als sie Beide über die Brüstung lehnten und hinunter in den Strom schauten, auf dem der Schein der schmalen Mondsichel zitterte. »Als ich Ihnen vor drei Jahren in Rom gelobte, Sie mit den Geheimnissen der Kabalah bekannt zu machen, geschah es mehr um zu prahlen mit einer Macht und Fähigkeit, die ich damals in der That nicht besaß; denn wenn ich auch nicht aus Wissensdurst, sondern aus Neugier und Lau- ne vielfache Studien über die geheimen Traditionen und Wissenschaften meines Volkes aus alter Zeit getrieben hatte, wußte ich doch recht gut, daß ich meinen Fuß kaum in den Vorhof jener Geheimnisse gesetzt hatte, die ich noch jetzt für nichts Anderes als die Sophismen und Spekulationen exaltirter Geister glaube, mit deren Nimbus man Dummköpfe in Schranken


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und Gehorsam hielt. Einige zufällige Entdeckungen, die ich seitdem gemacht, haben mich auf andere Gedanken gebracht und meine Neugierde erregt. Sie wissen trotz der kurzen Zeit unsers Umgangs, daß ich nicht der Mann bin, einen einmal gefaßten Gedanken, eine Spur, die ich gefunden, so leicht wieder aufzugeben. Was auch mein Zweck bei

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dieser Befriedigung meiner Neugier sein mag, welches auch der wahre Grund ist, der mich bewogen, Sie zum Mitwisser zu wählen - kümmern Sie sich nicht darum. Genug, die Gele- genheit, unsern beiderseitigen Wunsch erfüllen zu können, ist da, und es handelt sich nur darum, ob Sie die Bedingungen, die ich für die Theilnahme der Erforschung zu stellen habe, erfüllen wollen?« 

»Wenn sie nicht gegen Ehre und Gewissen sind, jede.« 

»Cospetto! Darüber ist Jeder selbst der beste Richter, Signor Dottore! Aber Sie haben in dieser Beziehung Nichts zu riskiren, wohl aber in anderer, das heißt: Ihr Leben. Fühlen Sie sich entschlossen genug, einer ernsten Gefahr Trotz zu bieten?« 

»Im Dienst der Erkenntniß, jeder!« 

»Bene! denn ich muß Ihnen sagen, ich führe Sie an einen Ort, wo wir Beide, wenn man uns entdeckte, eher in Stücke zerrissen würden, als daß man uns lebendig entkommen ließe, ja wo die bloße Ahnung, daß wir unberufene Mitwisser des Geheimnisses seien, uns eine Meute auf den Hals bringen könnte, die uns über kurz oder lang zu Tode hetzte.« 

»Sie machen mich immer begieriger, Signor Lasali.« 

»Das war das Eine, was ich Ihnen sagen mußte. Das Zweite ist - Sie wissen, daß ich selbst dem Volke angehöre, das über die Erde zerstreut ist.« 

»Sie haben mir gesagt, daß sie als Jude geboren sind.« 

»Deshalb - obschon man mich mit allen albernen Ceremonien und Verfluchungen, wie sie die Gesetzbücher

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vorschreiben, ausgestoßen und in Bann gethan hat, weil ich es meinen Zwecken förderlicher hielt, ein Bischen christliches Taufwasser mir über den Kopf gießen zu lassen, - habe ich doch noch ein gewisses faible für meinen Ursprung, und die Bedingung, die ich Ihnen stelle, ist Ihr Ehrenwort, daß Sie über Alles, was wir sehen und hören werden, das strengste Schweigen beobachten müssen, bis ich Ihnen selbst Ihr Wort zurückgebe.« 

»Bei meiner Ehre!« 

»Abgemacht. Ich weiß, Sie verstehen das Chaldäische?« 

»Ich habe es mir bei meinen Studien der alten Schriften vollkommen zu eigen gemacht.« 

»Sie wissen, daß auch ich es verstehe, wenn auch nicht so fertig wie Sie. Wahrscheinlich werden wir diese Kenntniß brauchen. - Erinnern Sie sich aus Ihren Forschungen über die Kabalah, daß auf eine Zusammenkunft der Häupter oder Auserwählten in den mystischen Schriften hingedeutet wird, eine Zusammenkunft, die sich von Zeit zu Zeit wiederholt?« 

»Ja - in der Jezirah ist mit bestimmten Worten davon die Rede, und wenn ich diese recht ausgelegt, findet alle hundert Jahre eine solche Zusammenkunft statt.« 

»So ist es. Die letzte wurde im Jahr 1760 gehalten und Sie werden sich erinnern, daß bald darauf eine große Bewegung im Judenthum folgte. Wir schreiben gegenwärtig das 1787ste Jahr der Zerstörung Jerusalems, und es ist, ich weiß nicht in Folge welcher Zahlenconstella- tion, das bestimmte Jahr der Zusammenkunft des kabbalistischen Sanheddrin.« 


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«Woher wissen Sie das, Freund?« 

»Das kann Ihnen gleich sein, thun Sie darüber keine Fragen an mich. Genug, es ist so, und noch mehr, der heutige Abend ist der der Zusammenkunft und diese Stadt der Ort. Ich beabsichtige auf jede Gefahr hin, dieser Zusammenkunft beizuwohnen und bin bereit, Sie mit mir zu nehmen.« 

»Aber wird dies nicht ein unehrliches Belauschen, ein widerrechtliches Eindringen in die Geheimnisse Anderer sein?« 

»Per Bacco! wie wir Italiener sagen, wenn Sie solche Scrupel haben, dann geben Sie über- haupt die Erfüllung Ihres so lang gehegten Wunsches daran. Oder glauben Sie, daß jene Männer, welche das Geheimniß der Kabalah bewahren, es Ihnen auf dem Präsentirteller ent- gegen bringen werden? Was mich anbetrifft, ich will es kennen lernen auf jede Gefahr hin!« 

Der Gelehrte dachte einige Augenblicke nach, dann sagte er entschlossen: »Ich werde Sie begleiten, entstehe daraus, was da wolle!« 

»Gut - so sind wir einig. Lassen Sie uns gehen, denn wir haben keinen Augenblick zu verlieren. Es ist gut, daß Sie dunkle Kleider tragen, wie ich. Liier nehmen Sie diesen kurzen fünfläufigen Revolver und fassen Sie, wie ich, von vorn herein den Entschluß, im Fall der Entdeckung lieber jedes andere Leben zu opfern, als das unsre. Kommen Sie.« 

Die beiden Männer verließen die Brücke und nahmen ihren Weg nach der Altstadt. Der Italiener schien mit

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allen Winkeln und Gäßchen vollkommen vertraut oder sich nach vorher gemerkten Kenn- zeichen zu richten; denn ohne sich ein einziges Mal zu irren, bog er bald nach der Seite der Judenstadt ein. Unter einem dunklen Thorweg blieb er stehen, zog aus der Tasche zwei falsche, leicht mit einem Gummizug zu befestigende dunkle Bärte und reichte seinem Gefähr- ten den einen. Als sie sich auf diese Weise mehr den Bewohnern des unheimlichen Stadttheils ähnlich gemacht, vertieften sie sich ohne Zögern in diese engen und schmuzigen Gäßchen.

Der Italiener wandte sich in der Nähe des Kirchhofes zur Linken, schlüpfte durch einen finstern Durchgang und gelangte mit seinem Gefährten an die nördliche Mauer des Friedho- fes, an welche die Häuser dieser Seite mit ihren engen, verpesteten Höfen stoßen. Er mußte bereits am Tage hier sich die passende Stelle ausgesucht haben, denn bald fand er in einem dunklen, von keinem Lichtstrahl erhellten Winkel einen Haufen Schutt und Steine auf, der bis zur halben Höhe der Mauer reichte, befestigte an einem Balken einen mit Knoten versehe- nen Strick, dessen anderes Ende er über die Mauer warf, und, nachdem er seinem Gefährten noch einmal die ernste Mahnung des Schweigens und der Vorsicht zugeflüstert, stieg er auf die Mauer, über deren mit Glasscherben geschützte Krone er vorsichtig seinen Mantel warf, und ließ sich auf der andern Seite auf das wirre Gestrüpp der Gräber niedergleiten.

Mit gleicher Stille und Vorsicht, ohne verschiedener Verletzungen an den scharfen Glas- kanten zu achten, folgte ihm der Gelehrte. Dann orientirte sich Lasali an den am

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Nachthimmel sich abzeichnenden Giebeln der Häuser über die Stelle, an welcher sie über- gestiegen waren, und deutete seinem Gefährten an, ihm auf Händen und Füßen über die eingesunkenen Gräber und Grabsteine kriechend mehr nach der Mitte des Kirchhofs zu fol- gen.


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Eben schlug die Uhr des Rathsthurmes die eilfte Stunde, und mit dem ersten Schlag hörten Beide den Schlüssel in der Pforte knirschen.

Eine tiefe Stille folgte diesem Ton, der bewies, daß der Kirchhof geöffnet worden. So ange- strengt sie auch lauschten, sie hörten Niemanden eintreten.

Die Beiden befanden sich jetzt dicht neben einander auf den Boden gekauert in der Ver- tiefung zwischen zwei Grabsteinen, die eine Dornenhecke überwucherte, in der Nähe des Steinhagels, welcher das Grab des Rabbi Simeon Ben Jehuda bildet. In den Judenhäusern um den Friedhof begannen die Lichter zu erlöschen, alle Töne des Festes zu verstummen.

Ein noch unheimlicheres Schweigen verbreitete sich über den unheimlichen Ort.

So hörten die Lauscher deutlich und klar von den Thürmen der Stadt die beiden ersten Viertel schlagen.

Plötzlich preßte der Italiener den Arm des Gelehrten.

»Still - sie kommen! Keinen Laut, was Sie auch hören und sehen mögen!« 

Die Pforte des Einganges knarrte leise - dann rauschte es an den Hecken und Steinen her wie lange schleppende Gewänder - eine weiße unbestimmte Gestalt glitt lautlos einem Schatten gleich in den Gängen hin.

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Sie kauerte nieder an dem Steinhaufen, berührte drei Mal mit der Stirn die Steine und begann leise ein Gebet zu murmeln.

Der Deutsche verstand, daß die Worte Chaldäisch waren, aber er hatte nicht Zeit, darüber nachzudenken. Durch den Gang von der Pforte her humpelte, hustete, ächzte es - fast gekro- chen kam eine alte gekrümmte Figur an den noch älteren Gräbern daher getastet und ließ sich nieder zur Seite der ersten und stimmte ein in deren gemurmeltes Gebet.

Und wieder klang es mit festen kräftigen Schritten und kam heran auf dem Weg, eine hohe stattliche Gestalt in dem weißen fliegenden Taleth, dem Gebetmantel, und kauerte nieder wie unwillig über den Zwang.

Dreizehn Mal wiederholte sich der Weg, dreizehn geisterhafte Gestalten waren gekommen - der Doctor hatte sie gezählt, aber er wußte kaum, waren es Lebende oder Todte. Ein kal- ter Schauer fröstelte über seinen Rücken - ein tiefes Grauen machte sein Herz erbeben - unwillkürlich erinnerte er sich jener schaurig erhabenen Tradition von dem Versöhnungsfest am zehnten Tage des Monates Tischri in der Synagoge zu Posen, wo schon beim Gebet Kol- Nidre die Versammlung wuchs und wuchs und Gestalt sich an Gestalt drängte, verhüllt in die Gebetmäntel, Hunderte und Hunderte, weit über die Gemeinde hinaus, bis der entsetzte Rabbi die Hände hob zur Beschwörung und forderte: Wer da hat Fleisch auf seinen Wangen, der thue ab den Taleth! Und als Hunderte verhüllt blieben und man den Mantel von ihren Häuptern zog, schaute man die Schädel

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der Todten, die gekommen waren aus ihren Gräbern das Fest zu feiern mit der Gemeinde.

Wie dort, glaubte er jetzt die weißen Talethim fallen und Schädel an Schädel grinsen zu sehen, als der letzte Schlag der Mitternachtsstunde vom Thurm her durch die Nacht zitterte und mit dem Verhallen des Tons ein scharfer metallener Klang sich hören ließ und ein ge- spenstiger blauer Lichtschein aufflackerte, gleichsam aus dem Steinhaufen, dem Grabe des alten Kabahlisten, dringend, und die dreizehn weißen verhüllten Gestalten umdämmerte, die um das Grab her kauerten.


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»Seid gegrüßt, Ihr Rosche-Bathe-Aboth 1 der zwölf Schebatim 2 Israels,« sagte eine tiefe Stimme.

»Sei gegrüßt, Du Sohn des Verfluchten!« 

»Hundert Jahre sind vergangen. Woher kommen die Nesiims ?« 3

»Wo der Wind her weht, wo das Volk Adonai’s zerstreut ist über die Länder, deren Herr- schaft der Aeltervater ihnen verheißen!« 

»Seid Ihr gerüstet, zu erfüllen die Verheißung in den hundert Jahren, die kommen?« 

»Wir sind es!« 

»So gebt die Antwort Derer, die Ihr vertretet. Schebet 4 Juda?« 

» Amsterdam !« antwortete eine kräftige feste Stimme.

»Schebet Benjamin?« 

»Toledo!« klang es hohl.

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»Schebet Levi?« 

»Worms!« 

»Schebet Manasse?« 

»Buda-Pesth!« 

»Schebet Gad?« 

»Krakau!« 

»Schebet Simeon!« 

»Rom!« 

»Schebet Sebulon?« 

»Lissabon!« 

»Schebet Rüben?« 

»Paris!« 

»Schebet Dan?« 

» Constantinopel !« 

»Schebet Asser?« 

»London!« 

»Schebet Isaschar?« 

Die hinter dem Gestrüpp konnten den Namen nicht verstehen, den die heisere schwache Stimme des Gerufenen murmelte.

»Schebet Naphtali?« 

»Prag!« 

»Und ich, der Repräsentant der Verstoßenen und Wandernden,« sagte der Frager mit tiefer Stimme, »der umherzieht durch die Welt, Euch zu sammeln zum Werke der Vergeltung und der Verheißung, die gegeben ward dem Saamen Abraham’s und die ihm genommen ist durch die Söhne, des Gekreuzigten! Wer da ist vom Hause Aaron’s 5

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1 Stammeshäupter.

9

Stamme.

3 Stammfürsten.

4 Stamm.

5 Stamm Levi.


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der stehe auf und prüfe die Häupter und sammle den Rath!« 

Der Mann, der zuerst gekommen, erhob sich und setzte sich an den Steinhaufen. Einer nach dem Anderen trat zu ihm und flüsterte ihm das siebensylbige Wort zu, das am Abend dem Wächter des Kirchhofes genannt worden, und jedes Mal nickte er Zustimmung.

Dann nahmen Alle wieder ihre Plätze ein.

»Brüder,« sagte der Levit, »unsre Väter haben den Bund gemacht, der die Eingeweihten der Schebatim führt alle hundert Jahre zu dem Grabe des großen Meisters der Kabahla, so ist die Lehre, welche den Erwählten die Macht auf Erden verleiht, die Herrschaft über alle Geschlechter aus dem Saamen Ismaels. Achtzehnhundert Jahre führt das Volk Israels den Kampf um die Herrschaft, die Abraham versprochen worden und die das Kreuz uns entrissen. Unter den Sohlen unserer Feinde, unter Druck und Tod und Bedrängniß jeder Art hat Israel niemals diesen Kampf aufgegeben, und weil das Volk Abraham’s zerstreut worden über die ganze Erde, wird die ganze Erde auch ihm gehören! Die weisen Männer unseres Volkes leiten den Kampf seit Jahrhunderten, und Schritt um Schritt erhebt sich das Volk Israels von seinem Sturz, und gewaltig ist die Macht geworden, die es offen und geheim ausübt bereits über die Throne und Völker; denn unser ist der Gott der Erde, den Aaron uns tröstend gemacht in der Wüste, das goldene Kalb, vor dem sich beugen die Abtrünnigen!« 

»Wir hören!« murmelte es im Kreise.

»Wenn alles Gold der Erde unser ist, ist alle Macht

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unser. Dann ist die Verheißung, die Abraham gegeben ward, erfüllt. Das Gold ist das neue Jerusalem - es ist die Herrschaft der Welt. Es ist Macht, es ist Vergeltung, es ist Genuß - also Alles, was die Menschen fürchten und wünschen. Das ist das Geheimniß der Kabahla, der Lehre von dem Geist, der die Welt regiert, von der Zukunft! - Achtzehn Jahrhunderte haben unseren Feinden gehört - das neue Jahrhundert gehört Israel. Zum fünften Mal versammeln sich in dem tausendjährigen Kampf, zu dem wir uns endlich ermannt, die Wissenden des geheimen Bundes an dieser Stätte, Rath zu pflegen über die besten Mittel, welche die Zeit und die Sünden unserer Feinde bieten, und jedes Mal hat der neue Sanhedrin seit fünfhun- dert Jahren fortschreitende Siege Israels zu verkünden gehabt. Doch noch kein Jahrhundert erfreute sich solcher Erfolge, wie dieses. Darum dürfen wir glauben, daß die Zeit nahe ist, nach der wir streben, und dürfen sagen: unser ist die Zukunft !« 

»Wenn nicht eine Judenhetze dazwischen kommt!« sagte mit bitterem Hohn der Stammlo- se, der den advocatus diavoli des Kollegiums der Heiligsprechung bei dieser Versammlung zu vertreten schien.

»Die dunklen Zeiten dieser Gefahr sind vorüber. Die Fortschritte der sogenannten Cultur der christlichen Völker sind der beste Schutz unseres Strebens. Bevor wir den Rath der ein- zelnen Stimmen hören, wollen wir die Mittel der materiellen Macht unseres Volkes in der Gegenwart prüfen, das haare Kapital, über das Israel zu verfügen hat. So nennt denn die reichsten aus unserem

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Volk auf den sieben Weltmärkten Europa’s und wie hoch man sie schätzt! Beginnt denn mit Paris!« 

»Fould und Co.,« berichtete die Stimme des Seken, »20 Millionen Franken; A. I. Stern und Co. 30 Millionen; G. L. Halphen u. Co. 20 Millionen; Anton Schnapper 15 Millionen; Samuel


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von Haber 7 Millionen; H. I. Reinach 7 Millionen; I. E. Kann u. Co. 5 Millionen; Bischoffsheim Goldschmidt u. Co. 15. Millionen, M. Cahen D’Anvers 5 Millionen. Zusammen 124 Millionen Franken. Dazu kommen die kleineren Häuser mit etwa 80 Millionen, so daß das Kapital in den Händen Israels zu Paris mehr als 200 Millionen Franken beträgt.« 

»Das ist der siebenundvierzigste Theil der Staatsschuld von Frankreich,« sagte der Wan- dernde. »Pereire und Mires, die zu den Unseren gehören, sind auf 30 Millionen zu schätzen.« 

»Weiter! der Bericht von London?« 

»Moses Montefiore 2 Millionen Pfund; Moses und Sohn, Bischoffsheim u. Goldschmidt und Gebrüder Stern jeder 1 Million; R. Raphael u. Sohn 800,000; Louis Cohen u. Sohn, Samuel Montague, jeder 500,000 Pfund, zusammen 6,800,000. Die kleineren Häuser der City über 4 Millionen - zusammen 11 Millionen Pfund oder 260 Millionen Franks in London.« 

»Ich bemerke, daß der Seken die Häuser Rothschild ausläßt, die Fürsten der Börse!« 

»Sie müssen besonders genannt werden,« erklärte der Levit. »Der Bericht von Wien.« 

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»Moritz Königswarter 14 Millionen Gulden,« berichtete die dritte Stimme; »Herman To- descos S. 15 Millionen; M. L. Biedermann u. Co., Max Springer, Ephrussi u. Co. und Eduard Wiener, jeder anderthalb Millionen; Ludw. Ladenburg 2, Fr. Schey 2\, Leop. Epstein 3 Millio- nen. Zusammen 46| Millionen, die kleineren Häuser 14 Millionen, zusammen 61 Millionen Gulden oder 152 Millionen Franken in Wien.« 

»Die österreichischen Anlehen sind billig! 2268 Millionen Gulden Staatsschulden. Beim Bankerott muß sich das Vermögen der Unseren verdoppeln!« 

»Berlin!« 

»S. Bleichröder, Mendelssohn u. Co., H. C. Plaut und S. Herz, jeder 1 Million Thaler; N. Reichenheim u. S. und Liebermann u. Co., jeder 2 Millionen; Hermann Gerson und M. E. Levy, jeder 1^ Million; Joel Meyer 1-j-, Moritz Güterbock |, Louis Rieß u. Co. | Million; zusammen 13 1 Million Thaler. Die kleineren Häuser 10 Millionen - zusammen etwa 24 Millionen Thaler oder 90 Millionen Franken.« 

»Also der zwölfte Theil der Staatsschuld in unserer Hand. Dennoch ist die Summe gering - das Verhältniß muß ein anderes werden.« 

»Der Bericht von Hamburg!« 

»H. B. Oppenheimer 4; I. G. Oppenheimer, Gebrüder Jaffe, Pintus Nathan Sohn, jeder 2 Millionen Mark; Behrens Söhne l|; Ferdin. Jacobson, Samuel Levy Söhne, L. R. Veit u. Co., A. Alexander, Lieben Königswarter, M. M. Warburg, Consul H. Jonas u. Co., Julius

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Leser, Martin M. Fränkel: je eine; Mendelsohn Bartholdy 3 Millionen Mark; in Altona Amsel Jacob Ree 1; Hesse Newmann 1, W. S. Warburg 2 Millionen, zusammen 2 7\ Million; mit den anderen Häusern etwa an 40 Millionen Mark oder 75 Millionen Franken. Aber der Reichthum der christlichen Häuser ist leider noch größer! Unsere Leute können in der starren Reichsstadt noch immer nicht aufkommen!« 

» Frankfurt a. M.!« 

»B. H. Goldschmidt 7 Millionen Gulden; Marcus Königswarter, Jacob S. H. Stern und Gebrü- der Sulzbach, je 2; Lazarus Speyer Ellissen l|; Ed. Moses Kann u. C. 1 Million. Die Kleineren


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mit den Lotterie-Collecteuren etwa 8 Millionen. Hierzu die Fürsten des Kapitals, die ver- bundenen Häuser Rothschild in London, Paris, Frankfurt und Wien mit mindestens hundert Millionen - das sind zusammen 123 Millionen Gulden oder 260 Millionen Franken.« 

»Das Haus E. M. Günzburg in Petersburg wird mit 2 Millionen Rubel taxirt; unsere Häuser in Rom und Neapel mit 20 Millionen Livres; in Amsterdam: Holländer u. Lehven, Lippmann Rosenthal u. Co., Becher u. Fould, Werthheim u. Gompertz mit 40 Millionen Gulden. Rechnen wir zusammen, so beträgt das erweisliche Vermögen Israels bloß in zehn Hauptstädten 1165 Millionen Franken. Hierzu die Städte zweiten Ranges! Brüder, wir dürfen annehmen, daß - ohne das Volk zu rechnen - die großen Kapitalträger Israels heute schon über ein Kapital von zweitausend Millionen Franken in Europa disponiren!« 

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Ein beifälliges Gemurmel der Zwölf bildete die Antwort.

»Das macht auf 3| Millionen Juden in Europa 600 Franken auf den Kopf,« bemerkte der Vertreter der Stammlosen. »Aber den 3| Millionen mit ihrem Geld stehen 265 Millionen Feinde entgegen in Europa, oder 500 Millionen Fäuste!« 

»Der Kopf wird die Faust besiegen, wie er sie bisher besiegt hat. Die Arbeit ist der Knecht der Spekulation, die Gewalt der Diener des Verstandes. Wer will es leugnen, daß die Schlauheit die Gabe unseres Volkes ist?« 

»Es ist eitel und habsüchtig, hochmüthig und genußsüchtig!« 

»Wo das Licht ist, sind auch Schatten. Nicht umsonst hat Adonai, der Herr, seinem aus- erwählten Volke die Zähigkeit der Schlange, die List des Fuchses, den Blick des Falken, das Gedächtniß des Hundes, die Emsigkeit der Ameise und die treue Gemeinschaft des Bibers gegeben. Wir waren in der Gefangenschaft an den Wässern von Babylon und sind mäch- tig geworden! Man hat unsern Tempel zerstört und wir haben tausend aufgebaut! Man hat uns geknechtet achtzehnhundert Jahr im Staube, und unser Haupt ist gewachsen über die Nationen und wir werden sie wieder knechten, so lange die Welt steht!« 

»Die Zahl Derer, die zur Taufe gehen, mehrt sich!« sprach zäh der Zweifler.

»Thor!« sagte der Levit. »Hat Dich Deine Wanderschaft durch die Länder der Erde noch nicht gelehrt, daß das Wasser nicht abwäscht den Geist, sondern nur das

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Fleisch? Laßt ihre Bekehrungsgesellschaften thöricht ihr Geld verschwenden! hat nicht erst die hochmüthige Times noch jüngst berechnet, daß der englischen Mission jede bekehrte Judenseele auf 250,000 Franken zu stehen kommt? Und haben wir nicht selbst am Versöh- nungstage gebetet für die Abtrünnigen? Denn wahrlich, ich sage Dir, nicht der Jude wird Christ, sondern der Christ Jude auf Generationen hinaus durch die Vermischung des Flei- sches. Die Getauften sind die Stufen, auf denen wir die Wege, so noch verschlossen unserem Volk, erklimmen; denn ein Jeglicher hält zu uns und nicht zu Denen, die nicht sind seines Leibes und Geistes trotz der Taufe; es müßte denn sein, daß Israel selbst sie als Aussätzige verstoßen!« 

Die Zwölf des Kreises murmelten eine Verwünschung: der Doktor fühlte, wie die Hand des Italieners sich krampfhaft und fest um seinen Arm preßte.

»Schweige und höre!« 

»Brüder,« sagte die Stimme des Leviten, »es ist Zeit, daß wir nach der Satzung unseres Stifters, ein Jeder nach den Erfahrungen der hundert Jahre, die Wege sagen, auf welche


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Israel zu leiten ist, damit es zu seinem Ziel komme. Wir, die Wissenden, sind die Führer, welche die Menge, die blind ist, leiten. Wir sind die Baumeister, welche die todten Steine des Thurmes zusammensetzen, daß er aufrage in den Himmel.« 

»Der Thurm von Babylon ward zerschmettert von der Hand Dessen, den ich nicht nennen darf,« sagte der Stammlose.

»Unser Bau steht auf dem Grund der Verheißung,

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die Abraham ward. Beginne denn Dein Wort, Stamm Rüben! Wie gewinnt Israel die Macht und die Herrschaft über alle Völker der Erde, die ihm gebührt?« 

Eine helle, scharfe Stimme, die etwas Schneidendes hatte, sprach Folgendes:

»Alle Fürsten und Länder Europa’s sind heute verschuldet. Die Börse regelt diese Schul- den. Solche Geschäfte macht man aber nur mit mobilem Kapital, deshalb muß alles mobile Kapital in den Händen Israels sein. Ein guter Anfang dazu ist, wie wir eben gehört, schon ge- macht. Indem wir die Börse beherrschen, beherrschen wir das Vermögen der Staaten. Deshalb muß man den Regierungen das Schuldenmachen erleichtern, um immer mehr die Staaten in unsere Hand zu bekommen. Womöglich muß das Kapital sich dafür Institute des Staates: Eisenbahnen, Einkünfte, Bergwerke, Gerechtsame, Domainen verpfänden lassen. - Weiter ist die Börse das Mittel, das Vermögen und die Ersparnisse der kleinen Leute in die Hände der Kapitalisten zu bringen, indem man jene zum Börsenspiel verleitet. Die Zeitkäufe in Papieren sind eine glückliche Erfindung unseres Volkes, und wenn auch die Börsenleute sich betrügen unter einander, wird doch zuletzt immer zahlen die Zeche der Unzünftige.« 

Die Stimme - die man gewiß oft an der großen Börse von Paris hörte - schwieg. »Sind die Sekenim mit der Meinung unseres Bruders einverstanden?« frug der Levit.

Ein beifälliges Gemurmel war die Antwort.

»Der Stamm Simeon hat das Wort!« 

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Eine ernste, tiefe Stimme, deren Klang und Worte von tiefem Nachdenken zeugten, drang zu den Ohren der Lauscher.

»Der Grundbesitz wird immer das eiserne und unverwüstliche Vermögen jedes Landes blei- ben. Er verleiht an und für sich Macht, Ansehen und Einfluß. Der Grundbesitz muß also in die Hand Israels übergehen. Das ist leicht, wenn wir das mobile Kapital beherrschen. Das erste Streben Israels muß daher sein, die jetzigen Eigenthümer aus dem Grundbesitz zu ver- drängen. Vor Allem uns gefährlich ist der große Grundbesitz. Man muß daher das Schulden- machen des jungen Adels in den großen Städten erleichtern. Durch die Furcht vor Skandal ruiniren wir die aristokratischen Vermögen und schwächen die Bedeutung der Aristokratie. Der Grundbesitz muß mobilisirt werden, indem man ihn zur coulanten Waare macht. Je mehr wir auf die möglichste Theilung des Grundbesitzes wirken, desto leichter und billiger bekom- men wir ihn in die Hände. Zu dem Zweck muß auf längere Zeit das Kapital den Hypotheken entzogen und deren Unsicherheit verbreitet werden. Unter dem Vorgeben, die ärmeren Klas- sen und die Arbeit erleichtern zu wollen, müssen in Staat und Kommunen die Steuern und Lasten allein auf den Grundbesitz gelegt werden. Ist der Grund und Boden in unseren Hän- den, so muß die Mühe der christlichen Pächter und Arbeiter ihn zehnfachen Zins für uns bringen lassen.« 


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Der Stammlose lachte spöttisch. »Der Rath ist gut, aber nicht neu. Fragt in Paris und Wien nach, wer

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bereits die Eigenthümer der Häuser sind! Das Damno, meine Erfindung, ist ein vortreffliches Mittel, die Besitzer zu ruiniren!« 

Wiederum folgte das beifällige Gemurmel der Versammlung.

»Stamm Juda, die Reihe ist an Dir!« 

Die Stimme, die sich erhob, hatte einen überredenden angreifenden Ton, der nach Ellen und Thalern klang.

»Der Handwerkerstand, jene Israel im Wege stehende Kraft des Bürgerthums, wie der Grundbesitz die Kraft des Adels ist, muß ruinirt werden. Der Handwerker darf nichts Ande- res als Arbeiter sein. Das beste Mittel dazu ist die unbedingte Gewerbefreiheit. Der Fabrikant trete an die Stelle des Meisters. Da er nicht selbst zu arbeiten, sondern nur zu spekuliren braucht, können sich die Kinder Israels in dieser Weise allen Zweigen der Arbeit zuwenden. Ihr Kapital und ihre Gewandtheit ersetzen die Befähigung. Mit der Verwandlung der Hand- werker in unsere Fabrikarbeiter beherrschen wir zugleich die Massen zu politischen Zwecken. Wer diesem System widersteht, muß durch die Conkurrenz vernichtet werden! Das Publikum ist eine gedankenlose und undankbare Masse, es wird den Handwerker in diesem Kampf im Stich lassen, wenn es beim Fabrikanten die Waare etwas billiger bekommen kann.« 

Eine rasche Beistimmung des neuen Sanhedrin bewies, daß die Wahrheiten dieses Rathes längst begriffen und befolgt waren.

»Die Reihe ist an mir,« sagte der Levit. »Ich rede im Namen des Stammes Aaron.

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»Der natürliche Gegner Israels ist die christliche Kirche. Deshalb gilt es, sie zu untergraben. Ihre Spaltungen erleichtern dies. Wir müssen in ihr die Freigeisterei befördern, den Zweifel, den Unglauben, den Streit. Deshalb steten Krieg in der Presse gegen das christliche Prie- sterthum und Verdächtigung und Verspottung desselben. Ein Hauptpfeiler der Kirche ist die Schule. Auf die Erziehung der christlichen Jugend müssen wir also Einfluß gewinnen. Des- halb zunächst Trennung der Schule von der Kirche. Unter der Firma des Fortschritts und der Gleichberechtigung aller Religionen: Verwandlung der christlichen Schulen in confessionslo- se. Dann können Israeliten Lehrer an allen Schulen werden, die christliche Erziehung wird auf das Haus beschränkt, und da die Masse keine Zeit dazu hat, die Religiosität der höheren Stände erschüttert ist, wird sie bald ganz aufhören. Agitation für die Aufhebung des eigenen Besitzes der Kirchen und Schulen, Uebergang des Kirchen- und Schulvermögens in den Besitz des Staates, also früher oder später in die Hand Israels!« 

Das zustimmende Gemurmel begleitete die Worte des Redners, keine Stimme erhob sich dagegen. Dann fuhr dieser fort:

»Der Seken des Stammes Isaschar hat das Wort.« 

Es war die zitternde Stimme eines Greises, die also sprach:

»Mögen die Brüder wirken für Aufhebung der bewaffneten Macht. Der rauhe Waffendienst ist nicht für die Kinder Israels, nicht Jeder ist ein Gideon! Die Armeen sind die Stütze der Throne und die Schulen eines engherzigen

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Patriotismus. Nicht das Schwert, sondern der Geist und das Geld müssen regieren. Deshalb bei jeder Gelegenheit Herabsetzung und Verdächtigung des Militairstandes im Volk, Erregung von Zwiespalt zwischen Beiden. Söldner genügen, um die Polizei zu üben, und die Besitzen- den gegen die Nichtbesitzenden zu schützen.« 

»Der Löwe Juda’s hat seine Stimme erschallen lassen,« sagte der Wandernde höhnisch. »Da- vid überwand den Goleath. Die Völker werden künftig leben im Schlafrock, statt im Schirjon 1 des Kriegers! Eine Ohrfeige an der Börse wird sein, wie eine geschlagene Schlacht!« 

Ein Sturm gegen den frechen Spott schien sich im Kreise erheben zu wollen, aber ein Wort des Aeltesten beruhigte sie.

»Er ist der Sohn Belials! Er mag reden, aber er wird thun, was der Rath der Schebatim beschlossen.

Der Stamm Sebulon möge sprechen.« 

Eine dumpf wie das Gewitter in der Ferne grollende Stimme sprach Folgendes:

»Unser Volk ist im Grunde ein conservatives, an dem Alten, Festen hängend. Aber unser Vortheil erfordert jetzt den eifrigen Anschluß, das heißt die Leitung der Bewegungen, wel- che die Welt durchzittern. Es ist unleugbar, daß ein Drang der Reform durch unsere Zeit geht, aber der ursprüngliche Gedanke derselben ist die Reform des Materiellen, das heißt des materiellen Zustandes der bedürfenden Klassen. Zu einer solchen müßten aber die habenden

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Klassen Opfer bringen, zunächst das Kapital. Das Kapital ist aber in den Händen Israels. Deshalb war es seine Aufgabe, an der Bewegung äußeren Theil zu nehmen, um sie von dem Gebiet der socialen Reformen hinüber zu leiten auf das Feld der politischen. Die Volksmasse als solche ist stets blind und dumm und läßt sich leiten von den Schreiern. Wer aber schreit so laut und so klug wie Israel? Deshalb waren unsere Leute voran auf der Tribüne, voran in den Zeitungen und in den Vereinen der Christen! Je mehr Vereine und Versammlungen, desto mehr Unzufriedenheit und Unlust zur Arbeit. Daraus folgt nothwendig die Verarmung des Volks, also seine Knechtschaft unter Denen, welche haben das Geld, und zugleich das Wachsen unseres Reichthums. Außerdem bringt uns jede Bewegung Geld, denn sie ruinirt den kleinen Mann und mehrt die Schulden. Die Unsicherheit der Throne läßt wachsen unsere Macht und unsern Einfluß. Deshalb Erhaltung fortwährender Unruhe! Jede Revolution zinst unserm Kapital und bringt uns vorwärts zum Ziel!« 

Ein längeres Schweigen folgte diesen schrecklichen Sätzen, gleich als dächte jedes Mitglied des geheimnißvollen Sanhedrin über ihre furchtbare Tragweite nach.

Der Sohn Belials ließ nochmals ein heiseres Lachen hören. »Fürchtet Ihr Euch vor Blut? Es ist nicht das Eure!« 

Dann begann der Eine seine Zustimmung zu murmeln und die Andern folgten nach.

»Sohn des Stammes Dan, die Reihe ist an Dir!« 

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Die Antwort trug selbst in der Stimme das Gepräge des niedern jüdischen Typus.

»Aller Handel, wobei ist Spekulation und Verdienste muß sein in unserer Hand. Er ist unser angebornes Recht. Wir müssen vor Allem haben den Handel mit Spiritus, mit Oel, mit der Wolle und mit dem Getraide. Dann haben wir in der Hand den Ackerbau und das Land. Wir können machen überall das tägliche Brod, und wenn entsteht Unzufriedenheit und Noth,

1 Panzer.


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läßt sich leicht schieben die Schuld und das Geschrei von uns auf die Regierungen. Der kleine Kram, wobei ist viele Müh und zu verdienen wenig, mag bleiben in den Händen der Christen. Sie mögen sich schinden und quälen, wie das auserwählte Volk sich gequält hat viel hundert Jahre.« 

Die Rede bedurfte kaum der Zustimmung. Der Levit rief den Nächsten auf: »Stamm Naph- thali!« 

Die Worte, die folgten, klangen scharf und bewußt.

»Alle Staatsämter müssen uns offen stehen! Ist das Prinzip erst durchgesetzt, wird Schlau- heit und Zähigkeit dem jüdischen Bewerber bald diejenigen schaffen, die wirklich von Einfluß sind; denn es handelt sich nur um solche Aemter, die äußerliche Ehre, Macht undVortheil bringen. Die, welche Arbeit und Kenntnisse fordern, mögen die Christen behalten. Darum verschmäht der Israelit die Subalternstellen. Die Justiz ist für uns von erster Wichtigkeit, die Advocatur ein großer Schritt vorwärts. Sie paßt zu dem Geiste der Schlauheit und Zähigkeit unsers Volkes und gewährt uns Einsicht und Macht über die Verhältnisse unserer natürlichen Gegner. Warum soll nicht ein Jude [ 180 ]

auch werden können bei der Parität Cultusminister, da die Juden doch schon gewesen sind Finanzminister in mehr als einem Staat?« 

»Denkt an den Galgen Hamans! an das Schicksal von Süß und Lippold!« sagte die warnende Stimme.

»Was krächzt der Rabe von den vergangenen Zeiten, so hinter uns hegen und sind über- wunden! Ist nicht einer von unserm Volk ein großer Minister in Frankreich und geehrt vom Kaiser selbst?!« 

Der Ton befriedigten Stolzes lag in der Zustimmung, die dem Redner wurde, der also fort- fuhr:

»Unsere Männer müssen kommen unter die Gesetzgeber des Staates. Die Ausnahme- Gesetze der Gojim für die Kinder Israels müssen abgeschafft werden überall, während wir bewahren die Satzungen unserer Väter. Wir brauchen keine Gesetze mehr zu unserem Schutz, jetzt müssen wir sorgen für Gesetze, die uns gewähren Nutzen! Ein mildes Bankeruttgesetz, was sein soll im Interesse der Humanität, ist wie ein Goldbergwerk in unserer Hand. Vor Al- lem müssen wir sorgen, daß die Wuchergesetze fallen in allett Ländern, mit dem Geschrei, daß dadurch das Geld billiger werden wird. Das Geld ist eine Waare wie jede andere, und das Gesetz selbst muß uns geben das Recht, zu steigern seinen Preis, wie unser Vortheil es heischt.

»Es spreche der Bote vom Stamme Benjamin .« 

»Was soll ich sagen noch zu dem Rath so weiser Männer? Israel soll haben auch Ruhm und Ehre, deshalb muß es sich drängen an die Spitze aller Vereine, wo ist Ehre und keine Gefahr und sich werfen auf jene Zweige [ 181 ]

der Wissenschaft und Kunst, welche sie dem Charakter unseres Volkes am Leichtesten ver- schaffen. Wir können große Schauspieler und große Philosophen und große Komponisten werden, denn bei allen Dreien findet die Spekulation ihr Feld. In der Kunst werden sorgen unsere Leute für den Beifall und uns Weihrauch streuen. In der Wissenschaft ist es die Medizin


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und die Philosophie, die wir festhalten wollen. Sie gewähren der Theorie und der Spekulati- on den meisten Raum. Der Arzt dringt in die Geheimnisse der Familien und hat das Leben in seiner Hand.« 

«Stamm Asser, die Reihe ist an Dir!« 

«Wir müssen verlangen freie Ehe zwischen Juden und Christen. Israel kann dabei nur pro- fitiren, wenn es auch verunreinigt sein Blut. Unsere Söhne und Töchter mögen heirathen in die vornehmen und mächtigen Familien der Christen. Wir geben das Geld und erhalten dafür den Einfluß. Die christliche Verwandtschaft hat keine Einwirkung auf uns, aber wir werden sie üben auf jene. Das ist das Eine. - Das Andere ist, daß wir ehren das jüdische Weib und üben verbotenes Gelüst lieber an den Weibern unserer Feinde. Wir haben das Geld, und für Geld ist feil auch die Tugend. Ein Jude soll nie machen eine Tochter seines Volkes zur Chonte; wenn er will freveln gegen das sechste Gebot, sind der Christenmädchen genug dazu da.« 

»Wozu würden denn die hübschen Dirnen der Gojim in den Magazinen beschäftigt?« warf höhnisch der Repräsentant des bösen Prinzips ein. »Die sich nicht fügen will unserer Lust, erhält keine Arbeit, also kein Brod! Wir [ 182 ]

müssen unsern jungen Männern auch ein Vergnügen gönnen. Geht hin in die großen Städte, und Ihr werdet sehen, daß sie wahrlich dazu Eure Weisheit nicht erst abgewartet haben. Der Arbeiter mag mit unseren abgelegten Kleidern zufrieden sein! - Macht aus der Ehe der Christen statt des Sakraments einen Contrakt, und ihre Weiber und Töchter werden noch williger sein in unserer Hand!« 

Der furchtbare Cynismus dieser Worte, der einen so wunden Fleck berührte, verfehlte sei- nen Eindruck nicht bei den strengen Ansichten der alten Lehre über die Reinheit der Sitten.

»Wie spricht das Gesetz?« frug eine Stimme unter den Zwölfen.

»Auf dem Ehebruch mit einem Weibe unseres Volkes der Tod; die Schwächung einer Jung- frau kann mit Geldstrafe gesühnt werden, wenn sie nicht ist eine verlobte Braut. Dann der Tod! Die fleischlichen Vergehen mit einer Sklavin beurtheilt das Gesetz milde - ihr Leib gehört ihrem Herrn!« 

»Sollen die Gojim besser sein als unsere Sklaven?« 

Der Erklärung folgte das Murmeln der Zustimmung.

»Der Stamm Manasse möge sprechen.« 

Der letzte der Redner erhob bedeutsam seine Hand und bewegte sie langsam hin und her, während er sprach, gleichsam als wolle er damit den Eindruck seiner Worte verstärken. Seine Stimme war schnarrend und unangenehm und voll Anmaßung und Dreistigkeit. Aber er sprach sicher und gewandt.

»Wenn das Gold die erste Macht der Welt ist, so ist [ 183 ]

die Presse die zweite. Was sind alle die Meinungen und Rathschläge, die hier gegeben wor- den, ohne ihren Beistand! Nur wenn wir haben die Presse in unserer Hand, werden wir kom- men zum Ziel. Unsere Leute müssen regieren die Tagespresse. Wir sind gewandt und schlau und besitzen Geld, das wir unsern Zwecken dienstbar zu machen verstehn. Wir müssen ha- ben die großen politischen Zeitungen, welche machen die öffentliche Meinung, die Kritik, die Straßenliteratur, die Telegramme und die Bühne. Wir werden daraus verdrängen Schritt um Schritt die Christen, dann können wir diktiren der Welt, was sie glauben, was sie hochhalten


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und was sie verdammen soll. Wir werden ertönen lassen in hundert Formen den Wehschrei Israels und die Klage über die Unterdrückung, die auf uns laste! Dann - während jeder Einzel- ne ist gegen uns - wird die Masse in ihrer Thorheit sein immer für uns! Mit der Presse in unserer Hand können wir verkehren Recht in Unrecht, Schmach in Ehre. Wir können erschüttern die Throne und trennen die Familie. Wir können untergraben den Glauben an Alles, was unsere Feinde bisher hoch gehalten. Wir können ruiniren den Credit und erregen die Leidenschaften. Wir können machen Krieg und Frieden, und geben Ruhm oder Schmach. Wir können erheben das Talent oder es niederhetzen und verfolgen und zu Tode schweigen. Wer die Presse hat, hat das Ohr des Volks. Wenn Israel hat das Gold und die Presse, wird es fragen können: an welchem Tage wollen wir aufsehen, die Ataroch 1 , die uns gebührt, besteigen den Chisse 2 der

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Verheißung und schwingen den Schebet 3 der Macht über die Völker der Erde!« 

Ein fast ungestümer Beifall folgte den Worten und einige Minuten lang konnten die tief ergriffenen Lauscher nur wenig verstehen von dem, was gesprochen ward. Dann aber erhob sich wieder die Stimme des Leviten und gebot Schweigen.

»Die Rosche-Bathe-Aboth der zwölf Schebatim haben gesprochen weise und schwere Wor- te. Sie werden sein die Pfeiler der kommenden Zeit, wenn der Sohn des >Rastlosen< sie schreibt in sein Gedächtniß und ihren Saamen verbreitet unter dem Volk Israels, damit er aufgehe vom Morgen bis zum Abend und vom Mittag bis zur Mitternacht als gewaltiger Baum. Sie sollen sein das Chereb 4 , mit dem Israel schlägt seine Feinde! Der Saamen Jakob’s muß zusammen halten im Glück, im Reichthum und in der Macht, wie er zusammen gehalten hat im Unglück und in der Gefahr. Jeder muß helfen dem Andern. Wo Einer hinein gesetzt einen Fuß, muß er nachziehn den zweiten, das ist: seinen Bruder! - So Einer gehabt hat Un- glück, müssen die Andern ihm helfen auf! So Einer gekommen ist in Streit mit dem Gesetz der Welt, müssen die Brüder ihm helfen durch, wenn er nur in Frieden lebt mit dem Gesetz unsers Volks. Wer gesessen hat auch zehn Jahr im Zuchthaus, kann immer noch werden ein reicher Mann, vor dem sich beugen müssen die Fürsten und Grafen der Gojim, so ihn nur nicht verlassen unsere Leut. Wenn

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Jeder ist gegen uns, werden sein Alle für uns. Die Hand des Herrn hat uns geführt nach vierzig Jahren aus der Wüste zur Herrschaft im Lande Canaan, und sie wird uns führen nach fünfundvierzig Mal vierzig Jahren aus unserer Wanderung im Elend zur Herrschaft über die Länder, so fünfundvierzig Mal größer sind als Canaan! Wenn Israel folgt dem Rath, den beschlossen hat der Sanhedrin der Kabala, werden unsre Enkel, wenn sie kommen in hundert Jahren an diesen Platz zum Grab des Stifters unsers Bundes, ihm verkünden können, daß sie sind die wirklichen Fürsten der Welt und dem Volk Israels erfüllt ist die Verheißung, so ihm versprochen hat die Herrschaft über alle andern Völker als seinen Knechten! Erneuert Euern Schwur, Ihr Söhne des goldenen Kalbes und ziehet hin in alle Winde!« 


^ie Krone. 2 Der Thron. 3 Das Zepter. 4 Schwert.


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Und stärker leuchtete das bläuliche Licht von dem Grabe des Rabbi her, um das jetzt die Dreizehn unter singendem Gemurmel zogen, indem Jeder von ihnen einen neuen Stein, den er unter seinen Gewändern hervorzog, zu dem Steinhaufen warf.

Den Doktor bedünkte es, als glänze auf der Spitze des Grabes eine goldene unförmliche Thiergestalt im geisterhaft blauen Schein - dann plötzlich mit demselben scharfen Metall- klang, mit welchem das Licht erschienen war, verschwand es, und tiefes einförmiges Dunkel bedeckte den unheimlichen Kirchhof.

Zwischen den Gräbern hindurch huschten einzelne weiße Gestalten - leise knarrte die Pforte — das war nicht der Nachtwind, der sie bewegte in den rostigen Angeln!

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Von den Thürmen der Stadt verkündeten die Uhren die erste Tagesstunde.

Noch immer lag der Gelehrte regungslos in seinem Versteck - keine Bewegung wagte er zu machen - so furchtbar, überwältigend war der Eindruck dessen, was er gehört.

Endlich zeigte ein Geräusch an seiner Seite, daß sein Gefährte neben ihm sich erhoben, und mit einem tiefen schweren Athemzug versuchte er, dasselbe zu thun.

Er richtete sich - auf einen Arm sich stützend, - halb empor, als der unerwartete Anblick, der sich ihm bot, sein Blut erstarren machte und jede Fiber in ihm lahmte.

Halb auf dem nächsten versunkenen Grabstein knieend, über sich hingebeugt, sah er den Italiener die rechte Faust erheben, wie zum mörderischen Stoß, und in dieser Faust blitzte im Sternenlicht der scharfe Stahl eines Stilets.

Die sonst so kalten hochmüthig-spöttischen Züge des Gesichts hatten einen wahrhaft teuf- lischen Ausdruck angenommen - die Augen schienen ein grünliches Feuer auszustrahlen, wie das Auge der Katze in der Nacht, oder des Tigers beim Sprung auf seine hilflose Beute.

»Lasali - Freund! - was wollen Sie thun? wollen Sie mich ermorden?« 

Im Sternenlicht funkelte der Dolch, glühten die Augen - dann, wie von einem plötzlichen Gedanken ergriffen, ließ der Furchtbare den Arm sinken, erhob sich und trat zurück.

»Nein -« sagte er düster - »jene Gedanken sind nicht mein Werk, und ich bin zu stolz dazu, eine zweite [ 187 ]

Rolle zu spielen und Nichts zu sein, als ihr Helfershelfer! Es wird ein höherer Ruhm sein, sie zu bekämpfen. - Stehen Sie auf, Mann - Sie haben Nichts mehr zu fürchten!« 

Der Gelehrte erhob sich, - erst als er wieder auf seinen Füßen stand, Mann gegen Mann, und den Revolver faßte, den Jener ihm selbst gegeben, fühlte er wieder einige Ruhe und Sicherheit.

»Was wollten Sie thun, Lasali - warum hoben Sie den Dolch gegen mich, den Sie hierher geführt?« 

»Weil ich Sie ermorden wollte, Doktor!« sagte kalt der Italiener. »Einen Moment noch, und Sie waren stumm, wie die Steine dieser Gräber, und das Geheimniß gehörte mir allein! - Oder glauben Sie, daß das Blut Juda’s in meinen Adern sich nicht empört hätte bei dem Gedanken, daß ein Unberufener, ein Christ, wußte um das große gewaltige Werk, Israel auf den Thron aller Völker zu setzen? Wahrlich, wäre ich Einer jener Dreizehn, Sie wären gestorben von meiner Hand, und hätten Sie zehnfach mein Leben gerettet; denn der Gedanke dieser Herr- schaft ist groß und erhaben. Aber er ist nicht mein Werk und sie haben einen Andern gewählt zu seiner Verbreitung und Ausführung - deshalb muß er bekämpft werden, und ich nehme


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den Kampf auf gegen ihren Götzen der Macht, das goldene Kalb, und will es in Trümmer schlagen wie Moses that in der Wüste mit seinem Bild!« 

»Es ist erschütternd, was wir gehört, die ganze bürgerliche Gesellschaft gefährdend,« sagte der Gelehrte.

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»Nehmen Sie meine Hand, ich will Ihr Gefährte sein im Kampf gegen diese Macht des Gol- des!« 

Der Italiener schüttelte, die Hand des Gefährten zurückweisend, das Haupt. »Nein,« sprach er fest, »was ich thue, will ich allein thun und mein sei die Ehre. Noch giebt es eine Macht, die gesammelt und richtig verwendet, eben so gewaltig ist, wie das Gold. Es ist die Armuth, die Arbeit! Sie will ich aufrufen und führen zum Kampf. Stolzes Israel, wahre Dich! denn Dir gegenüber stelle ich die sociale Demokratie !« 

»Und ich,« sagte begeistert der Gelehrte, »ich will alles Edle und Höhere, die Wissenschaft, das Ideal, den Glauben, mit Schrift und Wort in den Kampf führen gegen diesen Materialis- mus des Geldes.« 

Sein Gefährte lächelte hohnvoll. »Ihre Ideale werden daran zerschellen, wie der Thon ge- gen das Metall. Nur die rohe Kraft der Fäuste und die Bataillone des Hungers sind die Kämp- fer, welche das goldene Kalb besiegen können! - Unsere Wege scheiden sich hier - gehen Sie den Ihren, ich den meinen! Mein Wort ist gelöst, - aber erinnern Sie sich des Ihren, Ihres Schwurs: Schweigen zu bewahren über Alles, was Sie hier gesehen und gehört!« 

»Ich werde mein Wort halten, das Geheimniß der Kabala hindert mich nicht, die sichtbaren Erscheinungen ihres Strebens zu bekämpfen!« 

»So kommen Sie - wir können unsern Rückzug vom Grabe des sehr ehrwürdigen und klugen Rabbi Simeon antreten und haben keine Entdeckung mehr zu befürchten. [«]

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Er sollte sich doch irren!

Die Beiden hatten die Stelle erreicht, an der sie über die Mauer gestiegen waren und der Italiener schwang sich eben hinüber, als vom Eingänge des Kirchhofs her eine laute Stimme zeterte: »Ganowim! Ganowim ! 1 Grabesschänder! halt auf! halt auf!« 

Es hatte sich ganz einfach Folgendes ereignet.

Die seiner Nation eigenthümliche Neugier hatte den Wächter des Kirchhofs nicht schla- fen lassen, und wenn er auch nach dem strengen Gebot, das ihm geworden und zu dessen Innehaltung sein Eid ihn verpflichtete, nicht gewagt, draußen zu lauschen, war er doch, - nachdem er unter einem Vorwand die Gäste des Nachtmahls fort und seine Familie zu Bette geschickt hatte, in seinen Kleidern im dunklen Zimmer geblieben und hatte durch die Spalten des Ladens gelugt.

Er sah die weißen Gestalten vorüberschleichen und in der geöffneten Pforte des Kirch- hofs verschwinden und harrte geduldig aus, bis die Glocke ein Uhr schlug. Dann kamen die Geheimnißvollen wieder, einzeln, und wandten sich rechts und links, ohne mit einander ein Wort zu wechseln - dreizehn - er hatte sie gezählt und fuhr jetzt eilig von der Spalte im Laden zurück, als er den Letzten gerade auf das Fenster zukommen sah.

Es klopfte an dem Laden und eine heisere Stimme sagte, gleich als hätte sie gewußt, daß er wach geblieben: »Schließe das Haus des Lebens, Wächter Derer, so der Auferstehung

1 Diebe!


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harren! - und Dein Mund sei verschlossen mit dem Siegel Salomon’s hundert Jahre lang!« 

Die Gestalt huschte davon, aber der Wächter des Friedhofs wagte noch längere Zeit nicht, das Haus zu verlassen, bis er sich endlich überzeugt hatte, daß - was die Geheimnisvollen auch getrieben haben mochten - Alles vorüber sei. Dann erst machte er sich auf, verließ das Haus und schlich nach der offenen Pforte des Kirchhofs.

Er konnte es sich nicht versagen, einen Blick in den Friedhof hinein zu thun, obschon das Grauen seine Glieder frösteln machte, und trat leise hinein in den Raum.

Da war es ihm gewesen, als hörte er sprechen. Im ersten Augenblick wollte er sich zurück- ziehen - aber die Neugier, vielleicht auch der Pflichteifer trieben ihn vorwärts.

Jetzt sah er in dem ungewissen, aber doch genügenden Licht der Sterne zwei Männer an der gegenüberliegenden Mauer stehn, im Vegriff, diese zu übersteigen. Dreizehn hatte er den Kirchhof betreten, dreizehn ihn verlassen sehen. Es konnten demnach nur Personen sein, welche nicht zu Jenen gehörten - Grabesschänder - Einbrecher - Diebe - Sofort auch erscholl sein heller Ruf: »Ganowim! Ganowim!« —

»Fort! wir sind verrathen! retten Sie sich, so gut es geht!« flüsterte der Italiener seinem Ge- fährten zu, indem er nach Außen hin von der Mauer sprang und rücksichtslos seinen Mantel mit fortriß. »Ich links, Sie rechts! - Schweigen bis zum Tod!« 

Mit einer verzweifelten Anstrengung, während hinter

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ihm der Pförtner zeterte, war der Gelehrte auf die Höhe der Mauer gelangt. Aus zwanzig Wunden bluteten Hände und Knie - zum Glück hatte das vorige Uebersteigen an dieser Stelle schon die meisten Scherben abgebrochen, sonst wäre es ihm schwerlich möglich gewesen, die gefährliche Passage zu überwinden. Ohne einen Moment zu zögern, warf er sich von der Mauer nieder auf den Schutthaufen, denn schon begann trotz der späten Stunde das Geschrei des Pförtners die Nachbarhäuser zu allarmiren und einzelne seltsam verhüllte Köpfe fuhren aus den Fenstern und stimmten ein in das Gezeter, als sie die fliehenden Gestalten sahen.

Der Doktor hatte gehört, wie sein Gefährte nach links rannte, und er eilte in der entge- gengesetzten Richtung davon, ohne zu wissen, ob er hier einen Ausgang aus dem Labyrinth dieser schmalen Gassen finden und wohin dieser führen würde. Immer lauter wurde es hinter ihm, wie er an der Mauer fort rannte; - er dachte an den Revolver, den er bei sich trug, und daß er theuer seine Freiheit oder sein Leben verkaufen könne, - aber mit einem lebendigen Gefühl des Widerwillens, Unschuldige für sein Abenteuer vielleicht in der Erregung des Au- genblicks leiden zu lassen, warf er ihn von sich. Gleich darauf hörte er vor sich den Ruf eines Wächterhorns und das Rasseln des Spießes auf dem Pflaster.

In diesem Moment in ein finstres Quergäßchen einbiegend, sah er vor sich eine noch dunk- ler gähnende Oeffnung, die offene Flur eines der alten überhängenden Häuser.

Gedrängt von der Gefahr, ohne sich zu bedenken, sprang

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er in den dunklen Flur, suchte mit der Hand die Thür, zog sie zu und drückte sie in’s Schloß.

Hochaufathmend blieb er lauschend stehn und hörte bald darauf mehre Menschen an der Thür vorüber laufen und andere sprechend auf und nieder gehn.

Er war gefangen an dem Ort, an dem er Sicherheit gesucht.


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Nach weniger Ueberlegung begriff er sehr wohl, daß er an der Stelle, wo er sich befand, nicht bleiben konnte. Das Offenstehen der Thür bewies, daß noch Bewohner des Hauses au- ßerhalb desselben waren. Sie konnten jeden Augenblick zurückkehren und mußten ihn dann ohne Zweifel entdecken. Er mußte also ein Versteck aufsuchen, in dem er diese Rückkehr und eine Gelegenheit, unbemerkt zu entkommen, abwarten konnte, was im Augenblick unmög- lich war, da er trotz alles Tastens den Verschluß der Thür von Innen nicht finden konnte.

Mit den Händen und Füßen sich weiter fühlend tappte er vorsichtig vorwärts in dem stock- dunklen Gange an den Wänden hin, die schmuzig und feucht wie die einer Höhle waren. Nach etwa zehn Schritten fühlte er eine Oeffnung der Wand, einen Strick statt des Geländers an dieser, und die ausgetretenen Stufen einer Treppe.

Diese stieg er hinan, indem er sie sorgsam zählte, um bei einem Rückzug die Höhe zu kennen.

Es waren achtzehn Stufen. Als er oben war und an der Wand in dem tiefen Dunkel sich weiterhalf, erschien ihm plötzlich ein schwacher Lichtstrahl, der am Fußboden durch die Spalte einer Thür zu leuchten schien.

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Seine Verlegenheit stieg jetzt noch höher, er wußte in der That nicht, was er thun sollte. Endlich entschloß er sich, auf die Gefahr hin, entdeckt zu werden und Leute zu finden, die ihn mitleidslos den Verfolgern überlieferten, weiter zu gehen.

Nach einigen Schritten war er an der Thür, unter der hervor der Lichtschein drang.

Er legte das Ohr an dieselbe - kein Laut ließ sich hören. Entschlossen legte er endlich die Hand auf den Drücker und die Thür öffnete sich ohne das geringste Geräusch.

Er sah sich in einer Art von Vorgemach, schmuzig, schlecht und mit Gerümpel gefüllt; aber aus einer halb geöffneten Thür, der gegenüber, durch welche er eingetreten, drang ein heller Lichtschein. Ein weiterer Blick zeigte ihm, daß diese Thür eine Art beweglichen Schrank bildete, der sie beim gewöhnlichen Verschluß bedecken mußte.

Mit dem Licht drangen ein köstlicher Wohlgeruch, wie er gar nicht in diese schmuzige übeldunstende Umgebung zu gehören schien, und eine würzige behagliche Wärme in das Vorgemach.

Leise schlich er näher - ein schwerer Vorhang von kostbarem Gobelin verhing halb zurück- geschlagen auf der innern Seite die Thür. Durch die Oeffnung schaute er in ein anstoßendes ziemlich geräumiges Gemach.

Was er sah, war wie ein Traum aus Tausend und Einer Nacht, ein orientalisches Feenmähr- chen!

Und auch an der Fee selbst fehlte es nicht in diesem Traum, denn auf einem breiten Divan von meergrüner persischer Seide lag

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